Zurück zu Bukumatula 2008

Bukumatula 4/2008

Über die Grundphilosophie des „Nicht-Wissens“ – Jugendwohlfahrt quo vadis?

Gespräch mit Alfred Zopf aus Anlass der Fertigstellung seiner Diplomarbeit zum Thema:
„Qualität in der stationären Fremdunterbringung (Heimerziehung)“
Wolfram Ratz:

Wolfram: Alfred, was hat Dich in Deinem reifen Alter bewogen, eine Diplomarbeit zu schreiben?

Alfred: Zunächst: Wichtig ist der Untertitel, der heißt: „Wie kann die Qualität in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in stationärer Fremdunterbringung gewährleistet werden?“. Literatur zu diesem Thema gibt es genug. Beim Recherchieren ist mir aber aufgefallen, dass es überhaupt nichts zum Thema „Beziehung“ gibt. Ich war fassungslos, dass es über die wichtigste Qualität zwischen Betreuer und Klienten nichts nachzulesen gibt. Anfangs letzten Jahres war für mich klar, dass ich aufgrund der Studienordnung mein Studium bis 2008 abgeschlossen haben muss. Eigentlich wollte ich ein Thema zur Wirtschaftlichkeit wählen.

Ich habe Professor Dattler aufgesucht, der gemeint hat, dass er im Prinzip Interesse an diesem Thema hat, dass aber – nennen wir ihn „Professor X“ – für die Sozialpädagogik zuständig sei. Professor X kenne ich schon lange und habe ihm gegenüber nie ein gutes Gefühl gehabt, was sich bei dieser Gelegenheit wieder bewahrheitete. Er meinte, dass man nach so vielen Jahren gar nicht mehr wieder anzufangen brauche, das sei sinn- und zwecklos. Einigermaßen schweißgebadet bin ich aus dieser Besprechung gegangen und habe mir eingestanden, dass er zu fünfzig Prozent Recht hat.

Schließlich hat sich Professor Dattler bereiterklärt, mich zu übernehmen. Ich bin in eine Diplomanden-Kleingruppe hineingekommen, und zwei Kolleginnen haben mir geholfen ein anderes Thema zu finden. Es gab einen regen Austausch, was mit beigetragen hat, dass ich die Arbeit fertig geschrieben habe. Insbesondere beim Kapitel über Neurobiologie – die wollte ich unbedingt mit hineinnehmen, weil ich in Zusammenhang mit Traumatisierung keine Literatur dazu finden konnte -, bin ich in eine Krise gekommen und habe mich gefragt, wozu ich mir das antue. Also es war schon eine große persönliche Herausforderung.

W: Du bist seit 1974 sozialpädagogisch tätig. Im Vorwort steht ein Satz, der mich beeindruckt hat: „Mitte der 70er Jahre erlebte ich prügelnde Heimerzieher; in der Zwischenzeit hat sich, bedingt durch gesellschaftliche Veränderungen das Blatt gewendet. Seit 10 Jahren gibt es immer mehr dokumentierte Vorfälle, bei denen Sozialpädagogen von Kindern oder Jugendlichen körperlich attackiert werden.“ Wie kann man das verstehen?

A: 1978 habe ich im Erziehungsheim Steyr-Gleink zu arbeiten begonnen, wo an die 180 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche untergebracht waren. Da hat es noch Kollegen gegeben, die vom Grundberuf her Fleischhauer, Schlosser, etc. waren und nach einem Schnellsiedekurs mit diesen schwierigen Kindern gearbeitet haben. Auffallend war, dass besonders gut angepasste Jugendliche – nachdem sie in die freie Wildbahn entlassen worden waren -, extreme Straftaten, also Einbrüche, Überfälle, etc. verübt haben. In Steyr-Gleink war es so, dass sich gewisse Erzieher die Finger nicht schmutzig gemacht haben, also nicht selbst geschlagen haben, aber das „Capo-System“ eingeführt haben.

