Zurück zu Bukumatula 2008

Bukumatula 2/2008

Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die 68er

Vortrag anlässlich der Buchpräsentation „Wilhelm Reich Revisited“ (Herausgeberin: Birgit Johler)
am 13. März 2008 in der Wiener Universitätsbibliothek von
Helmut Dahmer:

(1) 2008 jährt sich der fatale „Anschluß“ Österreichs an Hitlerdeutschland zum 70. Mal, und das Jahr 1968, der Höhepunkt der internationalen Studenten- und Schüler-Protestbewegung liegt 40 Jahre zurück. Der österreichische Ableger der französischen und westdeutschen Jugendbewegung der sechziger Jahre war vor allem auch eine Art „Antwort“ auf die „Ostmark“-Zeit und ihre Hinterlassenschaft. Der Jugend-Protest richtete sich damals gegen das System der feindlichen Koexistenz eines kapitalistischen und eines nichtkapitalistischen Länder-Blocks, in dessen Rahmen jede radikale Binnen-Opposition – also jeder Versuch zu einer Realisierung alternativer gesellschaftlicher Entwicklungen – zum Scheitern verurteilt war.

In Westdeutschland und in Österreich war die 68er Bewegung im wesentlichen eine Renaissance des libertären Sozialismus– und sicher nicht die letzte. Das will vielen nicht einleuchten, und so hat es an Versuchen nicht gefehlt, diese befremdliche, anstößige Alternative mit dem Terrorismus der RAF und anderer Gruppen der siebziger Jahre oder auch gleich mit dem Faschismus in eins zu setzen.

Was den radikal oppositionellen Studenten von Berlin, Frankfurt und Leipzig und denen von Kioto, Berkeley, London, Paris und Prag gemeinsam war, war ihre Gegnerschaft gegen den Vietnamkrieg und den repressiven Staat sowie ihre Sehnsucht nach einer freieren Lebensweise. Das Spezifikum der Revolte des aktiven Teils der jungen Generation in der Bundesrepublik war die kompromißlose Abwendung von der verstockten Generation, die sich zwischen 1933 und 1945 mit Führerstaat, arischer Volksgemeinschaft und Krieg identifiziert hatte.

Erst die Generation der 68er vollzog wirklich einen Bruch mit den Traditionen, denen der Albtraum des „Dritten Reiches“ entsprungen war. Sie wollte anders sein, anders leben als ihre Eltern und Lehrer. Sie hat weder den Kapitalismus noch den Staat abschaffen können, kreierte aber in der Nachkriegsgesellschaft neue „Werte“ (eigentlich Gegenwerte) und brachte eine Änderung von Mentalität und Lebensform in Gang. Auf diese Weise hat sie den Bildungs- und Rechtsreformen der siebziger und achtziger Jahre und den neuen „sozialen Bewegungen“ (der feministischen, der pazifistischen und der „grünen“) den Weg bereitet.

(2) Die studentische Avantgarde der sechziger Jahre blieb trotz ihrer vielfältigen symbolischen Aktionen isoliert. Und in Ermangelung eines Echos oder Rückhalts bei der Bevölkerungsmehrheit beziehungsweise bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften suchte sie nach theoretischer Orientierung, nach literarischen Bundesgenossen. So kam es zur Wiederentdeckung der heterodoxen marxistischen Theoretiker, der großen Anarchisten und der psychoanalytischen Kulturkritik. Sigmund Freud, der vor 1933 in Deutschland und Österreich nur von intellektuellen Minderheiten gelesen wurde, dann von den Nazis verfemt worden war, wird erst seit den sechziger Jahren in Millionenauflagen gedruckt.

Auch Wilhelm Reich, der 1933 aus der KPD, 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossene Freudomarxist, der in den Jahren 1929-1933 Zehntausende sozialistische Jugendliche für sein sexualpolitisches Programm begeistert hatte, war gründlich vergessen. Da es der 68er Generation aber um eine Verschmelzung von Antifaschismus und Hedonismusging, stieß sie bei ihrer Orientierungssuche bald auf seine Schriften, und Reich avancierte zu einer der antiautoritären Autoritäten.

Hören wir einen Zeitzeugen, Robert Schindel: „Ich bin bloß ein von Zeit zu Zeit politisierender Literat, und als solcher bin ich schon auf die Studentenbewegung gekommen.“ Du mußt zurückgehen „auf die Einfleischungen deiner politischen Sozialisation: Hitler in uns. Stalin in uns. Privateigentum in uns. Neid und Ehrgeiz in uns. Dieses ICH in uns. Freud kam des Weges, auf den haben wir gewartet. Und auf Reich erst recht, den alten Kommunisten.“ (1)

(3) Reich war 1966, als er durch die Wiederveröffentlichung seines Buches Die sexuelle Revolution (2) deutschen Lesern wieder bekannt wurde, wenig mehr als eine Legende. Doch seine neuen Leser wußten, daß er gegen die repressive Sexualmoral gekämpft und sich mit der antifaschistischen Arbeiterjugend verbündet hatte. Sein näheres Verhältnis zur Freudschen Psychoanalyse interessierte zunächst kaum, schon gar nicht seine Abkehr von Marxismus und Psychoanalyse Mitte der dreißiger Jahre und die Entwicklung seiner wunderlichen Biophysik, der „Orgonomie“.

