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Bukumatula 4/2008

Berührung – mehr als nur Worte

eine Radiosendung über körperbetonte Psychotherapie aus:
„Dimensionen. Welt der Wissenschaft“; 19.06.2008, Ö1
transkribiert von
Dario Lindes:

Autor: Ulfried Geuter

„Mein Therapeut hat mich dazu animiert, bestimmte Atemtechniken anzuwenden oder mir vorsichtig körperliche Berührungen gegeben, die in Richtung Massage gingen, oder auch einfache Grounding-Übungen mit viel Atmen mit mir gemacht, um erst einmal in tieferen Kontakt mit meinen Gefühlen zu kommen, die dann an die Oberfläche schwappten. Und so zeigten sich dann auch recht schnell körperliche Symptome wie Blockaden, Zuckungen und ähnliches an mir.“

Patricia Gertl nennt es heute „ihre Depression“. Damals war es ein schwarzes Gefühl von Verzweiflung, Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Dazu hatte sie Migräne und ein ständiges Chaos in ihren Männerbeziehungen. Sie fand Hilfe in einer Psychotherapie, in der nicht nur gesprochen wurde, sondern in der sie ihr Therapeut auch mit seinen Händen berührte. Auf dem Weg über den Körper kamen verschüttete Gefühle an die Oberfläche.

„Wenn sich jemand beklagt, dass er sich zwar sehr elend fühlt, aber nie weinen kann, dann reicht es manchmal aus, ihm die Hand auf die Brust zu legen, und er spürt die Anwesenheit einer freundlichen Person. Und dann dauert es oft nur Sekunden – manchmal auch etwas länger – und es kommen von selbst Tränen. Manche Patienten muss man oft sehr viel intensiver halten, damit sie sich trauen, ihre Gefühle zu zeigen, weil sie fürchten, sie werden von ihnen zerrissen.“
Das sagt Tilmann Moser, Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut aus Freiburg.

Moser setzt sich seit Jahren dafür ein, die klassische Psychoanalyse um die Arbeit mit dem Körper zu erweitern. Der Grund: manche Patienten würden auf der Couch emotional so verhungern, wie sie auch schon als Kind verhungert sind. Dann würden in einer Psychotherapie Worte nicht mehr ausreichen, um das Gefühl zu gewinnen „da ist jemand, der mich in meiner Not hält und trägt“.

Was Moser als Bereicherung der Couch-Therapie versteht, ist in der Psychoanalyse heftig umstritten. Andere Therapeuten fürchten, dass es den Patienten in seinen Gefühlen zum Analytiker verwirren könnte, wenn dieser ihn berührt. Schlimmstenfalls, warnen die schärfsten Kritiker Mosers, werde die therapeutische Atmosphäre sexuell aufgeladen. Moser hingegen meint, genau das Gegenteil sei der Fall, selbst wenn bei einem männlichen Analytiker eine weibliche Patientin die Phantasie einer sexuellen Beziehung entwickelt.

„Eine gut durchdachte, gut durchfühlte Berührung führt zu folgendem, sehr wichtigen Ergebnis: Der Patient spürt an der haltenden Hand, dass er sich eigentlich nach Schutz, Halt, Geborgenheit und Wärme sehnt, und dass er diese basalen, primären Gefühle, an denen er einen Mangel hatte, sexualisiert wurden, weil die Sexualität für den Erwachsenen der einzige Zugang zu intensiver Nähe ist, besonders in unserer Kultur. Die Körperpsychotherapie ist also auch ein mächtiges Hilfsmittel bei der Entwirrung verwirrter Gefühle.“

Bei den Frauen, die Freud vor 100 Jahren behandelte, war das alles anders.
Freud hatte sich anfangs viel mit hysterischen Neurosen befasst. Seine Patientinnen hatten Probleme, die im Bereich von Triebkonflikt und verinnerlichten Verboten lagen. Bei ihnen war es wichtig, dass der meist männliche Therapeut abstinent blieb, auf analytische Distanz ging, damit sich die Phantasien der Patientinnen frei entfalten konnten.