Das heißt, sie haben ein paar Fünfzehnjährige ausgesucht, die für „Ordnung“ gesorgt haben. Es war in den 70er Jahren noch gang und gäbe, dass brutale Gewalt gegenüber den Kindern angewandt wurde. Das hat sich, beginnend in den 90er Jahren, komplett geändert. Ziel von Angriffen wurden jetzt die Sozialpädagogen. Seit 1988 arbeite ich in Wien mit schwer traumatisierten weiblichen Jugendlichen und habe da auch schon einiges erlebt, das heißt, ich bin auch schon attackiert und geschlagen worden. Ich habe einmal eine Jugendliche, die vollkommen „ausgezuckt“ ist und wo man normalerweise Polizei und Rettung verständigt, einfach gehalten. Durch meine Erfahrung als Psychotherapeut erlaube ich mir an Grenzen zu gehen, die ich auch zu verantworten habe. Sie hat sich dann durch mein Halten beruhigt, hat aber behauptet, dass ich sie geschlagen hätte.

Glücklicherweise waren genug andere Leute anwesend, die meine Vorgehensweise bezeugen konnten. Da dürfte in ihr ein innerer Film über eine vergangene Traumatisierung angesprungen sein. Es scheinen immer mehr Kinder in solche Situationen zu kommen, die dann auf uns einschlagen, natürlich auch auf andere Mädchen und Burschen. Was sich bei den Mädchen an Gewalt in den letzten Jahren abspielt – durchaus keine Einzelfälle -, das glaubt einem ja niemand, heißt es doch in der wissenschaftlichen Literatur vielfach, dass sie zu Selbstaggression neigen. Worauf ich da in der Tiefe gestoßen bin, ist die unbewusste Identifikation mit dem Aggressor. Ich halte das für den besten Erklärungsansatz, warum Kinder und Jugendliche so auszucken. Diese Problematik wird vollkommen unterschätzt.

W: Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Anzahl von stark traumatisierten Jugendlichen vervierfacht. Gibt es da einen gesellschaftlichen Hintergrund?

A: Die Problematik sehe ich in unserer Hochleistungsgesellschaft. Immer mehr Jugendliche kommen zu der – vielleicht gar nicht bewussten – Erkenntnis, dass sie darin keine Chance haben. Es wird ein so hoher Anspruch an Arbeitsfähigkeit verlangt, dass sie als `Loser´ keinen Platz haben und sich Bestätigung über eine negative Identifikation verschaffen. Es gibt immer mehr Jugendliche, die den narzisstischen Gewinn in Anspruch nehmen: Alle haben Angst vor mir.

W: Ist das jetzt eine Einbahn, eine schiefe Ebene?

A: Man müsste gegensteuern, aber das geschieht nicht. Meiner Beobachtung nach gibt es diesen Trend verstärkt seit dem Jahr 2000. Nicht umsonst habe ich in unserem letzten Bukumatula-Interview, das war 2003, mit dem Satz „Wien wird Chicago werden“ auf diese Problematik aufmerksam gemacht. Man meinte gar nicht gegensteuern zu müssen, weil man über Controlling und Kontraktmanagement ein gutes Instrumentarium zur Verfügung hat und dass diese Probleme damit in den Griff zu bekommen seien. Dabei haben die Sozialpolitiker den Blick darauf verloren, was sich tatsächlich abspielt – und es ist erschütternd, was sich abspielt. Aus meiner Sicht ist eine Öffentlichkeitsarbeit installiert worden, um die Bevölkerung zu täuschen.

Das ist leider so, es zählt die `Verpackung´ und nicht der Inhalt. Und wir, die Mitarbeiter, dürfen nichts sagen, weil wir zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.- Wie kann man Prozesse vermitteln, die sich langsam entwickelt haben und die gleichzeitig verleugnet werden? Also meine These, dass schwere Traumatisierungen eine unbewusste Identifizierung mit dem Aggressor zur Folge haben, hätte schon sehr tief gehende Auswirkungen. Da müsste man als Sozialpädagoge ganz anders arbeiten und ganz anders ausgebildet werden. Freud hat 1925 an August Aichhorn geschrieben, dass die Analyse des Erziehers notwendig sei, damit er die Psychodynamik erkennt und dementsprechend handeln kann.- Das ist bis heute nicht umgesetzt worden. Derzeit erleben wir, dass Fachhochschulabgänger für Sozialpädagogik sehr schnell in einen Burnout-Zustand kommen.