Bald aber erschienen Raubdrucke seiner Charakteranalyseund der Massenpsychologie des Faschismus, die als gut verständliche Popularversionen der Adorno-Horkheimerschen Untersuchungen über den „autoritären Charakter“ gern gelesen wurden. Das durch Reich und andere Vertreter der Freudschen Linken geweckte neue Interesse an Freud, also am Original der Sache, motivierte schon Anfang der siebziger Jahre studentische Raubdrucker zu einem illegalen Reprint der 17bändigen Gesammelten Werke, von dem dann – auf Betreiben des Fischer-Verlags – Hunderte von Exemplaren in einem Frankfurter Kellerversteck von der Polizei beschlagnahmt wurden…

(4) Galt Reich den Stalinisten seit 1933 als ein Abweichler, ein „Trotzkist“, so hielten ihn die organisierten Psychoanalytiker (mit schlechtem Gewissen) für einen gefährlichen Narren. Die Begeisterung der Protest-Generation für ihn konnten weder die einen, noch die anderen verstehen. Die psychoanalytischen Vereins-Historiker haben im Laufe des vergangenen Jahrzehnts schließlich doch wahrhaben müssen, daß Reich 1934 auf Betreiben Freuds auf dem Luzerner Kongreß aus der Psychoanalytischen Internationale ausgeschlossen wurde und nicht etwa aus purem Eigensinn deren Reihen verließ.

Zuzugeben, daß Reich recht hatte, als er feststellte, daß die nationalsozialistische Ideologie und die Freudsche Psychoanalyse Antipoden sind und daß es darum keine friedliche Koexistenz zwischen Deutscher Psychoanalytischer Gesellschaft und NSDAP geben konnte, fällt ihnen immer noch schwer. Seit den sechziger Jahren sind Reichs Bücher, nicht nur die aus der psychoanalytischen, sondern auch die aus der orgonomischen Phase, wieder auf dem Buchmarkt.

Eine Reihe von Biographien sind erschienen, Reichianische Gruppen und Institute mit eigenen Zeitschriften sind entstanden. In vielen dieser Gruppen gilt die Orgonomie samt ihren therapeutischen Anwendungen als eine Art Heilslehre. Reichs 110. Geburtstag und sein 50. Todestag waren im vorigen Jahr Anlaß zu einer ganzen Serie von Gedenkveranstaltungen; man plante sogar eine weltumspannende Menschenkette zu seinem Andenken. Gleichzeitig wurde sein literarischer Nachlaß zugänglich.

Zu der ersten umfassenden Reich-Ausstellung, die – wie die ihr jetzt unter dem Titel „Wilhelm Reich 1938 1968“ folgende – von Birgit Johler und ihren Mitarbeitern ausgerichtet wurde, kam es freilich weder auf Initiative von Reichianern, noch auf Initiative von Psychoanalytikern. Es handelte sich vielmehr um eine Veranstaltung des Wiener Jüdischen Museums. Die Ausstellung selbst und die von Frau Johler herausgegebene „Begleitpublikation“(3)bieten einen fairen Überblick über die Entwicklung des eigenwilligen Freud-Schülers Reich in den Jahrzehnten zwischen dem ersten Weltkrieg und den fünfziger Jahren des düsteren 20. Jahrhunderts.

Auch sein problematisches Verhältnis zur Psychoanalyse wird – unter anderem durch den in der Ausstellung erstmals dokumentierten Briefwechsel (4) mit Freud und anderen Psychoanalytikern in den späten zwanziger und in den frühen dreißiger Jahren – verdeutlicht.

(5) Die Psychoanalyse ist eine zwieschlächtige Wissenschaft. Obwohl Freud sich im Verlauf seiner Aufklärung des Rätsels der „sozialen Leiden“ Obsession und Hysterie und des Rätsels der Träume und Fehlleistungen vom Objekt- zum Subjektwissenschaftler und Institutionenkritikerwandelte, betonte er zeitlebens, die unnatürliche Psychoanalyse sei aucheine „Naturwissenschaft“.

