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Archiv ‘2008’ Kategorie

Buk 1/08 30 Jahre brauchen wir…

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Bukumatula 1/2008

30 Jahre brauchen wir…

Gespräch mit Kevin Hinchey Co-Direktor des Wilhelm Reich-Museums in Orgonon,
am 9. November 2007 im Rahmen einer WRI-Veranstaltung in der Schule des Theaters“ in Wien
Heiko Lassek und Antonin Svoboda
Übersetzung aus dem Englischen: Tina Lindemann

Heiko Lassek: Es gibt eine Menge an Gerüchten um Reichs Tod und seinen Nachlass. Kannst Du uns etwas über Reichs Letzten Willen und darüber, was nach seinem Tod passiert ist, erzählen?

Kevin Hinchey: Ich möchte zunächst Regina Hochmair und Heiko Lassek dafür danken, dass sie mich eingeladen haben. Dies ist mein erster Besuch in Wien, und es ist mir ein großes Vergnügen hier zu sein. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Heiko versucht, Missverständnisse bezüglich Reichs Ideen und Konzepte aufzuklären und die Fakten über das Vermächtnis, das Archiv und den „Wilhelm Reich Infant Trust“ bekannt zu machen. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen schon unsere Webseite besucht haben, aber Reichs Testament kann dort vollinhaltlich nachgelesen werden; ebenso das Inhaltsverzeichnis des Archivs.

Und während wir hier sprechen, sieht sich Peter Reich gerade im Archiv die Materialien an. Wir fanden es richtig, dass die Familienmitglieder Reichs als erste Zugang dazu bekommen sollten. In seinem Letzten Willen ruft Reich auch den „Trust“ ins Leben und nennt ihn den „Wilhelm Reich Infant Trust Fund“, der später in „Wilhelm Reich Infant Trust“ umbenannt wurde. Reich war überzeugt, dass die einzige Möglichkeit zur Prävention von Neurosen die Verhinderung der Panzerung von Kindern wäre. Die Idee der Prävention hat er den ganzen Weg – von seinen Wurzeln in der Psychoanalyse bis zur orgontherapeutischen Behandlung von Patienten – mit sich getragen.

Alles, was das Archiv und das Museum betrifft, geht auf Reichs Testament zurück, das er im März 1957 aufgesetzt hat. Es ist ein langes Dokument, und ich will nur zwei Passagen daraus vorlesen. Ich zitiere:

Im Vollbesitz meiner Urteilsfähigkeit in Bezug auf Menschen und soziale Umstände und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, machte ich meine Überlegungen zur sicheren Weitergabe einer gewaltigen Menge wissenschaftlicher Erkenntnisse an künftige Generationen zum Leitfaden meiner letzten Verfügung. Die größte Herausforderung war für mich, die Wahrheit über mein Leben und meine Arbeit gegen Verzerrungen und Verleumdung nach meinem Tode zu schützen.

Eine Anführung im Testament bezieht sich auf sein Archiv, das zur Zeit der Unterzeichnung an zwei verschiedenen Orten im Observatorium in Orgonon untergebracht war. Reich bewahrte einen Teil davon in der Dunkelkammer im ersten Stock – und einen anderen Teil in einem großen Schrank in seinem Büro, im zweiten Stock, auf. Er weist den Trust wie folgt an:

Um den zukünftigen Studenten der Lebensenergie, des primordialen kosmischen Energie-Ozeans, der von mir entdeckt wurde, zu ermöglichen, sich ein wahres Bild meiner Erkenntnisse, Fehler, falschen Schlüsse, wegbereitenden Grundannahmen, meines Privatlebens, meiner Kindheit etc. zu machen, verfüge ich hiermit, dass unter keinen Umständen und unter keinem Vorwand irgendeines der Dokumente, Manuskripte oder Tagebücher, die in meiner Bibliothek in den Archiven oder irgendwo sonst gefunden werden, auf irgendeine denkbare Weise verändert, gekürzt, zerstört, ergänzt oder sonst wie verfälscht werden dürfen.

Die aus Angst geborene Tendenz der Menschen, um jeden Preis mit dem Mitmenschen auszukommen und unangenehme Dinge zu verstecken ist überwältigend stark. Um sich gegen dieses Verhalten zu schützen, das auf historische Wahrheit einen zerstörerischen Einfluss hat, verfüge ich, dass mein Arbeitszimmer, die Bibliothek und die Archive nach meinem Tod sofort durch die zuständigen Behörden verschlossen werden sollen, und niemandem soll erlaubt werden meine Papiere einzusehen, bis der Treuhänder, der weiter unten benannt wird, gebührend berufen und befähigt wurde und die Kontrolle und Verwaltung übernommen hat.

Diese Dokumente sind von entscheidender Wichtigkeit für die Zukunft der folgenden Generationen. Es gibt viele emotional kranke Menschen, die versuchen werden meine Reputation zu beschädigen, ungeachtet dessen was den Nachkommen geschieht, wenn nur ihre eigenen Leben im Dunkel eines verlassenen Zeitalters der Stalins und Hitlers bleiben.

Daher weise ich meinen Treuhänder und seine Nachfolger an, dass nichts an den Dokumenten jemals geändert werden darf, und dass sie für 50 Jahre verschlossen gelagert werden sollen, um sie vor Zerstörung und Verfälschung durch Jedermann der ein Interesse an der Verfälschung der historischen Wahrheit hat, zu bewahren.

Nach Reichs Ableben wurde seine Tochter, Eva Reich, zur Treuhänderin benannt. Wie Sie sich vorstellen können, haben all diese Ereignisse Eva emotional sehr mitgenommen. Sie war ehrlich und selbstbewusst genug, um für sich zu erkennen, dass sie emotional zu belastet war, um Treuhänderin sein zu können.

Heiko: Darf ich eine Zwischenfrage stellen?

Kevin: Sicher.

Heiko: Nachdem Reich ja ins Gefängnis musste und all seine Schriften und Unterlagen zerstört worden sind: Wie hat er es denn geschafft die Archiv-Materialien zu sichern?

Kevin: Die Materialien blieben im Observatorium. Er beschrieb in seinem Letzten Willen diese zwei Stellen und trat dann seine Haftstrafe an. Er wusste nicht, dass er sterben würde, aber er tat es für den Fall, dass ihm etwas geschehen sollte. So blieben die Materialien wo sie waren. Dann starb Reich am 3. November 1957 an Herzversagen. Einige Tage später fand die Beerdigung statt.

Und dann, irgendwann im Jahr 1958 geschah Folgendes: Die letzte Frau in Reichs Leben, Aurora Karrer, entfernt die Unterlagen aus dem Observatorium, lädt sie in ein Auto und verbringt sie in das Haus ihrer Mutter, hunderte von Meilen entfernt, außerhalb von Washington.

Als nun Eva verbreitet, dass sie einen Treuhänder sucht und keiner der Ärzte und Wissenschaftler, die mit Reich zusammengearbeitet haben, diesen Job übernehmen will, hört Mary Boyd-Higgins, eine Patientin von Dr. Chester Raphael, die damals 33 Jahre alt war und Reich nie persönlich kennengelernt hatte, aber offensichtlich von Reichs Arbeit sehr beeindruckt war, davon. Sie sagt zu Dr. Raphael: „Wenn sie niemanden finden, dann gerät das alles in Vergessenheit. Und was geschieht dann?“ Und so bietet sie sich an, selbst Treuhänderin zu werden und trifft Eva Reich und ihren Ehemann, Bill Moise.

Heiko: Ist es in Ordnung kurz zu unterbrechen?
Kevin: Natürlich.

Heiko: Es gibt nur wenige Menschen – und Du bist einer davon, die etwas über die Geschichte von Aurora Karrer und Wilhelm Reich erzählen können. Sie waren sich sehr nahe und wollten heiraten.- Aurora brachte dann alle Archivunterlagen nach Washington. Geschah dies mit irgendjemandes Zustimmung?

Kevin: Nein, dies erfolgte ohne irgendeine Zustimmung. Was geschah war Folgendes: Nachdem im März 1959 all die Bürokratie erledigt war, um Mary zur Treuhänderin zu machen, trifft sie sich mit Bill und Eva, und sie fahren alle gemeinsam nach Rangeley. Dazu muss man wissen, dass Orgonon zu dieser Zeit seit Jahren verlassen und die Gebäude alle verschlossen waren. Mary und Eva gehen in das verrammelte Observatorium, und Mary stellt als erste fest, dass die zwei Archive verschwunden waren. Mary kann diese Geschichte weit besser erzählen als ich.

Jedenfalls fährt Mary kurz danach zu Karrer, die aber bestreitet, überhaupt etwas damit zu tun zu haben, sie bestreitet alles, auch noch 1960 vor Gericht. Nachdem keine Kooperation mit Karrer möglich war, strengte der Trust 1960 ein Verfahren gegen sie an. Im späteren Verlauf der Verhandlungen kommt auf einmal Karrers Anwalt zu Mary und dem Trust-Anwalt und meint, dass er ihnen etwas mitzuteilen habe.

Sie begeben sich in einen separaten Raum, und daraufhin kommt Aurora Karrer mit einem Koffer, mit noch einem Koffer, und noch einem, und noch einem…., herein, die all das Material enthielten, das sie sich angeeignet hatte. Also resultierte dieses gerichtliche Verfahren doch noch in der Rückgabe eines Großteils der Archive an den Trust.

Heiko: Ich weiß von Eva Reich, dass sie Aurora Karrer bat, die Archive auf Mikrofilm zu bringen, und soweit ich weiß, verschwand sie mit den Mikrofilmen; kannst Du uns etwas darüber erzählen?

Kevin: Ich weiß nicht so viel über die Mikrofilme. Es gab einen Versuch, etwas auf Mikrofilm zu archivieren, als Eva noch Treuhänderin war, aber ich bin mir nicht sicher, ob dies nicht vielleicht noch zu Reichs Lebzeiten geschah.

Heiko: Soweit ich weiß, war es nach Reichs Tod.

Kevin: Das weiß ich nicht.

Heiko: Eva hat mir erzählt, dass einige Teile des Archivs trotzdem verschwunden blieben; darunter ein Teil der Tagebücher und ein Teil der Dokumentation über Reichs Pendel-Experimente, die mit Antigravitation zu tun haben.

Kevin: Es fehlen in der Tat einige Teile des Archivs. Reichs Tagebücher von 1922 bis 1934, also bis zum Kongress der IPV in Luzern, fehlen. Sie sind auf Deutsch geschrieben; Aurora Karrer war aber der deutschen Sprache nicht mächtig. Wir wissen nicht, was damit passiert ist. Die Gebäude wurden verschlossen, als Reich ins Gefängnis ging, und es gab Vandalismus, bevor das Archiv ausgelagert wurde.

Das Gelände ist sehr abgelegen, und es wurde eingebrochen, die Schlösser an allen Türen waren aufgebrochen, aber ob damals schon etwas aus dem Archiv gestohlen wurde, weiß ich nicht. In Reichs Buch „Beyond Psychology“ hat Mary Higgins im Vorwort auf das Fehlen der Tagebuchaufzeichnungen, die 12 Jahre von Reichs psychoanalytischer Tätigkeit dokumentieren, hingewiesen.

Über die Unterlagen zu den Pendel-Experimenten weiß ich nichts. Mary Higgins ist die einzige, die Archivierungsarbeit geleistet hat. Wenn auch die medizinische Bibliothek in Harvard, in der sich das Archiv befindet, eine der besten und größten der Welt ist, ist es nicht so, dass das Personal dort daran interessiert ist, unsere Materialien zu bearbeiten. Für jegliche archivarische Tätigkeit müssen wir bezahlen; für jede Kopie, für das Überspielen von alten Filmen auf Video, etc.- Wir kennen zwar die Namen aller Ordner und die Inhaltsverzeichnisse, aber den detaillierten Inhalt all dieser Papiere kennen wir nicht.

Die Antwort wird im Laufe der Zeit erfolgen, wenn alle Unterlagen durchgearbeitet sein werden. Es gibt eine Menge Ordner mit orgonomischem Forschungsmaterial, und es wird eine Weile dauern, bis man weiß, welches Material fehlt. Diese Dokumente sind sicherlich außerordentlich interessant.

Heiko: Eine letzte Frage zu Reichs Tagebüchern: Fehlt die letzte Sequenz ebenfalls? Und weshalb wurde „American Odyssee“ nie ins Deutsche übersetzt?

Kevin: Der Grund dafür, dass „American Odyssee“ nicht übersetzt wurde ist der, dass der Buchverkauf nicht gut lief. Und so war es nicht nur die Entscheidung des Trusts, sondern insbesondere auch des Verlags, es nicht übersetzten zu lassen.

Zur anderen Frage: In den letzten Jahren entdeckten wir weiteres Material von Aurora Karrer, und wir hofften, dass es Reichs vollständige Journale und Tagebücher aus den 50er Jahren wären; aber es sind nur Teile davon, andere Teile fehlen.

Heiko: Meinst Du, dass noch weiteres Material zu erwarten ist?

Kevin: Mary und ich haben darüber gesprochen, aber wir sind uns sicher, dass nichts mehr dazukommen wird. Sicherlich nicht von Karrer. Die verschwundenen Teile sind nirgendwo aufgetaucht, auch nicht bei eBay. Sie sind einfach weg. Tagebücher aus 12 Jahren! Ich kann es mir wirklich nicht erklären. Reich war sehr organisiert und hatte sein Archiv sorgfältigst geordnet. Das Archiv ist riesengroß; es umfasst mehr als 2,5 Kubikmeter; allein das Inhaltsverzeichnis ist 141 Seiten lang.

Heiko: Mary hat den Trust übernommen und all diese Arbeit geleistet. Wie finanziert der Trust diesen riesigen Komplex von Häusern und Land und das Archiv? Ich weiß, dass die Finanzierung einmal weggebrochen ist, es gab Probleme mit dem Dach und mit der Heizung. Mary hat es lange Zeit mit Hilfe von Freunden aus New York geschafft, jetzt ist sie 82 Jahre alt, und Du übernimmst diese Aufgabe. Wie willst Du das machen?

Kevin: Die finanzielle Lage ist keine wirklich gute. Besucher des Museums meinen oft, dass Reich eine Menge Geld hinterlassen haben muss, weil das Gelände so weitläufig und schön ist. Die Wirklichkeit sieht so aus: Nach Reichs Tod ging ein wenig Geld an seine Kinder, und für das Museum und den Trust blieben ganze 823 Dollar übrig. Das war 1959. Hochgerechnet wären das heutzutage etwa 5700 Dollar. Aber es gab über die Jahre hinweg Tantiemen aus dem Bücherverkauf, Privatleute und eine Organisation namens „The Friends“, die spendeten, und es gab einige wenige Erbschaften von Freunden Reichs.

Aber das Geld reichte nie lange. Ich weiß nicht in allen Einzelheiten wie das war. Es ist mir ein Rätsel, wie Mary das geschafft hat, insbesondere wenn man Bilder sieht, in welchem Zustand Orgonon war, als Mary es übernahm. Ein Wunder eigentlich, nach all dem Vandalismus, die Gebäude komplett zugewuchert und heruntergekommen. Es kommen weiterhin Spenden, wenn auch wenige, und Einnahmen aus dem Bücherverkauf, aber das reicht auf Dauer nicht.

Unser Problem ist, dass Reich eine so schlechte Reputation in Amerika hat. „Scharlatan, Spinner, Orgon existiert nicht“, all das. Es hat keinen Sinn für wissenschaftliche Arbeit um Förderung anzusuchen. Wir haben es wiederholt versucht, aber sobald der Name „Reich“ aufscheint, ist es vorbei. Wir kommen da nicht rein, bekommen oft nicht einmal eine Antwort.

Ich meine, dass das Weiterbestehen Orgonons wirklich gefährdet ist. Wenn wir in unserer Lebensspanne dieses Image nicht ändern können, wird es diese Einrichtung nicht mehr geben. Als Mary ihre Tätigkeit aufnahm, gab es wenigstens noch genug Bekannte und Ärzte, die mit Reich gearbeitet haben und ein persönliches Interesse an seinem Werk hatten und Unterstützung leisteten. Aber wie wird das in 30, 40 Jahren aussehen? Die alte Generation ist heute fast ausgestorben.

In den Medien wird noch immer der gleiche Unsinn über Reich wie zum Zeitpunkt seines Todes verbreitet. Im November gab es über die Nachrichtenagentur „Associated Press“ einen Artikel über Reich, der von vielen Medien übernommen wurde. Wir haben mit dem Journalisten kooperiert und ihn ersucht, uns den Artikel – Fakten betreffend – gegenlesen zu lassen. Er meinte nur: „Ich bin der Journalist, das geht nicht!“ Und dann war in den Zeitungen der großen Städte nachzulesen: „Der Sammler angeblicher kosmischer Orgasmus-Energie starb im Gefängnis….“ und so weiter.

Wir kämpfen also, kämpfen recht hart. Die Buchverkäufe gehen zurück und die Verlagswelt hat sich verändert. Als Mr. Straus, unser Verleger, starb, ging sein Verlag in einem riesigen Verlagskonzern auf, und wir wissen nicht, wie interessiert dieser daran ist, unsere Bücher weiterhin zu verlegen, denn sie verkaufen sich nicht besonders gut. Finanziell gesehen ist es also eine wirkliche Herausforderung für uns.

Heiko: Aber Du hast einen Traum, wir beide haben einen Traum. Und in gewisser Weise teilen wir diesen Traum, und er könnte einen Lösungsweg eröffnen. Bevor ich also an Antonin Svoboda übergebe, habe ich eine letzte persönliche Frage: Wie bist Du zu diesem Job als Co-Direktor gekommen? Ich weiß, dass Du ein ganz normales Leben führst und hart arbeitest.

Kevin: Orgonon gehört zum Gemeindegebiet der Kleinstadt Rangeley in Maine. Rangeley war das bevorzugte Urlaubsziel meiner Eltern, die mich schon in meinem ersten Lebensjahr dorthin mitnahmen. Als Kind erfuhr ich bereits von dem Museum, aber da will man lieber schwimmen, fischen und campen und all dies. Als Student war ich dann mit meinen Brüdern in Rangeley zum Campen, und damals besuchte ich erstmals das Museum – und hatte keine Ahnung, worum es hier ging.

Aber danach fing ich an, Reichs Bücher zu lesen und mich mit seiner Arbeit zu beschäftigen. Und was ich las, wurde sehr wichtig für mich und hatte großen Einfluss auf mein Leben. Ich hatte im College nie etwas über Reich gehört, und ich bezweifle, dass ich je etwas über Reich erfahren hätte, wenn meine Eltern mit uns nicht immer nach Rangeley auf Urlaub gefahren wären.

Ich liebe Rangeley sehr und habe dort vor vielen Jahren ein Häuschen gekauft. Dass Rangeley meine zweite Heimat ist und ich jetzt Co-Direktor des Museums und des Trusts wurde, ist sehr hilfreich. Es gibt viele Leute dort, die ich als Teenager kennen gelernt habe und die mich schon seit mehr als 30 Jahren kennen; ich habe mich immer als Mitglied der Gemeinde gefühlt. Es ist für unsere Arbeit sehr wichtig, dass wir in unserer Umgebung akzeptiert werden. Aber es war nicht Teil meines Lebensplans, Co-Direktor des Museums zu werden, das hätte ich mir nie im Leben gedacht. Es passierte einfach.

Heiko: Vielen Dank, ich übergebe an Antonin Svoboda.

Antonin Svoboda: Sie sagten, Sie haben da einen Traum, aber da ist auch ein Alptraum: Ich spreche von Reichs Image in den USA. Als wir uns gestern unterhielten, erzählten Sie, dass unter hunderten Artikeln über Reich nicht ein einziger mit einem positiven Zugang dabei war.

Kevin: Ich glaube, dass das wenig mit Reich selbst zu tun hat. Das kommt vor allem von einer Art intellektueller Faulheit. Ich denke, dass sich der Durchschnittsbürger leichter damit tut, Artikel über etwas zu lesen, als die Primärliteratur zu studieren. Insbesondere Journalisten. Wenn also jemand einen Artikel verfassen möchte, recherchiert er einfach, was es alles schon gibt und macht etwas Neues daraus. Artikel nehmen – auch wenn sie schon vor Jahrzehnten erschienen sind, eine Art Eigenleben an. Seit es das Internet gibt, ist das noch extremer geworden.

Es sind zu Reichs Lebzeiten und nach seinem Tod sehr viele Artikel gegen ihn und seine Arbeit erschienen. Und das wird leider wohl auch weiterhin so bleiben, denn beim Recherchieren stoßen die Leute darauf und schreiben einfach davon ab. Man findet auch immer wieder genau dieselben Formulierungen. Jedes Mal, wenn jemand einen verdrehten Artikel über Reich schreibt, bleibt das für immer im Internet stehen. Es ist nicht so wie mit einer Zeitung, die man einfach wegwirft.

Ich glaube, dass es einfach Unehrlichkeit und intellektuelle Faulheit ist, sich nicht mit der Primärliteratur auseinander zu setzen. Es ist in Ordnung im Internet nachzusehen und Sekundärliteratur zu verwenden, aber eben nicht ausschließlich. An einem Buch kann man jahrelang herumfeilen, beim Verfassen eines Artikels aber steht man unter Zeitdruck. Es gibt eine Deadline.

Und oft meint man, dass es eine einfache Geschichte werden wird, aber wenn man erst einmal drinnen steckt, beginnt die Sache immer größer zu werden. Wir sagen stets: „Wenn Sie Fragen haben, kontaktieren Sie uns bitte. Wir sind Ihnen bei der Recherche gerne behilflich. Wir wollen auch nicht Ihren Artikel verändern, aber sicherstellen, dass die Fakten stimmen.“ Aber das passiert so gut wie nie

Es gibt Journalisten, die es ernst meinen und sich Zeit nehmen und zuhören, aber das ist selten. Über Reich zu schreiben ist etwas, was man nicht unter dem Druck einer Deadline tun kann. Dafür ist das Werk zu groß, zu komplex. Alle die hier anwesend sind, haben etwas von Reich gelesen und wissen, wie viel Zeit und innere Auseinandersetzung das in Anspruch nimmt. Das gilt natürlich nicht nur für Reich, und es macht auch keinen Sinn, das persönlich zu nehmen, aber es ist ein großes Problem.

Antonin: Worin liegt die Hoffnung?

Kevin: (lacht) Mein Hintergrund ist die Filmbranche. Ich habe in Hollywood als Drehbuchautor gearbeitet. So wie es neunzig Prozent der Drehbuchautoren dort ergeht, bekam ich einmal einen Job, dann wieder nicht und einmal wird man bezahlt und ein anderes Mal wird der Film nicht gedreht, und es gibt kein Geld. Nach ein paar Jahren hatte ich davon genug. Ich wollte so nicht mehr leben.

Wir haben schon darüber gesprochen, dass es sinnvoll wäre, einen Film, einen guten, ehrlichen Film über Wilhelm Reich zu machen. Eine Dokumentation, die sich nicht nur den Menschen erschließt, die schon viel über Reich wissen, sondern Menschen im Fokus hat, die noch gar nichts über ihn und seine Arbeit wissen. Und außerdem einen Spielfilm, der sich an die Tatsachen hält. Die Geschichte gibt genug her, um einen spannenden Film daraus zu machen. Ich habe wirklich Sorge, dass irgendjemand einen schlechten Film macht und darunter schreibt: „Dieser Film beruht auf einer wahren Begebenheit“.

Ich bin dabei, ein Drehbuch zu schreiben und ich bin auch daran interessiert, dass unsere kurze Dokumentation „Man´s Right to Know“, ausführlicher gestaltet wird. Auch Antonin und Heiko sind hierorts aktiv, um einen Spielfilm und eine Dokumentation über Reich auf die Beine zu stellen.

Alle reden über das Reich-Archiv und was dort nicht alles über fünfzig Jahre lang verschlossen lag. Das stimmt schon, aber seit 1960, als das erste Buch „Ausgewählte Schriften“ durch den Trust und den Verlag herausgegeben wurde, hat der Trust mehr als 7000 Seiten von Reichs Schriften in Buchform veröffentlicht. Es gibt also schon eine Menge an zugänglichem Material, aber was hat das bewirkt? Über Reichs Arbeiten wissen vielleicht ein paar tausend Leute auf der ganzen Welt Bescheid, und das wird sich so schnell nicht ändern.

Ich glaube es ist eine Herausforderung im „Geschichtenerzählen“. Reichs Geschichte und die seiner Arbeit ist sehr bewegend, und sie muss auf die richtige Weise erzählt werden, so dass sie für alle Menschen zugänglich wird.

Wenn mich Leute fragen, wie ich zu meiner Aufgabe gekommen bin und was ich mitbringe, dann ist es mein Leben als Geschichtenerzähler: Das Schreiben und das Filme machen. Ich hatte immer das Gefühl, dass Reichs Leben und Werk eine großartige Geschichte ist, die wir uns nicht immer nur gegenseitig erzählen sollten. Wir müssen neue Leute erreichen. Das könnte auch eine Veränderung in der Wahrnehmung von Medizinern, Physikern, Biologen, etc. herbeiführen, die wirklich etwas bewegen können.

Uns kontaktieren ständig Leute, die eine Dokumentation machen wollen. Kürzlich rief mich eine Kunststudentin an, die einen Film über Reich drehen wollte. Als wir dann zusammen saßen, fragte ich sie als erstes, was sie denn von Reich gelesen hätte. Sie antwortete: „Listen Little Man“, und das war alles. Ich sagte: „Sie haben `Listen Little Man´ gelesen und wollen mit Ihrer Kamera nach Orgonon kommen und Interviews machen?

`Listen Little Man´ hat 138 Seiten, 34 davon sind Zeichnungen, also haben Sie 94 Seiten von 7000 verfügbaren Seiten von Reichs Schriften gelesen Und Sie wollen einen Dokumentarfilm machen!“ Ich empfand das in meinem Selbstverständnis als Filmemacher beleidigend und beleidigend in der Hinsicht, dass jemand meint, man könne einen Dokumentarfilm drehen, auch wenn man nur einen winzigen Bruchteil des Werkes kennt.

Antonin: Ich habe das Gefühl, dass Reich ein Kosmos für sich ist, und dass man sich, wenn man erst einmal einen Schritt hinein gemacht hat, auf gewisse Weise darin verliert. Denn 7000 Seiten nur von Reich zu lesen schafft man wahrscheinlich nicht in einem Leben, und mit der Öffnung des Archivs wird das Ganze noch größer. Ich frage mich, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, das Werk zur Vermittlung so zu vereinfachen bzw. einzugrenzen, dass es auch für Laien verstehbar wird.

Ich bin nicht davon überzeugt, dass sich die Wahrnehmung Reichs in der Welt durch einen einzelnen Film massiv verändern wird. Sie haben von Physikern, Biologen, Medizinern, etc. gesprochen. Ich bezweifle aber, dass diese Leute eifrige Kinogeher sind. In der Zeitung „Der Standard“ erschien kürzlich ein Artikel über Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Karriere zu machen, und dass diese ganz selten ins Kino gehen, weil sie aus Filmen wenig darüber lernen können. Wir können also nicht nur auf Filme setzen.

Kevin: Wir müssen über „Ausbildungsmaterial“ nachdenken. Als ich im Rahmen der Ausstellungsvorbereitungen für Wien noch einmal viele von Reichs wissenschaftlichen Aussagen gelesen habe, kam mir der Gedanke, dass es großartig wäre, eine Serie von Ausbildungsmaterialien herauszugeben, in der die Ideen und Erkenntnisse Reichs in seinen eigenen Worten, aber vereinfacht so dargestellt werden, dass alle Aspekte seines Werkes leicht verstehbar sind. Es geht grundsätzlich darum, eine Brücke zwischen dem Werk und dem Publikum herzustellen. Wir müssen alle Bereiche abdecken. 30 Jahre brauchen wir, denke ich, um all das zu schaffen. Es gibt keine Garantie, aber ich bin voller Hoffnung.