Es kracht in vielen Teams. Es sind alte, aber auch junge Kollegen und Kolleginnen, die sich überfordert fühlen und gleich einmal ein halbes Jahr arbeitsunfähig sind. Für mich gibt es da viele Zusammenhänge von Traumatisierung und von sekundärer Traumatisierung, was aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet werden muss. Meine Diplomarbeit bietet dazu eine Grundlage, und ich kann nur hoffen, dass sie weiter aufgegriffen wird. Es besteht die Gefahr, dass unser Beruf immer mehr zu einem Durchgangsberuf wird, dass Leute diesen Job vier, fünf Jahre lang machen und sich dann wegen Überforderung eine andere Arbeit suchen.

Die momentane Entwicklung ist eine Katastrophe. Die Kinder und Jugendlichen brauchen stabile Beziehungen und Personen, die Konflikte aushalten. Und dazu braucht es Rahmenbedingungen, die es aber leider nicht gibt. Sowohl die Klienten als auch die Mitarbeiter sind auch körperlich höchst gefährdet. Wenn eine normal sozialisierte Jugendliche, etwa ein Vollwaise zu uns kommt, schauen wir sofort, dass wir sie in einer extern betreuten Wohnung unterbringen, damit sie nicht mit unseren Jugendlichen in Kontakt kommt. Für diese wäre sie betreffend Gewalt, Drogen, etc. ein „Fressen“.

W: Die Hochleistungsgesellschaft fordert also auf beiden Seiten Opfer…

A: Ja, ich bin ja auch Gewerkschafter. Und aus dieser Position heraus muss ich sagen, dass es in unserer Gesellschaft nur in eine Richtung gehen kann, und zwar am Beispiel des Sabbatical bei den Pädagogen, dass man fünf Jahre lang arbeitet und dann ein Jahr lang frei hat. Man kann diesem Leistungsdruck auf Dauer nicht Stand halten. Was unsere Jugendlichen betrifft, möchte ich sagen: Jobs mit maximal 20 Wochenstunden sind realistisch.

Aber wo bekommt man eine 20-Stunden-Lehrstelle? Es gibt über das AMS Lehrwerkstätten, in denen die Ausbildung wie eine Lehre gewertet wird, aber keine so hohen Ansprüche gestellt werden. Wir versuchen möglichst viele Jugendliche dort hineinzubringen. Nur sehen wir leider, dass trotzdem viele scheitern. Mit einer Vollarbeitszeit würden sie überhaupt nicht zurechtkommen.

W: Ich möchte jetzt zur Möglichkeit der psychotherapeutischen Behandlung der Kinder und Jugendlichen kommen, die ja vom Jugendamt bezahlt wird. Traumatherapie scheint das Mittel der Wahl zu sein. Was kann Traumatherapie, was andere Therapieformen nicht können?

A: Traumatherapie wäre das adäquate Mittel, aber die gibt es bei uns nur für Erwachsene, etwa für Kriegsopfer. Für sexuell- bzw. gewaltmißbrauchte Kinder und Jugendliche gibt es sie nicht. Den Unterschied zur `normalen´ Therapie habe ich so verstanden: Zunächst geht es um die Herstellung von äußerer und innerer Sicherheit und dann beginnt man mit Hilfe bestimmter Techniken mit der Traumakonfrontation. Das Scheitern von Therapien bei sexuellem Missbrauch, die eben nicht von Traumatherapeuten durchgeführt werden, liegt bei unseren Jugendlichen über 90 Prozent.

Da passieren manchmal katastrophale Sachen: Wenn zum Beispiel eine Therapeutin in der ersten Stunde von der Jugendlichen verlangt, dass sie den Missbraucher anzeigen müsse, dann kann ich mir nur an den Kopf greifen; das kann das Ziel sein, aber nicht der Beginn einer Therapie. Man muss bei Jugendlichen ein anderes Setting anwenden; da müssen zuerst vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt werden wie Spaziergänge, Bootsfahrten, etc. Es gibt auch nur ganz wenige Therapeutinnen, die mit unserem Klientel arbeiten können. Es ist ja absurd zu glauben, dass Jugendliche zweimal pro Woche in die Therapiestunde gehen und dort ihr Innerstes ausbreiten. Gleichzeitig ist das Trauma aber so mächtig, dass es gravierend ins Leben hineinwirkt.

