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Bukumatula 3/2008

Alberto Moravia und die Thesen Wilhelm Reichs

Kommentar zu Alberto Moravias Theaterstück: „Der Gott Kurt“
von
Susanne Höhne:

„Das sachliche Niveau der nationalsozialistischen Versammlungsreden zeichnete sich entsprechend dieser Charakteristik durch sehr geschickte Maßnahmen aus, mit den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren und sachliche Argumentation tunlichst zu vermeiden. Hitler betont an verschiedenen Stellen seines Buches `Mein Kampf´, dass die richtige massenpsychologische Taktik auf Argumentation verzichten und nur das `große Endziel´ unausgesetzt den Massen vorführen müsse.“(Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus; Die Familienideologie und die Massenpsychologie des Faschismus; S. 25; Kopenhagen 1934, 2. Auflage, Raubdruck)

Ein Zitat aus „Die Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich, geschrieben 1933, von ihm selbst im Eigenverlag im damaligen Exilland Norwegen verlegt. Wilhelm Reich beobachtet darin Wirkung und Struktur des Nationalsozialismus mit Mut und analytischer Klarsichtigkeit, die außer ihm zu dieser Zeit nur wenige aufbrachten. 1934, dem Erscheinungsjahr seines Buches, in dem Jahr, in dem Österreich aufhörte eine Demokratie zu sein, wurde er aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigungausgeschlossen.

Im Vorwort von „Massenpsychologie des Faschismus“ bezieht er sich auf seine „jahrelange sexualärztliche undpolitische Arbeit“die ihn zu dem Urteil brachte, dass „die Klasse, die von den ‚gottgesandten’ Führern des ‚dritten Reiches’ als ‚Untermenschen’ ins Joch gespannt wird, in sich die Zukunft der Menschheit birgt, weil sie mehr Kultur, Ehre, natürliche Sittlichkeit und Wissen um das lebendige Leben enthält (…) weil sie keine schmierige Kehrseite in der Praxis hat.“. (ebenda S. 2)

Wilhelm Reich begann 1924 an der Psychoanalytischen Poliklinik seine Forschungen über die soziale Ätiologie der Neurosen. Später führte er diese Arbeiten an den Sexualberatungsstellen fort, die er zwischen 1928 und 1930 in verschiedenen Bezirken Wiens begründete. Er behandelte Menschen aus der Arbeiterklasse und veränderte die psychoanalytische Behandlungstechnik so, dass sie sich für die einfachen Menschen eignete. Er war Kommunist und Psychoanalytiker und wusste, dass man die „schmierige Kehrseite“, das heißt, den Umgang mit der Sexualität analysieren muss, um politische Phänomene beschreiben zu können.

Die „schmierige Kehrseite“, die Sexualität, war auch für Alberto Moravia, einer der bedeutendsten Schriftsteller Italiens des 20. Jahrhunderts, das Thema all seiner Werke:

„Irgendjemand hat vor einiger Zeit gesagt, dass Inspiration heißt, immer von derselben Sache und nicht von etwas anderem zu sprechen. Also meine Inspiration ist oft geneigt vom Sex und von nichts anderem als vom Sex zu sprechen: Aber das ist ein Schlüssel, mit dem ich die Illusion habe, einen kleinen Spalt der Tür zum Realen zu öffnen.“ (Moravia)

Alberto Moravia wurde am 28. November 1907 als Sohn eines jüdischen Vaters in einer bürgerlichen Familie geboren. Er hieß eigentlich Alberto Pincherle und verwendete später den Namen seiner Mutter „Moravia“ als Künstlernamen. Er erkrankte im Alter von acht Jahren an Knochentuberkulose und verbrachte seine Kindheit und Jugend größtenteils im Bett; zuerst zu Hause und dann in Sanatorien, wo er vor allem las.