Aber heute gibt es andere Patienten mit anderen Störungsbildern. Viele Menschen bekommen sich selbst nicht mehr mit, sie haben bei allem Körperfetischismus unserer Kultur den richtigen Bezug zu ihrem Körper verloren und wissen nicht mehr, wer sie sind. Dieses Gefühl trieb in den 1970er- und 80er-Jahren eine ganze Generation in Selbsterfahrungsgruppen, in denen die Arbeit mit dem Körper auch Arbeit an der eigenen Identität war.

Auch der Wiener Psychotherapeut Peter Geißler machte damals seine ersten Erfahrungen: „Bevor ich die Körpertherapie entdeckte, habe ich eine verbale psychoanalytische Therapie durchlaufen, und da bin ich an bestimmte Bereiche gestoßen, die immer nur auf einer rein intellektuellen Ebene geblieben sind. Und als ich dann einmal in eine körpertherapeutische Gruppe kam, geschah es, dass die bloße Berührung des Therapeuten dazu führte, dass auf einmal eine ganz tiefe Traurigkeit in mir aufgestiegen ist, die ich schon seit Jahren bis Jahr
Jahrzehnten nicht mehr gespürt hatte.“ Geißler möchte heute körperbezogene Techniken mit psychoanalytischer Therapie verbinden. Wenn er glaubt, dass es einem Patienten helfen könnte, berührt er ihn auch – und das nicht nur in jenem konventionellen Sinn, dass man jemandem die Hand gibt oder auf die Schulter klopft.

Bei einer Patientin hatte er z.B. nach mehreren Sitzungen den Eindruck, beim Sprechen immer wieder an einen toten Punkt zu gelangen. „Da habe ich mich entschlossen, einfach einmal etwas mit ihr auszuprobieren und habe sie gefragt, ob sie mitmachen würde: Sie möge sich doch auf einer Matratze auf den Rücken legen, und ich würde einfach für eine Weile ihren Kopf halten.

Die Patientin hat sich auf diese Art des Kopfhaltens, also einer speziellen Berührungstechnik, eingelassen, und sie fand schon nach ein paar Minuten zu einer emotionalen Bewegtheit. Der Patientin sind die Tränen geflossen, von denen sie überhaupt nicht wusste, woher sie kommen. Aber genau diese kurze Szene war dann ein Kristallisationspunkt für viele weitere Gespräche, die dann fruchtbarer verliefen als alles, was vorher monatelang passiert war.“

Berührung zwischen zwei Menschen ist immer auch eine Geste. Sie kann einen Menschen einladen, die Tränen frei laufen zu lassen – sie kann aber auch einen Menschen beruhigen, den seine Trauer gerade zu zerreißen droht. Berührung dient der Seele dazu, Gefühle ins Gleichgewicht zu bringen – Wissenschafter sprechen von „Affektregulation“. Amerikanische Neurophysiologen machten dazu ein Experiment: Sie baten Ehepaare ins Labor. Die Frauen erhielten leichte Elektroschocks am Knöchel und man zeichnete dabei deren Gehirnaktivität auf.

Dann bat man die Ehemänner, ihrer Frau die Hand zu halten. Sofort beruhigten sich bei den Frauen jene Hirnareale, die vorher Stress anzeigten. Berührung kann also auch Stress mindern. Sie vermittelt einem Menschen, dass er von einem anderen beachtet wird. Das gehört ohnehin zum Erfahrungsschatz eines einfühlsamen zwischenmenschlichen Umgangs. Nun wird dies auch von der neurobiologischen Forschung bestätigt, sagt die deutsche Psychotherapeutin und Nervenärztin Luise Reddemann: „Wissenschaftlich gesehen ist es so, dass angenehm erlebte Berührung dazu führt, dass ein bestimmtes Hormon, Oxytocin, ausgeschüttet wird. Und dieses Oxytocin ist jenes Hormon, das uns hilft, Stress abzubauen und uns wohl zu fühlen, uns als soziale Wesen zu verhalten – und auch sogar besser zu lernen.“

Oxytocin leitet bei Frauen die Wehen ein und macht diese erträglich. Später, in der Stillphase, ist es dafür zuständig, dass die Milch einschießt. Das Hormon fördert die Bereitschaft, sich an einen anderen Menschen zu binden. Und es lässt uns entspannen, wenn wir berührt werden.

