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Buk 01/03 Was brauchen Kinder

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Bukumatula 1/2003

Was brauchen Kinder – Bäume brauchen Wurzeln, Vögel brauchen Flügel

Vorbemerkungen zum Vortrag im Amerlinghaus am 16.04.2003 von
Eberhard Krumm

Ein Autor, der gehalten ist, im Voraus über einen Vortrag zu schreiben, der wenige Tage später gehalten werden soll, befindet sich in nicht geringer Verlegenheit. Er läuft Gefahr, seine Sache gründlichst zu vermasseln. Denn hüllt er sich in dunkle Andeutungen über spektakuläre Erkenntnisse, über die er sich mündlich näher auslassen wird, erweckt er hohe Erwartungen beim Publikum, das er auf diese Weise in seinen Vortrag lockt; Erwartungen, die er womöglich enttäuscht. Legt er den Inhalt seiner noch kommenden Botschaft zu ausführlich dar, bleiben die Zuhörer entweder aus, weil sie ja alles Wesentliche schon lesen, vorlesen statt nachlesen konnten, oder aber sie kommen und denken beim Zuhören über den Redner und das, was er schrieb: „Weil es hat so schön geklingt, wird es jetzt noch mal gesingt.“ Das ist wie Vöslauer, wenn es durch die Nase wieder kommt.

Wie dem entgehen? Wie die „goldene Mitte“ finden?

Vielleicht so: ich werde über Alt-Bekanntes sprechen! Über Pädagogik im Wandel der Zeiten, über die Lehrer-Schüler-Beziehung, über Autorität und Freiheit, über Strukturen und Inhalte des Lernens und auch die Pisa-Studie wird nicht unerwähnt bleiben. Ich werde darlegen, wie Wilhelm Reich sich Erziehung aus den Quellen, die unser Leben beherrschen sollen – auch diese drei sind jedem Reichianer bekannt – vorgestellt hat. Es werden Überlegungen angestellt werden, inwiefern Reichs Vorstellungen noch heute, 46 Jahre nach seinem Tod, unter völlig veränderten Lebensbedingungen von Eltern, Kindern und Schülern zu neuen Einstellungen, die in Handlungen umsetzbar sind, führen können.

Es wird also Alt-Bekanntes zur Sprache kommen, das indes eben dadurch, wie der Philosoph G.W.F. Hegel (1770-1831) im Vorwort zu seiner „Phänomenologie des Geistes“ meinte, weil es bekannt ist, noch lange nicht erkannt ist. Das sattsam Bekannte kann, so meine ich, im Lichte der Orgonomie durchaus auf ganz neue Weise erkannt werden. Erkennen ist nicht nur eine Sache des Kopfes.

Martin Luther (1483-1546) übersetzte den Anfang des 4. Kapitels des ersten Buches der Bibel mit den Worten: „Und Adam erkannte Eva und Eva wurde schwanger.“ Mit anderen Worten: Erkennen vollzieht sich leiblich und führt zu deutlich spürbaren, gravierenden Folgen, im vorliegenden Fall zu einer Gravidität.

Wenn in unserem Fall ebenfalls der angekündigte Vortrag dazu führen wird, dass wir danach mit neuen Ideen schwanger gehen werden, die dann, so steht zu hoffen, nicht als Totgeburt zur Welt gebracht werden werden, dann wird der „one-evening-stand“ fruchtbar.

Indem ich somit einen „Erkenntniszeugungsakt“ ankündige und das „genetische Material“ oben in Umrissen beschrieben habe, ziehe ich mich zugleich geschickt aus der Affäre, überlasse ich doch, wie ein treuloser Liebhaber, die Verantwortung für die Geburt und die Erziehung des Kindes der Mutter allein, also dem Vortragspublikum. Dem schmerzhaften Prozess der Erziehung des Erkannten geht jedoch die Nacht des Erkennens und dieser der romantische Prozess des Kennen lernens voraus, welcher die mögliche spätere Enttäuschung im Nachhinein noch in ein rosiges Licht zu tauchen vermag.

Die Bekanntschaft mit den Inhalten des Vortrags beginnt an dieser Stelle. Mehr über das, was unser gemeinsames Erlebnis, unsere gemeinsame Erkenntnis werden kann, wird hier noch nicht verraten. Da ich mich jedoch als treuloser Verräter und flüchtiger Liebhaber angekündigt habe, der zu Beginn Süßholz raspelt und am bitteren Ende täuscht, will ich dieser Rolle insofern gerecht werden, als ich flirtend zum Liebesspiel lockend, eine Geschichte erzählen will. Diese Geschichte ist der Beginn einer Romanze, wenn sie finden, dass es die Mühen und Risiken lohnt. Es ist die Geschichte von einem Standpunkt, der zum „springenden Punkt“ wird.