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    Bukumatula 1/2008

    Wilhelm Reich und die Mysterien des Organismus

    Anmerkungen zu Dusan Makavejev´s Film
    von
    Lore Reich-Rubin:

    Vorspann:

    In den USA ist Reich hauptsächlich für die „orgonebox“ bekannt. In Europa jedoch gibt es eine größere Wertschätzung für sein gesamtes Werk, insbesondere für sein frühes Engagement in der Politik und für seine Entwicklung der Körpertherapie. Reich stieß 1919 während seines Medizinstudiums auf die Psychoanalyse.

    Er idealisierte Freud und war besonders von Freuds Theorien über die LibidoEnergie, der Entwicklung der menschlichen Sexualität und der Rolle der Sexualität zur Entstehung von Neurosen, fasziniert. Ich glaube, dass er nie aufgehört hat, Freud zu idealisieren, trotz ihrer späteren Dispute.

    Sich auf Freud beziehend, entwickelte Reich die Theorie, dass ein psychischer Konflikt rund um das Thema Sexualität zu Abwehrhaltungen führt, die sich in der Charakterstruktur ausdrücken. Dann postulierte er, über Freud hinausgehend, dass die sexuelle Energie, die im Konflikt unterdrückt wurde, in der Muskulatur gebunden sein würde. Er nannte diese gebundene Energie „Körperpanzer“.

    Des weiteren stellte er die Theorie auf, dass ein gesundes Sexualleben mit einem ganzheitlichen Orgasmus diese Bindung von Energie verhindern würde und damit auch die Bildung von Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Obwohl Freud nachzulesen in einem Brief an Wilhelm Fließ ähnliche Vorstellungen bezüglich eines gesunden Sexuallebens zur Neurosenverhütung hatte, äußerte er sich um 1920 diesen Ideen gegenüber äußerst ablehnend.

    Wenig später ging Reich sogar noch einen Schritt weiter und behauptete, dass man die Panzerung aufheben und die Sexualenergie freisetzen könne, indem man die Muskulatur dazu bringt, sich zu entspannen.

    Lange Zeit später erweiterte Reich Freuds energetische Libidotheorie in eine universelle Energie, die er „Orgonenergie“ nannte. Reich wurde in den späten 1920er Jahren, als Österreich die zivilen Freiheiten aufgab, immer radikaler. Da seine Ideen mit einer sexuellen Befreiung der Gesellschaft verbunden waren, um neurotischfaschistische Entwicklungen der Gesellschaft zu verhindern, begann er in Arbeitervierteln mobile Sexualberatungsstellen einzurichten.

    In der Hauptsache gab es Sexualerziehung, insbesondere zur Verhütung, da dies den Jugendlichen ermögliche, sich sexuell auszudrücken und Neurosen verhindern würde. Zur gleichen Zeit war er ein prominenter Aktivist der Sozialistischen Partei.

    All diese Aktivitäten waren für Freud zu radikal; er befürchtete, dass sie die psychoanalytische Bewegung in einen schlechten Ruf bringen würden. Es kam zu einer Abkühlung in der Beziehung dieser beiden Männer, was schließlich dazu führte, dass Reich 1930 Wien verließ und sich in Berlin ansiedelte. Dort begannen die Nazis eine Bedrohung für die Demokratie zu werden. Sobald sich Reich in der neuen Stadt niedergelassen hatte, wurde er während er sich weiterhin den psychoanalytischen Forschungen widmete Mitglied der Kommunistischen Partei und verschrieb sich dem Kampf gegen die Nazis.

    Zu dieser Zeit idealisierte Reich die Russische Revolution, von der er annahm, dass sie aufgrund ihrer radikalen sexuellen Freiheiten zu einer neurosenfreien Gesellschaft führen würde. Aber just in der Zeit, in der er auf Freud stieß und Freud sich gerade von seinem Interesse an Sexualität zurückzog, realisierte er, dass der Kommunismus durch die Stalinisten genauso reaktionär wurde und sich von seinen liberalen Standpunkten der sexuellen Rechte verabschiedete. Wie auch immer: Reich war sich dessen nicht gleich bewusst.

    In Berlin dehnte er seine Ideen von Sexualberatungsstellen zu einer riesigen Organisation aus, genannt „SexPol“, die StasiAkten zufolge zwischen 10.000 bis 40.000 Mitglieder hatte. Damit war er eine stimmgewaltige und prominente Person in Berlin. SexPol war offensichtlich eine kommunistische Frontorganisation, und die Kommunistische Partei versuchte Reich und seine Aktivitäten zu kontrollieren.

    Er war kein guter Parteigänger und weigerte sich, der Parteilinie zu folgen. Er trat für Verhütung und für das Recht auf Abtreibung ein und auf einmal waren sie gegen beides. Sie verlangten die Kotrolle über seinen Verlag, was er aber verweigerte. Seine letztendliche Enttäuschung über die Partei erlebte er bei den Wahlen 1933 wo es hieß: „Die Sozialisten sind unser Hauptfeind“ und „Nach Hitler kommen wir“. Reich begann die Kommunisten als „Rote Faschisten“ zu bezeichnen.

    1934 haben sowohl die Kommunistische Partei als auch die Internationale Psychoanalytische Vereinigung Reich die Mitgliedschaft entzogen. Die Psychoanalytiker, die einen Verstoß gegen die Statuten anführten, waren besorgt, dass man die Psychoanalyse als eine kommunistische Organisation ansehen könnte; außerdem wollten sie mit einem Kompromiss die NaziRegierung in Deutschland beschwichtigen.

    In der Zwischenzeit hatte Reich eine Anzahl von wichtigen Büchern veröffentlicht, und Makavejev hat die daraus resultierenden Ideen in seinen Film eingearbeitet. Diese Bücher sind die Originalausgaben von: „Die Funktion des Orgasmus“, „Die sexuelle Revolution“, „Charakteranalyse“ und „Die Massenpsychologie des Faschismus“.
    Vielleicht ist für unsere heutige Gesellschaft das Konzept des Faschismus am relevantesten. In diesem Buch geht Reich davon aus, dass alle autoritären Organisationen wie der Staat, die Religion, die Familie, ihre Mitglieder durch Unterdrückung der Sexualität in Abhängigkeit halten.

    Das erfolgt entweder durch Gesetze oder moralische Normen, oder durch das Schaffen einer Atmosphäre, die Sexualität beschämend oder schlecht macht. Dies schaffe eine neurotische breite Masse, die ihre sexuelle Energie unterdrückend, einen Führer bewundert und sich ihm unterwirft. Diese unterdrückte Sexualität aber sucht sich Umwege und äußert sich in Pornografie und Sadismus. Gleichzeitig nehmen sich die Führer heraus, die Sexualität für sich selbst in Anspruch zu nehmen.

    Indes hatte die „Sexuelle Revolution“ das Ziel, Jugendlichen sexuelle Freiheit zuzugestehen. Wie auch immer: Reichs Konzept einer sexuellen Revolution war harmlos, verglichen mit der tatsächlichen „Revolution der Sitten“, die in den späten 60er und frühen 70er Jahren stattgefunden hat. Er wäre entsetzt gewesen, was hier von ihm durchgedrungen ist und hätte vieles als Pornografie abgetan.

    Er war nie mit den Schwangerschaftsraten von Teenagern, mit der AIDSEpidemie konfrontiert, und die Schwulenbewegung, das Konzept der Transsexualität oder Operationen zur Geschlechtsumwandlung waren ihm unbekannt. Trotzdem wird Reich in bestimmten Kreisen für diese Ereignisse verantwortlich gemacht, insbesondere, weil ihn die Studentenrevolution in Frankreich 1968 als Held hoch hielt.

    1938 entfloh Reich der deutschen Invasion Norwegens und kam mit dem letzten Schiff in die USA. Er war jetzt ein vehementer AntiKommunist, und er verabscheute die Psychoanalytiker, die ihn derart zurückgestoßen hatten. Aber hier fand von ihm wieder eine Idealisierung in Form einer Bewunderung der USVerfassung, der Demokratie und auch für Eisenhower statt. Wie für sein Leben typisch, erreichte seine Bewunderung den Höhepunkt, als gerade die McCarthyÄra mit ihren antidemokratischren Zielen über das Land schwappte.

    Es besteht der Verdacht, dass es das StalinRegime in der Sowjetunion war, das ihre Feinde im Ausland zu eliminieren versuchte, was hier durch den Artikel von Mildred Brady in der Zeitschrift New Republic „The Strange Case of Wilhelm Reich“ eingeleitet wurde und sogleich die Aufmerksamkeit der FDA auf die Experimente Reichs zur Heilung von Krebspatienten mit dem Orgonakkumulator lenkte.

    Der Film dokumentiert die Verfolgung durch die FDA, die Bücherverbrennung, die richterliche Verfügung gegen den Transport von Orgonakkumulatoren über die Landesgrenze hinaus, die Missachtung von Gerichtsladungen, die zu einer unüblich langen Haftstrafe von zwei Jahren führte, und darauffolgend den Tod im Gefängnis.

    Wenig später ging Reich sogar noch einen Schritt weiter und behauptete, dass man die Panzerung aufheben und die Sexualenergie freisetzen könne, indem man die Muskulatur dazu bringt, sich zu entspannen.

    Der Film dokumentiert die Verfolgung durch die FDA, die Bücherverbrennung, die richterliche Verfügung gegen den Transport von Orgonakkumulatoren über die Landesgrenze hinaus, die Missachtung von Gerichtsladungen, die zu einer unüblich langen Haftstrafe von zwei Jahren führte, und darauffolgend den Tod im Gefängnis.

    Der Film:

    Um nun zum Film zu kommen: Ich persönlich schätze den Film trotz etlicher gravierender Verdrehungen der Reichschen Ideen. In dieser erfundenen, in Jugoslawien handelnden Geschichte von Vladimir und Milena, verdeutlicht Makavejev sowohl Reichs Konzepte zur Charaktertypologie, als auch seine Vorstellung, dass es in autoritären Staaten durch Unterdrückung der Sexualität zu einer Unterwerfung und Idealisierung des Staates kommt.

    Vladimir, der große russische Eislaufstar und SexSymbol, kann Milenas sexuelle Avancen nur abwehren, indem er leere stalinistische Propaganda verkündet. Obwohl auf dem Eis sehr gelenkig, bewegt er sich im realen Leben mit einer körperlichen Steifheit, die seinen massiven Körperpanzer widerspiegelt. Erst nachdem er von Milenas ExFreund Radmilovic angegriffen und gedemütigt wurde, zeigt er sich beruhigt und wirklich menschlich.

    Als Milena ihn schließlich unverhohlen zu verführen versucht, überkommt ihn sein sexueller Drang, der sich dann aber in gewalttätige Aggression verkehrt und mit Mord endet. Dies illustriert Reichs Aussage, dass sich durch Panzerung und Unterdrückung die Sexualität Umwege sucht und sich hier als Sadismus und Masochismus verzerrt äußert.

    Letztlich aber, nach dem Mord, sehen wir den wahren, den bedauernswerten Vladimir, der klagt: „Und was ist mit mir?“. Hier zeigt sich das ursprüngliche Kind, das unterdrückt, zerstört und zu einer Marionette gemacht wurde.
    Im Gegensatz dazu repräsentiert Milena den von Reich idealisierten genitalen Charakter: offen und wahrhaftig in Beziehungen zu anderen und offen für eine tiefe sexuelle Beziehung.

    Es gibt weitere, weniger bedeutende Darsteller in diesem fiktionalen Teil des Films, die andere von Reich beschriebene Charaktere darstellen. Jagoda, Milenas Zimmergenossin, ebenso wie ihr Freund, der Soldat Ljuba. Er repräsentiert den krankhaften phallischnarzißtischen Charaktertyp. Sie haben zwanghaften Sex, jedoch ohne tiefen, befriedigenden Orgasmus. Radmilovic hingegen stellt den impulsiven Charakter dar, der innere Bedürfnisse ausleben muss und sich auf andere nicht wirklich einlassen kann.

    Sowohl in den politischen Diskussionen im fiktionalen Teil des Films, als auch in den Szenen, in denen Milena sexuelle Freiheit und ganzheitlichen Orgasmus in dem, von ihren Nachbarn belagerten Hof predigt, kann man sehen, dass Makavejev Reichs sexualpolitische Einstellung idealisierte und daran glaubte, dass ein „guter“ Sozialismus möglich sei.

    Ein anderer Part des Films, der mich beeindruckte, war die großartige Darstellung der Korrumpierung von Idealen. Vielleicht war das meine eigene zynischer Betrachtung des 20. Jahrhunderts.

    1) Die kommunistische Revolution, ursprünglich sicher idealistisch, wird als in den unechten Pomp Stalins, der in einem alten Zarenpalast unter funkelnden Kristalllustern herumstolziert, entartet dargestellt. Gleichzeitig wird der inhumane Umgang mit Häftlingen der Marter von geisteskranken Patienten gegenübergestellt. Während die gleichfalls idealistische kommunistische Revolution in China als in eine, den Sexualtrieb unterdrückende, antisexuelle Gesellschaft zur Heldenverehrung eines Mannes verkommen, dargestellt wird.2) Die von Tully Kupferberg durch seinen pseudomilitärischen Marsch dargestellte Friedensbewegung gegen den VietnamKrieg mitten durch Manhatten ist von eigener Komik, besonders die eingeübte Ignoranz gegenüber des bizarren Auftretens aller möglichen New Yorker Typen, wie von vornehmen alten Damen, Geschäftsleuten und Polizisten. Aber sie veranschaulicht auch mit eigenartiger Belustigung das Verkommen des Friedensideals zu einem revolutionären Aufruf nach mehr Kampf, nur revolutionären Kampf.

    3) Die Reichsche Therapie das Lösen des Muskelpanzers mit tiefem Atmen und anderen Übungen wird in Alexander Lowens BioenergetikTherapie in Hyperventilation und Übungen in Stresspositionen umgewandelt, bis Muskelzuckungen und Schüttelkrämpfe erfolgen, was das Ideal, den Panzer zu lösen, anstatt noch mehr Spannung aufzubauen, verfälscht. Während sich die Gruppensitzungen in ein Schreien, Stampfen und in einen aggressiven Tumult kehren, was bestenfalls Sadomasochisten ertragen würden. (Reich hat einmal zu seinem Sohn gemeint, dass er diese Art von Behandlung verabscheue.)

    Wenn wir aber auf das Thema Sexualität zu sprechen kommen, erkennen wir, dass Makavejev selbst die Ideale entstellt. In einem Interview bezeichnete er Reichs sexuelle Revolution als zahm. Er verherrlicht die Revolution der 60er und 70er Jahre mit allen ihren Extremen. Ein paar Beispiele:

    1. Gleich in der ersten Szene des Films wird der Geschlechtsakt eines Paares gezeigt und ist als OriginalFilmmaterial aus der SexPolZeit deklariert. Durch die unmittelbare Nähe zu anderen Szenen ist damit der Geschlechtsakt meiner Eltern, Wilhelm und Annie Reich, gemeint. Reich hätte diese Szene aber niemals gefilmt. Er glaubte an die Intimität des sexuellen Aktes. Tatsächlich wurde dieser Filmabschnitt 1969 beim HippieMusikfestival in Woodstock aufgenommen. Wollte sich hier Makavejev über Reich, sein bewundertes Idol, lustig machen?
    2. Im fiktionalen Teil des Films verteidigt Milena meiner Meinung nach Makavejevs Sprachrohr die zur Schau gestellten und ausgedehnten SexSzenen zwischen Jaguda und Ljuba gegenüber einer offensichtlich sexuell frustrierten Nachbarin. Dies steht im Gegensatz zu dem von Reich gemeinten ganzheitlichen Sex mit einem Verschmelzen der Partner und einer vollen orgastischen Erfahrung. Makavejev verteidigt trotzig und herausfordernd die sexuelle Freiheit. Gleichzeitig aber portraitiert er in einer Szene Ljubic in zwanghafter sexueller Kühnheit, als er erstmals Jagoda trifft. Makavejev zeichnet damit den von Reich beschriebenen phallischnarzißtischen Charakter nach.Ich glaube, dass das ein Beispiel für Makavejevs Ambivalenz gegenüber Reich ist einerseits erfasst er Reichs Aussagen als Ganzes und gleichzeitig legt er sein eigenes Anliegen darüber. Makavejev wuchs im kommunistischen Jugoslawien auf und war immer ein antiautoritärer Rebell vielleicht gleichzeitig die Autorität bewundernd. Seine größte Rebellion galt der Sexualität.
    3. Am Balkon ihres Wohnhauses verkündet Milena in einem Redeschwall die wahre Revolution und Sexualität. Aber diese Prahlerei ist eine Parodie auf die SexPolPropaganda.
    4. Im Dokumentarteil des Films zeigt Makavejev eine Bildhauerin, die einen Gipsabdruck eines errigierten Penis anfertigt. In einer anderen Szene zeichnet eine Malerin hingebungsvoll Bilder von masturbierenden Menschen. Nochmals: Ich glaube, dass das Makavejevs Auflehnung gegen Reichs „zahme“ sexuelle Revolution ist. Reich hätte beide dieser Szenen für pornografisch gehalten, da sie den Wert wahrhafter orgastischer Sexualität herabmindern.
    5. Dann gibt es eine Szene, in der Leute halbnackt mit herausforderndem Gesichtsausdruck in den Büroräumen der Zeitschrift „Screw“ aufmarschieren. Auch dies hätte Reich missbilligt, da es direkt gegen Reichs Idealvorstellung von der Ernsthaftigkeit der Arbeit geht. Er war von Freuds Diktum überzeugt, dass Liebe und Arbeit die Grundlage für seelische Gesundheit waren. Reich verherrlichte die Arbeit, niemals hätte er die Vermischung von Arbeit und Sexualität gut geheissen.
    6. Es ist nicht klar, ob Makavejev vorsätzlich und ambivalent Reichs Konzepte des Energieflusses verdreht, oder ob er seine Konzepte falsch verstanden hat. Es gibt viele Beispiele davon in diesem Film: Der wogende Massenaufmarsch der Roten Garden auf dem Tiananmen Platz, die Muskelzuckungen in Lowens bioenergetischen Behandlungen; die Schüttelkrämpfe während der Gruppensitzungen, die er mit Konvulsionen einer Elektroschockbehandlung nebeneinander stellt. Er hebt diese Beispiele hervor, wohingegen Reich sie als von negativer, destruktiver Bedeutung gehalten hätte.
    7. Gegen Ende des Films beginnt Makavejev seinen so bewunderten Reich zu attackieren. Zum Beispiel hat er von einem Schauspieler ein Tonband besprechen lassen und sie als Originalstimme Reichs präsentiert grammatikalisch schlecht und mit einem sehr starkem Akzent. Aber Reich sprach ein grammatikalisch perfektes Englisch, das er sich in der Schulzeit über Jahre hinweg angeeignet hat, sein Akzent war minimal. An einer anderen Stelle wird er zitiert, dass er die Vermutung habe, von einem anderen Stern zu kommen und seine Nachkommenschaft tatsächlich Außerirdische seien.Diese Aussage ist aus dem Kontext herausgenommen; sie fiel unter der extremen Belastung Reichs, als er vor Gericht stand und von seiner Haftstrafe erfuhr. Ebenso unnötig ist die Anmerkung des ortsansässigen Friseurs, dass er sein Haar auf merkwürdige Weise getragen habe, nämlich nach oben gekämmt. Es stimmt, dass er das für sich so wollte und auch für seine Familie so wollte. Wenn das aber ohne Reichs Ideen dazu so behauptet wird, dann klingt das äußerst merkwürdig. Es war tatsächlich Teil seines Verständnisses, dass die Augen offen und ehrlich erscheinen und nicht von Haaren bedeckt sein sollten.

    Aber warum verdreht Makavejev Reichs Ideale? Warum geschieht es so oft, dass wir Ideale entstellen und sie ins Gegenteil kehren? Wir können das persönlich über ihn nicht wissen, abgesehen von den Aussagen, die er im Interview tätigt. Es ist wirklich unmoralisch, ohne irgendeinen Nachweis Vermutungen über das Unbewusste anderer Menschen anzustellen. Dazu möchte ich aber allgemein etwas anmerken: Ich spreche hier nicht von zynischen Politikern, die den Idealismus der Bürger für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.

    Denn gerade Politiker können psychologische Bedürftigkeiten haben. Man kann sagen, dass z. B. Stalin, der so viel Macht ausgeübt hat und so viele Menschen ermorden ließ, niemandem mehr trauen konnte. Dies verstärkt sein Bedürfnis nach noch mehr Macht, was sich derart äußert, dass er von den Massen anstelle von einzelnen Menschen geliebt wird. Hier ersetzt der Narzißmus die realen ObjektBeziehungen.

    Aber warum werden Ideale von Einzelnen korrumpiert? Der Aufbau von Idealen erfordert häufig die Unterdrückung eines Konflikts, der mit Aggression zu tun hat. Ideale sind edel, gut und altruistisch; dagegenstehende, negative Tendenzen müssen in das Unbewusste verdrängt werden.

    Freud bezeichnete dies als „Reaktionsbildung“. Übertriebene Güte steht dafür, übermäßige Schlechtheit zu verleugnen. Aber dann kommt es zu einer „Rückkehr des Unterdrückten“. Das Unterdrückte kann das Unbewusste nicht zurückhalten und die Aggression verschafft sich einen Ausweg. So tritt die Aggression jetzt als Sadismus zutage.

    Die Idealisierung ist nun von Ambivalenz gegenüber dem idealisierten Objekt geprägt. Als Beispiel können wir uns das in den Begriffen des von Freud beschriebenen Ödipuskomplexes vorstellen. Der Sohn liebt den Vater, gleichzeitig ist er aber sein Rivale. Er möchte die Stellung seines Vaters einnehmen. Aber um das tun zu können, muss er zuerst den Vater „töten“, infolgedessen er das Objekt seiner Liebe verliert.

    Den Ruhm für sich selbst beanspruchen zu wollen, kann man auch als ein narzißtisches Bemühen sehen, aus Neid auf den berühmten Mann, um besser zu sein als er.

    So können wir sagen, dass Makavejev Reich bewundert, sich für seine Vorstellungen und Theorien einsetzt und uns für seine ungerechte Inhaftierung trauern lässt. Gleichzeitig aber fühlt er sich als Rivale und möchte selbst ein berühmter Mann sein. Das gipfelt darin, dass er sich über Reich und seine Theorien lustig zu machen beginnt, obwohl er gerade in seinem Film aufgezeigt hat, wie großartig und einzigartig er die Theorien findet.

    Trotzdem: Als Ganzes gesehen ist „Wilhelm Reich und die Mysterien des Organismus“ ein starker und bewegender Film, zeitweise brillant, Einblicke gewährend, manchmal schockierend und manchmal amüsant. Er ist auch eine wunderbare Erinnerung an das Ethos der 1970er Jahre und eine eindringliche Warnung vor bedrohlichen Zeiten, in denen wir uns gegenwärtig befinden.

    ______________________________________

    WR Mysteries of the Organism. Film. Yugoslavia / West Germany. 1971. Director, Producer, Screenwriter: Dusan Makavejev. Stars: Miodrag Andric, Jim Buckley, Jackie Curtis, Betty Dodson, Milena Dravic, Nancy Godfrey, Dragoljub Ivkov, Milan Jelic, Jagoda Kaloper, Tuli Kupferberg, Zivka Matic, Nikola Milic, Zoran Radmilovic, Wilhelm Reich and Ivica Vidovic.

    Weiterführende Literatur:
    Durgnat, Raymond: WR Mysteries of the Organism. Indiana University Press, 1999.

    Übersetzung aus dem Englischen: Wolfram Ratz

    Anmerkung zur Autorin:>Lore ReichRubin promovierte an der NYU/College of Medicine und schloss ihre Fachausbildung als Psychiaterin am Albert Einstein Medical Center Bronx, ab. Sie graduierte am New York Psychoanalytic Institute und ist Mitglied der American Psychoanalytic Association und der Psychoanalytischen Gesellschaft in Pittsburgh und im dortigen Institut Lehrbeauftragte. Vor kurzem hat sie ihre Arbeit als klinische Assistenzprofessorin für Psychiatrie an der Medical School der University of Pittsburgh zurückgelegt

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    Bukumatula 2/2008

    20 Variationen über den Vater, Wilhelm Reich

    Brief der Obfrau
    Regina Hochmair:

    Es ist so weit! Mit dem heutigen Datum, 30. Juni 2008, steht uns Wolfram Ratz auf eigenen Wunsch als Sekretär des Wiener Wilhelm Reich Instituts nicht mehr zur Verfügung. Und das nach einem vierteljahrhundert WRI und 20 Jahren „Bukumatula“. Damit sind wir schon mitten in den Kernverdiensten von Wolfram Ratz: Ihm ist es zu verdanken, dass das Wilhelm Reich Institut in Wien Geschichte gemacht hat. Fest hatte er diese Geschicke in der Hand und brachte die bedeutendsten Reichianischen „Größen“ wie Eva Reich, Lore Reich Rubin, Myron Sharaf, Heiko Lassek und viele mehr nach Wien. Er zeigte sich als Herausgeber von Bukumatula seit 1988 bis heute für 100 Ausgaben verantwortlich. Darüber hinaus hatte er stets den Überblick, was die unliebsamen Geschäfte der Organisationsarbeit angeht.

    Lieber Wolfram, ich möchte Dir dafür im Namen des Vorstandes und aller Mitglieder und Fördermitglieder des Wilhelm Reich Instituts für Deine Konstanz und „Haltefunktion“, die Du auch in schwierigen Zeiten nicht gescheut hast, danken.

    Wir freuen uns, dass Du Deine Erfahrung und Deine Hilfsdienste weiterhin als Mitglied zur Verfügung stellst und dass Du uns auch im neuen Kapitel der Geschichte des WRI zur Verfügung stehst.

    Für das WRI
    Dr. Regina Hochmair

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    Bukumatula 2/2008

    Jede Außenansicht tut der Sache gut

    Interview mit Birgit Johler Kuratorin der Wilhelm Reich-Ausstellung „Sex!Pol!Energy!“,
    die vom 16. November 2007 bis 2. März 2008 im Jüdischen Museum in Wien zu sehen war.
    Wolfram Ratz:

    Wolfram Ratz: Wie geht es einer Kuratorin, wenn eine Ausstellung zu Ende gegangen ist?

    Birgit Johler: Sehr gut, es geht ihr sehr gut! Mit einem Projekt wie diesem, das einen zwei Jahre lang intensiv „verfolgt“ hat, erfolgt mit der Eröffnung ein Loslassen und ein Übergeben an das Publikum. Und wenn alles wieder zusammengepackt wird, ist klar: Jetzt ist Zeit für etwas Neues. Man hat wieder Energie, sich neuen Herausforderungen zu stellen.

    W: Kannst Du uns im Rückblick eine Bilanz Deiner Ausstellung geben, bzw. woran kann man den Erfolg einer Ausstellung überhaupt messen?

    B: Zum Beispiel anhand der Besucherzahlen. Aus der Sicht des Museums war die Ausstellung ausgezeichnet besucht. Es war für mich schön zu sehen, dass es zur Person und an den Arbeiten Reichs Interesse gibt und so viele Leute kamen. Ein Erfolg war für mich auch, dass in den Medien, insbesondere in den Medien, die mir wichtig sind, die Ausstellung gut besprochen wurde.

    Obwohl die Ausstellung schon geschlossen ist, gibt es immer noch Besprechungen zum Beispiel in der Stadtzeitung „dérive“ oder in der „Springerin“. Und es wird Rezensionen geben zum Ausstellungskatalog zum Beispiel in „Luzifer Amor“, das ist eine bekannte psychoanalytische Zeitschrift, oder auch in der „Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis“ von Bettina Reiter. Das sind für mich sehr schöne Zeichen dafür, dass das Thema und auch die Art, wie mit Reich umgegangen worden ist für viele, so hoffe ich zumindest, interessant aufbereitet war.

    Aus dem Umkreis des Wilhelm Reich Infant Trusts gab es eine sehr kritische Reaktion, die mir nicht persönlich zugeschickt wurde, mich aber über den Umweg des Wiener Reich-Instituts erreichte. Ich habe darauf gar nicht reagiert, weil die angesprochenen Kritikpunkte mir gezeigt haben, dass diese Person die Ausstellung überhaupt nicht verstanden hat. Und mich dazu in jeder Kleinigkeit nicht zu verteidigen, sondern zu erklären, war mir zu der Zeit, als dieses Mail ausgesandt wurde, einfach zu mühsam.