Der Konsum von Drogen ist für viele Jugendliche eine Ersatztherapie, ein unbewusster Selbstheilungsversuch. Man kann den Drogenkonsum ähnlich wie das Ritzen sehen; es ist ein Versuch, aus der inneren Spannung herauszukommen. Jugendliche, die Drogen nehmen, wiederholen unbewusst ihre Traumatisierung. Der Karlsplatz ist voll von traumatisierten Menschen. Aufgrund der Nichtbehandlung wird die Retraumatisierungsmaschinerie wieder angeworfen.

Die Gesellschaft muss dann in Richtung Psychiatrie, Polizei, Justiz, Gefängnis, etc. handeln und Maßnahmen setzen, um sich vor diesen Jugendlichen zu schützen. Man muss sich vorstellen, was das im Nachhinein für einen Aufwand an Geldmittel erfordert. Wenn die Entwicklung eines Menschen nur die sein soll, dass er sich nach einem Gefängnis sehnt – weil dort lebe ich gut und sicher-, dann Gute Nacht!

W: Ich finde es spannend, dass die Neurobiologie offenbar nachweisen kann, dass durch Traumaerlebnisse bestimmte Gehirnregionen weniger entwickelt sind als bei `normalen´ Menschen. Das würde auch die Theorie des freien Willens, des freien Handelns und der Verantwortung in Frage stellen…

A: Es wäre wichtig zu erkennen: Ich habe einen Jugendlichen vor mir, der schwer traumatisiert ist. Aufgrund der Erlebnisse ist die Entwicklung der Amygdala und des Hypocampus zurückgeblieben, was zu fehlender Einsicht führt. Das ist aber auch jemand, der nicht in der Lage ist, Grenzen zu erkennen, weil er das geistig gar nicht verarbeiten kann und man ihn dort auch nicht erreichen kann.

Es wäre wichtig anzuerkennen, dass es auf der hirnphysiologischen Ebene Einschränkungen gibt. Das würde helfen, andere Strategien zu entwickeln. Es gilt ja in der Sozialpädagogik immer noch das Postulat von August Aichhorn, dass über das Herstellen einer positiven Übertragungsbeziehung eine Heilung stattfinden kann.

W: Und was bieten sich da für Lösungen an?

A: Du bist schon bei den Lösungen. Mir geht es darum, das überhaupt einmal anzuerkennen. Man muss sich erst einmal der Schwierigkeit bewusst werden. Wie man damit umgeht, ist wiederum eine andere Geschichte. Das schwierigste Klientel sind die dreizehn-, vierzehjährigen Pubertierenden. Da kommen die hormonelle Umstellung und das Auftauchen von Traumatisierungen zusammen. Wenn jemand wie ein Panzer durch die Gegend fährt, muss man ihm Grenzen setzen – nur muss man davon ausgehen, dass er das nicht versteht. Das braucht Geduld, Zeit und gesicherte Arbeitsbedingungen.

W: Und das könnte helfen?

A: Ich habe keine Antwort auf etwas, was noch nicht ausprobiert wurde. Wenn Sozialpädagogen bessere Rahmenbedingungen, gute Reflexionsmöglichkeiten, Fallpräsentationen, etc. haben, werden in den Jugendlichen Reifungsprozesse entstehen können. Wahrscheinlich wird man in manchen Fällen überhaupt nicht helfen können. Die Neurobiologie hat durch die technische Entwicklung, etwa durch bildgebende Verfahren, viele neue Erkenntnisse gebracht. Sie ist für uns eine große Hilfe, um Zusammenhänge verstehen zu können. Aber die Neurobiologie kann sicher nicht bestimmen, welche Therapie jetzt ablaufen soll; man muss sehen, wo was hingehört.

W: Innenministerin Fekter hat angeregt, die Strafmündigkeit auf 13 Jahre zu senken.