Sind Menschen in Gruppen in Panik, so fassen sie einander – auch Wildfremde – an, um sich zu beruhigen. So wie die Bonobos, die Zwergschimpansen, die 98 Prozent der Gene mit uns Menschen gemeinsam haben. Bei Stress hocken sie zusammen und halten sich aneinander fest. Bonobos tun aber auch noch mehr: Sie kopulieren dann häufiger als sonst. Auch sexuelle Aktivität kann Stress reduzieren.

In berühmt gewordenen Experimenten bot der amerikanische Psychologe Harry Harlow kleinen Rhesusaffen mit zwei Attrappen künstliche Ersatzmütter an: eine mit einem weichen Fell, die keine Milch gab, und eine zweite aus einem Drahtgestell, die Milch gab. Resultat: Die Affenbabys hielten sich bei der Milchspenderin stets nur zur Nahrungsaufnahme auf, bevorzugten aber für den sozialen Rest die Ersatzmutter mit dem weichen Fell.

Kinder suchen bei Angst oder Schmerz den körperlichen Halt ihrer Eltern – aus gelungener Berührung entsteht Bindung. Die amerikanische Säuglingsforscherin Beatrice Beebe wies nach, dass sich aus der Art und Weise, wie eine Mutter ihren vier Monate alten Säugling berührt, voraussagen lässt, wie sicher ein Kind im Alter von einem Jahr an die Mutter gebunden ist. Das gleiche gilt umgekehrt auch: Ungute Berührung kann den Aufbau einer (guten) Beziehung stören.

Berührung formt das Bild von sich selbst und das Gefühl zu sich selbst, sagt der Basler Psychiater und Psychotherapeut Joachim Küchenhoff: „Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass die Konstitution des Selbstbildes sehr viel mit der ursprünglichen Berührungserfahrung in der frühen Kindheit zu tun hat. Für uns in der Psychotherapie ist ja nicht einfach nur die Kognition wichtig, sondern vor allem die Emotion, d.h. die Qualität der Berührungserfahrung: dass diese sehr viel damit zu tun hat, wie ich mich selber annehmen kann, wie ich selber ein warmes, tragfähiges Verhältnis zu mir selbst entwickle.“

Salopp formuliert und im wörtlichen wie im übertragenen Sinn: Wer als Kind gut getragen wurde, hat es leichter mit einem tragfähigen Verhältnis zu sich selbst. Fehlt einem Patienten eine solche Erfahrung als Kind, kann eine Psychotherapie helfen, das Vertrauen in andere Menschen und sich selbst nachreifen zu lassen. Dazu trägt in erster Linie bei, dass der Therapeut für den Patienten da ist und in der Beziehung Halt vermittelt. Aber auch eine Berührung, wie den Kopf oder die Hand zu halten, kann Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.

Von diesen Berührungen in einer Psychotherapie lassen sich andere unterscheiden, die eher darauf abzielen, verschüttete Gefühle zu befreien: z.B. eine Hand auf die Brust zu legen, damit festgehaltene Tränen fließen können. Zur Funktion solcher Berührungen sagt Joachim Küchenhoff: „Berührungen entfalten da, wo Worte nicht mehr hinreichen, eine enorme Katalysatorwirkung, um Emotionalität wieder freizusetzen.

Das ist die große Möglichkeit von körperbetonter Psychotherapie: dass sie es ermöglicht, auch in einer Lebensform, wo sich jemand in einen Raum scheinbarer Gefühllosigkeit zurückgezogen hat, um nicht verletzt zu werden, zu spüren beginnt, dass Begegnung auch gewagt werden darf, dass Emotionalität im Kontakt mit anderen Menschen auch etwas Tragfähiges und Wichtiges hat.“ Berührung schafft Kontakt. Wenn wir an der Haut berührt werden, wird auch die Seele berührt – wenn der Berührende uns in diesem Sinn berühren möchte.