    W: Wie viele Leute haben die Ausstellung besucht?

    B: Es waren über 13.000 Personen. Gemessen daran, dass so manche andere Museen das als Jahresbesucherzahl haben, ist auch das ein sehr schöner Erfolg für mich.

    W:Die nächsten Fragen beziehen sich auf die Kritik von Philip Bennett, den Du vorher angesprochen hast und Kevin Hinchey, den Co-Direktor des Wilhelm Reich Museums in Rangeley. Vielleicht können wir damit auch gleich einige Ungereimtheiten auflösen. Von Hinchey wurde kritisiert, dass der Reich von 1937-1957 in der Ausstellung unzusammenhängend, nicht in eigenen Zitierungen und mit zum Teil fehlenden Erklärungen gestaltet war.

    B: Dazu möchte ich eines sagen: Kevin Hinchey hat die fertige Ausstellung gar nicht gesehen. Er ist weggefahren, als die Objekte gerade aufgestellt wurden. Worauf er sich beruft ist, so vermute ich, die Kritik von Philip Bennett, der ihm in Amerika wohl darüber berichtet hat. Zum Vorwurf, dass Reich nicht mit seinen eigenen Zitaten vorgestellt worden ist, möchte ich anmerken, dass ich nie vorhatte, Reich nur mit seinen Zitaten auszustellen.

    Es sind Zitate verwendet worden, die für die einzelnen Stationen, gerade in der biologischen Forschung, sehr charakteristisch sind und hervorstreichen, was seine Gedanken dabei waren. Ich glaube, es waren sehr wohlwollende Zitate. Diese Kritik stammt von jemandem, der mit Austellungmachen nicht viel Erfahrung haben kann. Also wie gesagt, ich würde nie eine Ausstellung nur mit Zitaten machen. Dass vielleicht einzelne Dinge besser oder ausführlicher erklärt hätten werden können – ich glaube er hat sich vor allem am Medical DOR-Buster gestoßen -, könnte man durchaus machen, da hätte man schon auch noch eine weitere Schiene einfügen können, die die Funktion des Gerätes gut erklärt.

    Diese Kritik nehme ich an und würde das beim nächsten Mal berücksichtigen. Unser Gedanke war einfach auch: Es gibt einerseits die Bücherecke, und es gibt bei Interesse auch Literatur von und über Reich in der dem Museum angeschlossenen Buchhandlung zu kaufen. Wir haben dafür Sorge getragen, dass Reich-Literatur entsprechend aufliegt.

    W: Man kann den psychoanalytischen und politischen Wilhelm Reich – was ja wissenschaftlich gut aufgearbeitet ist, sehr wohl in einer Ausstellung darstellen. Wenn es aber um den „späten“ Reich geht, also seine Forschungen bzw. Erkenntnisse ab den 1937er Jahren, wird es schwieriger.

    B: Mir ging es in der Ausstellung nicht darum, alles im Detail zu erklären. Das war in diesem Rahmen auch gar nicht möglich, und dafür waren auch die Räumlichkeiten zu klein. Was mir zu Reichs letzter Schaffensphase wichtig war, war aufzuzeigen, dass er sehr wohl als Naturwissenschaftler gearbeitet und über die Jahre hinweg ein System entwickelt hat, wie es durchaus auch für andere Laborwissenschaftler typisch ist.

    Also dass man von einer Fragestellung ausgeht und immer tiefer hineinkommt, ein Phänomen entdeckt, vielleicht dann dazu ein Gerät entwickelt und mit dem Phänomen arbeitet, auch weil er sich selbst als Mensch mit seinem ganzem Wesen und auch mit seinem Körper einbringt. Also: Reich sitzt stundenlang vor dem Mikroskop, merkt, dass seine Augen schmerzen und zieht daraus seine eigenen Schlüsse – und entdeckt Phänomene, die anderen in der Form entgangen wären. Reich selbst hat den Fetisch „Wissenschaft“ hinterfragt und gemeint: Ein Forscher muss mit seinem ganzen Wesen und seinem ganzen Körper in die Forschung gehen, sonst ist das eine „tote“ Forschung.

    Es war uns wichtig, diese Reich’sche Haltung zu zeigen, und wir haben es auch mit Zitaten belegt. Auch auf zwei für Reich wichtige Phänomene – die Strahlung und die Speicherung – sind wir deutlicher eingegangen und haben sie in einen kulturwissenschaftlich-naturwissenschaft-lichen Kontext gestellt, um zu zeigen, dass auch andere Wissenschaftler zur selben Zeit mit Strahlung, lebendiger Strahlung, gearbeitet haben, bzw. dass das Interesse, Energie zu akkumulieren nicht nur von Reich allein formuliert wurde.

    Es war mir letztlich auch ein zentrales Anliegen, ihn ein bisschen von diesem Sockel „Reich, der Entdecker der Lebensenergie – und er ist so verkannt“ herunterzunehmen, sozusagen Aug in Aug mit ihm noch einmal durchzugehen, was er da entwickelt und sich dabei gedacht hat. Damit habe ich auch ein bisschen das Hysterische seiner letzten Schaffensphase herausgenommen und habe dafür von mehreren Seiten Anerkennung bekommen.

    W: Ein anderer Kritikpunkt betrifft den ausgestellten uranhaltigen Stein.

    B: Ja, das war ein sogenannter „Uranopolit“. Damit wollten wir zeigen, dass Reich auch ein risikobereiter Wissenschaftler war, der im Zeitalter der Atomenergie mit Uran geforscht hat, schon auch wissend, welche Gefahren damit verbunden sind. Allerdings, das muss man sagen, sind damals andere Werte als gefährlich erachtet worden als heute. Also die Menge, die Reich damals von der Atombehörde erhielt – insgesamt 3 Milligramm – ist aus heutiger Sicht eine unglaublich gefährliche Menge, und damals hat er sie immerhin frei bekommen können.

    Das zeigt schon auf, wie zu seiner Zeit mit Strahlenmaterial umgegangen wurde. Dieser Stein, den wir in der Ausstellung hatten, hat einerseits die „böse“ Strahlung symbolisiert, andererseits sollte es ein Verweis auf das Arbeiten mit Strahlung sein. Zum Beispiel haben auch Sexualwissenschaftler in den 1920er Jahren sexuelle Störungen mit Strahlung behandelt, also mit Radium. Das war irgendwo auch die Schnittstelle, an der Reich da gearbeitet hat. Einerseits ist Radium ein Material, das heilen kann, andererseits aber auch sehr lebensbedrohlich ist.

    Wir sind an das Naturhistorische Museum mit der Bitte herangetreten, uns ein Mineral zu geben, das auf keine Weise irgendjemanden gefährdet. Und wir haben dann einen Uranopolit bekommen, dessen Strahlung geringer ist als die normale Hintergrundstrahlung. Das heißt, die normale Hintergrundstrahlung beträgt 90 Nanosievert/Stunde und dieser Stein hatte 60. Die Dosisleistung des Minerals betrug in 60cm Entfernung inklusive des natürlichen Hintergrunds 150 Nanosievert/Stunde; in einem Meter Entfernung war nur noch der natürliche Hintergrund messbar.

    Der Stein war so positioniert, dass es rundherum einen Sicherheitsabstand von 60 Zentimetern gab, und außerhalb dieses Kreises war, wie schon gesagt, nur mehr die normale Hintergrundstrahlung messbar. Das war wohl der Stein des Anstosses. Ich wurde daraufhin von Kevin Hinchey mit dem Vorwurf konfrontiert, dass man damit Reichs Ausstellungsstücke mit DOR-Energie kontaminiert hätte. Da habe ich noch zu erklären versucht, dass dieser Stein eine so geringe Strahlung hat, dass er in Wirklichkeit ein Dummy ist und jede alte Armbanduhr mehr an Strahlung abgibt. Aber er hat es nicht gelten lassen.

    Für mich war es damit irgendwie klar, dass er darüber nicht nachdenken will. Wenn diese geringste Menge an Strahlung einen DOR-Effekt verursachen soll, dann hätte er uns im vorhinein darauf hinweisen müssen, denn dass sich dieser Stein in der Ausstellung befinden wird, hat Hinchey gewusst. Er hat aber erst im Nachhinein dazu Kritik geübt. Ist das für Dich verständlich?

    W: Ich meine schon. Die Kritik bezog sich auf die unmittelbare Nachbarschaft dieses Steins zum ausgestellten Orgonakkumulator und dem Medical DOR-Buster.

    B: Aber die waren ja weit weg. Also erstens stand der Akkumulator geöffnet und da wird nach Reich auch keine Orgonenergie akkumuliert und zum DOR-Buster meine ich, dass der damals schon von Reich kontaminiert wurde. Der ist 1954, 1955 gebaut worden, und da war Orgonon schon radioaktiv verseucht. Also diese minimale Menge an Strahlung, so meine ich, steht in keiner Relation zu dem, was damals beim Oranur-Experiment passiert ist.

    Wir haben sogar das Österreichische Atom-Institut eingeschaltet, um uns die Ungefährlichkeit der Strahlung bestätigen zu lassen, wohingegen meines Wissens nach in Orgonon nie von einer offiziellen Stelle Messungen mit entsprechenden Geräten durchgeführt wurden. Darüber wird geschwiegen, das ist ein Tabu. Immerhin finden sich dort jedes Jahr eine größere Anzahl von Leuten zu einer Sommer-Konferenz zusammen. Und jeder weiß um die Halbwertszeit von Uran Bescheid.

    Ich meine – und das ist eine wirklich sehr persönliche Interpretation – dass es der Erfolg der Ausstellungseröffnung war, den die Leute des Infant Trusts auch miterlebt haben und der für sie schwer zu akzeptieren war. Reich war jetzt 50 Jahre lang „eingesperrt“, war nicht öffentlich und durfte nicht kritisiert werden – wobei wir ja keine Kritik an Reich in der Ausstellung geübt haben. Die Ausstellung war eine kulturwissenschaftliche Ausstellung, die Erklärungsmodelle liefert und nicht eine Legitimation zum Beispiel für Reichs Orgonenergie oder ein Beweis für die Existenz von Orgonenergie zum Inhalt haben konnte.

    Ich glaube, dass es für Kevin Hinchey schwer war mit diesem Erfolg umzugehen und dass das ein Anker war, eine über Jahre hinweg gehegte Abwehrhaltung nach Außen zu pflegen. Das ist zumindest meine Erklärung für die Dinge, die da vorgefallen sind. Was natürlich auch 50 Jahre lang geübt wurde ist die Tatsache, dass mit objektiven Kriterien – ich möchte sagen, einfachen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen – nicht argumentiert werden kann, da Reich für seine Anhänger außerhalb der „normalen“ Wissenschaften steht und Reich mit deren Augen nicht gelesen werden kann. Und deswegen ist auch jegliche Kritik von außen verboten.

    W: Du meinst die Leute vom Infant Trust waren überrascht, dass so viele Personen bei der Eröffnung waren?

    B: Ja. Das Wilhelm Reich Museum in Rangeley hat – wenn ich mich richtig erinnere – in einem guten Jahr 600-700 Besucher. Allein bei der Eröffnung in Wien waren rund 300 Personen anwesend. Natürlich war die Euphorie groß. Und natürlich ist es schon auch so, dass die Objekte nie woanders ausgestellt waren – und jetzt gingen sie gleich über den großen Teich und wurden damit einer ganz anderen Verantwortung übergeben. Ich stelle mir das nicht einfach vor. Jetzt sind die Objekte wieder „eingesperrt“. Die Kultur des Umgangs mit dem Reichschen Erbe, in dem Fall auch mit seinen materiellen Objekten, ist wieder die, die sie immer war: Eingesperrt.

    W: Der „Stein des Anstosses“ wurde dann auf Verlangen des Infant Trusts entfernt.

    B: Ja, der Stein wurde entfernt. Ich habe das Arrangement gelassen und einen Text dazu verfasst, dass er eben aufgrund dieser und jener Bedenken entfernt werden musste.

    W: Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Ausstellung „gottteufeläther“ des Künstlers Oz Almog, die im gleichen Geschoß untergebacht war und nur über die Reich-Ausstellung zu begehen war. Oz Almog hat sich, wie aus dem Mail von Philip Bennett hervorgeht, eher abwertend Reich angenommen. Kannst Du sagen, wie diese Ausstellung zu Stande gekommen ist und wie Du das siehst?

    B: Ja. Diese Ausstellung hat mit meiner Ausstellung überhaupt nichts zu tun gehabt. Es war ein völlig eigenständiges Projekt. Oz Almog ist ein Künstler, der für das Jüdische Museum immer wieder Installationen macht und ist auch hier eingeladen worden, weil er einen persönlichen Zugang zu Reich hat und Interesse hatte, da etwas zu gestalten. Ursprünglich wäre diese Installation räumlich weiter weg gewesen, das hat sich dann aber so nicht ergeben, weil dort zur Zeit der Reich-Ausstellung eine andere Ausstellung von ihm war.

    So ist diese Ausstellung in diesen kleinen Raum gekommen. Ich habe bis zum Schluss nicht gewusst, was da entstehen wird, auch nicht mein Kollege vom Jüdischen Museum und ich habe sie dann einen Tag vor der Eröffnung gesehen. Ich kann mir schon vorstellen, dass die Reichianer damit wahrscheinlich wenig Freude hatten, zumal Oz Almog dieses abgeschlossene Reichsche Denksystem auch irgendwie mit Wahn und Wahnsinn in Verbindung gebracht hat. Wir sind in Europa, und die Kunst und die Wissenschaft sind zum Glück frei. Wie gesagt, es ist ein Kunstwerk im Auftrag des Jüdischen Museums gewesen, und ich fand es auch gut, dass dieses Kunstwerk nicht abgeräumt wurde, wie es die Forderung des Infant Trusts war.

    Die Haltung der Museumsleitung dazu war: Solange niemand gefährdet ist, bleibt das Konzept so wie es ist. Ich denke das Problem des Infant Trusts, das heißt von Kevin Hinchey, Philip Bennett und einigen anderen ist, dass sie keine Kritik an Reich zulassen können. Und das brachte mich in eine schwierige Situation. Selbst Freud darf man kritisieren, und trotzdem war er einer der größten Österreicher. Aber jemanden wie Reich, der ohnehin einen so schwierigen Stand in der Wissenschaft hat, dann noch vor jeglicher Außensicht abzuschirmen, halte ich sowohl für seine Arbeit als auch für seine Person ganz problematisch.

    W: Kevin Hinchey hat sich in seinem Vortrag im November letzten Jahres in Wien beklagt, dass anlässlich der Öffnung des Reich-Archivs in den US-Medien haarsträubende Kommentare zu Leben und Werk Reichs abgefasst waren. Er drückte seine Enttäuschung darüber aus, dass sich am schlechten Image Reichs in den letzten 50, 60 Jahren nichts geändert hat. Es ist schon eine Herausforderung, wie man damit jetzt umgehen soll.

    Offenbar hat sich Hinchey für ein weiteres Abschotten entschieden. Über die Wiener Ausstellung schreibt er in einer Aussendung enttäuscht: „Wir haben ernsthaft geglaubt, dass dies eine wertvolle Gelegenheit wäre, die Wahrheitüber Reichs Leben und Werk einem größeren Publikum zugänglich zu machen.“

    B: Mit dem Infant Trust gab es bis zur Ausstellungseröffnung eine sehr freundschaftliche Zusammenarbeit, die gut funktioniert hat. Dass das dann in ein Misstrauen, oder wie auch immer man das bezeichnen mag, umgeschlagen hat, finde ich sehr bedauerlich. Aber als Person der Wissenschaft, sage ich jetzt einmal, sehe ich schon, dass es da einfach das Problem gibt, eine Außensicht-Kritik nicht zulassen zu können. Das hat jetzt mich getroffen, es hat Makavejev getroffen und es wird jeden anderen treffen, der sich mit Reich näher beschäftigen und mit dem Infant Trust in irgendeiner Form zusammenarbeiten möchte.

    Es wird die Haltung vertreten: nur wer jahrelang durch unsere Schule gegangen ist, kann Reich kennen. Der Infant Trust will genau wissen, mit wem er es zu tun hat, welche Ansichten die Leute haben, und erst dann wird entschieden: geben wir einen Teil von Reich preis oder nicht. Im Endeffekt ist das für mich kein gangbarer Weg. Ein krasses Beispiel: Würde ich eine Ausstellung über den Vatikan machen, würde ich natürlich mit dem Vatikan kooperieren, aber im Endeffekt bringe ich meine eigene Sicht der Dinge ein; ich würde dann auch nicht mit Andreas Laun zusammenarbeiten. Ich glaube, dass hier eine Fortschreibung dessen passiert ist, was jahrelang kultiviert wurde. Aber wie gesagt: Reaktionen von Menschen aus vielen Ländern haben mir gezeigt, dass es auch Leute gibt, die die Ausstellung verstanden haben und dafür sehr dankbar sind.

    Dazu habe ich zum Beispiel einen sehr netten Brief der Berliner Freud-Lacan-Gesellschaft bekommen. Das sind für mich schon wichtige Reaktionen und ein Zeichen dieser Leute, dass sie sich Reich gegenüber öffnen und sich für ihn interessieren.- Ein Problem war sicher auch, dass Kevin Hinchey vielleicht eine andere Erwartung an die Ausstellung hatte. Er wollte eine Ausstellung haben, die Reich als Genie und Wahrheitsfinder darstellt. Und das hat sie natürlich nicht. Für ein Genie hat er für mich zu viele Fehler in seinem wissenschaftlichen Gesamtwerk, und er erlaubt für mich nur eine Sicht, nur eine Lösung und die ist die Ultimative. Das war vielleicht auch eines der Grundprobleme bzw. Kernkritik des Infant Trusts gewesen.

    W: Du warst ja schon im Reich-Museum in Rangeley. Wird Reich dort so dargestellt?

    B: Im Endeffekt läuft alles auf Reichs Orgonenergie hinaus und es wird versucht, sie auch in Experimenten darzustellen. Es ist eine einfache, mit konventionellen Mitteln gestaltete Ausstellung. Es schwingt für mich schon mit – vor allem auch in den Führungen -, dass Reich so verkannt wurde und er eine Wahrheit anbieten würde – und wenn wir sie kennen würden, diese uns von allem heilen würde.

    W: Das über Jahrzehnte hinweg ertragene Außenseitertum – sozusagen in Fortsetzung an die Lebensgeschichte Reichs – hat wahrscheinlich zu einer Abwehrhaltung und damit zu noch größerer Isolation geführt. Nicht ernst genommen zu werden ist für beide Seiten ein Problem.- Noch eine Frage zu Oz Almog: Stimmt es, dass er die Wilhelm Reich Ausstellung in Wien initiiert hat?

    B: Nein, das stimmt nicht.

    W: Das war aber in dem Mail von Philip Bennett zu lesen.

    B: Da steht sehr viel Unsinn drinnen. Es gibt einige Punkte, die ich mit Mary Higgins richtig stellen will, weil mir das persönlich wichtig ist. Die Idee der Ausstellung stammt von mir. Ich habe ein Basiskonzept erstellt und habe mit jemandem aus dem Umkreis des Jüdischen Museums darüber gesprochen. Dann stieß Oz Almog dazu. Er hat die Idee sehr gut gefunden und hat dann gemeinsam mit mir versucht, die Ausstellung den Verantwortlichen im Haus schmackhaft zu machen. Also die Idee ist von mir und die Ausstellung ist von mir.

    W: Was ist aus dem Kontakt zu Higgins und Hinchey übriggeblieben, ist das vorwiegend Misstrauen?

    B: Na ja, Misstrauen vor allem mir gegenüber. Sie haben nicht mit Schmähungen gespart, darüber ist auch in einem Update des Reich-Museums, das an Reich-Interessierte geht, berichtet worden. Nachdem die Ausstellung abgebaut war, habe ich ihnen einen kurzen Bericht geschickt, wie sie gelaufen ist und habe seither nichts mehr von ihnen gehört. Wie gesagt: Mit Mary Higgins möchte ich noch einmal in Kontakt treten, weil es mir vor allem ihr gegenüber leid tut, dass da eine freundschaftliche Beziehung zerbrochen ist.

    Nachdem dieses „Bashing“ abgeflaut war, hat mir Philip Bennett übrigens ein Mail geschickt, in dem er sich für das Verhalten von Kevin Hinchey entschuldigt!There you are! Da fällt der eine dem anderen in den Rücken. Mir tut das sehr leid wegen der Sache. Bennett hat in Wien geschwärmt, wie großartig die Ausstellung gelungen sei und auch in einem Mail, kurz nachdem er wieder in Amerika war. Danach folgte eine 13 Seiten lange Mailaussendung mit seiner Kritik an der Ausstellung, die er aber nicht an mich geschickt hat. Ich glaube, das sagt schon sehr viel.

    W: Interessant gefunden habe ich die Bemerkung Bennetts, dass bei der Eröffnung der Ausstellung Lore Reich Rubins erster Satz lautete: „I am the wrong person to speak at this exhibit“.

    B: Das war eine Phantasie von Bennett, das hat er sich sozusagen erträumt: Dass Lore zum Podium geht und sagt, „Ich bin nicht die richtige Person, die hier sprechen darf“, sondern das wäre eigentlich Mary Higgins.

    W: Das war ein Traum?

    B: Eine Vision, die er so niedergeschrieben hat. Er hätte sich gewünscht, dass das so geschieht. Da bin ich zuerst auch darüber gestolpert. Er hat ja weiters behauptet, dass der Blumenstrauß für Mary Higgins kleiner gewesen sei, als jener für Lore Reich. Aber für jeden der Sträuße wurde von uns der gleiche Preis bezahlt.- Ich finde das absurd. Kritisiert hat er auch, dass Mary Higgins in der zweiten Reihe gesessen habe. Sie hat sich von sich aus dorthin gesetzt, und ich habe sie extra noch gebeten, sich in die erste Reihe zu setzen

    W: Warum wurde gerade Lore Reich Rubin eingeladen, die ja eine besonders problematische Beziehung zu ihrem Vater hatte?

    B: Es war der Wunsch der Museumsleitung die Töchter Wilhelm Reichs einzuladen – auch als Verneigung gegenüber der Familie Reich und dass sie aus Wien vertrieben wurden. Natürlich wäre Eva Reich diejenige gewesen, die sprechen hätte müssen. Da sie aber krankheitsbedingt nicht in der Lage war nach Wien zu kommen, hat Lore die Eröffnungsrede gehalten.

    Evas Tochter, Renata Moise, hat Eva Reich bei der Eröffnung vertreten. Lore Reich hat ja übrigens einen sehr interessanten Artikel veröffentlicht, u.a. 2007 im Bukumatula, in dem sie das Beziehungsgeflecht rund um Anna Freud skizziert. Der Artikel ist erstaunlich und eröffnet neue Sichtweisen auf das Verhältnis Wilhelm Reichs zu Anna Freud als zentrale Figur der Psychoanalytischen Vereinigung.

    W: Wird die Ausstellung – also ohne die Leihgaben aus Orgonon – noch anderswo zu sehen sein?

    B: Ich warte noch auf eine Nachricht aus Oslo. Wir können mit den Dokumenten, die wir in Wiener und anderen Archiven weltweit zusammengetragen haben, auch eine Ausstellung machen und genauso die Themen darstellen, auch weil es in Oslo Objekte gibt, die man zeigen kann. Angeblich gibt es dort historische Akkumulatoren und dank der lebendigen Reich-Szene kann man auch verschiedene Geräte wie Shooter, etc. zeigen; man braucht nicht unbedingt die Originalobjekte.

    Ich möchte noch hinzufügen, dass sich sowohl Lore Reich Rubin als auch Renata Moise bereit erklärt haben, bei dieser Ausstellung mitzuarbeiten. In Norwegen interessiert sich das „National Museum of Medicine“ konkret für die Ausstellung. Und sollte das etwas werden, dann würde ich versuchen, die Ausstellung auch in Berlin zu zeigen. Es gibt dort ein paar Leute, die bereit sind mir zu helfen einen Ort zu finden, wo man eine redimensionierte Version der Ausstellung zeigen kann.

    W: Ich habe den Eindruck, dass dieses Projekt für Dich eine besonders turbulente Zeit mit sich brachte. Hast Du daraus für Dich persönlich etwas gelernt?

    B: Schon, dass noch kein Ausstellungsprojekt so schwierig war wie dieses. Einfach deshalb, weil es da eine Interessengruppe als Hauptleihgeber gab, die nicht wie üblich die Objekte verleiht, sondern auch inhaltlich viel mitgestalten wollte. Als Kuratorin muss man dann einen Weg finden, damit das dann die eigene Ausstellung bleibt und man noch dahinterstehen kann. Schade finde ich für mich persönlich, dass sich aufgrund dieser Vorfälle mein Zugang zu Wilhelm Reich sehr geändert hat – derzeit ist er von Distanz geprägt.

    W: Das kann ich gut verstehen. Noch eine Frage: Stellen Leihgeber üblicherweise Bedingungen?

    B: Von Leihgebern gibt es in der Regel keine inhaltliche Beteiligung, die Objekte werden verliehen oder nicht verliehen, aber es gibt keine inhaltliche Einflussnahme. Manchmal gibt es Schwierigkeiten mit Ausstellungen aus Privatnachlässen, wo vielleicht noch Kinder da sind, die auch ein Interesse haben, dass die Person gut dargestellt wird. Wenn man zu Leihgaben bereit ist, muss man sich aber im Klaren sein, dass es andere Personen mit einem eigenen Zugang gibt, die ihre Sicht der Dinge einbringen.

    Ich muss hinzufügen, dass der Infant Trust von mir sehr wohl immer inhaltliche Storyboards bekommen hat, in denen sie die Geschichte, die ich erzählen wollte, einsehen konnten. Das haben wir stets gemeinsam durchbesprochen; Anlass zu Kritik gab es nicht. Was dann aber nachgefolgt ist, war für mich ein Ausdruck von Hilflosigkeit, irgendwie ein Ventil, weil sie mit dem Ganzen nicht umgehen konnten.

    W: Was sind Deine nächsten Projekte als Kuratorin?

    B: Ich arbeite derzeit in einem Forschungsprojekt der Psychoanalytischen Vereinigung mit, in dem es um die Geschichte der Psychoanalytischen Vereinigung bis 1945 geht. Mein Aufgabengebiet betrifft die Praxis August Aichhorns, der Psychoanalytiker war und als Nicht-Jude auch nicht emigrieren musste. Halbtags bin ich als Kuratorin am Museum für Österreichische Volkskunde angestellt und bereite dort ein Projekt über die Geschichte des Museums vor. Ich bin somit wieder in meinem Fach, aus dem ich komme: Europäische Ethnologie – und ich fühle mich dabei sehr wohl.

    W: Danke für Deine Erklärungen.

    B: Noch zwei Sätze: Es tut mir leid, dass dieser Bruch passieren musste, auch für alle nachkommenden Projekte, die es geben wird. Ich spreche damit den Dokumentarfilm über Wilhelm Reich von Antonin Svoboda an, an dessen ursprünglichem Drehbuch ich ja mitgearbeitet habe. Ich würde es auch sehr gut finden, wenn dieses Filmprojekt realisiert wird, denn, wie gesagt: Jede Außenansicht tut der Sache gut.

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    Bukumatula 2/2008

    Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die 68er

    Vortrag anlässlich der Buchpräsentation „Wilhelm Reich Revisited“ (Herausgeberin: Birgit Johler)
    am 13. März 2008 in der Wiener Universitätsbibliothek von
    Helmut Dahmer:

    (1) 2008 jährt sich der fatale „Anschluß“ Österreichs an Hitlerdeutschland zum 70. Mal, und das Jahr 1968, der Höhepunkt der internationalen Studenten- und Schüler-Protestbewegung liegt 40 Jahre zurück. Der österreichische Ableger der französischen und westdeutschen Jugendbewegung der sechziger Jahre war vor allem auch eine Art „Antwort“ auf die „Ostmark“-Zeit und ihre Hinterlassenschaft. Der Jugend-Protest richtete sich damals gegen das System der feindlichen Koexistenz eines kapitalistischen und eines nichtkapitalistischen Länder-Blocks, in dessen Rahmen jede radikale Binnen-Opposition – also jeder Versuch zu einer Realisierung alternativer gesellschaftlicher Entwicklungen – zum Scheitern verurteilt war.