Später wird er seine Kindheit, isoliert von der Welt in seinem Zimmer als die erste von den zwei wichtigsten Erfahrungen seines Lebens betrachten. Der Lieblingsautor seiner Jugendjahre im Bett war Dostojewski, der ihn am meisten beeinflusste und ihn letztendlich inspirierte, Theaterstücke zu schreiben, da Dostojewskis Romane für ihn so etwas wie „verkleidete Theaterstücke“ waren. Moravia hat seit Ausbruch seiner Krankheit nie wieder eine öffentliche Schule besucht. Alles was er wusste, las er sich selbst an. Er sollte später sagen, dass seine langjährige Krankheit ihn dazu gebracht hat, dass er sich in der Gesellschaft von Menschen immer so vorkam, als würde er eigentlich nicht richtig dazugehören.

Als Kind litt Moravia unter großer Langeweile und kam sich alleingelassen und von seiner Mutter verlassen vor. In seinem Roman „Agostino“, 1944 veröffentlicht, beschreibt er die Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen, der seine Sexualität entdeckt und merkt, dass er in seine Mutter verliebt ist. Sein Roman „La mascherata“ (Maskerade), eine Faschismusanalyse, 1943 erschienen, brachte ihm ein Schreibverbot von der faschistischen Regierung ein.

Er war Halbjude und erlitt so die Rassengesetze des Mussolinifaschismus; und er erlebte die Ermordung seiner jüdischen Cousins durch französische Faschisten im Jahre 1937 und musste 1943 gemeinsam mit seiner Frau, der Schriftstellerin Elsa Morante, vor der deutschen Besetzung aus Rom fliehen und sich acht Monate lang in einem Dorf bei Neapel verstecken.Dies nannte er später die zweite wichtige Erfahrung seines Lebens nach seiner Krankheit. Den Roman „Agostino“ schrieb er in seinem Versteck. Im Alter dazu befragt, seit wann ihm Hitlers Untaten bekannt waren, äußerte er sich dazu deutlich:

„Ja, 1939 wussten das alle. Ich wusste auch von den russischen Konzentrationslagern. Ich fuhr oft nach Paris und hatte alle möglichen Informationen: ich kaufte Bücher, ich traf russische und deutsche Exilanten. Ich erinnere, dass 1940 Alberto Mondatori (Mailänder Verleger), als er aus Polen zurückgekehrt ist, erzählte: `Es geschehen entsetzliche Dinge´.- Die Deutschen hatten ihn eingeladen, wie zu einer Theatervorstellung, bei einem Gemetzel an Juden dabei zu sein. Er ist natürlich nicht hingegangen, aber er hat es in Mailand herum erzählt.“ (Alain Elkann, Vita di Moravia; Bompiani 1990, S. 119)

Ende der 60er Jahre, etwa 20 Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten, hat er „Der Gott Kurt“ geschrieben, sein im Stil der griechischen Tragödie gehaltenes Stück über die Ödipustragödie. Das Stück ist im selben Jahr wie die beiden Filme „Edipe Re“ von Pier Paolo Pasolini und „La caduta degli dei“ (Verdammt) von Luchino Visconti erschienen.- Drei Freunde, die die Ödipustragödie von Sophokles und den von Freud beschriebenen Ödipuskonflikt interpretierten. Pasolini, der sehr gut Griechisch konnte, setzte sich mit dem griechischen Original auseinander. Visconti und Moravia interpretierten mit ihrer Ödipusgeschichte den Nationalsozialismus.

„Der Gott Kurt“ handelt von der Aufführung der Ödipustragödie in einem deutschen Konzentrationslager, die auf Wunsch des Lagerkommandanten Kurt stattfindet. Kurt, in seinem Umfeld über absolute Macht verfügend, inszeniert ein „kulturelles Experiment“. Er will, dass die Ödipustragödie von Sophokles von Häftlingen gelebt und nicht nur dargestellt werden soll. 1942, am Weihnachtsabend, auf der Bühne im Theater eines deutschen Konzentrationslagers in Polen wird das Stück aufgeführt. Das kulturelle Experiment ist von Heinrich Himmler genehmigt wor-den.