A: Dadurch, dass etwa Dreizehnjährige in einem schwierigen Alter sind und die Jugendwohlfahrt hilflos agiert, mündet das in den Glauben, dass man mit Strafen etwas ändern kann. Von der fachlichen Ebene her ist das ein Trugschluss. Besser wäre ein dichteres Betreuungsnetz, das auch die Familie mit einbezieht. Dass zum Beispiel ambulante Unterstützung gegeben wird, wenn ein Kind beim Stehlen oder bei einem Einbruch erwischt wird.- Da ich auch über zehn Jahre lang Bewährungshelfer war, möchte ich schon darauf hinweisen, dass durch die Bewährungshilfe zwei Drittel der jugendlichen Delinquenten nicht rückfällig werden.

W: Am 2. August dieses Jahres war in den Tageszeitungen zu lesen: 41-köpfige Buben- und Mädchenbande haben sich in Linz organisiert und 16 Raubüberfälle und 200 Autoeinbrüche verübt. Wie kann man das verstehen?

A: Das ist eine Frage für einen Jugendanwalt. Ich sehe es auch bei meinen eigenen Kindern, wie schwierig es ist, Grenzen zu setzen, etwa bei Computerspielen. Was ist gut, was ist nicht gut? Da sind wir auf gesellschaftlicher Ebene an einem Punkt, wo Eltern die Schuld für diese Entwicklungen zugeschoben werden. Das Argument, dass sie sich zu wenig um die Kinder kümmern ist aber zu billig. Wenn z.B. beide Elternteile berufstätig sind und ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kommen, wollen sie selbst ihre Ruhe haben. Natürlich fühlen sich dann die Kinder allein gelassen und es kommt Langeweile auf.

Aber da kommt noch etwas anderes hinzu. In Wien werden 65 Prozent der Ehen geschieden. In Wirklichkeit schaut sich keiner an, was mit den Kindern passiert. Man redet ganz locker über Patchwork-Familien. Aber so einfach ist das nicht. Wie geht es denn den Kindern, die eine wesentliche Bezugsperson verlieren? Dann passieren halt solche Sachen. Ich bin mit weiblichen Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die extrem schwierig sind und keine Regeln einhalten, und mit denen zu leben – zwei mal 25 Stunden pro Woche – ist nicht einfach und ist etwas ganz anderes als eine Betreuungstätigkeit oder eine Therapie.

W: Die Jugendlichen werden mit 18 Jahren aus der Heimbetreuung entlassen?

A: Ja, und wir alle sind `froh´, dass man mit ihnen nichts mehr zu tun hat, dass man sie abschieben kann und sich jemand anderer mit ihnen beschäftigen muss, zum Beispiel die Polizei und die Justiz. Das ist eine traurige Geschichte. Diese Jugendlichen sind nämlich emotional – und da möchte ich jetzt Michaela Huber zitieren – Kleinkinder. Nicht umsonst hat sie gefordert, dass man ihnen nicht nach dem biologischen Alter, sondern nach dem emotionalen Alter, Betreuung anbieten muss.

W: Gibt es auch positive Erlebnisse?

A: Es gibt einige wenige Klientinnen, die uns später wieder besuchen und wo man sagen kann, dass sie eine gute Entwicklung durchgemacht haben. Vor 15 Jahren hatten wir die letzte Maturantin, in Bälde wird es wieder eine geben.

W: Wie sieht die psychiatrische Versorgung für Kinder und Jugendliche in Wien aus?

A: Wir erleben in unserer Arbeit, wie hilflos die Kinder- und Jugendpsychiatrie bei unseren Klientinnen ist. Um nur ein Beispiel zu bringen: Wir hatten ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Klebstoff geschnüffelt hat und daraufhin vollkommen ausgerastet ist. Es wurde die Polizei gerufen. Die sind dem Mädchen aber nicht Herr geworden, und es wurde eine zweite Funkstreife gerufen. Schließlich hat sie dann die Rettung auf eine psychiatrische Einrichtung gebracht. Der Erfolg war, dass die Psychiaterin feststellte, dass keine Selbst- und Fremdgefährdung vorliege und hat die Patientin wieder zurückgeschickt. Bei uns hat sich dieses Szenario dann wiederholt, und es kam wieder zu einem Polizeieinsatz.