    In Westdeutschland und in Österreich war die 68er Bewegung im wesentlichen eine Renaissance des libertären Sozialismus– und sicher nicht die letzte. Das will vielen nicht einleuchten, und so hat es an Versuchen nicht gefehlt, diese befremdliche, anstößige Alternative mit dem Terrorismus der RAF und anderer Gruppen der siebziger Jahre oder auch gleich mit dem Faschismus in eins zu setzen.

    Was den radikal oppositionellen Studenten von Berlin, Frankfurt und Leipzig und denen von Kioto, Berkeley, London, Paris und Prag gemeinsam war, war ihre Gegnerschaft gegen den Vietnamkrieg und den repressiven Staat sowie ihre Sehnsucht nach einer freieren Lebensweise. Das Spezifikum der Revolte des aktiven Teils der jungen Generation in der Bundesrepublik war die kompromißlose Abwendung von der verstockten Generation, die sich zwischen 1933 und 1945 mit Führerstaat, arischer Volksgemeinschaft und Krieg identifiziert hatte.

    Erst die Generation der 68er vollzog wirklich einen Bruch mit den Traditionen, denen der Albtraum des „Dritten Reiches“ entsprungen war. Sie wollte anders sein, anders leben als ihre Eltern und Lehrer. Sie hat weder den Kapitalismus noch den Staat abschaffen können, kreierte aber in der Nachkriegsgesellschaft neue „Werte“ (eigentlich Gegenwerte) und brachte eine Änderung von Mentalität und Lebensform in Gang. Auf diese Weise hat sie den Bildungs- und Rechtsreformen der siebziger und achtziger Jahre und den neuen „sozialen Bewegungen“ (der feministischen, der pazifistischen und der „grünen“) den Weg bereitet.

    (2) Die studentische Avantgarde der sechziger Jahre blieb trotz ihrer vielfältigen symbolischen Aktionen isoliert. Und in Ermangelung eines Echos oder Rückhalts bei der Bevölkerungsmehrheit beziehungsweise bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften suchte sie nach theoretischer Orientierung, nach literarischen Bundesgenossen. So kam es zur Wiederentdeckung der heterodoxen marxistischen Theoretiker, der großen Anarchisten und der psychoanalytischen Kulturkritik. Sigmund Freud, der vor 1933 in Deutschland und Österreich nur von intellektuellen Minderheiten gelesen wurde, dann von den Nazis verfemt worden war, wird erst seit den sechziger Jahren in Millionenauflagen gedruckt.

    Auch Wilhelm Reich, der 1933 aus der KPD, 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossene Freudomarxist, der in den Jahren 1929-1933 Zehntausende sozialistische Jugendliche für sein sexualpolitisches Programm begeistert hatte, war gründlich vergessen. Da es der 68er Generation aber um eine Verschmelzung von Antifaschismus und Hedonismusging, stieß sie bei ihrer Orientierungssuche bald auf seine Schriften, und Reich avancierte zu einer der antiautoritären Autoritäten.

    Hören wir einen Zeitzeugen, Robert Schindel: „Ich bin bloß ein von Zeit zu Zeit politisierender Literat, und als solcher bin ich schon auf die Studentenbewegung gekommen.“ Du mußt zurückgehen „auf die Einfleischungen deiner politischen Sozialisation: Hitler in uns. Stalin in uns. Privateigentum in uns. Neid und Ehrgeiz in uns. Dieses ICH in uns. Freud kam des Weges, auf den haben wir gewartet. Und auf Reich erst recht, den alten Kommunisten.“ (1)

    (3) Reich war 1966, als er durch die Wiederveröffentlichung seines Buches Die sexuelle Revolution (2) deutschen Lesern wieder bekannt wurde, wenig mehr als eine Legende. Doch seine neuen Leser wußten, daß er gegen die repressive Sexualmoral gekämpft und sich mit der antifaschistischen Arbeiterjugend verbündet hatte. Sein näheres Verhältnis zur Freudschen Psychoanalyse interessierte zunächst kaum, schon gar nicht seine Abkehr von Marxismus und Psychoanalyse Mitte der dreißiger Jahre und die Entwicklung seiner wunderlichen Biophysik, der „Orgonomie“.

    Bald aber erschienen Raubdrucke seiner Charakteranalyseund der Massenpsychologie des Faschismus, die als gut verständliche Popularversionen der Adorno-Horkheimerschen Untersuchungen über den „autoritären Charakter“ gern gelesen wurden. Das durch Reich und andere Vertreter der Freudschen Linken geweckte neue Interesse an Freud, also am Original der Sache, motivierte schon Anfang der siebziger Jahre studentische Raubdrucker zu einem illegalen Reprint der 17bändigen Gesammelten Werke, von dem dann – auf Betreiben des Fischer-Verlags – Hunderte von Exemplaren in einem Frankfurter Kellerversteck von der Polizei beschlagnahmt wurden…

    (4) Galt Reich den Stalinisten seit 1933 als ein Abweichler, ein „Trotzkist“, so hielten ihn die organisierten Psychoanalytiker (mit schlechtem Gewissen) für einen gefährlichen Narren. Die Begeisterung der Protest-Generation für ihn konnten weder die einen, noch die anderen verstehen. Die psychoanalytischen Vereins-Historiker haben im Laufe des vergangenen Jahrzehnts schließlich doch wahrhaben müssen, daß Reich 1934 auf Betreiben Freuds auf dem Luzerner Kongreß aus der Psychoanalytischen Internationale ausgeschlossen wurde und nicht etwa aus purem Eigensinn deren Reihen verließ.

    Zuzugeben, daß Reich recht hatte, als er feststellte, daß die nationalsozialistische Ideologie und die Freudsche Psychoanalyse Antipoden sind und daß es darum keine friedliche Koexistenz zwischen Deutscher Psychoanalytischer Gesellschaft und NSDAP geben konnte, fällt ihnen immer noch schwer. Seit den sechziger Jahren sind Reichs Bücher, nicht nur die aus der psychoanalytischen, sondern auch die aus der orgonomischen Phase, wieder auf dem Buchmarkt.

    Eine Reihe von Biographien sind erschienen, Reichianische Gruppen und Institute mit eigenen Zeitschriften sind entstanden. In vielen dieser Gruppen gilt die Orgonomie samt ihren therapeutischen Anwendungen als eine Art Heilslehre. Reichs 110. Geburtstag und sein 50. Todestag waren im vorigen Jahr Anlaß zu einer ganzen Serie von Gedenkveranstaltungen; man plante sogar eine weltumspannende Menschenkette zu seinem Andenken. Gleichzeitig wurde sein literarischer Nachlaß zugänglich.

    Zu der ersten umfassenden Reich-Ausstellung, die – wie die ihr jetzt unter dem Titel „Wilhelm Reich 1938 1968“ folgende – von Birgit Johler und ihren Mitarbeitern ausgerichtet wurde, kam es freilich weder auf Initiative von Reichianern, noch auf Initiative von Psychoanalytikern. Es handelte sich vielmehr um eine Veranstaltung des Wiener Jüdischen Museums. Die Ausstellung selbst und die von Frau Johler herausgegebene „Begleitpublikation“(3)bieten einen fairen Überblick über die Entwicklung des eigenwilligen Freud-Schülers Reich in den Jahrzehnten zwischen dem ersten Weltkrieg und den fünfziger Jahren des düsteren 20. Jahrhunderts.

    Auch sein problematisches Verhältnis zur Psychoanalyse wird – unter anderem durch den in der Ausstellung erstmals dokumentierten Briefwechsel (4) mit Freud und anderen Psychoanalytikern in den späten zwanziger und in den frühen dreißiger Jahren – verdeutlicht.

    (5) Die Psychoanalyse ist eine zwieschlächtige Wissenschaft. Obwohl Freud sich im Verlauf seiner Aufklärung des Rätsels der „sozialen Leiden“ Obsession und Hysterie und des Rätsels der Träume und Fehlleistungen vom Objekt- zum Subjektwissenschaftler und Institutionenkritikerwandelte, betonte er zeitlebens, die unnatürliche Psychoanalyse sei aucheine „Naturwissenschaft“.

    Reich teilte dieses Freudsche „Selbstmißverständnis“ (wie zuerst Hans Kunz, dann Jürgen Habermas es nannten) voll und ganz. In den Jahren 1927 bis 1936, als er versuchte, den (von ihm und vielen anderen) als eine „Naturwissenschaft“ von der Geschichte mißverstandenen Marxismus mit der ebenfalls als „Naturwissenschaft“ deklarierten Psychoanalyse unter dem Dach einer dialektisch-materialistischen (oder „funktionalistischen“) Metawissenschaft zu verbinden, verzichtete er zugunsten der marxistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung bereitwillig auf die Freudsche Kritik der Kultur (die ja die eigentliche Grundlage der Freudschen Psychologie und Therapie ist).

    Trotz dieser Beschränkung markiert seine Massenpsychologie des Faschismus– im Zusammenhang mit seinen anderen Arbeiten aus den Jahren 1927-1937 – die (bisher leider nur selten realisierte) Möglichkeit einer „Psychoanalytischen Sozialforschung“ (5) Als Soziologe halte ich Reichs Texte zur Kritik der Familie und der faschistischen Propaganda für seine wichtigsten (6). Er selbst ging freilich bald andere Wege. War schon in seinen frühen psychoanalytischen Arbeiten die Tendenz zur Naturalisierung des Triebbegriffs und zur Technifizierung der Therapie unverkennbar, so proklamierte Reich in den späten dreißiger Jahren den Verzicht auf „Psychologie“ und „Politik“ überhaupt.

    An die Stelle der Theorie des Unbewußten trat nun die Lehre von der kosmischen Orgon-Energie, und die psychoanalytische „talking cure“ (Annas O.)(7)wurde durch die „Vegetotherapie“ und andere Körpertherapien abgelöst. Nicht mehr auf die politische Praxis und auf die Geschichte setzte Reich seine Hoffnung, sondern auf einen Ausweg aus der Geschichte(die ihm nun als ein einziger Irrweg, als eine „Biopathie“ erschien). Nicht die Schreckenswelt der Stalin und Hitler, sondern der ewig pulsierende, blaue Orgon-Ozean war die wahre Wirklichkeit, und Reich hatte sie für die leidende Menschheit wiederentdeckt. „Zurück zur Natur!“ wurde nun auch seine Losung. Der revolutionäre Arzt und wunderliche Naturforscher Reich, dessen anstößige Schriften zweimal verbrannt wurden, einmal von den Nazis im Jahre 1933, das andere Mal auf Anweisung eines amerikanischen Gerichts in der Mitte der fünfziger Jahre, verdient unsere Achtung.
    ___________________

    Prof. Dr. Helmut Dahmer ist Soziologe und freier Publizist in Wien.
    Veröffentlichungen:

    • „Libido und Gesellschaft“ Frankfurt, 1973 (1982)
    • „Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert“ Wien, 2001

    Fußzeilein:

    (1) Schindel, R. (1983): „Über das Marxverständnis der Studentenbewegung.“ In: Danneberg, Bärbel, u. a. (Hg.) (1998): die 68er. Eine Generation und ihr Erbe. Wien (Döcker), S. 68-80. Zitate auf den S. 68 und 74.

    (2) Reich, Wilhelm (1966): Die sexuelle Revolution. Zur charakterlichen Selbststeuerung des Menschen. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt). [Bei dieser Veröffentlichung handelte es sich um eine überarbeitete, terminologisch veränderte Version des 1936 in Kopenhagen erschienen Buches Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen.]

    (3) Johler, Birgit (Hg.) (2008): Wilhelm Reich revisited. [Begleitpublikation zur Ausstellung „Wilhelm Reich. Sex!Pol!Energy!“ im Jüdischen Museum Wien vom 16. 11. 2007 – 9. 3. 2008.] Wien (Turia + Kant).

    (4) Diese Korrespondenz ist zum Teil auch in der „Begleitpublikation“ abgedruckt.

    (5) Abgesehen von Freuds Arbeiten aus den zwanziger und dreißiger Jahren – von Die Zukunft einer Illusionbis zu den Moses-Studien – ist in diesem Zusammenhang vor allem an Adorno-Horkheimers Untersuchungen zum „Autoritären Charakter“ und an die ethnopsychoanalytischen Arbeiten von Paul Parin und anderen zu erinnern.

    (6) In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem Reichs (am Ende des zweiten Weltkriegs geschriebenes) anarchistisches Pamphlet Listen, little man(1948) und seine politische Autobiographie Menschen im Staat(1953) zur Lektüre empfehlen.

    (7) „Anna O.“ (eigentlich Bertha Pappenheim) war die berühmte Patientin von Joseph Breuer, die das von ihr erfundene Verfahren des „Absprechens“ psychischer Konflikte als eine „talking cure“ (Redekur) bezeichnete. Man kann sie vielleicht als `Stifterin´ der Psychoanalyse bezeichnen. „Anna O.“ war die erste Fallstudie in Breuer/Freuds „Studien über Hysterie“ (1895) gewidmet.

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    Bukumatula 2/2008

    Einladung von Dr. Elfriede Kastenberger zur EABP/ISC- Konferenz

    die vom 8. bis 11. November 2008 in Paris stattfinden wird
    von
    Wolfram Ratz:

    Thema: KÖRPERBEWUSSTSEIN IM SCHNITTPUNKT VON KÖRPERPSYCHOTHERAPIE, NEUROWISSENSCHAFTEN UND TRADITIONELLEN HEILMETHODEN Höre nicht auf die Vorsichtigen, denn jetzt ist der Zeitpunkt für das Unerwartete gekommen. (Sri Aurobindo, The Hour of God XVII, 1)

    Dieser Kongress bietet Gelegenheit zu einer ganz besonderen internationalen Begegnung und vereinigt die Mitglieder der EABP (European Association for Body-Psychotherapy), die überwiegend aus West- und Zentraleuropa kommen und Menschen aus dem Netzwerk des CSI (Internationales Wissenschaftliches Komitee), mehrheitlich aus dem mediterranen und lateinamerikanischen Raum.

    TherapeutInnen aus ganz verschiedenen Kulturen können in den Workshops die praktische Arbeit ihrer KollegInnen kennen lernen, sich in Diskussionsforen austauschen und bei Vorträgen ihr theoretisches Verständnis vertiefen. Und auch Tanz, Musik und Bewegung werden bei diesem Kongress ihren Platz haben.

    Die Plenumsveranstaltungen, Workshops und das festliche Beisammensein wird in den Räumen der Pariser Medizinischen Fakultät im Quartier Latin stattfinden. Der Kongress soll unsere Praxis und unser theoretisches Wissen bereichern, sowohl in der Begegnung mit Erfahrungen aus jahrtausendealten Traditionen, als auch mit den Ergebnissen und Heraus- hatte 60. Die Dosisleistung des Minerals betrug in 60cm Entfernung inklusive des natürlichen Hintergrunds 150 Nanosievert/Stunde; in einem Meter Entfernung war nur noch der natürliche Hintergrund messbar.

    Der Stein war so positioniert, dass es rundherum einen Sicherheitsabstand von 60 Zentimetern gab, und außerhalb dieses Kreises war, wie schon gesagt, nur mehr die normale Hintergrundstrahlung messbar. Das war wohl der Stein des Anstosses. Ich wurde daraufhin von Kevin Hinchey mit dem Vorwurf konfrontiert, dass man damit Reichs Ausstellungsstücke mit DOR-Energie kontaminiert hätte. Da habe ich noch zu erklären versucht, dass dieser Stein eine so geringe Strahlung hat, dass er in Wirklichkeit ein Dummy ist und jede alte Armbanduhr mehr an Strahlung abgibt.

    Aber er hat es nicht gelten lassen. Für mich war es damit irgendwie klar, dass er darüber nicht nachdenken will. Wenn diese geringste Menge an Strahlung einen DOR-Effekt verursachen soll, dann hätte er uns im vorhinein darauf hinweisen müssen, denn dass sich dieser Stein in der Ausstellung befinden wird, hat Hinchey gewusst. Er hat aber erst im Nachhinein dazu Kritik geübt. Ist das für Dich verständlich?

    W: Ich meine schon. Die Kritik bezog sich auf die unmittelbare Nachbarschaft dieses Steins zum ausgestellten Orgonakkumulator und dem Medical DOR-Buster.

    B: Aber die waren ja weit weg. Also erstens stand der Akkumulator geöffnet und da wird nach Reich auch keine Orgonenergie akkumuliert und zum DOR-Buster meine ich, dass der damals schon von Reich kontaminiert wurde. Der ist 1954, 1955 gebaut worden, und da war Orgonon schon radioaktiv verseucht. Also diese minimale Menge an Strahlung, so meine ich, steht in keiner Relation zu dem, was damals beim Oranur-Experiment passiert ist.

    Wir haben sogar das Österreichische Atom-Institut eingeschaltet, um uns die Ungefährlichkeit der Strahlung bestätigen zu lassen, wohingegen meines Wissens nach in Orgonon nie von einer offiziellen Stelle Messungen mit entsprechenden Geräten durchgeführt wurden. Darüber wird geschwiegen, das ist ein Tabu. Immerhin finden sich dort jedes Jahr eine größere Anzahl von Leuten zu einer Sommer-Konferenz zusammen. Und jeder weiß um die Halbwertszeit von Uran Bescheid.

    Ich meine – und das ist eine wirklich sehr persönliche Interpretation – dass es der Erfolg der Ausstellungseröffnung war, den die Leute des Infant Trusts auch miterlebt haben und der für sie schwer zu akzeptieren war. Reich war jetzt 50 Jahre lang „eingesperrt“, war nicht öffentlich und durfte nicht kritisiert werden – wobei wir ja keine Kritik an Reich in der Ausstellung geübt haben. Die Ausstellung war eine kulturwissenschaftliche Ausstellung, die Erklärungsmodelle liefert und nicht eine Legitimation zum Beispiel für Reichs Orgonenergie oder ein Beweis für die Existenz von Orgonenergie zum Inhalt haben konnte.

    Ich glaube, dass es für Kevin Hinchey schwer war mit diesem Erfolg umzugehen und dass das ein Anker war, eine über Jahre hinweg gehegte Abwehrhaltung nach Außen zu pflegen. Das ist zumindest meine Erklärung für die Dinge, die da vorgefallen sind. Was natürlich auch 50 Jahre lang geübt wurde ist die Tatsache, dass mit objektiven Kriterien – ich möchte sagen, einfachen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen – nicht argumentiert werden kann, da Reich für seine Anhänger außerhalb der „normalen“ Wissenschaften steht und Reich mit deren Augen nicht gelesen werden kann. Und deswegen ist auch jegliche Kritik von außen verboten.

    W: Du meinst die Leute vom Infant Trust waren überrascht, dass so viele Personen bei der Eröffnung waren?

    B: Ja. Das Wilhelm Reich Museum in Rangeley hat – wenn ich mich richtig erinnere – in einem guten Jahr 600-700 Besucher. Allein bei der Eröffnung in Wien waren rund 300 Personen anwesend. Natürlich war die Euphorie groß. Und natürlich ist es schon auch so, dass die Objekte nie woanders ausgestellt waren – und jetzt gingen sie gleich über den großen Teich und wurden damit einer ganz anderen Verantwortung übergeben. Ich stelle mir das nicht einfach vor. Jetzt sind die Objekte wieder „eingesperrt“. Die Kultur des Umgangs mit dem Reichschen Erbe, in dem Fall auch mit seinen materiellen Objekten, ist wieder die, die sie immer war: Eingesperrt.

    W: Der „Stein des Anstosses“ wurde dann auf Verlangen des Infant Trusts entfernt. choanalytische „talking cure“ (Annas O.) (1) wurde durch die „Vegetotherapie“ und andere Körpertherapien abgelöst. Nicht mehr auf die politische Praxis und auf die Geschichte setzte Reich seine Hoffnung, sondern auf einen Ausweg aus der Geschichte (die ihm nun als ein einziger Irrweg, als eine „Biopathie“ erschien).

    Nicht die Schreckenswelt der Stalin und Hitler, sondern der ewig pulsierende, blaue Orgon-Ozean war die wahre Wirklichkeit, und Reich hatte sie für die leidende Menschheit wiederentdeckt. „Zurück zur Natur!“ wurde nun auch seine Losung. Der revolutionäre Arzt und wunderliche Naturforscher Reich, dessen anstößige Schriften zweimal verbrannt wurden, einmal von den Nazis im Jahre 1933, das andere Mal auf Anweisung eines amerikanischen Gerichts in der Mitte der fünfziger Jahre, verdient unsere Achtung.

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    Prof. Dr. Helmut Dahmer ist Soziologe und freier Publizist in Wien. Veröffentlichungen: „Libido und Gesellschaft“ Frankfurt, 1973 (1982) „Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert“ Wien, 2001

    Verweis:
    (1) „Anna O.“ (eigentlich Bertha Pappenheim) war die berühmte Patientin von Joseph Breuer, die das von ihr erfundene Verfahren des „Absprechens“ psychischer Konflikte als eine „talking cure“ (Redekur) bezeichnete. Man kann sie vielleicht als `Stifterin´ der Psychoanalyse bezeichnen. „Anna O.“ war die erste Fallstudie in Breuer/Freuds „Studien über Hysterie“ (1895) gewidmet.

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  • Buk 3/08 Nachruf auf Dr. Eva Reich

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    Bukumatula 3/2008

    Nachruf auf Dr. Eva Reich

    mit Beiträgen von
    Ingeborg Hildebrandt, Johanna Sengschmid, Tina Lindemann und Heiko Lassek.:

    Ingeborg Hildebrandt
    In der Rastlosigkeit ihrer Mission …

    1980 kam Eva auf Einladung von Dr. Peter Bolen zu einem Workshop nach Wien. Bei der Arbeit mit Vegetotherapie nach Wilhelm Reich lernte ich sie also hier kennen.

    Sie hatte diese Technik um ihre eigenen Aspekte weiterentwickelt und bezeichnete sie als „Sanfte Bioenergetik“; dabei widmete sie ihre Arbeit den Anfängen des menschlichen Lebens, d.h., Schwangerschaft, Geburt und Säuglings- bis Kleinkindalter. Aus Gesprächen, die sie mit ihrem Vater geführt hatte, ging hervor, dass es bereits von Wilhelm Reich tendiert war, diese Entwicklungszeiträume in seine Arbeit einzubeziehen. Eva tat dies, indem sie bioenergetische Methoden sowie Babymassage, Craniosakralarbeit und Polarity mit einbezog. Dies waren die Methoden, die sie in den Jahren davor kennen gelernt und in ihre Arbeit integriert hatte.

    Nach diesem ersten Seminar in Wien lud mich Eva im Sommer 1980 zu sich nach Maine ein, und aus diesem Besuch entwickelte sich eine enge Freundschaft und Zusammenarbeit. In den Jahren bis zu ihrem ersten Schlaganfall 1992, war sie ein- bis zweimal jährlich in Wien und ich mehrere Male bei ihr in den USA. Bei meinen Besuchen bei Eva und bei ihren Aufenthalten in Wien führten wir auf langen Spaziergängen oft vertiefende Gespräche über unsere persönlichen Lebenswege und machten uns Gedanken über die Weiterentwicklung ihrer und auch meiner Arbeit.

    Bei meinen Aufenthalten in Maine lernte ich einige ihrer Freunde kennen, sowie ihre Gedanken und Experimente zu gesunder Ernährung – die Pflege ihres Gemüsegartens, den sie mit Algen aus dem Atlantik düngte -, und die wunderschönen Bilder ihres Mannes Bill, die sie damals in einem Nebengebäude für ihre Tochter Renata aufbewahrte. Auch die praktische Arbeit mit dem Cloudbuster und dem Orgonakkumulator lernte ich durch sie dort kennen.

    Sie erzählte über ihre Zeit als praktizierende Ärztin in dieser Gegend, wo sie aus geografischen und klimatischen Gründen erste Erfahrungen mit sanfter Hausgeburt gemacht hatte. Die ambivalente Beziehung zu Österreich und Wien war für Eva am Anfang naturgemäß sehr schwierig; ich glaube aber, dass unsere Gespräche und unsere Beziehung zueinander etwas davon relativieren konnten.

    Darüber hinaus erlebte ich sie in Wien in all diesen Jahren, in denen sie bei mir wohnte und im von mir geleiteten Nachbarschaftshilfezentrum Seminare hielt, als sehr sensitiv im Aufzeigen von faschistischem Erbe aus der Zeit des NS-Regims in der Erziehung und dem Verhalten der Menschen. Viele unserer gemeinsamen Ausflüge waren auch von ihren Beobachtungen zu diesen Themen geprägt. Das „scheinbar liebe, lächelnde Wiener Mädl“ war einer ihrer Ausdrücke dazu.

    In der Rastlosigkeit ihrer „Mission“ (wie sie es nannte) auf Reisen und ihrer Arbeit ist es mir in Wien nicht immer ganz gelungen, ihr Entspannung und Erholung in privater Atmosphäre zu ermöglichen. Ich hatte aber den Eindruck, dass sie zunehmend gerne nach Wien kam und es genoss, wie sehr ihre Arbeit hier aufgenommen und geschätzt wurde.

    _______________________________________________

    Johanna Sengschmid
    Danke Eva – Nachruf einer Hebamme

    In ihrem Buch „Lebensenergie durch sanfte Bioenergie“, geschrieben mit Eszter Zornanszky zitiert Eva Reich Tagore: „Jedes Kind kommt mit der Botschaft, dass Gott sich nicht entmutigen lässt.“

    Eva hat sich ein Leben lang nicht entmutigen lassen und ist ihr Leben mit konsequenter und trotzdem immer suchender, neugieriger Haltung gegangen.

    Ihr großes Anliegen war aufzuzeigen, dass wir Lebensenergie wieder ins Fließen bringen können oder, wenn möglich, erst gar nicht unterbrechen, z.B. bei der Geburt. Für diese Mission war Eva von 1975 bis 1992 fortwährend auf Reisen, achtmal um die Welt, in 30 Ländern, vortragend, lehrend, therapierend – und mit einem großen Herzen.

    In den Sommermonaten arbeitete sie in ihrem Garten, um sich als Selbstversorgerin biologisch-vegetarisch ernähren zu können, und um dann `aufgeladen´ wieder auf Reisen zu gehen.- Das Thema auf ihren Vortragsreisen und in ihren Seminaren war, wie sie das nannte: „Vermenschlichung der Menschheit von der Empfängnis an“.

    Als Tochter von Wilhelm Reich, war sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Lore 1938 nach USA emigriert, um später in Maine an der Seite ihres Vaters am Reich Foundation-Institute zu arbeiten.Davor war Eva als junge Ärztin in New York mit Wilhelm Reich im Rahmen des Orgonomic Infant Research Centers in einem Projekt tätig, das die Grundidee hatte „die feste Panzerung der Menschen von Geburt an zu verhindern“.

    Danach kam Eva erstmals als junge Ärztin mit Frühgeborenen in Kontakt und ließ die von ihrem Vater gelernte Vegetotherapie in ihre Arbeit einfließen. Eva meinte:“Mir wurde dadurch bewusst, dass ein Baby ein Mensch ist, der relativ differenziert wahrnimmt, Schmerzen empfindet, reagiert: das war damals nicht bekannt.“

    Das war der Beginn ihrer inzwischen als „Schmetterlingsmassage“ weltweit bekannten Babymassage.Die Schwangeren in meiner Geburtsvorbereitung konnten unter ihrer liebevollen Anleitung an einander die Babymassage ausprobieren und so abgespeichert an ihre Babys dann weitergeben. (Siehe die Bücher: „Schmetterling und Katzenpfoten – Sanfte Massage für Babys und Kinder“ von M. Klein und Thomas Harms, bzw. „Auf die Welt gekommen – Emotionale 1. Hilfe – Krisenintervention Eltern-Baby Therapie“ von Thomas Harms)

    Und so habe ich Eva auch kennen gelernt – als junge Hebamme 1983 in Oberpullendorf. Auch mein erster Zugang zu den Bachblüten war über Eva. Diese hatte sie immer griffbereit bei den Geburten eingesteckt, und es verblüffte mich natürlich, wie Frauen auf diese hervorgezauberten Tropfen ansprachen. Ebenso die unkomplizierte, gewinnende Art, wie sie die mir damals noch unbekannte – ich nehme an, es waren die Grundgriffe der Craniosacralen Behandlung, in jeder Lebenslage angedeihen ließ.