Die Geschichte steht bei Platon (427-347 v.Chr.), dem Urahn der europäischen Philosophie. Sie werden sich fragen, was Platon mit Reich gemein hat und mit dem, was Kinder heute brauchen und ob ich jeden Vortrag über Pädagogik mit einem geschichtlichen Abriss der letzten 3000 Jahre beginne. Keine Sorge, wir werden von Platon aus mitten in die Not von heute springen, die Reich voraussah.

Platons Lehrer war Sokrates (469-399 v.Chr.). Er ist die Hauptfigur der vielen Dialoge, in denen Platon seine Philosophie entwickelte, die er in der von ihm im Akazienwald (griechisch: akademos) vor Athen gegründeten Schule lehrte. Dank Platon nennen wir Gebildeten uns noch heute „Akademiker“ und lassen uns von seinem Denken seit 2500 Jahren so stark beeinflussen, dass der Britische Philosoph Alfred N. Whitehead (1861-1947) unwidersprochen schreiben konnte: „Die gesamte abendländische Philosophie ist nichts anderes als eine Fußnote zu Platon.“

In seinem Dialog „Symposion“ erzählt Platon, wie sich sein Lehrer Sokrates mit sechs Freunden beim Wein über das Wesen der Liebe unterhält. Sokrates muss man sich in dieser Szene als einen glatzköpfigen Mittfünfziger mit plumper Nase nebst angrenzenden Warzen und beträchtlicher Wampe vorstellen. In die reife Herrenrunde, die dem Wein schon beträchtlich zugesprochen hat, platzt der junge Alkibiades, ein Sonnyboy mit Starallüren, Politiker und Dressman in einem, der, als er hört, wovon die Rede ist, sich niederlässt und sich auch nicht entblödet, wie heute ein Talkshowgast, der neugierigen Corona sein Liebeserlebnis mit Sokrates zum Besten zu geben.

Alkibiades nämlich ist schwul. Aus unerfindlichen Gründen hatte er ein Auge auf Sokrates geworfen und wollte ihn zu einer Liebesnacht verführen. Dazu lud er ihn zu sich nach Hause ein, füllte ihn tüchtig mit Mavrodaphne und Samos ab, schickte die Diener heim, löschte die Kerzen bis auf wenige und bat Sokrates, da es doch schon spät geworden sei, über Nacht zu bleiben. Bequem auf Sofas zu Tische liegend und weiter zechend plauderten sie über dies und das, bis Alkibiades schließlich, wie Jugendliche heute sagen würden, die „Baggerschaufel ausfuhr“. Er sei, so ließ Alkibiades sich laut Platons Bericht vernehmen, doch als der mit Abstand schönste Mann Athens bekannt, mit prächtigen Muskeln und sämtlichen sonstigen attraktiven Attributen der Männlichkeit, während Sokrates, so schmeichelte er ihm, über die schönste Seele verfüge.

Sei es da nicht verlockend, wenn sich ihrer beider je verschiedener Schönheit miteinander tauschen würden? Würde er, Sokrates, es nicht genießen, mit einem so hübschen Mann wie Alkibiades das Lager zu teilen? Ob er nicht zu ihm unter die Decke schlüpfen dürfe? Sokrates zeigte sich nicht abgeneigt und – gesagt, getan! – wechselte Alkibiades auf das Sofa des Sokrates. In inniger Umarmung beisammen liegend wollte Alkibiades mit dem Austausch von Zärtlichkeiten beginnen, als Sokrates ihn unterbrach: ob er, Sokrates nicht bei diesem Tausch von Schönheit zu kurz käme? Denn die Schönheit des Körpers sei doch vergänglich, die der Seele aber ewig, er werde also unsterbliche Schönheit gegen eine vergängliche tauschen, somit ein recht schlechtes Geschäft machen.

Aus dieser Frage entspinnt sich dann ein Dialog zwischen Alkibiades und Sokrates über die Unsterblichkeit der Seele, das Verhältnis von Leib und Seele und die Abstufungen der Schönheit und der Liebe. Die rein geistige Liebe, seither auch als „platonische Liebe“ bekannt, sei, so beweist Sokrates seinem gelehrigen Schüler im Morgengrauen, doch die höchste und allein anzustrebende Form der Liebe. So sprachen sie, berichtet Platon, wie Bruder bei Bruder nah beisammen liegend, aber ohne jede sexuelle Handlung, bis Alkibiades einschlief, Sokrates hingegen aufstand, sich wusch und zu seinem Tagwerk ging.

An anderer Stelle im „Symposion“ definiert Sokrates das Wesen der Liebe als das „Begehren, im Schönen zu zeugen“. In der Liebe streben die Menschen nach Unsterblichkeit. Daher sind sie um ihre Schönheit besorgt, stylen sich und besuchen Wellness-Farmen, trainieren ihre Muskeln, färben sich die Haare, piercen und tätowieren sich, weil sie sich erhoffen, dadurch für andere Menschen attraktiv zu werden. Wenn sich die Schönen dann gefunden haben, so Platon, heiraten sie und zeugen möglichst schöne Kinder, die weiterleben, wenn die Schönen, die sich in Bälde wohl auch klonen lassen können, schon gestorben sind.