Dieses Mädchen hat eine andere pädagogische Einrichtung übernommen, ist von dort aber gleich wieder abgehauen. Das heißt, die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich geweigert, dieses Mädchen aufzunehmen. Da kann man auch annehmen, dass sie total überlastet sind, aber da geht der Teufelskreis ja weiter. Wenn man keine Hilfe mehr hat und die Kinder- und Jugendpsychiatrie sich eingesteht: „Wir sind auch am Ende unseres Lateins“, dann wäre das eigentlich der Beginn eines neuen Anfangs. Aber Psychiater stellen sich her und erklären, die Gewalt habe gar nicht zugenommen. In unseren Einrichtungen erleben wir das Gegenteil. Uns mutet man zu, dass wir mit dieser Masse an Gewalt besser umgehen können als die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

W: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ebenfall hilflos…

A: Aus meiner Sicht vollkommen hilflos. Im Anhang meiner Diplomarbeit berichte ich von einer Jugendlichen, die nach einem Suizidversuch durch eine Überdosis an Tresleen in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Und was meinst Du, was sie von ihrer Psychiaterin zur Therapie bekommen hat?- Tresleen! Die dahinter stehende Symbolik ist Hilflosigkeit. Wenn bei uns irgendein Psychiater auftaucht, was will uns der sagen? Zu glauben, dass irgendwelche Medikamente, die die Psychiatrie den Kindern bzw. Jugendlichen anbietet, hilfreich sind, ist absurd, das hat sich meiner Erfahrung nach alles als vollkommen wirkungslos gezeigt. Wenn es Richtung Psychose geht ist das etwas anderes. Aber wir haben hauptsächlich mit Borderline-Strukturen zu tun, und da gibt es keine wirklich hilfreichen Medikamente.

W: Noch einmal zur Frage der gesellschaftlichen Entwicklung: Die Anforderungen nehmen zu, und immer mehr Jugendliche fallen da heraus. Hast Du eine Vision, wie man dem gegensteuern kann?

A: Wichtig wäre es, dass man sich eingesteht: „Ja, diese Entwicklung findet statt“. Solange das aber die so genanten `Fachleute´ nicht so sehen, wird es keine Änderung geben. Die Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt sind extremen Situationen ausgesetzt. Im ersten Schritt ist das zu analysieren und dann braucht es Rahmenbedingungen und Bildungsprozesse, um das auf Schiene zu bringen. Wir Sozialpädagogen sind ja als Menschen auch das `Werkzeug´. Aber man schaut einfach zu und sagt: Wien ist eine der sichersten Städte der Welt. Wien ist aber dabei, in vollkommen negative Bereiche hineinzugehen.

Es gibt viele Kollegen und Kolleginnen, die meinen, dass erst etwas wirklich Schlimmes geschehen muss, damit sich hier etwas ändert. Im Mai sind aufgrund von Überlastung der Betreuer zehn Krisenzentren fast zusammengebrochen. So wie ich die handelnden Personen kenne, von der Stadträtin abwärts, wird das alles verleugnet. In der Reform im Jahr 2000 wurden Wohngemeinschaften eingerichtet, die sehr gut funktionieren. Ein Therapieheim aber wurde verweigert. Bei schwierigen Kindern und Jugendlichen wackelt das System heftig. Es reichen ein, zwei extrem Schwierige, um eine ganze Gruppe mit in den Abgrund zu reißen. Wenn man aufgrund der Familienforschung weiß, dass die Problembereiche über drei Generationen wirksam sind, dann kann man sich vorstellen, was sich bei uns in zwanzig, dreißig Jahren abspielen wird.

Unsere Klienten sind ja auch die Mütter und Väter der nächsten Generation. Die Lehrer dieser Kinder tun mir jetzt schon leid. Da wird es zu gigantischen Problemen kommen. Es gibt bei uns sehr viele Mädchen, die keinen Job schaffen, aber unbedingt schwanger werden wollen. Eine von zehn Müttern schafft es, dass ihr das Kind nicht weggenommen werden muss. Man glaubt ja nicht, was sich da abspielt: Wenn ein Säugling von einer Mutter-Kind-Einrichtung abgenommen wird, dann kommt es zu einer Krisenpflegefamilie und dann zu einer Pflegefamilie. Man muss sich vorstellen, was man einem Kleinkind damit antut.