    Evas Geburtsstadt Wien war ab 1978 Ausgangspunkt für ihre Reisen in alle Himmelsrichtungen, von wo aus sie ihre Kontakte pflegte und Vortragsreisen nach Budapest, Prag, West- und Ostberlin, München, Moskau, etc. unternahm. Ihr dickes Notizbüchlein mit Adressen und Telefonnummern aus aller Welt werde ich nie vergessen! Es erfüllt mich noch immer mit Freude, dass ich Eva etliche Male, jeweils im Winter, als Mitbewohnerin in meiner Wiener Wohnung aufnehmen durfte – für mich eine wunderbare Gelegenheit, eine ungewöhnliche Frau im Alter meiner Mutter hautnah erleben zu können.

    Ich liebte die langen Spaziergänge mit Eva, den großen Gemüsesuppentopf, der fast immer bereit stand, wenn ich müde und erschöpft nach Hause kam, ihr Transistorradio, das mich weckte, weil sie interessiert Weltnachrichten horchte. Eva stand der rüstungsorientierten Amerikapolitik äußerst ablehnend gegenüber und wollte deshalb auch keine Steuern an dieses System zahlen.

    Eva hat nie für Profit gearbeitet. Schon als junge Hausärztin in Hancock behandelte sie ärmere Leute oft kostenlos. Vielleicht auch eine Art der Rebellion gegen den Vater, denn er wollte „dass ich in der Stadt lebe und berühmt werde“, aber auch gegen die Mutter, die das Mathematikstudium der diesbezüglich begabten Tochter verhinderte, weil sie der Ansicht war: „Damit verdient man kein Geld. Also musste ich ihr beweisen, dass auch mit Medizin kein Geld zu verdienen ist“.

    Als Landärztin interessierte sich Eva vor allem für die Geburtshilfe und Empfängnisverhütung und begleitete viele Hausgeburten. Sie brachte auch ihre Tochter Renata 1960 zu Hause auf die Welt. Renata Moise, selbst eine sehr engagierte Hebamme, war letztes Jahr zur Eröffnung der Wilhelm Reich-Ausstellung mit ihrem Sohn Christopher in Wien.

    Es war mir eine besonders große Freude mit Renata den wunderbaren Film „Ich bin ein Doktor auf Expedition“, ein Portrait über Eva Reich von Heidrun Mössner zu zeigen. Es waren viele Menschen gekommen, die sich mit Eva seit ihrer Mission in Wien sehr verbunden fühlen, vor allem Hebammen und Geburtsvorbereiterinnen.

    Ich spreche sicher im Namen von vielen, wenn ich sage:

    DANKE EVA,
    DU WIRST IMMER IN UNSEREN HERZEN SEIN!
    Und wir verneigen uns tief.

    _______________________________________________

    Tina Lindemann
    Eva Reich – Ein Besuch

    Eva Reich ist gestorben, so plötzlich, trotz all der Jahre in denen sie krank war und im Bett lag, ist es eine Überraschung. Umso mehr als ich sie kurz vor ihrem Tod noch zum ersten Mal besucht hatte. Ich bekomme die Nachricht von Renata, ihrer Tochter.

    Drei Wochen zuvor habe ich noch mit Renata bei Eva am Bett gesessen, und wir haben uns unterhalten. Über ihren Vater und ihre gemeinsame Arbeit und darüber, was es alles noch zu tun gibt. Wir haben sogar gescherzt und gelacht. Eva war sehr klar an diesem Abend im Juli, und sie sagte sehr deutlich, dass noch so viel zu tun sei, und dass sie darunter leide, es nicht mehr selbst tun zu können. Sie zeigte an sich hinunter auf die Bettdecke, unter der ihre Beine lagen und zuckte mit den Schultern. Und ich konnte spüren, dass sie bei aller Einsicht in ihre Situation nicht wirklich loslassen konnte. In ihren so klaren Augen meinte ich neben dem Leuchten und der Neugier auch ein wenig Resignation zu sehen.

    Sie war aber erfreut, eine ihr bis dahin unbekannte Ärztin aus Deutschland zu treffen, die mit Orgontherapie und auch mit schwer kranken PatientInnen arbeitet. Ich versuchte ihr sagen, dass es Menschen gibt, in aller Welt immerhin einige, die dabei sind, ihre Arbeit und die ihres Vaters weiter zu führen. Ich erzählte ihr von dem Abend letztes Jahr in Wien, als Renata bei der Vorführung des Films „Ich bin ein Doktor auf Expedition“ anwesend war, von all den Menschen, besonders den Hebammen, die dort waren und so viel Liebe und Wertschätzung für Eva ausdrückten und zu erhalten versuchen, was sie gelehrt hatte – und von all den leuchtenden Augen, die ich dort gesehen habe.

    Und ich erzählte ihr von den Menschen in Berlin und Wien, überall in Europa, die mit den verschiedensten Bereichen der Orgonomie und Therapie arbeiten und auch forschen. Die nicht vergessen haben; und auch von Orgonon, wo ich die vorangegangenen zehn Tage mit einer Gruppe von Menschen verbracht hatte, die sehr ernsthaft und engagiert am Werk Wilhelm Reichs arbeiten.

    Eva nahm all das sehr neugierig und erleichtert auf, und auch wenn ich nicht weiß, wie viel sie davon am nächsten Tag noch erinnerte, hoffe ich, dass es sie ein wenig beruhigt hat.

    Wir sprachen auch über ihre Zeit in Wien und Berlin, und sie wollte, dass ich ein bisschen Deutsch mit ihr spreche und ihr von den Städten ihrer Kindheit, die sie später wieder in ihrer aktiven Zeit als reisende Ärztin besuchte, erzähle. Sie sagte zu Renata, dass es ihr leid tue, sie nie Deutsch gelehrt zu haben, weil sie lange Zeit nichts mehr damit zu tun haben wollte.

    Zwischendurch zeigte sie immer wieder auf ein Bild an der Wand, das eine ihrer Pflegerinnen aus einem Magazin ausgeschnitten hatte. Darauf waren zwei alte Männer zu sehen, die eine sehr glücklich und überrascht schauende, schöne alte Frau auf beide Wangen küssten. Zuerst dachte ich, sie erzähle uns immer wieder das selbe, dass sie dieses Bild so schön fände und sich über die Freude der Frau freute, aber mit der Zeit wurde klar, dass sie bei jedem neuen Hinschauen eine neue Interpretation fand.

    Zuerst war es die Wertschätzung, die die Frau erfuhr, die sie berührte. Dann wurden die Männer zu Liebhabern, dann zu Brüdern, die Frau war mal geschmeichelt, mal überrascht und immer geliebt, auf unterschiedliche Art und Weise. Es war faszinierend zu bemerken, wie wach und beweglich Evas Geist war, besonders nachdem ich nach allem, was ich von anderen gehört hatte, nie gedacht hätte, sie so vorzufinden.

    Nach einer Stunde war sie dann müde und sagte sehr direkt, dass sie sich über den Besuch gefreut habe, dass sie aber nun schlafen möchte. Ich half Renata sie zu betten; und danach zeigte mir Renata ihre wunderschönen, selbstgemalten Bilder in ihrem Atelier.

    Ich verbrachte die Nacht in Evas Haus und freute mich, dass ich den weiten Weg auf mich genommen und den Mut gefunden hatte Renata zu fragen, ob mein Besuch für sie passen würde. Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Eva, die inzwischen leichte Schmerzen hatte und nicht in Plauderstimmung war, mich aber immerhin wieder erkannte. Dieser letzte Moment, dieser kleine Körper mit diesen unglaublich lebendigen Augen wird mir für immer in Erinnerung bleiben – und die schöne, liebevolle Umgebung, die Renata und die Pflegerinnen für Eva geschaffen haben. Ich habe selten jemanden so würdig und geliebt gepflegt gesehen, wie Eva.

    _______________________________________________

    Heiko Lassek
    Eva

    Anlässlich des Verlassens ihrer irdischen Hülle.Ich bin der Auffassung, dass eine wirkliche Würdigung eines so großartigen Wesens nur durch die Schilderung vieler Aspekte einer schillernden Person möglich ist …Meine Erinnerungen, in Verbundenheit und Dankbarkeit, Heiko.

    1981
    Ich hatte über Eva Reich von verschiedenen Zeitzeugen nur Negatives gehört. Dies schien sich zu bestätigen, als ich 1981 aus N.Y.C. zum ersten Mal mit ihr telefonierte. Sie wirkte – und sie war arrogant und teilte mir gleich mit, dass niemand außer ihr die mikrobiologischen Experimente ihres Vaters unserer Berliner Arbeitsgruppe aus Medizinstudenten erläutern könne. Einen Tag davor war ich bei Dr. Chester M. Raphael, der im Hintergrund agierte, aber von Forest Hills aus, dem ehemaligen Wohnort Wilhelm Reichs in N.Y.C., die gesamte Arbeit des Wilhelm Reich Infant Trusts bis zu seinem Ableben leitete – mit Mary Boyd Higgins, seiner ihm vertrauten Schülerin.

    Da ich auf amerikanisch abspielbare Videodokumentationen unserer Blutdiagnostik und Bionforschung bei ihm abspielen konnte, konnte er wahrnehmen, welche Arbeit wir geleistet hatten. In der Folge unterstütze er uns bei allen Laborversuchen und bei Fragen zu erkrankten Menschen. Über Eva Reich hatte er eine eigene Meinung.

    1983
    Eva – ich nenne sie im Folgenden so – kommt auf Einladung von Hebammen und Körperpsychotherapeutinnen nach Westberlin. Ich begegne ihr zum ersten Mal persönlich und ich nehme wahr, dass sie mit weiblichen Wesen besser umgehen kann als mit deren Gegenteil.Eva sitzt mit mir im Labor in der Liegnitzer Strasse und schaut stundenlang U-Matic-Videos über bionösen Zerfall und Blutdiagnostik und beginnt zu weinen. Sie sagt, dass sie dies seit den fünfziger Jahren nie wieder gesehen habe; eine tiefe Freundschaft und Lehrerin/Schüler-Beziehung beginnt.

    Spaziergänge
    In Schöneberg im Volkspark und in Kreuzberg am Landwehrkanal beginnen unsere tiefen Begegnungen; ich erfahre viel über ihre Mutter – Annie Pink, ihre Schwester Lore und ihre Zusammenarbeit mit ihrem Vater in den 50er Jahren.

    Eva arbeitet mit vielen Freunden und Kollegen mit sanfter Geburt und Widererleben des Geburtstraumas; manchen von ihnen muss ich tagelang ein Essen vor die Tür stellen, weil sie sich aus der Wohnung nicht mehr heraustrauen – so tief war die Arbeit – in der Klinik waren sie krankgeschrieben. Was macht Sie? Sie arbeitet mit meinen an Krebs erkrankten Patienten; die überwiegende Mehrheit ist von ihrer Arbeit begeistert.

    1986 und die folgenden Jahre
    Eva ist inzwischen Ehrenpräsidentin der auf ihre Anregung gegründeten „Wilhelm Reich Gesellschaft zur Erforschung lebensenergetischer Prozesse e.V.“. Wir versuchen unsere Jahrestagungen mit ihren Aufenthalten zu koordinieren, was bei zahlreichen Terminen in den folgenden Jahren gelingt; und Eva leitet engagiert unsere Tagungen. Im gleichem Jahr erteilt sie mir die notarielle Bevollmächtigung zur Gründung eines Wilhelm Reich-Institutes und der Weiterentwicklung der Vegeto-/Orgontherapie.

    Abende
    Wir sprechen über gemeinsame Patienten. Im Restaurant „Morgenrot am Südstern“ in Berlin-Kreuzberg geht sie auf die Damentoilette – ich sitze mit dem Rücken zu ihr, sie war davor auf einer Bank gegenüber – plötzlich spüre ich eine sanfte Berührung an meinem Schädel und ein leichtes Zurückführen meines Kopfes durch ihre zweite Hand an meinem Kehlkopf. Mein gesamter Körper beginnt zu pulsieren, und der Tisch kippt mit allen Tellern und Gläsern zu Boden. Alle Gäste im Restaurant schauen uns an. Was macht sie?

    setzt sich wieder auf die Bank gegenüber und strahlt mit funkelnden Augen und sagt „Du pulsierst“. Und dann: „Ich möchte viel an Dich weitergeben“. Überwältigung?

    Und so geschah es dann auch: Bei ihren zahllosen Aufenthalten in Berlin holte ich Eva immer vom Flugplatz ab, und fast jedes Mal sagte sie schon während der Fahrt zu meiner Wohnung, dass sie etwas Neues gelernt habe, was ich unbedingt kennen lernen sollte. Es ging so schnell, sie war so neugierig und wissbegierig, offen und bereit von anderen zu lernen, um in gleicher Weise ihr Wissen an vielen Orten der Welt weiterzugeben.

    Ich war oftmals so überschwemmt, dass ich zu sagen begann: „Eva, wenn du davon im nächsten Jahr genauso begeistert bist wie heute, dann bin ich bereit, diese Methode von dir zu erlernen.“ Es ging um Methoden wie Polarity, Metamorphische Methode, Osteopathie, Osteocraniosakrale Therapie bis hin zu Bach Blüten Essenzen, um nur einige zu nennen.

    Ihr Weg war gekennzeichnet von dem Erlernen dessen, was sie „Sanfte Bioenergetik“ nannte – in einem gewissen Gegensatz zur eingreifenden Orgontherapie ihres Vaters oder der „harten“ Bioenergetik Alexander Lowens.

    Manchmal drängte sie mich geradezu, ihre Lehrer einzuladen, um für die Verbreitung der von ihr favorisierten Methoden in Berlin zu sorgen. Ein wundervolles Beispiel war für die osteocraniale Technik Dr. Martin Allen, ein amerikanischer Zahnarzt und Kiefergelenksspezialist, der mir tranceinduzierende Zonen im tiefen Halsbereich zeigte und unvergessliche Workshops im Rahmen meiner Ausbildungsgruppen durchführte. Andere Techniken, wie z.B. die Arbeit mit den Bach Blüten Essenzen sind mir zur ihrer Enttäuschung immer wesensfremd geblieben.

    Nach einigen Tagen des Aufenthalts im damaligen Reich-Institut entwickelte sich bei Eva immer ein leichtes Asthma auf Grund ihrer Katzenallergie (meine Lebensgefährtin Claudia und ich hatten zwei Katzen), und sie begann dann für längere Zeit bei ihren Freundinnen Helgaard Passow und Paula Knapp-Diedrichs zu wohnen. Obligatorisch waren längere Aufenthalte in der damaligen DDR, besonders in Halle, wo sie bei dem Psychiater Hans Joachim Maaz unterrichtete.

    Ein typisches Ritual war in jenen Jahren, dass ich sie bei ihren Freundinnen mit dem Wagen abholte und zum zentralen Busbahnhof in West-Berlin brachte. Wir mussten aufgrund unserer verschiedenen Reisepässe (Eva benutzte ihren amerikanischen Pass, mit dem sie unter dem alliierten Status problemlos nach Ost-Berlin einreisen konnte) zwei weit auseinander liegende Grenzübergänge nehmen, um uns dann wieder in Ost-Berlin zu treffen. Eva hatte jedes Mal mindestens vier(!) volle, große Plastiktüten mit biologischen Lebensmitteln und Obst dabei, manchmal auch hunderte von Fahrradventilen und anderen Sachen, die es in der DDR kaum gab.

    Sie sprach oft über die mangelnde gesunde Ernährung, die chronische Kontraktion der Menschen im anderem Teil Deutschlands und dass es Generationen dauern würde, bis sich das bioenergetische System beider Staaten ausgleichen könnte.- Eva Reich gab ihr Wissen in mehr als 30 Ländern weiter, zumeist unentgeltlich oder spendete fast alle ihre Einnahmen für lokale Projekte.

    1999 – Travemünde
    Eva war gerade nach dem Transatlantikflug aus Hamburg gekommen, als sie mich mit den Worten empfing: „Heiko, glaubst du ich bin ein schlechter Mensch?“- Sie erzählte, dass sie seit langer Zeit immer wieder Schuldgefühle gegenüber ihrer Schwester Lore empfand – sie hatte ihr in der Kindheit immer Angst mit Gruselgeschichten gemacht und sich über Lores Verunsicherung amüsiert.

    Diese und andere Geschichten beschäftigten sie nun Tag für Tag.Im folgenden Konferenzgeschehen war sie ganz die alte Eva. Privat und ohne Bezahlung arbeitete sie in ihrem großen Zimmer des Kurhotels mit lateinamerikanischen Teilnehmerrinnen. Viele Menschen wollten sie sehen und kennen lernen – und sie therapierte den ganzen Tag lang, um ihr Wissen und ihre Techniken weiter zu geben.

    Ein unvergessliches Bild: Abends, sie wollte im feinem Hotelbademantel zum Dinner gehen, schlief sie vor dem Fahrstuhl in einem großen Ledersessel der Hotellobby ein. Niemand wagte sie zu wecken. Und so gingen unzählige Konferenzteilnehmer lächelnd, vor Hochachtung aber schweigend an ihr vorbei zum Fahrstuhl. Am nächsten Tag wurde sie auf dem Podium gefragt, aus welchem Grunde sie mir damals eine so einmalige und umfassende notarielle Bevollmächtigung zur Gründung eines Wilhelm Reich-Institutes gegeben hätte.- Und warum gerade Heiko Lassek? Die Frage war kritisch gemeint.

    In ihrer fast unübertrefflichen, ironischen Art antwortete sie: „Er liebt schöne Frauen, er liebt schöne Autos, er arbeitet mit Krebspatienten, er hat die Blutdiagnostik und Bionforschung meines Vaters wiederholt, ich kenne viele seiner an Krebs erkrankten Patienten, er ist Arzt, hält Vorträge und bildet Menschen in Orgontherapie aus. Er raucht viel, trinkt viel, er ist in allen guten und schlechten Seiten wie mein Vater. Wem sonst?“

    Es gab keine weiteren Nachfragen. In ihrer brillanten Antwort hatte sie genau die Intention des Fragestellers ad absurdum geführt.

    Am dritten Tag unternahmen wir – Eva, ihre schon erwähnte Berliner Freundin Helgaard Passow, Evas wunderbar lebendige Tochter Renata und ich einen Ausflug zur Steilküste der Lübecker Bucht. Ich wollte ihr ein altes, einsam gelegenes Restaurant über dem Steilufer zeigen, die so genannte „Hermannshöhe“. In meiner Kindheit und Jugend spielte sie eine bedeutende Rolle, da meine Eltern mit mir in den Sommerferien jedes Jahr nach Travemünde fuhren (es war dank der damaligen Vorsitzenden der EABP, der von mir sehr geschätzten Ilse Schmidt-Zimmermann, nicht ganz zufällig, dass diese Konferenz dort stattfand).

    Nach dem Essen wollte ich Eva noch einen Teil meiner geliebten Wege an dieser Steilküste zeigen. Nach wenigen Minuten Spaziergang in Richtung Norden/Niendorf begann Eva ganz aufgeregt zu sagen: „Das hier kenne ich, ich war schon einmal hier, gleich nach der Biegung kommen ganz kleine, einsam gelegene Häuser.“ Sie lief voraus, wartete dann auf mich und ging mit mir durch einen kleinen Wald. Renata und Helgaard folgten. Plötzlich standen wir vor dem letzten, wegen des jahrzehntelangen Abbruchs der Steilküste unbewohnten Haus. Es war das letzte Teil eines Sommerlagers aus den 30er Jahren, wohin sie von ihren Eltern mit einer sozialistischen Jugendgruppe in den Sommerurlaub geschickt worden war.

    Renata machte Fotos. Eva erinnerte auf einmal völlig fasziniert die gesamte Steilküste bis zum nächsten Dorf. Wir hatten über viele Jahre zahlreiche solcher seltsamen Erlebnisse, auch in Bezug auf entlegene Orte. Eva meinte öfters, wir hätten eine vielleicht reinkarnative Beziehung – sie nannte mich dann immer „meinen Junker“, was ich in der gesamten Bedeutung und Tiefe nie ganz verstanden habe. Am letzten Tag der Konferenz führte sie intensive Gespräche mit vielen Teilnehmern auf der Terrasse des Kurhotels. Am Abend ging ihr Flug von Hamburg zurück nach Boston.

    Dezember 1999 – der zweite Schlaganfall
    Rückblende ins Jahr 1992: Der erste Schlaganfall kam aus dem Nichts – doch nicht wirklich. Eva litt seit fast zwei Jahrzehnten an einer atypischen Leukämie mit sehr hohen Leukozyten und Thrombozyten (Blutplättchen). Die, vereinfacht gesagt, herabgesetzte Fließgeschwindigkeit und Verdickung des Blutes kann zu Thrombosen und damit auch zum Schlaganfall führen; auch Bill Moise war daran gestorben.

    Eva führte dies auf ihrer beider Anwesenheit während des Oranur-experiments zurück (zur Erinnerung: fast alle Labormäuse auf Orgonon erkrankten nach den Versuch an Leukämie; Reich bezeichnete dies als Überstrahlungsphänomen). Eva behandelte ihre Erkrankung ausschließlich biologisch. Eva war nun im Krankenhaus und erholte sich schnell von ihrer Lähmung. Renata erzählte mir erlöst und lachend folgende Geschichte: Wegen einer Überbelegung des Krankenhauses zur Zeit ihres Aufenthalts wurde Eva ungewöhnlicher Weise für ein paar Tage in ein Zweibettzimmer gelegt, in dem ein anderer Patient, ein Manager mit mittelschweren Brandverletzungen lag,

    Eva war schon wieder höchst lebendig, saß in einem alten Rollstuhl und trug schwarze Lederhandschuhe, um sich an den Gummirädern nicht die Hände aufzureiben. Nach drei Tagen begann sie schon zu dozieren – und das Krankenhauspersonal über biologische Ernährung und Orgontherapie aufzuklären. Sie war bis auf die leichte Lähmung voll präsent, sogar etwas euphorisch, ihr Wissen im Heimatkrankenhaus weitergeben zu können.

    Am vierten Tag sagte ihr Mitpatient zu Renata: „Ich hätte nie gedacht, einmal mit Jack Nicholson in einem Krankenzimmer sein zu dürfen.“

    Eva hat sich dann ganz schnell erholt, und schon ab Mitte Januar telefonierten wir fast jeden zweiten Tag bezüglich ihrer Teilnahme an einer zentralen Podiumsdiskussion – der seit acht Jahren größten Konferenz Deutschlands – „Visionen menschlicher Zukunft“ im Kongresszentrum Bremen. In Absprache mit dem Kongressleiter, Frank Siepmann, sollte ich meine beiden Lehrer, Doktor Eva Reich und Professor Lu Jinchuan, moderieren; beide freuten sich sehr auf ihr Zusammentreffen.

    Lu Jinchuan schätzte Wilhelm Reich als den bedeutendsten Wissenschaftler des Westens, und Eva unterstützte mich kontinuierlich seit Jahren bezüglich meiner Beschäftigung und Ausbildung in Chi-Medizin und Taoismus; sie meinte einmal dazu: „Heiko, mein Vater hatte 60 Jahre lang Zeit, die Funktion der Lebensenergie zu erforschen, der Taoismus 6000 Jahre.“ Ein zweiter Schlaganfall verhinderte aber ihr Kommen. Eva war nicht mehr reisefähig.

    2006
    Im Juli 2006 sah ich Eva das letzte Mal. Ich war mit meinem Freund, dem Wiener Regisseur und Produzenten Antonin Svoboda wegen einer Recherche für einen Spielfilm über Wilhelm Reich längere Zeit in den USA. Wir trafen uns u.a. mit Peter Reich, Ilse Ollendorff und Dr. Richard Blasband, besuchten Orgonon und haben auch Medien- und Zitatenrechte geklärt.

    Spontan rief ich Evas Tochter Renata an und fragte sie, ob sie sich über unsern Besuch freuen würde. Sie sagte sofort zu. Wir beide kamen gegen Abend in Evas Wohnort Hancock an; die kleine Stadt ist etwa vier Stunden Autofahrt von Orgonon entfernt.

    Renata und ihr Mann Antonio leben von Eva nur durch eine kleine Landstraße getrennt; Renata arbeitet seit Jahrzehnten als Hebamme und malt wunderschöne Ölbilder in der Tradition ihres Vaters, Bill Moise, dessen früheres kleines Atelier an Evas kleines Farmhaus angrenzt. Antonio organisiert Kanufahrten und Erlebnistouren für Touristen in der Umgebung der Kleinstadt. Wir vier gingen zum Dinner. Renata meinte, dass ich nicht erschrocken sein sollte, wenn Eva mich am nächsten Morgen nicht erkennen würde. Sie sei manchmal etwas verwirrt und hätte zunächst auch ihre lebenslange Freundin, Sophie Freud, die einen Tag vor uns bei ihr zu Besuch war, nicht erkannt.- Seit einigen Monaten lebt auch Renatas Sohn Christopher mit seinem Schäferhund nach einer Beziehungstrennung bei Eva im Haus.

    Letzte Begegnung
    Gegen zehn Uhr morgens gingen Antonin und ich mit Renata zu Eva. Eva saß – von einem großen Sonnenhut beschattet – im Garten und schien etwas amüsiert und ein wenig verwirrt über unseren Besuch zu sein.

    Christopher erschien in der Tür, und Eva fragte uns, was denn dieser Mensch – ihr Enkelsohn, der bereits zwei Monate mit ihr zusammen lebte – hier wolle. Danach stellte sie uns ihren, wie sie meinte, neuen Hund vor. Renata begann zu erzählen, dass es manchmal auch sehr lustig mit ihr sein kann. Z.B. hatte sie ein paar Tage zuvor Christopher gesagt, er solle nicht weiter traurig über seine von ihm getrennte Freundin sein; sie würde ihm eine neue kaufen – worauf Christopher meinte, dass wir uns in Amerika und nicht in Thailand befinden würden.

    Nach einiger Zeit gingen wir in die kleine Küche, wo Renata uns viele Fotos und Unterlagen für unser Filmprojekt zu Dokumentationszwecken zeigte. Innerhalb weniger Minuten kehrte beim Betrachten der Bilder auch Evas Gedächtnis wieder zurück; selbst an den Namen meiner Katze konnte sie sich erinnern.

    Wir waren sieben, acht Stunden zusammen und sprachen über gemeinsame Freunde, Aufenthalte, Patienten, über die Aktivitäten in Berlin, Wien und Helsinki. Eva war völlig präsent und stellte immer wieder ganz spezifische Fragen, hellwach, aber in meiner Wahrnehmung über ihre Kräfte gehend. Zum Glück konnte von all dem Gesagten Antonin vieles mit einer Profikamera aufzeichnen, auch viele Dokumente und Protokolle von Reichs späten Wetterbeeinflussungs-experimenten und den Wüstenexpeditionen.

    Am Abend brachte Renata Eva ins Schlafzimmer und zeigte uns dann noch die Ölgemälde ihres Vaters im Atelier.
    Unvergessen werden mir beim Abschiednehmen Evas leuchtende Augen bleiben.

    Dein Junker

    ______________________________________________

    Nachwort
    Ich habe nach vielen Überlegungen keine Einzelheiten bezüglich Evas Mitteilungen über ihre Ehe mit Bill Moise hier niedergelegt. Nur für die Geschichte: Mary Boyd Higgins und Eva Reich waren innige Freundinnen. Mary Higgins wurde von Eva mit der Verwaltung des Wilhelm Reich Infant Trust Founds in Orgonon beauftragt.Unter nahen Freundinnen wurde dieses Dokument in juristisch scharfer Form niedergeschrieben.