Es gibt in der Heilkunde auch andere Berührungen, z.B. die Berührung eines Masseurs, der einen verspannten Muskel lockern will. Solche Berührungen helfen, dass die körperliche Funktion wieder ins Gleichgewicht kommt, wie z.B. das Verhältnis von Spannung und Entspannung in der Muskulatur. Auch dies kann seelische Nachwirkungen haben, sodass wir uns nach einer Massage ausgeglichener fühlen.

Was eine Berührung bewirkt, hängt auch mit der inneren Einstellung des Berührenden zusammen. Therese Mean führte in New York ein Experiment durch, bei dem Krankenschwestern den Körpern von Erkrankten mit ihren Händen „zuhören“ und die Hände dorthin legen sollten, wo sie eine Ansammlung von Spannung bemerkten. Die eine Gruppe von Schwestern sollte einfach nur die Hände ohne inneren Hintergedanken auflegen, die andere sollte es tun mit der festen Absicht zu heilen. Nur bei letzter Gruppe zeigte sich ein Effekt bei den Patienten: Bei Hirnstrommessungen hatten sie mehr Alpha-Wellen mit hohen Amplituden – ein Zeichen für tiefe Entspannung. Herzkranke, die so berührt wurden, zeigten weniger Angst.

Nicht nur Berührung durch andere, auch Selbstberührung kann solche Effekte erzielen. Der Münchner Körperpsychotherapeut Christian Gottwald ermuntert daher seine Patienten, sich öfter mal selbst anzufassen, etwa die Hand auf das Herz zu legen. Manche Patienten würden das als sehr wohltuend erleben. „Dann ereignet sich häufig etwas sehr Merkwürdiges“, schildert er, „es kommen Gefühle hoch, und häufig sind das traurige oder schmerzliche Gefühle, die genau mit jenen Botschaften zu tun haben, die inhaltlich rund um das Thema Herz angesiedelt sind, wie ,ich nehme dich an´, `ich hab dich lieb’. So zentrale Berührungen führen die Leute oft mitten hinein in alte, tiefe Geschichten, die mit ihrer Kindheit zusammenhängen.“

Aber die Berührung schafft nicht nur eine Verbindung zu alten Schmerzen, sondern auch zu den Quellen ihrer Erlösung. „An ganz intensiven Formen von Berührung mangelt es üblicherweise den Erwachsenen in unserer mitteleuropäischen Kultur, weil meist viel Schmerz damit verbunden ist. Aber – und das ist das Interessante – in dem Schmerz ist auch ein Wissen um die Heilung, was eigentlich stattfinden müsste, damit es wieder gut wird. Und das ist häufig diese Berührung auf emotionaler Ebene.“

In einer Psychotherapie, in der auch mit dem Körper gearbeitet wird, kann Berührung mehr bedeuten:

  • eine Hilfe zur Selbstregulation körperlicher Prozesse, die aus dem Lot geraten sind
  • eine Hilfe, um verschüttete Gefühle wieder spüren zu können
  • oder eine Geste im zwischenmenschlichen Kontakt.

Berührt ein Therapeut z.B. die Schulter eines Patienten, kann dies helfen, die Spannung in der Schulter zu lösen – aber auch das Gefühl vermitteln „da gibt es jemanden, der für mich da ist, und weil ich das lange nicht hatte, musste ich immer so festhalten“.