Warum kann man nicht Säuglinge zu Pflegeeltern geben, die das Kind wieder der Mutter geben müssen, wenn sie sich stabilisiert hat? Man mutet dem Säugling zu, dass er einen Beziehungsabbruch aushält, aber man mutet den Pflegeeltern nicht zu, dass ihnen das Kind wieder weggenommen wird. An diesem Modell haben auch Psychologen mitgearbeitet. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist das ein Wahnsinn. Und das sind Strukturen der Kinder- und Jugendwohlfahrt.

Wo ist da die Wohlfahrt? Übrig bleibt lediglich eine schwere Traumatisierung eines Kleinkindes. Solche Pflegekinder kommen dann später häufig zu uns. Wenn es Pflegerückstellungen sind, sind das in der Regel die schwierigsten Kinder überhaupt, besonders in der Pubertät. Ich gehöre ja zu den Sozialpädagogen der siebziger Jahre, und unser Ziel war es, dass wir arbeitslos werden. Heute erlebe ich das Gegenteil. Unsere Klienten sind jedenfalls zur Kindererziehung kaum fähig.

W: Und warum ist der Kinderwunsch so groß?

A: Vielleicht für das Selbstwertgefühl, vielleicht die Vorstellung, dass sie damit doch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sind und vielleicht die Hoffnung, dass das Kind es einmal besser haben wird als sie selber, was natürlich eine Illusion ist. Um das an einem Beispiel klar zu machen: Da gab es bei uns ein Mädchen, mit dem ich immer wieder Probleme hatte. Das Mädchen, ein Pflegekind, ist mit 17 Jahren schwanger geworden und wurde in einer Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen.

Es gab Probleme, und ihr wurde das Kind abgenommen. Mit 19 Jahren hat sie wieder ein Kind, ein Mädchen, bekommen und ist kurz darauf an einer Überdosis Heroin gestorben, wobei das Kind anwesend war. Es ist meine Fantasie, dass ihre Tochter mit dreizehn, vierzehn Jahren bei uns auftauchen wird und ich dann dem Mädchen sagen muss: „Ich kenne Deine Mutter“. Die Mutter habe ich wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass sich ihre Geschichte wiederholen wird. Und tragischerweise wiederholt sie sich oftmals tatsächlich. Freud hat schon 1896 festgehalten, dass sexuelle Misshandlungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Fest steht aber auch: Die Gesellschaft braucht Schwache, Außenseiter, um sich selbst zu legitimieren.

Dazu fällt mir auch das Schicksal von Wilhelm Reich ein. Warum wurde, bzw. wird Reich mit seinen Erkenntnissen so abgewehrt? Ich bin der Meinung, dass diese aufgezeigten Problematiken auch in 20 Jahren noch aktuell sein werden. Ich werde sicher meine Meinung dazu überall äußern, aber ob ich damit erfolgreich bin und das gesehen wird, ist eine andere Geschichte. Aus meiner Sicht ist die Diplomarbeit ein grundlegendes Werk, von dem aus man neue Forschungen beginnen kann.

W: Zu Deiner Diplomarbeit und zum Abschluss Deines Studiums sei an dieser Stelle herzlich gratuliert. Professor X hätte Dich gerne jünger gesehen, aber da wären viele Aspekte Deiner Arbeit so nicht bekannt gewesen.

A: Für mich waren die Erlebnisse mit den schwer traumatisierten Jugendlichen und das Fehlen geeigneter Rahmenbedingungen für meine Diplomarbeit ausschlaggebend. Ich bin froh, dass ich das Studium noch einmal angegangen bin, weil ich dadurch wieder zur Philosophie der Pädagogik gekommen bin und damit auch auf die Grundhaltung der Philosophie des „Nicht-Wissens“.

Das ist für mich die Essenz, mit der wir als Therapeuten und Pädagogen zu arbeiten haben. Wir wissen in Wirklichkeit nichts, und genau über dieses Nicht-Wissen findet Begegnung statt. Ich bin dankbar, dass ich mich noch einmal der Pädagogik gestellt habe, weil das für mich zu einem wichtigen Anker geworden ist: Die Grundphilosophie des Nicht-Wissens.

W: Das ist ein schöner Abschlusssatz. Danke Alfred.

Zurück zu Bukumatula 2008