    Bill Moise verliebte sich in Mary Higgins und kehrte später zu Eva zurück. Kontakt hatten sie daraufhin keinen mehr. Mary Higgins ließ Eva nie wieder zurück – weder in ihr Leben, noch nach Orgonon.Als Mary Boyd Higgins mir Ende 2005 die Hand zum Abschied reichte, sagte ich: „Ich fahre jetzt zu Eva Reich, sie ist schwer krank, darf ich sie von ihnen grüßen?“ Mary Higgins antwortete: „No doctor Lassek, we`ve lost contact. But thank you for asking this question.“
    Ich weiß von Eva, dass sie sich brieflich bis 1999 (unsere Gespräche auf dem Steilufer) immer um eine offene Begegnung mit ihrer alten Freundin bemüht hat. Eine Antwort darauf bekam sie aber nie.

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    Bukumatula 3/2008

    Alberto Moravia und die Thesen Wilhelm Reichs

    Kommentar zu Alberto Moravias Theaterstück: „Der Gott Kurt“
    von
    Susanne Höhne:

    „Das sachliche Niveau der nationalsozialistischen Versammlungsreden zeichnete sich entsprechend dieser Charakteristik durch sehr geschickte Maßnahmen aus, mit den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren und sachliche Argumentation tunlichst zu vermeiden. Hitler betont an verschiedenen Stellen seines Buches `Mein Kampf´, dass die richtige massenpsychologische Taktik auf Argumentation verzichten und nur das `große Endziel´ unausgesetzt den Massen vorführen müsse.“(Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus; Die Familienideologie und die Massenpsychologie des Faschismus; S. 25; Kopenhagen 1934, 2. Auflage, Raubdruck)

    Ein Zitat aus „Die Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich, geschrieben 1933, von ihm selbst im Eigenverlag im damaligen Exilland Norwegen verlegt. Wilhelm Reich beobachtet darin Wirkung und Struktur des Nationalsozialismus mit Mut und analytischer Klarsichtigkeit, die außer ihm zu dieser Zeit nur wenige aufbrachten. 1934, dem Erscheinungsjahr seines Buches, in dem Jahr, in dem Österreich aufhörte eine Demokratie zu sein, wurde er aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigungausgeschlossen.

    Im Vorwort von „Massenpsychologie des Faschismus“ bezieht er sich auf seine „jahrelange sexualärztliche undpolitische Arbeit“die ihn zu dem Urteil brachte, dass „die Klasse, die von den ‚gottgesandten’ Führern des ‚dritten Reiches’ als ‚Untermenschen’ ins Joch gespannt wird, in sich die Zukunft der Menschheit birgt, weil sie mehr Kultur, Ehre, natürliche Sittlichkeit und Wissen um das lebendige Leben enthält (…) weil sie keine schmierige Kehrseite in der Praxis hat.“. (ebenda S. 2)

    Wilhelm Reich begann 1924 an der Psychoanalytischen Poliklinik seine Forschungen über die soziale Ätiologie der Neurosen. Später führte er diese Arbeiten an den Sexualberatungsstellen fort, die er zwischen 1928 und 1930 in verschiedenen Bezirken Wiens begründete. Er behandelte Menschen aus der Arbeiterklasse und veränderte die psychoanalytische Behandlungstechnik so, dass sie sich für die einfachen Menschen eignete. Er war Kommunist und Psychoanalytiker und wusste, dass man die „schmierige Kehrseite“, das heißt, den Umgang mit der Sexualität analysieren muss, um politische Phänomene beschreiben zu können.

    Die „schmierige Kehrseite“, die Sexualität, war auch für Alberto Moravia, einer der bedeutendsten Schriftsteller Italiens des 20. Jahrhunderts, das Thema all seiner Werke:

    „Irgendjemand hat vor einiger Zeit gesagt, dass Inspiration heißt, immer von derselben Sache und nicht von etwas anderem zu sprechen. Also meine Inspiration ist oft geneigt vom Sex und von nichts anderem als vom Sex zu sprechen: Aber das ist ein Schlüssel, mit dem ich die Illusion habe, einen kleinen Spalt der Tür zum Realen zu öffnen.“ (Moravia)

    Alberto Moravia wurde am 28. November 1907 als Sohn eines jüdischen Vaters in einer bürgerlichen Familie geboren. Er hieß eigentlich Alberto Pincherle und verwendete später den Namen seiner Mutter „Moravia“ als Künstlernamen. Er erkrankte im Alter von acht Jahren an Knochentuberkulose und verbrachte seine Kindheit und Jugend größtenteils im Bett; zuerst zu Hause und dann in Sanatorien, wo er vor allem las.

    Später wird er seine Kindheit, isoliert von der Welt in seinem Zimmer als die erste von den zwei wichtigsten Erfahrungen seines Lebens betrachten. Der Lieblingsautor seiner Jugendjahre im Bett war Dostojewski, der ihn am meisten beeinflusste und ihn letztendlich inspirierte, Theaterstücke zu schreiben, da Dostojewskis Romane für ihn so etwas wie „verkleidete Theaterstücke“ waren. Moravia hat seit Ausbruch seiner Krankheit nie wieder eine öffentliche Schule besucht. Alles was er wusste, las er sich selbst an. Er sollte später sagen, dass seine langjährige Krankheit ihn dazu gebracht hat, dass er sich in der Gesellschaft von Menschen immer so vorkam, als würde er eigentlich nicht richtig dazugehören.

    Als Kind litt Moravia unter großer Langeweile und kam sich alleingelassen und von seiner Mutter verlassen vor. In seinem Roman „Agostino“, 1944 veröffentlicht, beschreibt er die Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen, der seine Sexualität entdeckt und merkt, dass er in seine Mutter verliebt ist. Sein Roman „La mascherata“ (Maskerade), eine Faschismusanalyse, 1943 erschienen, brachte ihm ein Schreibverbot von der faschistischen Regierung ein.

    Er war Halbjude und erlitt so die Rassengesetze des Mussolinifaschismus; und er erlebte die Ermordung seiner jüdischen Cousins durch französische Faschisten im Jahre 1937 und musste 1943 gemeinsam mit seiner Frau, der Schriftstellerin Elsa Morante, vor der deutschen Besetzung aus Rom fliehen und sich acht Monate lang in einem Dorf bei Neapel verstecken.Dies nannte er später die zweite wichtige Erfahrung seines Lebens nach seiner Krankheit. Den Roman „Agostino“ schrieb er in seinem Versteck. Im Alter dazu befragt, seit wann ihm Hitlers Untaten bekannt waren, äußerte er sich dazu deutlich:

    „Ja, 1939 wussten das alle. Ich wusste auch von den russischen Konzentrationslagern. Ich fuhr oft nach Paris und hatte alle möglichen Informationen: ich kaufte Bücher, ich traf russische und deutsche Exilanten. Ich erinnere, dass 1940 Alberto Mondatori (Mailänder Verleger), als er aus Polen zurückgekehrt ist, erzählte: `Es geschehen entsetzliche Dinge´.- Die Deutschen hatten ihn eingeladen, wie zu einer Theatervorstellung, bei einem Gemetzel an Juden dabei zu sein. Er ist natürlich nicht hingegangen, aber er hat es in Mailand herum erzählt.“ (Alain Elkann, Vita di Moravia; Bompiani 1990, S. 119)

    Ende der 60er Jahre, etwa 20 Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten, hat er „Der Gott Kurt“ geschrieben, sein im Stil der griechischen Tragödie gehaltenes Stück über die Ödipustragödie. Das Stück ist im selben Jahr wie die beiden Filme „Edipe Re“ von Pier Paolo Pasolini und „La caduta degli dei“ (Verdammt) von Luchino Visconti erschienen.- Drei Freunde, die die Ödipustragödie von Sophokles und den von Freud beschriebenen Ödipuskonflikt interpretierten. Pasolini, der sehr gut Griechisch konnte, setzte sich mit dem griechischen Original auseinander. Visconti und Moravia interpretierten mit ihrer Ödipusgeschichte den Nationalsozialismus.

    „Der Gott Kurt“ handelt von der Aufführung der Ödipustragödie in einem deutschen Konzentrationslager, die auf Wunsch des Lagerkommandanten Kurt stattfindet. Kurt, in seinem Umfeld über absolute Macht verfügend, inszeniert ein „kulturelles Experiment“. Er will, dass die Ödipustragödie von Sophokles von Häftlingen gelebt und nicht nur dargestellt werden soll. 1942, am Weihnachtsabend, auf der Bühne im Theater eines deutschen Konzentrationslagers in Polen wird das Stück aufgeführt. Das kulturelle Experiment ist von Heinrich Himmler genehmigt wor-den.

    Kurt hat für sich selbst die Rolle des „Fatums“, des Schicksals, erfunden. Das Experiment soll beweisen, ob das neue Schicksal der Nazis, das allmächtig ist und keine Tabus mehr kennt, das alte Schicksal der Griechen besiegt. Das griechische Schicksal ist unser abendländisches Schicksal, in dem es das Tabu gibt, nicht mit seinen nächsten Verwandten sexuell zu verkehren. Dafür hat Kurt alles schon vor der Aufführung am 24. Dezember vorbereitet.

    Die Familie, die den Ödipus „leben“ soll, ist eine jüdische Familie mit der er einst verkehrt hatte. Die Mutter Myriam hatte ihn seinerzeit öfters eingeladen, der Sohn Saul war sein bester Freund, als sie noch Studenten waren. Solange bis Saul sich in Ulla, die Schwester von Kurt verliebte, in die ihr Bruder selbst verliebt war. Auf Grund dieses Inzesttabus, mit dem Kurt nicht zurecht kam und welches besagt, dass Bruder und Schwester keinen sexuellen Verkehr haben dürfen, denunzierte Kurt seinen Freund Saul bei den Nazis und brachte seine Schwester dazu sich umzubringen. Kurt selbst wurde zum Nazi und KZ-Kommandanten, um die Rechtfertigung zu bekommen, das Inzesttabu zu brechen.

    Seinem Publikum, Mitgliedern der SS, erklärt er sein Vorhaben folgendermaßen:

    KURT: Bitte, meine Herren, Sie werden alle in kurzer Zeit verstehen. Also: Die reine, edle, heroische, starke, leuchtende und freie Menschheit, die wir alle anstreben, wird eine Menschheit ohne Moral sein. Das heißt eine Menschheit ohne Gott: Und das aus dem einfachen Grund, weil in einer solchen Menschheit jeder Mensch, in allen Auswirkungen ein Gott ist. Der Gott Horst, der Gott Max, der Gott Fritz, der Gott Heinrich, der Gott Ludwig und so weiter.

    DRITTER SS-OFFIZIER: Auch der Gott Kurt stelle ich mir vor.

    KURT: Es versteht sich von selbst, auch der Gott Kurt. Jetzt, meine Herren, Was ist das Fundament unserer Moral?

    DRITTER SS-OFFIZIER: Der Führer.

    KURT: Hm, hm, der Kamerad möchte mir den Mund schließen. Aber ich bin Schauspieler und muss sprechen. Also meine Herren: Unsere Moral der Zukunft hat als Fundament sicher den Führer. Aber heutzutage beruft sie sich auf die Familie.

    ERSTER SS-OFFIZIER: Ich möchte den Kameraden Kurt daran erinnern, dass fast alle hier Anwesenden Familie haben.

    KURT: Aber man kann deswegen doch von der Familie der Zukunft sprechen, nicht?

    DRITTER SS-OFFIZIER: Wie wird, sagen Sie, die Familie der Zukunft sein?

    KURT: Wie sie sein wird, weiß ich nicht. Was es für eine sein sollte, kann ich ohne Zweifel sagen: Keine.

    Am Ende gewinnt das Fatum der Griechen. Es war Kurt, der alle Tabus gebrochen hat und dadurch untergeht, nicht Saul, den man zwar töten kann, der aber unschuldig bleibt.Als das Theaterstück 1968 erschien, wurde es sofort ins Englische und Französische übersetzt und in den jeweiligen Ländern ebenfalls aufgeführt.- Im deutschen Sprachraum zum ersten Mal 2008 (Regie: Hubsi Kramar). Über den Holocaust konnte man in den beiden Täterländern eben in der Nachkriegszeit bis heute immer schlecht sprechen, in Österreich noch weniger als in Deutschland, da niemand zuhören wollte und auch nicht musste…

    „Meine Herren, ich bin ein Mörder, Mitglied einer Gesellschaft von Mördern. Das weiß ich und habe es immer gewusst, ich war nie in der Illusion gefangen, es nicht zu wissen.“,lässt Moravia am Ende des Stückes `Gott´ Kurt sagen.

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    Zur Autorin:
    Susanne Höhne lebt und arbeitet in Wien und Rom als Regisseurin und Übersetzerin.

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    Bukumatula 3/2008

    Handbuch Körper und Persönlichkeit

    Entwicklungspychologie, Neurobiologie und Therapie von Persönlichkeitsstörungen
    Buchbesprechung
    Dario Lindes:

    Hrsg.: Andreas Remmel, Otto F. Kernberg, Wolfgang Vollmoeller, Bernhard Strauß
    Verlag: Schattauer Verlag, Stuttgart; 1. Auflage (Juni 2006)
    Gebundene Ausgabe: 542 Seiten
    Preis: 71.- €
    ISBN 978-3-7945-2411-2

    Das „Handbuch Körper und Persönlichkeit“, erschienen im renommierten Schattauer-Medizinverlag, hat sich kein geringeres Ziel gesteckt, als die interdisziplinäre Diskussion zwischen biologischen, psychologischen und psychotherapeutischen Erklärungsmodellen bei der Entstehung von (psychischen) Krankheiten und Störungen neu aufzurollen und zu vertiefen. Dies gelingt den Autoren auf eine sehr gute, umfassende und klar verständliche Art und Weise. Das Buch behandelt auf den verschiedenen Betrachtungsebenen die aktuellsten Forschungsergebnisse aus Neurobiologie, Psychiatrie und Tiefenpsychologie. Der Leser bekommt einen übersichtlichen Einblick in Genetik und Neurophysiologie der Persönlichkeitsstörungen, insbesondere des Borderline-Syndroms.

    Weitere Themen beschäftigen sich mit dem Einfluss der Kognition, des Affekts, der Handlungsimpulse und vor allem der Körperrepräsentanz. Das Buch hat seinen Schwerpunkt auf psychologischen und neurobiologischen Grundlagen sowie auf therapeutischen Anwendungen.

    Der Bereich „Behandlungskonzepte“ greift die strukturbezogenen psychodynamischen Therapien, die Körpertherapie sowie die Pharmakotherapie auf und ermöglicht damit dem Leser einen umfassenden Einblick in die interdisziplinäre Vorgangsweise.

    Von besonderem Interesse für uns Reichianer ist wieder mal das Kapitel der körperbezogenen Verfahren. Diese werden dem Leser mit Fallbeispielen und Abbildungen hervorragend näher gebracht. Weitere Ansätze wie die kognitiv-behaviorale Therapie und die integrative Traumatherapie und Trostarbeit beinhalten Grundlagen, klinische Erfahrungsberichte und therapeutische Strategien.

    Das Buch ist mit seinen über 500 Seiten ein fetter Wälzer – und wieder ein Standardwerk der Körperpsychotherapie, was nicht nur an den renommierten Autoren und Herausgebern (darunter auch der berühmte, in Wien gebürtige amerikanische Psychoanalytiker Otto Kernberg) liegt.

    Der Verlag über das Buch:

    Das Handbuch Körper und Persönlichkeit ist ein schulenübergreifendes „State-of-the-Art“-Werk zur Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen. Das in seiner Art außergewöhnliche Praxis-Handbuch integriert Beiträge aus Neurobiologie, Verhaltensmedizin, Psychoanalyse, klinischer Bindungstheorie, kognitiver Theorie und Schematheorie. Damit bietet es einen Schlüssel zum Verständnis von Kernmerkmalen gestörter Entwicklung bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen.

    In seinem forschungsorientierten Teilbeschreibt das Handbuch auf breiter empirischer Basis die Bedeutung und Verschränkung genetischer Dispositionen und Temperamentsfaktoren mit unsicheren Bindungserfahrungen und Traumatisierungen. Die Autoren erläutern die Bedeutung von Bindungs- und Körperrepräsentationen, von kognitiv-emotionalen Netzwerken und handlungsleitenden Schemata sowie deren psychobiologische Grundlagen. Damit ebnen die Beiträge den Weg zum Verständnis von Störungen der Identität, der Affektregulation, Körperrepräsentation, Impulskontrolle und interpersonellen Beziehungen.

    Im praxisorientierten Teilstellen führende Vertreter aktueller Therapieverfahren das bewährte Vorgehen z.B. bei der Transference-Focused Psychotherapy (TFP), bei der Dialektisch-behavioralen Psychotherapie (DBT) sowie bei der Körperpsychotherapie zur Behandlung von Borderline-Syndromen und Posttraumatischen Belastungsstörungen vor.

    Das Buch schließt mit Überlegungen zur Therapie und Prävention von Persönlichkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter und zu symptomorientierten pharmakotherapeutischen Behandlungsstrategien bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen.

    Synopsis:

    – Praxis-Handbuch: alle gängigen Zugangswege zur Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen (Schwerpunkt posttraumatische Belastungsstörungen)

    • Berücksichtigung entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Grundlagen
    • Integration wichtiger Ansätze (u.a. Bindungsforschung, Körpertherapie, Emotionsforschung)
    • Fokus: immer der Körper bzw. seine Beziehung zum Selbst
    • Diagnostik, Symptomatik, Psychopathologie, Verlauf, Komorbidität und Therapieevaluation von Persönlichkeitsstörungen
    • Bedeutung von Genetik und Neurobiologie zum Verständnis der Borderline-Störung
      Kognitionen, Affekte, Handlungsimpulse – Körper und Körperre-präsentationen bei Persönlichkeitsstörungen
    • Behandlungskonzepte bei Persönlichkeitsstörungen (z.B. TFP, DBT, Strukturbezogene Psychodynamische Therapie, Körpertherapie, Pharmakotherapie)
    • Trauma, Körper und Persönlichkeit: Grundlagen, klinische Erfahrungen, therapeutische Strategien (z.B. kognitiv-behaviorale Therapie, körperbezogene Psychotherapie, integrative Traumatherapie)
    • Internationales Autorenteam (Deutschland, USA, Schweiz, UK, Österreich, Kanada)

    Die Herausgeber:

    Dr. phil. Dr. med. Dipl.Psych. Andreas Remmel, leitender Oberarzt am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, Lehrbeauftragter am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

    Prof. Dr. med. Otto F. Kernberg, New York, Presbyterian Hospital, Westchester Division; Weill Medical College and Graduate School of Medical Sciences of Cornell University; Past President des Weltverbandes der Psychoanalytiker.

    PD Dr. med. Dipl. Psych. Wolfgang Vollmoeller, stellv. ärztlicher Leiter am Westfälisches Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, Bochum.

    Prof. Dr. phil. Dipl. Psych. Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie, Universität Jena; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie.

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    Bukumatula 4/2008

    Nachruf auf Alexander Lowen

    von
    Robert Federhofer:

    Alexander Lowen stammt aus New York-Harlem, wo er als Kind russischer Einwanderer jüdischer Abstammung geboren wurde und aufwuchs. Er besuchte das City College of N.Y. und machte den Abschluss als ‚Bachelor of Science and Business’, ‚Bachelor of Law’ und schließlich den ‚Doctor of Sciences of Law’ in Abendkursen.

    Während dieser Zeit arbeitete Lowen zuletzt als High-School Lehrer für Buchhaltung und Handelsrecht. In den Sommerferien betätigte er sich zusätzlich als Sportanimateur (‚athletic director’) in Hotels und in Sommer-Lagern für Erwachsene.

    In seiner Autobiographie (‚Honoring the Body’, 2004) beschreibt er weiters, dass er bei sich selbst eine depressive Verstimmung mit täglichem konsequenten Körpertraining vertrieben hatte. Der intelligente junge Mann hatte sich mit Interesse dem Körper zugewandt.

    Im Alter von 32 Jahren belegte Lowen in der New School for Social Research einen Kurs in Charakteranalyse bei Wilhelm Reich und begann im weiteren im Frühjahr 1942 eine Therapie bei ihm, welche bis 1945 währte. Danach, im Herbst 1945, begann er selbst mit dem ersten Patienten, den ihm Reich geschickt hatte, zu arbeiten.- Von 1947 bis 1951 studierte er schließlich Medizin an der Universität in Genf und legte im Juni 1951 in New York das Staatsexamen ab.

    In diesem Zusammenhang bekam Alexander Lowen zu spüren, dass in Amerika die fortschrittlichen sozialen und die grundlegenden naturwissenschaftlichen Positionen Reichs – wie zuvor in Europa -, von der Wissenschaft ignoriert wurden; man begegnete ihnen mit verleumdenden Gerüchten und journalistischem Unrat, was zu deutlich abwertenden Haltungen führte. Der junge Arzt Lowen wurde nach seiner Anmeldung zum Staatsexamen vor das Prüfergremium geladen und über sein Verhältnis zu seinem Lehrtherapeuten befragt.

    Das machte Lowen die Möglichkeit von Schwierigkeiten klar, und er zog daraus seine Konsequenzen: „…Weiterhin mit den Reichianern verbunden zu bleiben, würde mich in eine Zwickmühle bringen, falls die Gruppe in Schwierigkeiten geraten sollte. Mir war klar, dass ich meinen eigenen Weg gehen musste.“ (“…Continuing to associate with the Reichians would put me in a situation of double jeopardy if the group got into trouble, and I knew that I had to go my own way.”)

    Die Lösung, die Lowen während seiner Praxisgemeinschaftszeit mit John Pierrakos (MD) in den folgenden zwanzig Jahren ab 1954 ausarbeitete, bestand darin, von Wilhelm Reich wesentliche Prinzipien der Körperarbeit der medizinischen Orgonomie zu übernehmen, etwas zu vereinfachen (Körpersegmentschema), andere Elemente, insbesondere die vorangegangenen und weiterführenden fachübergreifenden Forschungen aber zu ignorieren. Die Lebensenergie stellte Lowen als per definitionem auf Physis und Psyche ausgebreitete Fiktion entsprechend Freuds Libido dar, benannte sie um in ‚bioenergy’ und verwendete als theoretischen Überbau Freuds ‚Ich-Analyse’, inklusive der ‚Charakteranalyse’ Reichs.

    Sein ‚grounding’- Konzept befasste sich darüber hinaus und umfassend mit der praktischen und metaphorischen Verwurzelung in den verschiedenen Bereichen der Umwelt (physisch, biologisch, sexuell, sozial) und führte den Patienten aus der zuvor vorwiegend liegenden Körperposition, wie sie vom psychoanalytischen Setting übernommen worden war. Auf diese Weise gelangte Lowen zu einer Zusammenstellung akzeptierter theoretischer Elemente, die er seiner Praxis der Veränderung und teilweisen Auflösung der körperlichen Panzerung beifügte.

    Ausgehend von seiner ersten Publikation (`The Language of the Body´, 1958), gelangte die ‚Bioenergetik’ über regelmäßige Kurse in Esalen zu nationaler und in Folge auch zu internationaler Verbreitung. Mit Fleiß, Begeisterung und 13 weiteren populären Schriften konsolidierte Lowen sein Werk und sorgte auch durch die von ihm gegründete Organisation International Institut for Bioenergetic Analysis(IIBA) für dessen inhaltliche Geschlossenheit.

    Mit Alexander Lowen haben wir einen unermüdlichen Fürsprecher für Körperwahrnehmung und Körperausdruck als Qualitätskriterien und Werkzeugen zur Wiederverbindung von Körper und Psyche verloren. Indem er wichtige Prinzipien der Orgonomie in seinem Theoriekonglomerat und seiner Therapiepraxis weiterverwendete, wurde er zum bedeutendsten Propagandisten der Körpertherapie. Wir ehren ihn anlässlich seines Todes, sagen Dank und betrauern das Ende seines engagierten Lebens.

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    Bukumatula 4/2008

    Über die Grundphilosophie des „Nicht-Wissens“ – Jugendwohlfahrt quo vadis?

    Gespräch mit Alfred Zopf aus Anlass der Fertigstellung seiner Diplomarbeit zum Thema:
    „Qualität in der stationären Fremdunterbringung (Heimerziehung)“
    Wolfram Ratz:

    Wolfram: Alfred, was hat Dich in Deinem reifen Alter bewogen, eine Diplomarbeit zu schreiben?

    Alfred: Zunächst: Wichtig ist der Untertitel, der heißt: „Wie kann die Qualität in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in stationärer Fremdunterbringung gewährleistet werden?“. Literatur zu diesem Thema gibt es genug. Beim Recherchieren ist mir aber aufgefallen, dass es überhaupt nichts zum Thema „Beziehung“ gibt. Ich war fassungslos, dass es über die wichtigste Qualität zwischen Betreuer und Klienten nichts nachzulesen gibt. Anfangs letzten Jahres war für mich klar, dass ich aufgrund der Studienordnung mein Studium bis 2008 abgeschlossen haben muss. Eigentlich wollte ich ein Thema zur Wirtschaftlichkeit wählen.

    Ich habe Professor Dattler aufgesucht, der gemeint hat, dass er im Prinzip Interesse an diesem Thema hat, dass aber – nennen wir ihn „Professor X“ – für die Sozialpädagogik zuständig sei. Professor X kenne ich schon lange und habe ihm gegenüber nie ein gutes Gefühl gehabt, was sich bei dieser Gelegenheit wieder bewahrheitete. Er meinte, dass man nach so vielen Jahren gar nicht mehr wieder anzufangen brauche, das sei sinn- und zwecklos. Einigermaßen schweißgebadet bin ich aus dieser Besprechung gegangen und habe mir eingestanden, dass er zu fünfzig Prozent Recht hat.

    Schließlich hat sich Professor Dattler bereiterklärt, mich zu übernehmen. Ich bin in eine Diplomanden-Kleingruppe hineingekommen, und zwei Kolleginnen haben mir geholfen ein anderes Thema zu finden. Es gab einen regen Austausch, was mit beigetragen hat, dass ich die Arbeit fertig geschrieben habe. Insbesondere beim Kapitel über Neurobiologie – die wollte ich unbedingt mit hineinnehmen, weil ich in Zusammenhang mit Traumatisierung keine Literatur dazu finden konnte -, bin ich in eine Krise gekommen und habe mich gefragt, wozu ich mir das antue. Also es war schon eine große persönliche Herausforderung.

    W: Du bist seit 1974 sozialpädagogisch tätig. Im Vorwort steht ein Satz, der mich beeindruckt hat: „Mitte der 70er Jahre erlebte ich prügelnde Heimerzieher; in der Zwischenzeit hat sich, bedingt durch gesellschaftliche Veränderungen das Blatt gewendet. Seit 10 Jahren gibt es immer mehr dokumentierte Vorfälle, bei denen Sozialpädagogen von Kindern oder Jugendlichen körperlich attackiert werden.“ Wie kann man das verstehen?

    A: 1978 habe ich im Erziehungsheim Steyr-Gleink zu arbeiten begonnen, wo an die 180 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche untergebracht waren. Da hat es noch Kollegen gegeben, die vom Grundberuf her Fleischhauer, Schlosser, etc. waren und nach einem Schnellsiedekurs mit diesen schwierigen Kindern gearbeitet haben. Auffallend war, dass besonders gut angepasste Jugendliche – nachdem sie in die freie Wildbahn entlassen worden waren -, extreme Straftaten, also Einbrüche, Überfälle, etc. verübt haben. In Steyr-Gleink war es so, dass sich gewisse Erzieher die Finger nicht schmutzig gemacht haben, also nicht selbst geschlagen haben, aber das „Capo-System“ eingeführt haben.

    Das heißt, sie haben ein paar Fünfzehnjährige ausgesucht, die für „Ordnung“ gesorgt haben. Es war in den 70er Jahren noch gang und gäbe, dass brutale Gewalt gegenüber den Kindern angewandt wurde. Das hat sich, beginnend in den 90er Jahren, komplett geändert. Ziel von Angriffen wurden jetzt die Sozialpädagogen. Seit 1988 arbeite ich in Wien mit schwer traumatisierten weiblichen Jugendlichen und habe da auch schon einiges erlebt, das heißt, ich bin auch schon attackiert und geschlagen worden. Ich habe einmal eine Jugendliche, die vollkommen „ausgezuckt“ ist und wo man normalerweise Polizei und Rettung verständigt, einfach gehalten. Durch meine Erfahrung als Psychotherapeut erlaube ich mir an Grenzen zu gehen, die ich auch zu verantworten habe. Sie hat sich dann durch mein Halten beruhigt, hat aber behauptet, dass ich sie geschlagen hätte.