Der geistig fortgeschrittene Mensch, so führt Platon weiter aus, dagegen strebt nach Höherem: ihm ist nicht an körperlicher Schönheit und Unsterblichkeit gelegen, somit auch nicht am körperlichen Akt, sondern er will sein Zeugungswerk in den schönen Seelen vollbringen, und zwar, indem er lehrt und Bücher schreibt, die langlebiger sind als jeder Mensch. Betrachtet man Platon selbst, der kinderlos und unverheiratet war, aber sechs Bände Philosophie ver-fasste, die die Jahrtausende überdauerten, so kann man nicht umhin, an seiner Theorie etwas Wahres zu finden. Die ganze Wahrheit freilich nicht.

Warum erzähle ich hier, als Einleitung zu einem Vortrag über Reichianische Pädagogik, diese Geschichte?

Diese Geschichte ist in akademischen Kreisen sehr bekannt und vielfach analysiert worden. In allen mir bekannten Interpretationen wird ausführlich auf die verschiedenen philosophischen Inhalte, die Gegenstand dieser Erzählung sind, eingegangen. So etwa auf die anthropologische Thematik des Leib-Seele-Verhältnisses, die metaphysischen Spekulationen über Zeit und Ewigkeit, die ästhetische Theorie vom Stufenbau des Schönen, die ethische Frage nach dem Wert der Sexualität und der Liebe, der Sinnlichkeit im Verhältnis zur Geistigkeit, der Natur im Bezug zur Kultur. Diese Geschichte enthält jedoch auch eine pädagogische, meines Erachtens noch ganz unentdeckte Perle, nämlich eine Theorie über das, was Kinder brauchen.- Und zwar von Erwachsenen, Lehrern und Eltern, brauchen.

In dieser Geschichte ist der um 30 Jahre jüngere Alkibiades der Schüler, Sokrates der Lehrer. Lässt man einmal die homoerotische Nuance beiseite und fragt nach dem, was Alkibiades bei Sokrates in erster Linie suchte, so heißt die Antwort: größtmögliche Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, Berührung vom „Eindringen in den Lehrer“.

Was sucht der Lehrer bei seinem Schüler? Er will „in der schönen Seele zeugen“, einem Impuls folgen, den Goethe in die Worte gekleidet hat: „Warum sucht´ ich den Weg so sehnsuchtsvoll, wenn ich ihn nicht den Anderen zeigen soll?“ Er will die Seele seines Schülers mit einer Erkenntnis befruchten. Worin besteht diese Erkenntnis und das darauf folgende Schwangergehen mit einer neuen Idee? In dieser Geschichte vorrangig darin, dem ersten Augenschein zu mißtrauen.

Die Liebesnacht, die Alkibiades Sokrates anbietet – nur nebenbei: die Männer- und Knabenliebe war im antiken Griechenland kein Tabu, sondern ein Kulturgut –, scheint auf den ersten Blick nur Positives zu bieten: Alkibiades die Erfüllung seines Begehrens, Sokrates die Selbstbestätigung, als hässlicher und alternder Mann von einem so schönen Jüngling verführt zu werden. Sokrates scheint indessen mehr Selbstbestätigung darin zu finden, sich als der geistig Überlegene zu zeigen und seinen Schüler die Skepsis zu lehren, die kein anderer ihn auf diese Weise lehren wird. Aber lernt Alkibiades etwas? Wird er nicht vielmehr enttäuscht, abgewiesen, abgespeist? Ist Unterricht somit nicht Kompensation für unerfüllte Libido?

Darüber hinaus gefragt: ist das, was Alkibiades in der Begegnung mit seinem Lehrer erfährt überhaupt wertvoll? Enthält diese Begegnung Elemente einer lebensnahen Pädagogik, wie Reich, der enthusiastische Verteidiger der Nähe zum Leben, des Lebens aus der Nähe zu sich selbst und damit zu den Mitmenschen und der Natur, sie forderte? Würde ein junger Mensch, auch in Reichs Augen, auch in unseren Augen, das bekommen, was er braucht, wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Jugendlichen, so gestaltet würde, wie Sokrates seine „Nacht der Erkenntnis“ mit Alkibiades gestaltete?

Ich meine: Ja. Das Kind, der junge Mensch, der Schüler kann als pädagogische Quintessenz der von Platon erzählten Geschichte meines Erachtens von einem Lehrer, der wie Sokrates handeln und ihn nicht als Pädagoge oder Psychologe behandeln würde, folgendes lernen:

1.) Die Liebe zum Lehrer; es ist in unserer Zeit und besonders in unserer westlichen Kultur das Wissen darum, dass Erziehung in erster Linie Beziehung ist, sehr geschwunden, wenn nicht gar verloren gegangen. Aristoteles (384-322 v.Chr.), der Schüler Platons, schickte einmal einen Schüler weg mit den Worten: „Ihn kann ich nichts lehren, denn er liebt mich nicht.“ Liebe ist ein sehr starkes Wort. Wir sind nicht oder nicht mehr gewohnt, dieses Wort in Zusammenhang mit Schule zu gebrauchen, geschweige denn, wie Platon dies tat, vom „pädagogischen Eros“ zu reden.