Reich teilte dieses Freudsche „Selbstmißverständnis“ (wie zuerst Hans Kunz, dann Jürgen Habermas es nannten) voll und ganz. In den Jahren 1927 bis 1936, als er versuchte, den (von ihm und vielen anderen) als eine „Naturwissenschaft“ von der Geschichte mißverstandenen Marxismus mit der ebenfalls als „Naturwissenschaft“ deklarierten Psychoanalyse unter dem Dach einer dialektisch-materialistischen (oder „funktionalistischen“) Metawissenschaft zu verbinden, verzichtete er zugunsten der marxistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung bereitwillig auf die Freudsche Kritik der Kultur (die ja die eigentliche Grundlage der Freudschen Psychologie und Therapie ist).

Trotz dieser Beschränkung markiert seine Massenpsychologie des Faschismus– im Zusammenhang mit seinen anderen Arbeiten aus den Jahren 1927-1937 – die (bisher leider nur selten realisierte) Möglichkeit einer „Psychoanalytischen Sozialforschung“ (5) Als Soziologe halte ich Reichs Texte zur Kritik der Familie und der faschistischen Propaganda für seine wichtigsten (6). Er selbst ging freilich bald andere Wege. War schon in seinen frühen psychoanalytischen Arbeiten die Tendenz zur Naturalisierung des Triebbegriffs und zur Technifizierung der Therapie unverkennbar, so proklamierte Reich in den späten dreißiger Jahren den Verzicht auf „Psychologie“ und „Politik“ überhaupt.

An die Stelle der Theorie des Unbewußten trat nun die Lehre von der kosmischen Orgon-Energie, und die psychoanalytische „talking cure“ (Annas O.)(7)wurde durch die „Vegetotherapie“ und andere Körpertherapien abgelöst. Nicht mehr auf die politische Praxis und auf die Geschichte setzte Reich seine Hoffnung, sondern auf einen Ausweg aus der Geschichte(die ihm nun als ein einziger Irrweg, als eine „Biopathie“ erschien). Nicht die Schreckenswelt der Stalin und Hitler, sondern der ewig pulsierende, blaue Orgon-Ozean war die wahre Wirklichkeit, und Reich hatte sie für die leidende Menschheit wiederentdeckt. „Zurück zur Natur!“ wurde nun auch seine Losung. Der revolutionäre Arzt und wunderliche Naturforscher Reich, dessen anstößige Schriften zweimal verbrannt wurden, einmal von den Nazis im Jahre 1933, das andere Mal auf Anweisung eines amerikanischen Gerichts in der Mitte der fünfziger Jahre, verdient unsere Achtung.
___________________

Prof. Dr. Helmut Dahmer ist Soziologe und freier Publizist in Wien.
Veröffentlichungen:

  • „Libido und Gesellschaft“ Frankfurt, 1973 (1982)
  • „Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert“ Wien, 2001

Fußzeilein:

(1) Schindel, R. (1983): „Über das Marxverständnis der Studentenbewegung.“ In: Danneberg, Bärbel, u. a. (Hg.) (1998): die 68er. Eine Generation und ihr Erbe. Wien (Döcker), S. 68-80. Zitate auf den S. 68 und 74.

(2) Reich, Wilhelm (1966): Die sexuelle Revolution. Zur charakterlichen Selbststeuerung des Menschen. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt). [Bei dieser Veröffentlichung handelte es sich um eine überarbeitete, terminologisch veränderte Version des 1936 in Kopenhagen erschienen Buches Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen.]

(3) Johler, Birgit (Hg.) (2008): Wilhelm Reich revisited. [Begleitpublikation zur Ausstellung „Wilhelm Reich. Sex!Pol!Energy!“ im Jüdischen Museum Wien vom 16. 11. 2007 – 9. 3. 2008.] Wien (Turia + Kant).

(4) Diese Korrespondenz ist zum Teil auch in der „Begleitpublikation“ abgedruckt.

(5) Abgesehen von Freuds Arbeiten aus den zwanziger und dreißiger Jahren – von Die Zukunft einer Illusionbis zu den Moses-Studien – ist in diesem Zusammenhang vor allem an Adorno-Horkheimers Untersuchungen zum „Autoritären Charakter“ und an die ethnopsychoanalytischen Arbeiten von Paul Parin und anderen zu erinnern.

(6) In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem Reichs (am Ende des zweiten Weltkriegs geschriebenes) anarchistisches Pamphlet Listen, little man(1948) und seine politische Autobiographie Menschen im Staat(1953) zur Lektüre empfehlen.

(7) „Anna O.“ (eigentlich Bertha Pappenheim) war die berühmte Patientin von Joseph Breuer, die das von ihr erfundene Verfahren des „Absprechens“ psychischer Konflikte als eine „talking cure“ (Redekur) bezeichnete. Man kann sie vielleicht als `Stifterin´ der Psychoanalyse bezeichnen. „Anna O.“ war die erste Fallstudie in Breuer/Freuds „Studien über Hysterie“ (1895) gewidmet.

Zurück zu Bukumatula 2008