    Glücklicherweise waren genug andere Leute anwesend, die meine Vorgehensweise bezeugen konnten. Da dürfte in ihr ein innerer Film über eine vergangene Traumatisierung angesprungen sein. Es scheinen immer mehr Kinder in solche Situationen zu kommen, die dann auf uns einschlagen, natürlich auch auf andere Mädchen und Burschen. Was sich bei den Mädchen an Gewalt in den letzten Jahren abspielt – durchaus keine Einzelfälle -, das glaubt einem ja niemand, heißt es doch in der wissenschaftlichen Literatur vielfach, dass sie zu Selbstaggression neigen. Worauf ich da in der Tiefe gestoßen bin, ist die unbewusste Identifikation mit dem Aggressor. Ich halte das für den besten Erklärungsansatz, warum Kinder und Jugendliche so auszucken. Diese Problematik wird vollkommen unterschätzt.

    W: Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Anzahl von stark traumatisierten Jugendlichen vervierfacht. Gibt es da einen gesellschaftlichen Hintergrund?

    A: Die Problematik sehe ich in unserer Hochleistungsgesellschaft. Immer mehr Jugendliche kommen zu der – vielleicht gar nicht bewussten – Erkenntnis, dass sie darin keine Chance haben. Es wird ein so hoher Anspruch an Arbeitsfähigkeit verlangt, dass sie als `Loser´ keinen Platz haben und sich Bestätigung über eine negative Identifikation verschaffen. Es gibt immer mehr Jugendliche, die den narzisstischen Gewinn in Anspruch nehmen: Alle haben Angst vor mir.

    W: Ist das jetzt eine Einbahn, eine schiefe Ebene?

    A: Man müsste gegensteuern, aber das geschieht nicht. Meiner Beobachtung nach gibt es diesen Trend verstärkt seit dem Jahr 2000. Nicht umsonst habe ich in unserem letzten Bukumatula-Interview, das war 2003, mit dem Satz „Wien wird Chicago werden“ auf diese Problematik aufmerksam gemacht. Man meinte gar nicht gegensteuern zu müssen, weil man über Controlling und Kontraktmanagement ein gutes Instrumentarium zur Verfügung hat und dass diese Probleme damit in den Griff zu bekommen seien. Dabei haben die Sozialpolitiker den Blick darauf verloren, was sich tatsächlich abspielt – und es ist erschütternd, was sich abspielt. Aus meiner Sicht ist eine Öffentlichkeitsarbeit installiert worden, um die Bevölkerung zu täuschen.

    Das ist leider so, es zählt die `Verpackung´ und nicht der Inhalt. Und wir, die Mitarbeiter, dürfen nichts sagen, weil wir zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.- Wie kann man Prozesse vermitteln, die sich langsam entwickelt haben und die gleichzeitig verleugnet werden? Also meine These, dass schwere Traumatisierungen eine unbewusste Identifizierung mit dem Aggressor zur Folge haben, hätte schon sehr tief gehende Auswirkungen. Da müsste man als Sozialpädagoge ganz anders arbeiten und ganz anders ausgebildet werden. Freud hat 1925 an August Aichhorn geschrieben, dass die Analyse des Erziehers notwendig sei, damit er die Psychodynamik erkennt und dementsprechend handeln kann.- Das ist bis heute nicht umgesetzt worden. Derzeit erleben wir, dass Fachhochschulabgänger für Sozialpädagogik sehr schnell in einen Burnout-Zustand kommen.

    Es kracht in vielen Teams. Es sind alte, aber auch junge Kollegen und Kolleginnen, die sich überfordert fühlen und gleich einmal ein halbes Jahr arbeitsunfähig sind. Für mich gibt es da viele Zusammenhänge von Traumatisierung und von sekundärer Traumatisierung, was aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet werden muss. Meine Diplomarbeit bietet dazu eine Grundlage, und ich kann nur hoffen, dass sie weiter aufgegriffen wird. Es besteht die Gefahr, dass unser Beruf immer mehr zu einem Durchgangsberuf wird, dass Leute diesen Job vier, fünf Jahre lang machen und sich dann wegen Überforderung eine andere Arbeit suchen.

    Die momentane Entwicklung ist eine Katastrophe. Die Kinder und Jugendlichen brauchen stabile Beziehungen und Personen, die Konflikte aushalten. Und dazu braucht es Rahmenbedingungen, die es aber leider nicht gibt. Sowohl die Klienten als auch die Mitarbeiter sind auch körperlich höchst gefährdet. Wenn eine normal sozialisierte Jugendliche, etwa ein Vollwaise zu uns kommt, schauen wir sofort, dass wir sie in einer extern betreuten Wohnung unterbringen, damit sie nicht mit unseren Jugendlichen in Kontakt kommt. Für diese wäre sie betreffend Gewalt, Drogen, etc. ein „Fressen“.

    W: Die Hochleistungsgesellschaft fordert also auf beiden Seiten Opfer…

    A: Ja, ich bin ja auch Gewerkschafter. Und aus dieser Position heraus muss ich sagen, dass es in unserer Gesellschaft nur in eine Richtung gehen kann, und zwar am Beispiel des Sabbatical bei den Pädagogen, dass man fünf Jahre lang arbeitet und dann ein Jahr lang frei hat. Man kann diesem Leistungsdruck auf Dauer nicht Stand halten. Was unsere Jugendlichen betrifft, möchte ich sagen: Jobs mit maximal 20 Wochenstunden sind realistisch.

    Aber wo bekommt man eine 20-Stunden-Lehrstelle? Es gibt über das AMS Lehrwerkstätten, in denen die Ausbildung wie eine Lehre gewertet wird, aber keine so hohen Ansprüche gestellt werden. Wir versuchen möglichst viele Jugendliche dort hineinzubringen. Nur sehen wir leider, dass trotzdem viele scheitern. Mit einer Vollarbeitszeit würden sie überhaupt nicht zurechtkommen.

    W: Ich möchte jetzt zur Möglichkeit der psychotherapeutischen Behandlung der Kinder und Jugendlichen kommen, die ja vom Jugendamt bezahlt wird. Traumatherapie scheint das Mittel der Wahl zu sein. Was kann Traumatherapie, was andere Therapieformen nicht können?

    A: Traumatherapie wäre das adäquate Mittel, aber die gibt es bei uns nur für Erwachsene, etwa für Kriegsopfer. Für sexuell- bzw. gewaltmißbrauchte Kinder und Jugendliche gibt es sie nicht. Den Unterschied zur `normalen´ Therapie habe ich so verstanden: Zunächst geht es um die Herstellung von äußerer und innerer Sicherheit und dann beginnt man mit Hilfe bestimmter Techniken mit der Traumakonfrontation. Das Scheitern von Therapien bei sexuellem Missbrauch, die eben nicht von Traumatherapeuten durchgeführt werden, liegt bei unseren Jugendlichen über 90 Prozent.

    Da passieren manchmal katastrophale Sachen: Wenn zum Beispiel eine Therapeutin in der ersten Stunde von der Jugendlichen verlangt, dass sie den Missbraucher anzeigen müsse, dann kann ich mir nur an den Kopf greifen; das kann das Ziel sein, aber nicht der Beginn einer Therapie. Man muss bei Jugendlichen ein anderes Setting anwenden; da müssen zuerst vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt werden wie Spaziergänge, Bootsfahrten, etc. Es gibt auch nur ganz wenige Therapeutinnen, die mit unserem Klientel arbeiten können. Es ist ja absurd zu glauben, dass Jugendliche zweimal pro Woche in die Therapiestunde gehen und dort ihr Innerstes ausbreiten. Gleichzeitig ist das Trauma aber so mächtig, dass es gravierend ins Leben hineinwirkt.

    Der Konsum von Drogen ist für viele Jugendliche eine Ersatztherapie, ein unbewusster Selbstheilungsversuch. Man kann den Drogenkonsum ähnlich wie das Ritzen sehen; es ist ein Versuch, aus der inneren Spannung herauszukommen. Jugendliche, die Drogen nehmen, wiederholen unbewusst ihre Traumatisierung. Der Karlsplatz ist voll von traumatisierten Menschen. Aufgrund der Nichtbehandlung wird die Retraumatisierungsmaschinerie wieder angeworfen.

    Die Gesellschaft muss dann in Richtung Psychiatrie, Polizei, Justiz, Gefängnis, etc. handeln und Maßnahmen setzen, um sich vor diesen Jugendlichen zu schützen. Man muss sich vorstellen, was das im Nachhinein für einen Aufwand an Geldmittel erfordert. Wenn die Entwicklung eines Menschen nur die sein soll, dass er sich nach einem Gefängnis sehnt – weil dort lebe ich gut und sicher-, dann Gute Nacht!

    W: Ich finde es spannend, dass die Neurobiologie offenbar nachweisen kann, dass durch Traumaerlebnisse bestimmte Gehirnregionen weniger entwickelt sind als bei `normalen´ Menschen. Das würde auch die Theorie des freien Willens, des freien Handelns und der Verantwortung in Frage stellen…

    A: Es wäre wichtig zu erkennen: Ich habe einen Jugendlichen vor mir, der schwer traumatisiert ist. Aufgrund der Erlebnisse ist die Entwicklung der Amygdala und des Hypocampus zurückgeblieben, was zu fehlender Einsicht führt. Das ist aber auch jemand, der nicht in der Lage ist, Grenzen zu erkennen, weil er das geistig gar nicht verarbeiten kann und man ihn dort auch nicht erreichen kann.

    Es wäre wichtig anzuerkennen, dass es auf der hirnphysiologischen Ebene Einschränkungen gibt. Das würde helfen, andere Strategien zu entwickeln. Es gilt ja in der Sozialpädagogik immer noch das Postulat von August Aichhorn, dass über das Herstellen einer positiven Übertragungsbeziehung eine Heilung stattfinden kann.

    W: Und was bieten sich da für Lösungen an?

    A: Du bist schon bei den Lösungen. Mir geht es darum, das überhaupt einmal anzuerkennen. Man muss sich erst einmal der Schwierigkeit bewusst werden. Wie man damit umgeht, ist wiederum eine andere Geschichte. Das schwierigste Klientel sind die dreizehn-, vierzehjährigen Pubertierenden. Da kommen die hormonelle Umstellung und das Auftauchen von Traumatisierungen zusammen. Wenn jemand wie ein Panzer durch die Gegend fährt, muss man ihm Grenzen setzen – nur muss man davon ausgehen, dass er das nicht versteht. Das braucht Geduld, Zeit und gesicherte Arbeitsbedingungen.

    W: Und das könnte helfen?

    A: Ich habe keine Antwort auf etwas, was noch nicht ausprobiert wurde. Wenn Sozialpädagogen bessere Rahmenbedingungen, gute Reflexionsmöglichkeiten, Fallpräsentationen, etc. haben, werden in den Jugendlichen Reifungsprozesse entstehen können. Wahrscheinlich wird man in manchen Fällen überhaupt nicht helfen können. Die Neurobiologie hat durch die technische Entwicklung, etwa durch bildgebende Verfahren, viele neue Erkenntnisse gebracht. Sie ist für uns eine große Hilfe, um Zusammenhänge verstehen zu können. Aber die Neurobiologie kann sicher nicht bestimmen, welche Therapie jetzt ablaufen soll; man muss sehen, wo was hingehört.

    W: Innenministerin Fekter hat angeregt, die Strafmündigkeit auf 13 Jahre zu senken.

    A: Dadurch, dass etwa Dreizehnjährige in einem schwierigen Alter sind und die Jugendwohlfahrt hilflos agiert, mündet das in den Glauben, dass man mit Strafen etwas ändern kann. Von der fachlichen Ebene her ist das ein Trugschluss. Besser wäre ein dichteres Betreuungsnetz, das auch die Familie mit einbezieht. Dass zum Beispiel ambulante Unterstützung gegeben wird, wenn ein Kind beim Stehlen oder bei einem Einbruch erwischt wird.- Da ich auch über zehn Jahre lang Bewährungshelfer war, möchte ich schon darauf hinweisen, dass durch die Bewährungshilfe zwei Drittel der jugendlichen Delinquenten nicht rückfällig werden.

    W: Am 2. August dieses Jahres war in den Tageszeitungen zu lesen: 41-köpfige Buben- und Mädchenbande haben sich in Linz organisiert und 16 Raubüberfälle und 200 Autoeinbrüche verübt. Wie kann man das verstehen?

    A: Das ist eine Frage für einen Jugendanwalt. Ich sehe es auch bei meinen eigenen Kindern, wie schwierig es ist, Grenzen zu setzen, etwa bei Computerspielen. Was ist gut, was ist nicht gut? Da sind wir auf gesellschaftlicher Ebene an einem Punkt, wo Eltern die Schuld für diese Entwicklungen zugeschoben werden. Das Argument, dass sie sich zu wenig um die Kinder kümmern ist aber zu billig. Wenn z.B. beide Elternteile berufstätig sind und ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kommen, wollen sie selbst ihre Ruhe haben. Natürlich fühlen sich dann die Kinder allein gelassen und es kommt Langeweile auf.

    Aber da kommt noch etwas anderes hinzu. In Wien werden 65 Prozent der Ehen geschieden. In Wirklichkeit schaut sich keiner an, was mit den Kindern passiert. Man redet ganz locker über Patchwork-Familien. Aber so einfach ist das nicht. Wie geht es denn den Kindern, die eine wesentliche Bezugsperson verlieren? Dann passieren halt solche Sachen. Ich bin mit weiblichen Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die extrem schwierig sind und keine Regeln einhalten, und mit denen zu leben – zwei mal 25 Stunden pro Woche – ist nicht einfach und ist etwas ganz anderes als eine Betreuungstätigkeit oder eine Therapie.

    W: Die Jugendlichen werden mit 18 Jahren aus der Heimbetreuung entlassen?

    A: Ja, und wir alle sind `froh´, dass man mit ihnen nichts mehr zu tun hat, dass man sie abschieben kann und sich jemand anderer mit ihnen beschäftigen muss, zum Beispiel die Polizei und die Justiz. Das ist eine traurige Geschichte. Diese Jugendlichen sind nämlich emotional – und da möchte ich jetzt Michaela Huber zitieren – Kleinkinder. Nicht umsonst hat sie gefordert, dass man ihnen nicht nach dem biologischen Alter, sondern nach dem emotionalen Alter, Betreuung anbieten muss.

    W: Gibt es auch positive Erlebnisse?

    A: Es gibt einige wenige Klientinnen, die uns später wieder besuchen und wo man sagen kann, dass sie eine gute Entwicklung durchgemacht haben. Vor 15 Jahren hatten wir die letzte Maturantin, in Bälde wird es wieder eine geben.

    W: Wie sieht die psychiatrische Versorgung für Kinder und Jugendliche in Wien aus?

    A: Wir erleben in unserer Arbeit, wie hilflos die Kinder- und Jugendpsychiatrie bei unseren Klientinnen ist. Um nur ein Beispiel zu bringen: Wir hatten ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Klebstoff geschnüffelt hat und daraufhin vollkommen ausgerastet ist. Es wurde die Polizei gerufen. Die sind dem Mädchen aber nicht Herr geworden, und es wurde eine zweite Funkstreife gerufen. Schließlich hat sie dann die Rettung auf eine psychiatrische Einrichtung gebracht. Der Erfolg war, dass die Psychiaterin feststellte, dass keine Selbst- und Fremdgefährdung vorliege und hat die Patientin wieder zurückgeschickt. Bei uns hat sich dieses Szenario dann wiederholt, und es kam wieder zu einem Polizeieinsatz.

    Dieses Mädchen hat eine andere pädagogische Einrichtung übernommen, ist von dort aber gleich wieder abgehauen. Das heißt, die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich geweigert, dieses Mädchen aufzunehmen. Da kann man auch annehmen, dass sie total überlastet sind, aber da geht der Teufelskreis ja weiter. Wenn man keine Hilfe mehr hat und die Kinder- und Jugendpsychiatrie sich eingesteht: „Wir sind auch am Ende unseres Lateins“, dann wäre das eigentlich der Beginn eines neuen Anfangs. Aber Psychiater stellen sich her und erklären, die Gewalt habe gar nicht zugenommen. In unseren Einrichtungen erleben wir das Gegenteil. Uns mutet man zu, dass wir mit dieser Masse an Gewalt besser umgehen können als die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

    W: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ebenfall hilflos…

    A: Aus meiner Sicht vollkommen hilflos. Im Anhang meiner Diplomarbeit berichte ich von einer Jugendlichen, die nach einem Suizidversuch durch eine Überdosis an Tresleen in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Und was meinst Du, was sie von ihrer Psychiaterin zur Therapie bekommen hat?- Tresleen! Die dahinter stehende Symbolik ist Hilflosigkeit. Wenn bei uns irgendein Psychiater auftaucht, was will uns der sagen? Zu glauben, dass irgendwelche Medikamente, die die Psychiatrie den Kindern bzw. Jugendlichen anbietet, hilfreich sind, ist absurd, das hat sich meiner Erfahrung nach alles als vollkommen wirkungslos gezeigt. Wenn es Richtung Psychose geht ist das etwas anderes. Aber wir haben hauptsächlich mit Borderline-Strukturen zu tun, und da gibt es keine wirklich hilfreichen Medikamente.

    W: Noch einmal zur Frage der gesellschaftlichen Entwicklung: Die Anforderungen nehmen zu, und immer mehr Jugendliche fallen da heraus. Hast Du eine Vision, wie man dem gegensteuern kann?

    A: Wichtig wäre es, dass man sich eingesteht: „Ja, diese Entwicklung findet statt“. Solange das aber die so genanten `Fachleute´ nicht so sehen, wird es keine Änderung geben. Die Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt sind extremen Situationen ausgesetzt. Im ersten Schritt ist das zu analysieren und dann braucht es Rahmenbedingungen und Bildungsprozesse, um das auf Schiene zu bringen. Wir Sozialpädagogen sind ja als Menschen auch das `Werkzeug´. Aber man schaut einfach zu und sagt: Wien ist eine der sichersten Städte der Welt. Wien ist aber dabei, in vollkommen negative Bereiche hineinzugehen.

    Es gibt viele Kollegen und Kolleginnen, die meinen, dass erst etwas wirklich Schlimmes geschehen muss, damit sich hier etwas ändert. Im Mai sind aufgrund von Überlastung der Betreuer zehn Krisenzentren fast zusammengebrochen. So wie ich die handelnden Personen kenne, von der Stadträtin abwärts, wird das alles verleugnet. In der Reform im Jahr 2000 wurden Wohngemeinschaften eingerichtet, die sehr gut funktionieren. Ein Therapieheim aber wurde verweigert. Bei schwierigen Kindern und Jugendlichen wackelt das System heftig. Es reichen ein, zwei extrem Schwierige, um eine ganze Gruppe mit in den Abgrund zu reißen. Wenn man aufgrund der Familienforschung weiß, dass die Problembereiche über drei Generationen wirksam sind, dann kann man sich vorstellen, was sich bei uns in zwanzig, dreißig Jahren abspielen wird.

    Unsere Klienten sind ja auch die Mütter und Väter der nächsten Generation. Die Lehrer dieser Kinder tun mir jetzt schon leid. Da wird es zu gigantischen Problemen kommen. Es gibt bei uns sehr viele Mädchen, die keinen Job schaffen, aber unbedingt schwanger werden wollen. Eine von zehn Müttern schafft es, dass ihr das Kind nicht weggenommen werden muss. Man glaubt ja nicht, was sich da abspielt: Wenn ein Säugling von einer Mutter-Kind-Einrichtung abgenommen wird, dann kommt es zu einer Krisenpflegefamilie und dann zu einer Pflegefamilie. Man muss sich vorstellen, was man einem Kleinkind damit antut.

    Warum kann man nicht Säuglinge zu Pflegeeltern geben, die das Kind wieder der Mutter geben müssen, wenn sie sich stabilisiert hat? Man mutet dem Säugling zu, dass er einen Beziehungsabbruch aushält, aber man mutet den Pflegeeltern nicht zu, dass ihnen das Kind wieder weggenommen wird. An diesem Modell haben auch Psychologen mitgearbeitet. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist das ein Wahnsinn. Und das sind Strukturen der Kinder- und Jugendwohlfahrt.

    Wo ist da die Wohlfahrt? Übrig bleibt lediglich eine schwere Traumatisierung eines Kleinkindes. Solche Pflegekinder kommen dann später häufig zu uns. Wenn es Pflegerückstellungen sind, sind das in der Regel die schwierigsten Kinder überhaupt, besonders in der Pubertät. Ich gehöre ja zu den Sozialpädagogen der siebziger Jahre, und unser Ziel war es, dass wir arbeitslos werden. Heute erlebe ich das Gegenteil. Unsere Klienten sind jedenfalls zur Kindererziehung kaum fähig.

    W: Und warum ist der Kinderwunsch so groß?

    A: Vielleicht für das Selbstwertgefühl, vielleicht die Vorstellung, dass sie damit doch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sind und vielleicht die Hoffnung, dass das Kind es einmal besser haben wird als sie selber, was natürlich eine Illusion ist. Um das an einem Beispiel klar zu machen: Da gab es bei uns ein Mädchen, mit dem ich immer wieder Probleme hatte. Das Mädchen, ein Pflegekind, ist mit 17 Jahren schwanger geworden und wurde in einer Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen.

    Es gab Probleme, und ihr wurde das Kind abgenommen. Mit 19 Jahren hat sie wieder ein Kind, ein Mädchen, bekommen und ist kurz darauf an einer Überdosis Heroin gestorben, wobei das Kind anwesend war. Es ist meine Fantasie, dass ihre Tochter mit dreizehn, vierzehn Jahren bei uns auftauchen wird und ich dann dem Mädchen sagen muss: „Ich kenne Deine Mutter“. Die Mutter habe ich wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass sich ihre Geschichte wiederholen wird. Und tragischerweise wiederholt sie sich oftmals tatsächlich. Freud hat schon 1896 festgehalten, dass sexuelle Misshandlungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Fest steht aber auch: Die Gesellschaft braucht Schwache, Außenseiter, um sich selbst zu legitimieren.

    Dazu fällt mir auch das Schicksal von Wilhelm Reich ein. Warum wurde, bzw. wird Reich mit seinen Erkenntnissen so abgewehrt? Ich bin der Meinung, dass diese aufgezeigten Problematiken auch in 20 Jahren noch aktuell sein werden. Ich werde sicher meine Meinung dazu überall äußern, aber ob ich damit erfolgreich bin und das gesehen wird, ist eine andere Geschichte. Aus meiner Sicht ist die Diplomarbeit ein grundlegendes Werk, von dem aus man neue Forschungen beginnen kann.

    W: Zu Deiner Diplomarbeit und zum Abschluss Deines Studiums sei an dieser Stelle herzlich gratuliert. Professor X hätte Dich gerne jünger gesehen, aber da wären viele Aspekte Deiner Arbeit so nicht bekannt gewesen.

    A: Für mich waren die Erlebnisse mit den schwer traumatisierten Jugendlichen und das Fehlen geeigneter Rahmenbedingungen für meine Diplomarbeit ausschlaggebend. Ich bin froh, dass ich das Studium noch einmal angegangen bin, weil ich dadurch wieder zur Philosophie der Pädagogik gekommen bin und damit auch auf die Grundhaltung der Philosophie des „Nicht-Wissens“.

    Das ist für mich die Essenz, mit der wir als Therapeuten und Pädagogen zu arbeiten haben. Wir wissen in Wirklichkeit nichts, und genau über dieses Nicht-Wissen findet Begegnung statt. Ich bin dankbar, dass ich mich noch einmal der Pädagogik gestellt habe, weil das für mich zu einem wichtigen Anker geworden ist: Die Grundphilosophie des Nicht-Wissens.

    W: Das ist ein schöner Abschlusssatz. Danke Alfred.

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    Bukumatula 4/2008

    Berührung – mehr als nur Worte

    eine Radiosendung über körperbetonte Psychotherapie aus:
    „Dimensionen. Welt der Wissenschaft“; 19.06.2008, Ö1
    transkribiert von
    Dario Lindes:

    Autor: Ulfried Geuter

    „Mein Therapeut hat mich dazu animiert, bestimmte Atemtechniken anzuwenden oder mir vorsichtig körperliche Berührungen gegeben, die in Richtung Massage gingen, oder auch einfache Grounding-Übungen mit viel Atmen mit mir gemacht, um erst einmal in tieferen Kontakt mit meinen Gefühlen zu kommen, die dann an die Oberfläche schwappten. Und so zeigten sich dann auch recht schnell körperliche Symptome wie Blockaden, Zuckungen und ähnliches an mir.“

    Patricia Gertl nennt es heute „ihre Depression“. Damals war es ein schwarzes Gefühl von Verzweiflung, Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Dazu hatte sie Migräne und ein ständiges Chaos in ihren Männerbeziehungen. Sie fand Hilfe in einer Psychotherapie, in der nicht nur gesprochen wurde, sondern in der sie ihr Therapeut auch mit seinen Händen berührte. Auf dem Weg über den Körper kamen verschüttete Gefühle an die Oberfläche.

    „Wenn sich jemand beklagt, dass er sich zwar sehr elend fühlt, aber nie weinen kann, dann reicht es manchmal aus, ihm die Hand auf die Brust zu legen, und er spürt die Anwesenheit einer freundlichen Person. Und dann dauert es oft nur Sekunden – manchmal auch etwas länger – und es kommen von selbst Tränen. Manche Patienten muss man oft sehr viel intensiver halten, damit sie sich trauen, ihre Gefühle zu zeigen, weil sie fürchten, sie werden von ihnen zerrissen.“
    Das sagt Tilmann Moser, Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut aus Freiburg.

    Moser setzt sich seit Jahren dafür ein, die klassische Psychoanalyse um die Arbeit mit dem Körper zu erweitern. Der Grund: manche Patienten würden auf der Couch emotional so verhungern, wie sie auch schon als Kind verhungert sind. Dann würden in einer Psychotherapie Worte nicht mehr ausreichen, um das Gefühl zu gewinnen „da ist jemand, der mich in meiner Not hält und trägt“.

    Was Moser als Bereicherung der Couch-Therapie versteht, ist in der Psychoanalyse heftig umstritten. Andere Therapeuten fürchten, dass es den Patienten in seinen Gefühlen zum Analytiker verwirren könnte, wenn dieser ihn berührt. Schlimmstenfalls, warnen die schärfsten Kritiker Mosers, werde die therapeutische Atmosphäre sexuell aufgeladen. Moser hingegen meint, genau das Gegenteil sei der Fall, selbst wenn bei einem männlichen Analytiker eine weibliche Patientin die Phantasie einer sexuellen Beziehung entwickelt.

    „Eine gut durchdachte, gut durchfühlte Berührung führt zu folgendem, sehr wichtigen Ergebnis: Der Patient spürt an der haltenden Hand, dass er sich eigentlich nach Schutz, Halt, Geborgenheit und Wärme sehnt, und dass er diese basalen, primären Gefühle, an denen er einen Mangel hatte, sexualisiert wurden, weil die Sexualität für den Erwachsenen der einzige Zugang zu intensiver Nähe ist, besonders in unserer Kultur. Die Körperpsychotherapie ist also auch ein mächtiges Hilfsmittel bei der Entwirrung verwirrter Gefühle.“

    Bei den Frauen, die Freud vor 100 Jahren behandelte, war das alles anders.
    Freud hatte sich anfangs viel mit hysterischen Neurosen befasst. Seine Patientinnen hatten Probleme, die im Bereich von Triebkonflikt und verinnerlichten Verboten lagen. Bei ihnen war es wichtig, dass der meist männliche Therapeut abstinent blieb, auf analytische Distanz ging, damit sich die Phantasien der Patientinnen frei entfalten konnten.

    Aber heute gibt es andere Patienten mit anderen Störungsbildern. Viele Menschen bekommen sich selbst nicht mehr mit, sie haben bei allem Körperfetischismus unserer Kultur den richtigen Bezug zu ihrem Körper verloren und wissen nicht mehr, wer sie sind. Dieses Gefühl trieb in den 1970er- und 80er-Jahren eine ganze Generation in Selbsterfahrungsgruppen, in denen die Arbeit mit dem Körper auch Arbeit an der eigenen Identität war.