Und doch ist, nach Wilhelm Reich, die Liebe die erste Quelle unseres Lebens. Wir werden uns fragen wollen, was Liebe denn wirklich ist, wie sie in der Beziehung zwischen Heranwachsenden und Eltern oder Lehrern wirkt. Nicht unwichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Reich den Hass nichts anderes als „gefrorene Liebe“ genannt hat. Liebe ist auch nicht von Ehrlichkeit, Redlichkeit, Aufrichtigkeit zu trennen.

Sokrates wie Alkibiades erwiesen sich in der Ehrlichkeit und Redlichkeit ihres Umganges miteinander als vorbildlich, auch für uns heute. Alkibiades lernte vom „Vorbild“ Sokrates und konnte sich so ein Bild von sich selbst machen, ohne sich etwas einzubilden, wie er es im Blick auf seine Schönheit getan hatte. Der Philosoph Ludwig Marcuse (1894-1971) hat das Lernen durch das geliebte Vorbild in folgende Worte gekleidet: „Ich glaube an die Macht des Vorbildes, des ganz individuellen und sehr sterblichen Ideals; an den beispielgebenden Einzelnen, den man in früheren Zeiten einen Helden nannte.

Ich glaube, dass man in unseren Zeiten sich der Pflicht, musterhaft zu sein, entzieht mit der Ausrede, es gilt den Führern zu entgehen und die Institutionen zu verbessern. Man soll das nur tun; doch werden sie niemanden zur Selbstständigkeit erziehen, zum Mut, zu denken, was man denkt, zu fühlen, was man fühlt, zu wollen, was man will. Der beste Weg zum Selbst ist die Faszination durch ein anderes Selbst; die lebende Illustration, wie einer sich traut, er zu sein.“ (in; Mein zwanzigstes Jahrhundert, München 1960/ Diogenes-tb, Zürich 1975, S.25).

2.) Die Liebe zur Sache; nicht umsonst hat Wilhelm Reich die Arbeit und das Wissen nach der Liebe in der Aufzählung der Quellen unseres Lebens genannt. Indem Alkibiades den Sokrates liebte, war er bereit, sich auf das Thema, die Sache einzulassen, die der Lehrer ihm vorstellte; das Verhältnis von Leib und Seele, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Schönheit und Wahrheit. Die Konzentration auf diese Sache fand in entspannter, ruhiger Haltung statt; im Liegen, in der Stille der Nacht, im wechselseitigen, aufmerksamen Gespräch.

Kann die Liebe zur Sache sich unter unseren Lebensbedingungen heute so entfalten: in der Hektik des Alltags, von Termin zu Termin hetzend, unter den permanenten und in meinen Augen lebensfeindlichen Reizattacken durch Fernsehen, Play-Stations, Musikberieselung, Handy-Klingeln?

Kann die Liebe zur Sache sich bei Jugendlichen in einem Unterricht entfalten, der durch Pausengong, ständige Leistungskontrollen und den didaktisch geforderten Medienwechsel geprägt ist? Ist eine andere Form von Unterricht, in kleinen Lerngruppen und mit dem ruhigen, sachlichen Gespräch als einzigem didaktischen Medium elitär oder lebensfremd? Das Lernen des Alkibiades macht uns diese Fragen fragwürdig.

3.) Frustrationstoleranz; mit diesem Wortungetüm spreche ich einen Sachverhalt an, der in unserer Zeit notwendiger scheint denn je. Viele Jugendliche ertragen heute, im Zeitalter des grenzenlosen Konsums, der sofortigen Bedürfnisbefriedigung, des von der Werbung geförderten Suchtverhaltens, die Enttäuschung, das nicht zu bekommen, was man haben will, nur schwer. Alkibiades erhält das, was er von Sokrates will, die Befriedigung seines sexuellen Begehrens, durchaus nicht.

Auch wir werden als Eltern oder Erzieher nicht immer geneigt und in vielen Fällen auch gar nicht fähig sein, alle Wünsche unserer Sprößlinge zu erfüllen. Die Enttäuschung als das Ende der Täuschung und damit als Beginn von Wahrhaftigkeit im Umgang mit den Realitäten des Lebens zu erfahren ist gleichfalls etwas, was wir aus dem Verhalten des Alkibiades lernen können. Kinder brauchen diese Frustrationstoleranz, wenn sie nicht zu narzisstisch deformierten Charakteren werden sollen oder in kompensierendes Suchtverhalten flüchten müssen.