Kurt hat für sich selbst die Rolle des „Fatums“, des Schicksals, erfunden. Das Experiment soll beweisen, ob das neue Schicksal der Nazis, das allmächtig ist und keine Tabus mehr kennt, das alte Schicksal der Griechen besiegt. Das griechische Schicksal ist unser abendländisches Schicksal, in dem es das Tabu gibt, nicht mit seinen nächsten Verwandten sexuell zu verkehren. Dafür hat Kurt alles schon vor der Aufführung am 24. Dezember vorbereitet.

Die Familie, die den Ödipus „leben“ soll, ist eine jüdische Familie mit der er einst verkehrt hatte. Die Mutter Myriam hatte ihn seinerzeit öfters eingeladen, der Sohn Saul war sein bester Freund, als sie noch Studenten waren. Solange bis Saul sich in Ulla, die Schwester von Kurt verliebte, in die ihr Bruder selbst verliebt war. Auf Grund dieses Inzesttabus, mit dem Kurt nicht zurecht kam und welches besagt, dass Bruder und Schwester keinen sexuellen Verkehr haben dürfen, denunzierte Kurt seinen Freund Saul bei den Nazis und brachte seine Schwester dazu sich umzubringen. Kurt selbst wurde zum Nazi und KZ-Kommandanten, um die Rechtfertigung zu bekommen, das Inzesttabu zu brechen.

Seinem Publikum, Mitgliedern der SS, erklärt er sein Vorhaben folgendermaßen:

KURT: Bitte, meine Herren, Sie werden alle in kurzer Zeit verstehen. Also: Die reine, edle, heroische, starke, leuchtende und freie Menschheit, die wir alle anstreben, wird eine Menschheit ohne Moral sein. Das heißt eine Menschheit ohne Gott: Und das aus dem einfachen Grund, weil in einer solchen Menschheit jeder Mensch, in allen Auswirkungen ein Gott ist. Der Gott Horst, der Gott Max, der Gott Fritz, der Gott Heinrich, der Gott Ludwig und so weiter.

DRITTER SS-OFFIZIER: Auch der Gott Kurt stelle ich mir vor.

KURT: Es versteht sich von selbst, auch der Gott Kurt. Jetzt, meine Herren, Was ist das Fundament unserer Moral?

DRITTER SS-OFFIZIER: Der Führer.

KURT: Hm, hm, der Kamerad möchte mir den Mund schließen. Aber ich bin Schauspieler und muss sprechen. Also meine Herren: Unsere Moral der Zukunft hat als Fundament sicher den Führer. Aber heutzutage beruft sie sich auf die Familie.

ERSTER SS-OFFIZIER: Ich möchte den Kameraden Kurt daran erinnern, dass fast alle hier Anwesenden Familie haben.

KURT: Aber man kann deswegen doch von der Familie der Zukunft sprechen, nicht?

DRITTER SS-OFFIZIER: Wie wird, sagen Sie, die Familie der Zukunft sein?

KURT: Wie sie sein wird, weiß ich nicht. Was es für eine sein sollte, kann ich ohne Zweifel sagen: Keine.

Am Ende gewinnt das Fatum der Griechen. Es war Kurt, der alle Tabus gebrochen hat und dadurch untergeht, nicht Saul, den man zwar töten kann, der aber unschuldig bleibt.Als das Theaterstück 1968 erschien, wurde es sofort ins Englische und Französische übersetzt und in den jeweiligen Ländern ebenfalls aufgeführt.- Im deutschen Sprachraum zum ersten Mal 2008 (Regie: Hubsi Kramar). Über den Holocaust konnte man in den beiden Täterländern eben in der Nachkriegszeit bis heute immer schlecht sprechen, in Österreich noch weniger als in Deutschland, da niemand zuhören wollte und auch nicht musste…

„Meine Herren, ich bin ein Mörder, Mitglied einer Gesellschaft von Mördern. Das weiß ich und habe es immer gewusst, ich war nie in der Illusion gefangen, es nicht zu wissen.“,lässt Moravia am Ende des Stückes `Gott´ Kurt sagen.

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Zur Autorin:
Susanne Höhne lebt und arbeitet in Wien und Rom als Regisseurin und Übersetzerin.

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