    Auch der Wiener Psychotherapeut Peter Geißler machte damals seine ersten Erfahrungen: „Bevor ich die Körpertherapie entdeckte, habe ich eine verbale psychoanalytische Therapie durchlaufen, und da bin ich an bestimmte Bereiche gestoßen, die immer nur auf einer rein intellektuellen Ebene geblieben sind. Und als ich dann einmal in eine körpertherapeutische Gruppe kam, geschah es, dass die bloße Berührung des Therapeuten dazu führte, dass auf einmal eine ganz tiefe Traurigkeit in mir aufgestiegen ist, die ich schon seit Jahren bis Jahr
    Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatte.“ Geißler möchte heute körperbezogene Techniken mit psychoanalytischer Therapie verbinden. Wenn er glaubt, dass es einem Patienten helfen könnte, berührt er ihn auch – und das nicht nur in jenem konventionellen Sinn, dass man jemandem die Hand gibt oder auf die Schulter klopft.

    Bei einer Patientin hatte er z.B. nach mehreren Sitzungen den Eindruck, beim Sprechen immer wieder an einen toten Punkt zu gelangen. „Da habe ich mich entschlossen, einfach einmal etwas mit ihr auszuprobieren und habe sie gefragt, ob sie mitmachen würde: Sie möge sich doch auf einer Matratze auf den Rücken legen, und ich würde einfach für eine Weile ihren Kopf halten.

    Die Patientin hat sich auf diese Art des Kopfhaltens, also einer speziellen Berührungstechnik, eingelassen, und sie fand schon nach ein paar Minuten zu einer emotionalen Bewegtheit. Der Patientin sind die Tränen geflossen, von denen sie überhaupt nicht wusste, woher sie kommen. Aber genau diese kurze Szene war dann ein Kristallisationspunkt für viele weitere Gespräche, die dann fruchtbarer verliefen als alles, was vorher monatelang passiert war.“

    Berührung zwischen zwei Menschen ist immer auch eine Geste. Sie kann einen Menschen einladen, die Tränen frei laufen zu lassen – sie kann aber auch einen Menschen beruhigen, den seine Trauer gerade zu zerreißen droht. Berührung dient der Seele dazu, Gefühle ins Gleichgewicht zu bringen – Wissenschafter sprechen von „Affektregulation“. Amerikanische Neurophysiologen machten dazu ein Experiment: Sie baten Ehepaare ins Labor. Die Frauen erhielten leichte Elektroschocks am Knöchel und man zeichnete dabei deren Gehirnaktivität auf.

    Dann bat man die Ehemänner, ihrer Frau die Hand zu halten. Sofort beruhigten sich bei den Frauen jene Hirnareale, die vorher Stress anzeigten. Berührung kann also auch Stress mindern. Sie vermittelt einem Menschen, dass er von einem anderen beachtet wird. Das gehört ohnehin zum Erfahrungsschatz eines einfühlsamen zwischenmenschlichen Umgangs. Nun wird dies auch von der neurobiologischen Forschung bestätigt, sagt die deutsche Psychotherapeutin und Nervenärztin Luise Reddemann: „Wissenschaftlich gesehen ist es so, dass angenehm erlebte Berührung dazu führt, dass ein bestimmtes Hormon, Oxytocin, ausgeschüttet wird. Und dieses Oxytocin ist jenes Hormon, das uns hilft, Stress abzubauen und uns wohl zu fühlen, uns als soziale Wesen zu verhalten – und auch sogar besser zu lernen.“

    Oxytocin leitet bei Frauen die Wehen ein und macht diese erträglich. Später, in der Stillphase, ist es dafür zuständig, dass die Milch einschießt. Das Hormon fördert die Bereitschaft, sich an einen anderen Menschen zu binden. Und es lässt uns entspannen, wenn wir berührt werden.

    Sind Menschen in Gruppen in Panik, so fassen sie einander – auch Wildfremde – an, um sich zu beruhigen. So wie die Bonobos, die Zwergschimpansen, die 98 Prozent der Gene mit uns Menschen gemeinsam haben. Bei Stress hocken sie zusammen und halten sich aneinander fest. Bonobos tun aber auch noch mehr: Sie kopulieren dann häufiger als sonst. Auch sexuelle Aktivität kann Stress reduzieren.

    In berühmt gewordenen Experimenten bot der amerikanische Psychologe Harry Harlow kleinen Rhesusaffen mit zwei Attrappen künstliche Ersatzmütter an: eine mit einem weichen Fell, die keine Milch gab, und eine zweite aus einem Drahtgestell, die Milch gab. Resultat: Die Affenbabys hielten sich bei der Milchspenderin stets nur zur Nahrungsaufnahme auf, bevorzugten aber für den sozialen Rest die Ersatzmutter mit dem weichen Fell.

    Kinder suchen bei Angst oder Schmerz den körperlichen Halt ihrer Eltern – aus gelungener Berührung entsteht Bindung. Die amerikanische Säuglingsforscherin Beatrice Beebe wies nach, dass sich aus der Art und Weise, wie eine Mutter ihren vier Monate alten Säugling berührt, voraussagen lässt, wie sicher ein Kind im Alter von einem Jahr an die Mutter gebunden ist. Das gleiche gilt umgekehrt auch: Ungute Berührung kann den Aufbau einer (guten) Beziehung stören.

    Berührung formt das Bild von sich selbst und das Gefühl zu sich selbst, sagt der Basler Psychiater und Psychotherapeut Joachim Küchenhoff: „Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass die Konstitution des Selbstbildes sehr viel mit der ursprünglichen Berührungserfahrung in der frühen Kindheit zu tun hat. Für uns in der Psychotherapie ist ja nicht einfach nur die Kognition wichtig, sondern vor allem die Emotion, d.h. die Qualität der Berührungserfahrung: dass diese sehr viel damit zu tun hat, wie ich mich selber annehmen kann, wie ich selber ein warmes, tragfähiges Verhältnis zu mir selbst entwickle.“

    Salopp formuliert und im wörtlichen wie im übertragenen Sinn: Wer als Kind gut getragen wurde, hat es leichter mit einem tragfähigen Verhältnis zu sich selbst. Fehlt einem Patienten eine solche Erfahrung als Kind, kann eine Psychotherapie helfen, das Vertrauen in andere Menschen und sich selbst nachreifen zu lassen. Dazu trägt in erster Linie bei, dass der Therapeut für den Patienten da ist und in der Beziehung Halt vermittelt. Aber auch eine Berührung, wie den Kopf oder die Hand zu halten, kann Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.

    Von diesen Berührungen in einer Psychotherapie lassen sich andere unterscheiden, die eher darauf abzielen, verschüttete Gefühle zu befreien: z.B. eine Hand auf die Brust zu legen, damit festgehaltene Tränen fließen können. Zur Funktion solcher Berührungen sagt Joachim Küchenhoff: „Berührungen entfalten da, wo Worte nicht mehr hinreichen, eine enorme Katalysatorwirkung, um Emotionalität wieder freizusetzen.

    Das ist die große Möglichkeit von körperbetonter Psychotherapie: dass sie es ermöglicht, auch in einer Lebensform, wo sich jemand in einen Raum scheinbarer Gefühllosigkeit zurückgezogen hat, um nicht verletzt zu werden, zu spüren beginnt, dass Begegnung auch gewagt werden darf, dass Emotionalität im Kontakt mit anderen Menschen auch etwas Tragfähiges und Wichtiges hat.“ Berührung schafft Kontakt. Wenn wir an der Haut berührt werden, wird auch die Seele berührt – wenn der Berührende uns in diesem Sinn berühren möchte.

    Es gibt in der Heilkunde auch andere Berührungen, z.B. die Berührung eines Masseurs, der einen verspannten Muskel lockern will. Solche Berührungen helfen, dass die körperliche Funktion wieder ins Gleichgewicht kommt, wie z.B. das Verhältnis von Spannung und Entspannung in der Muskulatur. Auch dies kann seelische Nachwirkungen haben, sodass wir uns nach einer Massage ausgeglichener fühlen.

    Was eine Berührung bewirkt, hängt auch mit der inneren Einstellung des Berührenden zusammen. Therese Mean führte in New York ein Experiment durch, bei dem Krankenschwestern den Körpern von Erkrankten mit ihren Händen „zuhören“ und die Hände dorthin legen sollten, wo sie eine Ansammlung von Spannung bemerkten. Die eine Gruppe von Schwestern sollte einfach nur die Hände ohne inneren Hintergedanken auflegen, die andere sollte es tun mit der festen Absicht zu heilen. Nur bei letzter Gruppe zeigte sich ein Effekt bei den Patienten: Bei Hirnstrommessungen hatten sie mehr Alpha-Wellen mit hohen Amplituden – ein Zeichen für tiefe Entspannung. Herzkranke, die so berührt wurden, zeigten weniger Angst.

    Nicht nur Berührung durch andere, auch Selbstberührung kann solche Effekte erzielen. Der Münchner Körperpsychotherapeut Christian Gottwald ermuntert daher seine Patienten, sich öfter mal selbst anzufassen, etwa die Hand auf das Herz zu legen. Manche Patienten würden das als sehr wohltuend erleben. „Dann ereignet sich häufig etwas sehr Merkwürdiges“, schildert er, „es kommen Gefühle hoch, und häufig sind das traurige oder schmerzliche Gefühle, die genau mit jenen Botschaften zu tun haben, die inhaltlich rund um das Thema Herz angesiedelt sind, wie ,ich nehme dich an´, `ich hab dich lieb’. So zentrale Berührungen führen die Leute oft mitten hinein in alte, tiefe Geschichten, die mit ihrer Kindheit zusammenhängen.“

    Aber die Berührung schafft nicht nur eine Verbindung zu alten Schmerzen, sondern auch zu den Quellen ihrer Erlösung. „An ganz intensiven Formen von Berührung mangelt es üblicherweise den Erwachsenen in unserer mitteleuropäischen Kultur, weil meist viel Schmerz damit verbunden ist. Aber – und das ist das Interessante – in dem Schmerz ist auch ein Wissen um die Heilung, was eigentlich stattfinden müsste, damit es wieder gut wird. Und das ist häufig diese Berührung auf emotionaler Ebene.“

    In einer Psychotherapie, in der auch mit dem Körper gearbeitet wird, kann Berührung mehr bedeuten:

    • eine Hilfe zur Selbstregulation körperlicher Prozesse, die aus dem Lot geraten sind
    • eine Hilfe, um verschüttete Gefühle wieder spüren zu können
    • oder eine Geste im zwischenmenschlichen Kontakt.

    Berührt ein Therapeut z.B. die Schulter eines Patienten, kann dies helfen, die Spannung in der Schulter zu lösen – aber auch das Gefühl vermitteln „da gibt es jemanden, der für mich da ist, und weil ich das lange nicht hatte, musste ich immer so festhalten“.

    Patricia Gertls Therapeut legte seine Hand in ihren Nacken, um sie zu halten und zu beruhigen. „Später wurden daraus richtiggehend Massagen, weil ich ja auch Migräne hatte. Auch das Gesicht wurde teilweise mit massiert, Arme, Beine, das weitete sich immer mehr aus, je mehr Vertrauen ich zu meinem Therapeuten gefasst hatte.“

    Die Massagen halfen ihr, mehr innere Ruhe zu finden, aber sie bewirkten noch Anderes: „Ich habe mich auf einmal wieder als Kleinkind gesehen und irgendwelche Gefühle von Verlassenheit erlebt. Ich habe mir das gemerkt, und hinterher habe ich mit meinem Therapeuten darüber gesprochen; dann wurde das sozusagen analytisch aufgearbeitet.“
    In einer Körperpsychotherapie verbindet sich die Arbeit am Körper, die Berührung, immer mit dem Gespräch darüber, welche Bedeutung diese Berührung für den Patienten hatte, was sie ausgelöst und in Bewegung gebracht hat. Das unterscheidet sie von Methoden, die allein auf die körperlichen Zustände und Funktionen ausgerichtet sind, wie eine klassische Massage. Denn in einer Psychotherapie geht es um Gefühle. Wenn nichts geschieht, was einen Menschen innerlich bewegt, verändert er sich nicht. Daher verändern sich Menschen, wenn sie sich verlieben oder einen Schicksalsschlag erleiden – oder eben auch, wenn sie in einer Psychotherapie `berührt´ werden.

    In den meisten psychotherapeutischen Behandlungen geschieht dies durch Worte, wie die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast an einem Beispiel erläutert: „Ich erinnere mich da an eine Frau, die mir sagte, man könne sich doch die Seelen der Toten als Schmetterlinge vorstellen. Ich entgegnete ihr, besser wäre doch die Vorstellung von den Toten als Sommervögel. Und dieses Wort Sommervogel hat sie aus ihrer Lebensgeschichte heraus daran erinnert, dass ihre Großmutter sie immer Sommervögli, also kleiner Sommervogel, genannt hat. Da kam also eine ungeheuere Erinnerungsmasse an Zärtlichem, Lebendigem zum Vorschein.“ Erinnerungen, die ihr halfen, eine verschüttete Lebensfreude wieder zu entdecken.

    Worte können auch die tiefen Schichten der Erinnerung erschließen. Manche Erinnerungen aber liegen vor allen Worten: wenn sie aus einer Zeit stammen, in denen das Kind seine Erfahrungen noch nicht in Sprache fassen konnte. Oder sie liegen jenseits von Worten, wenn ein Ereignis so überwältigend war – z.B. ein schweres Trauma, sodass dieses Erlebnis nicht in Worte gespeichert werden konnte. Wissenschafter sprechen davon, dass es neben dem „expliziten“ sprachlich verfassten Gedächtnis auch noch ein so genanntes „prozedurales“ (implizites) Gedächtnis gibt, in dem Handlungsabläufe – auch emotionale – gespeichert werden.

    Ein Beispiel: Legen Eltern ihr Kind regelmäßig weg, wenn es bei ihnen auf dem Schoß sitzt und möglicherweise seine Hände gegen den Körper des Erwachsenen stößt, dann lernt das Kind, dass seine Äußerungen von Vitalität oder sein Wunsch nach Raum dazu führt, vom anderen getrennt zu werden. Das Kind zieht sich zurück. Aus vielen gleich lautenden Erfahrungen kann ein so genanntes „affektmotorisches Schema“ entstehen, ein gemeinsames Muster des Denkens, Fühlens und körperlichen Verhaltens, mit dem der Erwachsene dann später an die Welt herangeht: nur ja nicht zu viel an vitalen Gefühlsäußerungen zeigen und sich zurückziehen.

    Hans Becker schildert den Fall einer Frau an der psychosomatischen Abteilung der Universitätsklinik Heidelberg, die an Herzrasen und Angst vor Herzstillstand litt: „In einer Konzentrativen Bewegungstherapie-Gruppe kam es zu einer Szene, in der die Frau mit einer Mitpatientin mit einem Seil spielte und diese Mitpatientin dann das Seil um den Körper der Frau schlang. Die Frau begann plötzlich laut aufzuschreien; die ganze Gruppe wusste zunächst gar nicht, was los war. Doch hinterher, im Gespräch über diese Schlüsselszene, wurde ihr plötzlich klar, wie eingeengt sie eigentlich zu Hause war. Und so konnten wir mit ihr zusammen im Laufe von vielen Monaten den Zusammenhang zwischen ihrer Einengung und ihren somatischen Symptomen erarbeiten, was im Sprachlichen erst nicht ging, weil sie gar keinen Zugang dazu hatte.“

    Der früheste Zugang des Menschen zu sich selbst ist der Zugang über die Haut. Von allen Sinnen erwacht der Tastsinn als erster. In der 8. Schwangerschaftswoche beginnt der Embryo sich tastend ein Bild von sich selber zu machen. Er reibt seine Haut an der Wand des Uterus, er spielt mit der Nabelschnur und berührt immer wieder seinen Körper – frühe Berührungen, die wahrscheinlich die wichtigsten Erfahrungen für die Reifung des Gehirns im Mutterleib sind.

    An diesen Erfahrungen mangelt es Frühgeborenen, weshalb man heute bei ihnen, anders als früher, darauf achtet, dass sie viel Berührung bekommen, sagt der Heidelberger Kindermediziner Otwin Linderkamp: „Mit 24 Wochen, also 16 Wochen vor dem Geburtstermin, hat jede Nervenzelle nur eine Verbindung – zum Geburtstermin sind es schon über eintausend. Diese werden alle im Lauf der Schwangerschaft geknüpft. Und die Art der Verknüpfung entscheidet dann darüber, ob das Kind später von Seiten seines Gehirns gesund ist oder nicht. Und hier können Fehlentwicklungen bei Frühgeborenen entstehen, wenn sie nicht zur rechten Zeit die richtige Stimulation erfahren, und zu diesen richtigen Stimulationen gehört eben auch ein enger Hautkontakt zur Mutter.“

    Bei der so genannten `Känguru-Pflege´ liegen die Kinder jeden Tag einige Stunden auf der Brust der Mutter oder des Vaters. Die Folgen unterstreichen den Wert, den körperlicher Kontakt für die Entwicklung des Menschen hat. Berührung ist eine Prophylaxe gegen spätere seelische Störungen.

    „Wir fürchten bei Frühgeborenen besonders Lernstörungen und Aufmerksamkeitsdefizite. Viele Frühgeborene entwickeln sogar ein richtiggehendes Hyperaktivitätssyndrom, und dies hängt eben mit Fehlentwicklungen im Gehirn zusammen. Es gibt in der Tat Untersuchungen, die gezeigt haben, dass Frühgeborene, wenn sie regelmäßig von Mutter oder Vater in Känguru-Pflege genommen werden, dann später eine normale Gehirnentwicklung haben und nicht häufiger als andere Kinder am ADHS-Syndrom erkranken oder Lernstörungen bekommen.“

    Doch auch der Tastsinn selbst kann gestört sein, z.B. bei Patienten, die sich kein angemessen korrektes Bild von ihrem eigenen Körper machen. Dazu gehören etwa Magersüchtige. Sie fühlen sich oft zu dick, unförmig und aufgedunsen, sind aber in Wahrheit sehr dünn und abgemagert. Der Leipziger Psychologe Martin Grunwald untersuchte solche Patienten in seinem Labor für Haptikforschung, das ist die Wissenschaft vom Tastsinn. Dort sollten sie im Vergleich mit gesunden Probanden abstrakte Formen mit geschlossenen Augen abtasten und diese später nachzeichnen.

    Magersüchtige konnten das weit schlechter als `normale´ Menschen. Leitete er gleichzeitig deren Gehirnströme ab, sah Grundwald, dass ein bestimmter Teil der Großhirnrinde, der nämlich, der mit der Verarbeitung von Körpersignalen zu tun hat, deutlich weniger aktiv war als andere Zentren. „Auch andere Kollegen sehen das so, dass möglicherweise der rechte Parietalcortex (Schläfenlappen) bei Anorexia nervosa in seiner integrativen Funktion deutlich gestört ist, sodass die Körpersignale, die in dieser Hirnregion verarbeitet werden sollten, nicht korrekt, sondern inadäquat verrechnet werden.

    Das könnte nach unserer Vorstellung auch die Basis der vorliegenden Körperschemastörung sein.“ Das Gehirn produziert also ein falsches Empfinden des eigenen Körpers. Grunwald hat einen für Psychotherapeuten verblüffenden Lösungsansatz, wie man diesen Missstand verändern könnte: Er steckt die Patienten in hauteng anliegende Neopren-Anzüge, durch die sie über Stunden hinweg einen Druck an der eigenen Körperoberfläche spüren. Diese Anzüge zu tragen führt zu mehr Aktivität in dem sonst unterbeanspruchten Hirnteil – und auch zu einer Gewichtszunahme. Aber der Effekt hält nur kurz an, längerfristig heilsam ist er nicht.

    Manche Psychotherapeuten schlagen daher andere Wege ein, die körperliche Selbstwahrnehmung ihrer Patientinnen zu schulen. So werden in manchen Kliniken Körpertherapiemethoden eingesetzt, mit denen die Patienten lernen, achtsam die Lage ihres Körpers im Raum oder die eigenen Körperbewegungen zu erforschen. Die Psychotherapeutin Luise Reddemann fordert ein Umdenken in der Psychotherapie: „Jede Berührung verändert unser Körperbild. Deshalb bin ich auch mit dem fachlichen Wissen, das wir heute haben, der Meinung, dass wir den Körper auf keinen Fall mehr aus der Psychotherapie ausblenden und uns nur auf das Wort beschränken können.

    Deshalb müssen wir uns in der Krankengeschichte dafür interessieren: Berührt sich jemand selbst, wird er ausreichend von anderen berührt, und wenn nicht, wie könnte er das erreichen?“ Reddemann hält die Zeit für überholt, in der man in der Psychotherapie darüber gestritten hat, ob man Patienten berühren darf oder nicht. Sinnvoller sei es viel mehr zu fragen, wie, im Kontext welcher Methode und bei welchem Patienten unter welchen Umständen Berührung hilfreich und sinnvoll sein kann.

    Bei der Entscheidung sollte man unbedingt auf die Bedürfnisse des Patienten achten, was braucht der eine, was will der andere. Reddemann: „Und dann wird es für den einen eine Körperpsychotherapie im engeren Sinn werden, und für jemand anderen kann es durchaus sein, dass er eher längere Zeit reden will und sich nicht berühren lässt, dass man aber so behutsam an den Ängsten arbeitet, dass er dann irgendwann einmal bereit ist, sich massieren zu lassen. Das war bei uns in der Klinik ganz häufig der Fall. Gerade Menschen, die schlechte Erfahrung mit Berührung gemacht haben, die auf oft ungute Weise berührt wurden, z.B. durch Misshandlung oder Missbrauch, die benötigen oft sehr viel Zeit, ehe sie sich angreifen lassen. Da hat es natürlich auch gar keinen Sinn, etwas vor der Zeit erzwingen zu wollen.“

    „Das Abstinenzgebot von Freud sollte nicht für alle Patienten gelten. Was für den einen schädlich sein mag, ist für den anderen nützlich. Es kann durchaus ein Fehler sein, einen Patienten zu berühren und ihn durch eine Berührung in Angst und Verwirrung zu stürzen. Es kann aber auch genauso ein Fehler sein, eine notwendige Berührung vorzuenthalten“, meint der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern aus Genf, der therapeutisch mit Kleinkindern und deren Müttern arbeitet.

    Patricia Gertl hat von der Berührung in der Psychotherapie profitiert. Einige Zeit nach ihrer Behandlung bekam sie ihr erstes Kind. „Ich denke, dass ich einen Teil davon, was mein Therapeut in seinen Händen hatte, übernehmen konnte und heute auch an meine Kinder weitergeben kann.“

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    Transkribiert mit freundlicher Genehmigung des Autors und des © ORF – Ö1.
    (Eine Audiokopie kann beim ORF, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien, bestellt
    werden: Tel. 01/501 70 374, audioservice@orf.at )

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  • Buk 4/08 Die Wahrheit wird euch frei machen

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    Bukumatula 4/2008

    Die Wahrheit wird euch frei machen

    Buchbesprechung
    Christian Rieder:

    Sexuelle Gewalt im kirchlichen Bereich und anderswo
    Prävention, Behandlung, Heilung

    Die Wahrheit wird euch frei machen

    Autor: Rotraud A. Perner
    Verlag: Gezeiten Verlag, Wien; 2006
    Gebundene Ausgabe: 292 Seiten
    Preis: 21,50 €
    ISBN-13: 978-3-9502272-0-8

    Rotraud Perner gilt als eine der renommiertesten Gewalt- und Sexualforscherinnen des deutschen Sprachraums. In den späten 80er Jahren gründete sie mit einigen KollegInnen die erste (und später zweite) Wiener Sexualberatungsstelle seit Wilhelm Reich.

    Mit ihrem, im Gezeiten-Verlag veröffentlichten Buch „Die Wahrheit wird euch frei machen“ gelingt es Perner praxisnahe ein bis heute tabuisiertes Thema zu vermitteln: Sexuelle Gewalt, insbesondere im kirchlichen Bereich. Im Zuge der von ihr geleisteten Dekuvrierung der Spirale der Macht, Gewalt und Sexualität stellt sie u.a. folgende Thesen auf:

    1. Nicht der Zölibat ist schuld an sexuellen Übergriffen von Geistlichen, sondern mangelndes Wissen über Sexualität (vor allem über jene von Kindern und Jugendlichen) UND die Unfähigkeit, richtig mit sexueller Energie umzugehen.
    2. Geistliche sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer von sexueller Gewalt: Dazu zählt immer häufiger Stalking, aber auch das gezielte Vorenthalten von Informationen über „das Sexuelle“ (im Gegensatz zu „Sexualität“). Deklariert zölibatär lebende Menschen werden oft zur Projektions- und Angriffsfläche der sexuellen Fantasien anderer Menschen.
    3. Jenseits der von Sigmund Freud beschriebenen Phasen der psychosexuellen Entwicklung zur so genannten `genitalen Reife´ gibt es weitere Entwicklungsphasen hin zu einer spirituellen Sexualität. Dieses Wissen findet sich sehr wohl in östlichen Religionen; im heutigen Christentum wird es jedoch den Gläubigen vorenthalten.
      Wissen und Können sind die Grundpfeiler jeder Prävention: Wissen über „das Sexuelle“ und „Sexualität“ (inklusive Gender-Sichtweisen, Antidiskriminierung und Gewaltverzicht) sowie die Fähigkeit, Sexualenergie zu lenken, daher auch zurückhalten zu können.
    4. Das Werk zeichnet sich insbesondere durch die Analyse von Tätertypologien und Gewaltmechanismen aus, bietet aber auch Hilfestellung zur Heilung erlittener Verletzungen. Ohne Scheu bringt die erfahrene Autorin die Wahrheit auf den Punkt, von der sie sagt, dass sie alleiniges Heilmittel sei.

    Eine durchaus empfehlenswerte Lektüre also, nicht nur für in Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen Tätige. Vielmehr ist dieses „Aufklärungsbuch“ generell für all jene kritischen Zeitgeister unter uns interessant, die sich mit dem brisanten Problem der sexuellen Gewalt näher auseinandersetzen möchten.

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    Wilhelm Reich Revisited

    Hrsg.: Birgit Johler
    Verlag: Verlag Turia + Kant, Wien; 2008
    Engl. Broschur: 21 x 28 cm, 199 Seiten
    Preis: 29 €
    ISBN: 978-3-85132-501-0

    Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod Reichs und rund 40 Jahre nach der „sexuellen Revolution“ wurde dank einer Kooperation mit dem Wilhelm Reich-Infant Trust „Wilhelm Reich. Sex!Pol!Energy!“, die erste umfassende Ausstellung zu Leben und Werk Reichs mit bislang nur im Orgonon-Museum zugänglichen Originalobjekten ins Leben gerufen. Schauplatz war das Jüdische Museum Wien. Hauptsächlich schriftliche Zeugnisse wissenschaftlicher und privater Art, sowie technische Geräte aus der Forschungsarbeit waren dort vom 16.11.2007 bis 2.3.2008 zu sehen.

    Ebenso wie die Ausstellung, wird auch deren Begleitband „Wilhelm Reich Revisited“ aus dem Hause Turia + Kant der schillernden Persönlichkeit Wilhelm Reich gerecht. Der große Psychoanalytiker, Wissenschaftler, Kommunist, Reformer, Widerständler und Einzelkämpfer vermochte bereits zu Lebzeiten heftige Polemiken hervorzurufen. Bis heute leidet sein Ruf unter allzu simplifizierenden Darstellung seiner Forschungsergebnisse.

    Neben zahlreichen Abbildungen beeindruckt der Katalog insbesondere durch seine vielschichtigen und äußerst aufschlussreichen Beiträge, verfasst unter anderem von Birgit Johler (Wien), Christiane Rothländer (Wien), Jim Strick (Washington DC), Karl Fallend (Wien) und Robert Pfaller (Linz).
    Insbesonder sei an dieser Stelle Pfallers Artikel „Gegen die Diffamierung der Beute. Zur Aktualität der Theorie Wilhelm Reichs“empfohlen. Sie ahnen schon: Aus meiner Sicht haben wir es hier mit einer „Pflichtlektüre“ für alle am Leben und Werk Reichs Interessierten zu tun.

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