Lernen und lehren bedingen sich gegenseitig. Eltern, die nicht auch von ihren Kindern lernen, Lehrer, die sich nicht auch von ihren Schülern belehren lassen, versäumen es in meinen Augen in hohem Maße, den pädagogischen Prozess lebendig und vollständig zu gestalten.- Was lernt der Erwachsene aus der Geschichte von Sokrates und Alkibiades?

1.) Die Liebe zum Schüler; sie geht einher mit Einfühlungsvermögen und zeigt sich in der persönlichen Zuwendung, in der Bereitschaft zur Verantwortung, der Selbstverpflichtung, dem Wort des Jüngeren die Antwort nicht zu versagen. Sokrates geht auf den Wunsch des Alkibiades ein, sich mit ihm einzulassen, weil er die Stärke der Sehnsucht des Schülers nach Schönheit, die nach Platon untrennbar mit Wahrheit und Güte verbunden ist, fühlt. Es ist dieser starke Wesenskern eines jeden Menschen, die lebendige Energie des Jugendlichen, die Sokrates spürt, ernst nimmt und annimmt.

Reich sagt in seiner „Rede an den kleinen Mann“ nur der könne Lehrer sein und die Sexualität der Jugendlichen korrekt handhaben, der selbst erfahren habe, was Liebe ist. Ein Lehrer, ein Vater oder eine Mutter vermag nur dann mit der überschäumenden Lebenslust eines Jugendlichen, eines Kindes gut umzugehen, die Flamme des Lebens zu nähren statt sie zu ersticken, wenn er oder sie selbst beständig aus diesem Licht heraus, aus dieser wärmenden Liebe zum Leben, zur Natur, zu Gott, zu sich selbst lebt. Sokrates sah in seinem „pädagogischen Eros“ den Sinn, den Auftrag seines Lebens.- Tun wir das auch?

2.) Nähe zulassen, Bindung schaffen; viele Jugendliche unserer Zeit erfahren, das erlebe ich tagtäglich, selbst in ihren Familien, durch ihre Eltern und Geschwister, wenig Zärtlichkeit, körperliche Berührung oder Umarmung. Oft schrecken sie davor zurück; die Küßchen, die sie sich zuhauchen, geschehen in aller Regel unter völliger Zurücknahme des Körpers unterhalb des Kehlkopfes. Liebevolles, sich gegenseitig bergendes Umarmen, sich auch körperlich angenommen und nicht nur angegriffen fühlen, das kennen viele Jugendliche aus ihren Familien nicht.

Ein Lehrer gar, der es wagen würde, aus offener, warmherziger Zuneigung heraus, nicht, weil er sexuelle Frustration oder emotionale Bedürftigkeit kompensieren muss, einen Schüler zu umarmen, gar mit ihm unter einer Decke zu liegen, müsste zumindest mit scheelen Blicken, wenn nicht mit einem Disziplinarverfahren rechnen. Und doch schafft nichts eine solche geistige Bindung wie körperliche Nähe. Das Verhalten des Sokrates dem Alkibidiades gegenüber im Zulassen dieser Nähe ist der Punkt der Geschichte, die mich selbst am stärksten beeindruckt hat.

3.) Grenzen setzen, in Freiheit lassen; obwohl Sokrates sich auf die größtmögliche Nähe mit Alkibiades einlässt, mit ihm umarmt unter einer Decke auf einem Sofa liegt, setzt der ganz exakt die Grenze an dem Punkt, an dem er nicht mehr weitergehen will. Sokrates ist bereit, seinen Schüler als seinen Bruder, als sein Kind anzunehmen und ihm in dieser Weise zärtlich zu begegnen; sexuell missbrauchen will er nicht.

Er klammert auch d u r c h a u s n i c h t , nachdem sie gemeinsam um Erkenntnis gerungen, sich in Liebe Erkenntnis geschenkt haben, weiter an seinem Schüler: nach dem Gespräch, aus dem beide bereichert herausgehen, gehen sie wieder ihrer Wege. Von Khalil Gibran stammt das schöne Wort: Eltern sollten kleine Kinder umhegen wie Bäume, große wie Vögel. Bäume brauchen Wurzeln, Vögel brauchen Flügel. Leben entfaltet sich in diesem Wechsel aus Festhalten und Loslassen. Sich an ein Kind zu binden, ohne es zu fesseln, es in Freiheit zu lassen ohne es zu verlassen, das ist eine Kunst, die Sokrates uns vorlebt und die wir alle nicht genug üben können, jeden Tag neu.