Patricia Gertls Therapeut legte seine Hand in ihren Nacken, um sie zu halten und zu beruhigen. „Später wurden daraus richtiggehend Massagen, weil ich ja auch Migräne hatte. Auch das Gesicht wurde teilweise mit massiert, Arme, Beine, das weitete sich immer mehr aus, je mehr Vertrauen ich zu meinem Therapeuten gefasst hatte.“

Die Massagen halfen ihr, mehr innere Ruhe zu finden, aber sie bewirkten noch Anderes: „Ich habe mich auf einmal wieder als Kleinkind gesehen und irgendwelche Gefühle von Verlassenheit erlebt. Ich habe mir das gemerkt, und hinterher habe ich mit meinem Therapeuten darüber gesprochen; dann wurde das sozusagen analytisch aufgearbeitet.“
In einer Körperpsychotherapie verbindet sich die Arbeit am Körper, die Berührung, immer mit dem Gespräch darüber, welche Bedeutung diese Berührung für den Patienten hatte, was sie ausgelöst und in Bewegung gebracht hat. Das unterscheidet sie von Methoden, die allein auf die körperlichen Zustände und Funktionen ausgerichtet sind, wie eine klassische Massage. Denn in einer Psychotherapie geht es um Gefühle. Wenn nichts geschieht, was einen Menschen innerlich bewegt, verändert er sich nicht. Daher verändern sich Menschen, wenn sie sich verlieben oder einen Schicksalsschlag erleiden – oder eben auch, wenn sie in einer Psychotherapie `berührt´ werden.

In den meisten psychotherapeutischen Behandlungen geschieht dies durch Worte, wie die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast an einem Beispiel erläutert: „Ich erinnere mich da an eine Frau, die mir sagte, man könne sich doch die Seelen der Toten als Schmetterlinge vorstellen. Ich entgegnete ihr, besser wäre doch die Vorstellung von den Toten als Sommervögel. Und dieses Wort Sommervogel hat sie aus ihrer Lebensgeschichte heraus daran erinnert, dass ihre Großmutter sie immer Sommervögli, also kleiner Sommervogel, genannt hat. Da kam also eine ungeheuere Erinnerungsmasse an Zärtlichem, Lebendigem zum Vorschein.“ Erinnerungen, die ihr halfen, eine verschüttete Lebensfreude wieder zu entdecken.

Worte können auch die tiefen Schichten der Erinnerung erschließen. Manche Erinnerungen aber liegen vor allen Worten: wenn sie aus einer Zeit stammen, in denen das Kind seine Erfahrungen noch nicht in Sprache fassen konnte. Oder sie liegen jenseits von Worten, wenn ein Ereignis so überwältigend war – z.B. ein schweres Trauma, sodass dieses Erlebnis nicht in Worte gespeichert werden konnte. Wissenschafter sprechen davon, dass es neben dem „expliziten“ sprachlich verfassten Gedächtnis auch noch ein so genanntes „prozedurales“ (implizites) Gedächtnis gibt, in dem Handlungsabläufe – auch emotionale – gespeichert werden.

Ein Beispiel: Legen Eltern ihr Kind regelmäßig weg, wenn es bei ihnen auf dem Schoß sitzt und möglicherweise seine Hände gegen den Körper des Erwachsenen stößt, dann lernt das Kind, dass seine Äußerungen von Vitalität oder sein Wunsch nach Raum dazu führt, vom anderen getrennt zu werden. Das Kind zieht sich zurück. Aus vielen gleich lautenden Erfahrungen kann ein so genanntes „affektmotorisches Schema“ entstehen, ein gemeinsames Muster des Denkens, Fühlens und körperlichen Verhaltens, mit dem der Erwachsene dann später an die Welt herangeht: nur ja nicht zu viel an vitalen Gefühlsäußerungen zeigen und sich zurückziehen.

Hans Becker schildert den Fall einer Frau an der psychosomatischen Abteilung der Universitätsklinik Heidelberg, die an Herzrasen und Angst vor Herzstillstand litt: „In einer Konzentrativen Bewegungstherapie-Gruppe kam es zu einer Szene, in der die Frau mit einer Mitpatientin mit einem Seil spielte und diese Mitpatientin dann das Seil um den Körper der Frau schlang. Die Frau begann plötzlich laut aufzuschreien; die ganze Gruppe wusste zunächst gar nicht, was los war. Doch hinterher, im Gespräch über diese Schlüsselszene, wurde ihr plötzlich klar, wie eingeengt sie eigentlich zu Hause war. Und so konnten wir mit ihr zusammen im Laufe von vielen Monaten den Zusammenhang zwischen ihrer Einengung und ihren somatischen Symptomen erarbeiten, was im Sprachlichen erst nicht ging, weil sie gar keinen Zugang dazu hatte.“