Ist es mir gelungen? Habe ich den Lesern und Leserinnen der Bukumatula mir diesen Bemerkungen über das, was Kinder brauchen, mitgegeben, was sie brauchen können, im täglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Ist die Geschichte, die Platon vor 2500 Jahren erzählte, für uns heute noch brauchbar? Habe ich die Geschichte deutlich genug mit den Augen Reichs gesehen, ergriffen und begriffen? Ist der Standpunkt Platons ein Ausgangspunkt für unseren Weg mit Wilhelm Reich? Bin ich mit der Verknüpfung von Platon, Reich und den pädagogischen Standpunkten unserer Zeit nur von einem Punkt zum anderen gesprungen und habe mich damit als sprunghafter Vagabund auf vielen Wegen verwiesen, statt methodisch – methodos bedeutet im Griechischen: mit dem (richtigen) Weg – vorzugehen oder habe ich einen „springenden Punkt“ entdeckt, mit dem wir weitergehen können? Darüber nach – zu – denken und damit Fortschritte zu machen, lade ich alle, die können und wollen, sehr herzlich zum Vortrag am 16. April ins Amerlinghaus ein.

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Der Autor dieses Artikels – und Referent am 16.04.2003 zum Thema: „Was Kinder brauchen! Anmerkungen zu einer Pädagogik nach Wilhelm Reich“ – ist Lehrer für Philosophie, Latein und Geschichte an der HEBO-Privatschule Bonn, einer Schule, die sich in besonderer Weise der Jugendlichen mit einer ADHS-Symptomatik (Aufmerksamkeitsdefizit-und-Hyperkinese-Syndrom) angenommen hat, sowie Dozent am KinderCollege Neuwied/Rhein, einer vom Land Rheinland-Pfalz geförderten Institution zur Förderung hochbegabter Kinder.

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    Bukumatula 1/2003

    Kinderglück

    Die Ursache des modernen Narzissmus?
    Jean Liedloff über die „nicht gegnerische Erziehung“
    Dario Lindes:

    Mich beschäftigt (um nicht zu sagen „quält“) schon seit Jahren die Frage, woher denn dieser rapid zunehmende Narzissmus in unserer heutigen Gesellschaft, vor allem unter den Jugendlichen, kommt. Ich suchte immer wieder nach Begründungen und wälzte laienhaft diverse psychologische Erklärungen darüber in meinem Kopf hin und her, aber bisher leider immer ohne nennenswerten Erfolg. Keines der von der Schulpsychologie angebotenen, meist eher zu theoretisch verkopften Erklärungsmodelle konnte mich bislang wirklich überzeugen.

    Auf meiner langen Odyssee der Ursachenforschung stieß ich vor einiger Zeit zufällig auf einen Artikel in einer deutschen Alternativ-Zeitschrift, der mir nähere Aufklärung über dieses verheerende Syndrom unserer modernen Zivilisationsgesellschaft versprach und mir die Augen bezüglich dieser Entwicklung ein Stück weit öffnete. Er liefert natürlich auch nicht die ultimative Begründung, aber für mich trug er als zusätzliches Mosaiksteinchen viel zum Verständnis dieser zeit-geistigen Entwicklung und ihrer Ursachen bei. So will ich den BUKUMATULA-Lesern diesen kurzen Essay über Kindererziehung nicht vorenthalten. Er stammt von der amerikanischen Publizistin und Therapeutin JEAN LIEDLOFF, der Autorin des Bestseller-Buches „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“. (Prädikat: AUSSER-ORDENTLICH EMPFEHLENSWERT – unbedingt lesen!)

    WER HAT DIE KONTROLLE?

    Die unglücklichen Konsequenzen einer falschen Kinderzentriertheit oder: die „nicht gegnerische Beziehung“

    Ich habe mehr als zwei Jahre damit verbracht, in den Urwäldern Südamerikas mit Steinzeit-Indianern zu leben. Es brauchte einige Zeit, bevor mir die Tragweite von dem, was ich vor mir sah, in meine „zivilisierte“ Denkweise einsickerte: es wurde mir erst nach meiner vierten oder fünften Expedition bewusst, dass ich nie eine Auseinandersetzung zwischen den Kindern oder zwischen einem Kind und einem Erwachsenen gesehen hatte. Nicht nur, dass sich die Kinder nie schlugen, sie stritten auch nicht einmal. Sie folgten den Erwachsenen unverzüglich und freudig und trugen oft Babys mit sich herum, während sie spielten oder bei der Arbeit mithalfen.

    Wo war das Trotzalter, die ach so schwierige Pubertät? Wo waren die Temperamentsausbrüche, die Renitenz der Jugendlichen, die ständigen Streitereien „um den eigenen Willen“, die wir bei unseren Kindern als „normal“ bezeichnen? Wo war dieses Herumnörgeln, die Disziplinlosigkeit, die „Grenzen“, die gebraucht würden, um ihre Andersartigkeit zu zügeln? Wo war das Schuldzuweisen, das Strafen – oder auch um der Vollständigkeit willen: wo war irgendein Anzeichen von Nachgiebigkeit?

    Ich hörte viel Schreien und viel Lachen, wenn z. B. die Burschen draußen spielten – doch sobald sie in der Hütte waren, dämpften sie ihre Stimmen, um die herrschende Ruhe nicht zu stören. Sie unter-brachen nie ein Gespräch von Erwachsenen. In Wirklichkeit sprachen sie fast gar nichts in der Gegenwart von Erwachsenen, sie beschränkten sich aufs Zuhören oder auf kleinere Dienste wie das Herumreichen von Speisen und Getränken. Weit entfernt von Disziplinierung oder Unterdrückung für ein gefälliges Benehmen sind diese kleinen „Engel“ entspannt und voller Freude. Und sie wachsen heran, um glückliche, selbstsichere und gemeinschaftsorientierte Wesen zu werden. Wie machen sie das? Was wissen die Yequana über die menschliche Natur, was wir nicht wissen?

    Was können wir tun, um eine „nicht gegnerische Beziehung“ mit unseren Kindern zu erreichen?

    In meiner privaten Praxis konsultieren mich viele Leute, um die zer-störerischen Auswirkungen ihrer in der Kindheit geformten Einstellungen zu sich selbst und zu anderen zu überwinden. Viele davon sind selbst Eltern und peinlichst darauf erpicht, ihre Sprösslinge nicht denselben seelischen Misshandlungen und Fehlern auszusetzen, welche sie unter den Händen ihrer eigenen, meist gutmeinenden Eltern erlitten haben.

    Die meisten dieser Eltern haben meinen – dem Yequana-Beispiel folgenden – Rat angenommen und pflegen bei Tag und Nacht einen engen körperlichen Kontakt mit ihren Babys, bis diese zu krabbeln beginnen. Manche jedoch sind überrascht und erstaunt, wenn sie dann erleben müssen, dass ihre Kleinen dann „fordernd“ oder gar zornig werden – nicht selten gerade jenem Elternteil gegenüber, der sich am meisten um sie sorgt. Selbst noch so viel Zuwendung und Selbstaufopferung verbessern nicht die Einstellung des Babys oder den Frust der Eltern. Warum machen dann die Yequana nicht die gleichen Erfahrungen wie wir?

    Der springende Punkt ist: Die Yequana sind nicht kindzentriert! Sie mögen gelegentlich ihre Babys voll Zuwendung drücken, hätscheln, mit ihnen „Guckguck – Tschatschatscha“ spielen oder ihnen etwas vorsingen, doch die meiste Zeit verbringt die Bezugsperson damit, auf etwas anderes Acht zu geben… nicht auf das Kind! Auch andere Kinder, die sich um die Babys kümmern, betrachten dieses Kinderhüten als Nicht-Aktivität – obwohl sie die Kleinen überall mit sich herumtragen, geben sie ihnen nur selten direkte Aufmerksamkeit oder Zuwendung. Somit befinden sich Yequana-Babys inmitten jener Aktivitäten eingebunden, von denen sie später einmal ein Teil sein werden, während sie ganz normal die Stadien des Kriechens, Krabbelns, Gehens und Sprechens durchlaufen.

    Dadurch, dass wir mit ihnen ständig spielen, sprechen oder sie den ganzen Tag beachten und bewundern, entziehen wir „Zivilisierten“ unseren Babys diese „Auf-dem-Arm-Betrachter-Phase“, die so wichtig für sie wäre.

    Unfähig zu sagen, was es braucht, handelt das Kind dann aus einer allgemeinen Unzufriedenheit heraus. Es versucht ständig, die Aufmerksamkeit der Bezugsperson zu erlangen. Und hier liegt der Grund für diese verständliche Verwirrung: seine Absicht ist nämlich, die Bezugsperson dazu zu bringen, seine unbefriedigende Lage zu verändern, indem sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten mit Selbstsicherheit kümmert, ohne scheinbar um seine Erlaubnis zu bitten. Sobald dieser Zustand korrigiert ist, kann das aufmerksamkeits-erregende Verhalten aufhören, welches wir fälschlicherweise für einen permanenten Antrieb halten. Und das selbe Prinzip lässt sich auch auf die Stadien anwenden, die der Auf-dem-Arm-Halten-Phase folgen.

    Ein Beispiel aus meiner Praxis: Als einmal eine hingebungsvolle Mutter der amerikanischen Ostküste zu mir kam, war sie fast mit ihren Nerven am Ende. Sie führte regelrecht Krieg mit ihrem über alles geliebten dreijährigen Sohn, der sie öfters stieß, manchmal sogar schlug und boxte und sie mit „Halt’s Maul“ und anderen aggressiven Ausdrücken von Wut und Respektlosigkeit beschimpfte. Sie versuchte es über den Weg der Vernunft, indem sie ihn fragte, was sie denn für ihn noch tun könne. Sie „bestach“ ihn mit permanenter Zuwendung und Geschenken, und sie redete liebevoll auf ihn ein, so lange sie das noch konnte, bevor sie ihre Geduld verlor und ihn anschrie.