Der früheste Zugang des Menschen zu sich selbst ist der Zugang über die Haut. Von allen Sinnen erwacht der Tastsinn als erster. In der 8. Schwangerschaftswoche beginnt der Embryo sich tastend ein Bild von sich selber zu machen. Er reibt seine Haut an der Wand des Uterus, er spielt mit der Nabelschnur und berührt immer wieder seinen Körper – frühe Berührungen, die wahrscheinlich die wichtigsten Erfahrungen für die Reifung des Gehirns im Mutterleib sind.

An diesen Erfahrungen mangelt es Frühgeborenen, weshalb man heute bei ihnen, anders als früher, darauf achtet, dass sie viel Berührung bekommen, sagt der Heidelberger Kindermediziner Otwin Linderkamp: „Mit 24 Wochen, also 16 Wochen vor dem Geburtstermin, hat jede Nervenzelle nur eine Verbindung – zum Geburtstermin sind es schon über eintausend. Diese werden alle im Lauf der Schwangerschaft geknüpft. Und die Art der Verknüpfung entscheidet dann darüber, ob das Kind später von Seiten seines Gehirns gesund ist oder nicht. Und hier können Fehlentwicklungen bei Frühgeborenen entstehen, wenn sie nicht zur rechten Zeit die richtige Stimulation erfahren, und zu diesen richtigen Stimulationen gehört eben auch ein enger Hautkontakt zur Mutter.“

Bei der so genannten `Känguru-Pflege´ liegen die Kinder jeden Tag einige Stunden auf der Brust der Mutter oder des Vaters. Die Folgen unterstreichen den Wert, den körperlicher Kontakt für die Entwicklung des Menschen hat. Berührung ist eine Prophylaxe gegen spätere seelische Störungen.

„Wir fürchten bei Frühgeborenen besonders Lernstörungen und Aufmerksamkeitsdefizite. Viele Frühgeborene entwickeln sogar ein richtiggehendes Hyperaktivitätssyndrom, und dies hängt eben mit Fehlentwicklungen im Gehirn zusammen. Es gibt in der Tat Untersuchungen, die gezeigt haben, dass Frühgeborene, wenn sie regelmäßig von Mutter oder Vater in Känguru-Pflege genommen werden, dann später eine normale Gehirnentwicklung haben und nicht häufiger als andere Kinder am ADHS-Syndrom erkranken oder Lernstörungen bekommen.“

Doch auch der Tastsinn selbst kann gestört sein, z.B. bei Patienten, die sich kein angemessen korrektes Bild von ihrem eigenen Körper machen. Dazu gehören etwa Magersüchtige. Sie fühlen sich oft zu dick, unförmig und aufgedunsen, sind aber in Wahrheit sehr dünn und abgemagert. Der Leipziger Psychologe Martin Grunwald untersuchte solche Patienten in seinem Labor für Haptikforschung, das ist die Wissenschaft vom Tastsinn. Dort sollten sie im Vergleich mit gesunden Probanden abstrakte Formen mit geschlossenen Augen abtasten und diese später nachzeichnen.

Magersüchtige konnten das weit schlechter als `normale´ Menschen. Leitete er gleichzeitig deren Gehirnströme ab, sah Grundwald, dass ein bestimmter Teil der Großhirnrinde, der nämlich, der mit der Verarbeitung von Körpersignalen zu tun hat, deutlich weniger aktiv war als andere Zentren. „Auch andere Kollegen sehen das so, dass möglicherweise der rechte Parietalcortex (Schläfenlappen) bei Anorexia nervosa in seiner integrativen Funktion deutlich gestört ist, sodass die Körpersignale, die in dieser Hirnregion verarbeitet werden sollten, nicht korrekt, sondern inadäquat verrechnet werden.

Das könnte nach unserer Vorstellung auch die Basis der vorliegenden Körperschemastörung sein.“ Das Gehirn produziert also ein falsches Empfinden des eigenen Körpers. Grunwald hat einen für Psychotherapeuten verblüffenden Lösungsansatz, wie man diesen Missstand verändern könnte: Er steckt die Patienten in hauteng anliegende Neopren-Anzüge, durch die sie über Stunden hinweg einen Druck an der eigenen Körperoberfläche spüren. Diese Anzüge zu tragen führt zu mehr Aktivität in dem sonst unterbeanspruchten Hirnteil – und auch zu einer Gewichtszunahme. Aber der Effekt hält nur kurz an, längerfristig heilsam ist er nicht.

Manche Psychotherapeuten schlagen daher andere Wege ein, die körperliche Selbstwahrnehmung ihrer Patientinnen zu schulen. So werden in manchen Kliniken Körpertherapiemethoden eingesetzt, mit denen die Patienten lernen, achtsam die Lage ihres Körpers im Raum oder die eigenen Körperbewegungen zu erforschen. Die Psychotherapeutin Luise Reddemann fordert ein Umdenken in der Psychotherapie: „Jede Berührung verändert unser Körperbild. Deshalb bin ich auch mit dem fachlichen Wissen, das wir heute haben, der Meinung, dass wir den Körper auf keinen Fall mehr aus der Psychotherapie ausblenden und uns nur auf das Wort beschränken können.

Deshalb müssen wir uns in der Krankengeschichte dafür interessieren: Berührt sich jemand selbst, wird er ausreichend von anderen berührt, und wenn nicht, wie könnte er das erreichen?“ Reddemann hält die Zeit für überholt, in der man in der Psychotherapie darüber gestritten hat, ob man Patienten berühren darf oder nicht. Sinnvoller sei es viel mehr zu fragen, wie, im Kontext welcher Methode und bei welchem Patienten unter welchen Umständen Berührung hilfreich und sinnvoll sein kann.

Bei der Entscheidung sollte man unbedingt auf die Bedürfnisse des Patienten achten, was braucht der eine, was will der andere. Reddemann: „Und dann wird es für den einen eine Körperpsychotherapie im engeren Sinn werden, und für jemand anderen kann es durchaus sein, dass er eher längere Zeit reden will und sich nicht berühren lässt, dass man aber so behutsam an den Ängsten arbeitet, dass er dann irgendwann einmal bereit ist, sich massieren zu lassen. Das war bei uns in der Klinik ganz häufig der Fall. Gerade Menschen, die schlechte Erfahrung mit Berührung gemacht haben, die auf oft ungute Weise berührt wurden, z.B. durch Misshandlung oder Missbrauch, die benötigen oft sehr viel Zeit, ehe sie sich angreifen lassen. Da hat es natürlich auch gar keinen Sinn, etwas vor der Zeit erzwingen zu wollen.“

„Das Abstinenzgebot von Freud sollte nicht für alle Patienten gelten. Was für den einen schädlich sein mag, ist für den anderen nützlich. Es kann durchaus ein Fehler sein, einen Patienten zu berühren und ihn durch eine Berührung in Angst und Verwirrung zu stürzen. Es kann aber auch genauso ein Fehler sein, eine notwendige Berührung vorzuenthalten“, meint der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern aus Genf, der therapeutisch mit Kleinkindern und deren Müttern arbeitet.

Patricia Gertl hat von der Berührung in der Psychotherapie profitiert. Einige Zeit nach ihrer Behandlung bekam sie ihr erstes Kind. „Ich denke, dass ich einen Teil davon, was mein Therapeut in seinen Händen hatte, übernehmen konnte und heute auch an meine Kinder weitergeben kann.“

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Transkribiert mit freundlicher Genehmigung des Autors und des © ORF – Ö1.
(Eine Audiokopie kann beim ORF, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien, bestellt
werden: Tel. 01/501 70 374, audioservice@orf.at )

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