    Daraufhin wurde sie von massiven Schuldgefühlen übermannt, und sie versuchte es mit Entschuldigungen, Erklärungen, Umarmungen, Küssen oder sonstigen Belohnungen wieder gut zu machen, um ihre Liebe unter Beweis zu stellen – woraufhin ihr „kostbarer, kleiner Schatz“ mit neuen, noch ungezügelteren Forderungen daherkam. Manchmal beendete sie den Versuch, ihm alles recht zu machen und ging wortlos ihren eigenen Beschäftigungen nach, trotz seines Heulens oder Protestierens.

    Wenn sie das letztendlich lang genug durchgehalten hatte und der Kleine aufgab sie zu kontrollieren und sich wieder beruhigte, dann schaute er zu ihr auf mit seinen dahinschmelzend schönen Kulleraugen und sagte: „Mama, ich liebe dich“. Und sie, in ihrer Dankbarkeit über die momentane Erlösung von der Schuld, fraß ihm bald wieder aus seiner kindlichen marmeladebekleckerten Hand. Er spielte sich herrisch auf, wurde zornig und grob, und das ganze nervtötende Szenario wiederholte sich von neuem.

    Ich höre immer wieder viele ähnliche Geschichten von Klienten aus den USA, Kanada, Deutschland und England. Diese Schwierigkeiten sind gerade unter den höchstgebildeten und bestmeinenden Eltern der westlichen Welt weit verbreitet. Sie quälen sich mit Kindern herum, die scheinbar danach streben, ihre Eltern unter Kontrolle zu bekommen, welche ihnen alle ihre Launen nachsehen.

    Was von unserer menschlichen Natur haben wir falsch verstanden?

    Was können wir unternehmen, um uns jener Harmonie anzunähern, welche nicht nur die Yequana, sondern auch die Bewohner Balis und anderer Südseeinseln sowie zahlreiche andere Völker außerhalb unseres westlichen „zivilisierten“ Kulturkreises mit ihren Kindern leben? Es scheint, dass viele Eltern von Kleinkindern in ihrem Bemühen, ja nicht zu nachlässig oder lieblos zu sein, in die entgegengesetzte Richtung übers Ziel hinausschießen.

    Wie undankbare Märtyrer der „Auf-dem-Arm-Halte-Phase“ fixieren sie sich ganz auf ihre Kinder, anstatt sich wie selbstverständlich mit Erwachsenenaktivitäten zu beschäftigen, welche die Kinder beobachten, imitieren und bei denen sie mithelfen können, so wie es ihrem natürlichen Drang entspricht.Anders ausgedrückt: weil ein Kleinkind erlernen möchte, was seine erwachsenen Leute tun, möchte es seine Aufmerksamkeit auf einen Erwachsenen fokussieren können, der wiederum allein auf seine eigenen Angelegenheiten ausgerichtet ist.

    Eine Mutter, die unterbricht, was sie gerade macht, um herauszufinden, was ihr Kind in dem Augenblick von ihr will, verursacht einen Kurzschluss dieser Erwartungshaltung. Sie erscheint dem Kleinkind als jemand, der nicht weiß, wie er sich verhalten soll, als jemand, dem Selbstvertrauen fehlt – und noch alarmierender: als jemand, der Führung von ihm, dem Zwei- oder Drei-jährigen erwartet. Die ziemlich vorhersehbare Reaktion eines Kleinkindes auf die elterliche Unsicherheit: es bringt seine Eltern noch weiter aus der Balance und testet aus, ob es eine Grenze gibt, bei der diese standhaft bleiben. An dieser Grenze kann es dann all seine Ängste über die Zuständigkeit der Verantwortung ablegen.

    Ein Kind wird fortfahren, die Wände zu beschmieren, nachdem die Mutter es inständigst gebeten hat, damit aufzuhören – allerdings in einem solch entschuldigenden Tonfall, der schon ahnen lässt, dass sie nicht im mindesten daran glaubt, dass es ihrer Bitte auch tatsächlich Folge leisten wird. Wenn sie dann dem Kind die Buntstifte wegnimmt, während sie die ganze Zeit ihre Angst vor der Wut zeigt, dann erfüllt es ihre Erwartungen und stürzt sich in einen Wutausbruch.

    Falls sie seinen Zorn dann falsch versteht und noch verbissener versucht, weiter festzustellen, was ihr Kind denn wirklich will, es bittet, erklärt und es noch verzweifelter besänftigen will, wird das Kind dazu angestiftet, noch unerhörtere und unakzeptablere Forderungen zu stellen. Das muss es so lange fortsetzen, bis die Mutter letztendlich wieder die Führung übernommen hat und die Ordnung wieder hergestellt ist.

    Weil aber seine Mutter nun zu dem Punkt gelangt ist, wo wieder Schuldgefühle und Zweifel über ihre Fähigkeiten in ihrem zitternden Kopf zum Durchbruch kommen, mag es noch immer keine ruhige, selbstbewusste und verlässliche Autoritätsfigur haben. Nichts desto trotz hat das Kind die geringfügige Sicherheit, im Fall des Falles von der Bürde der Verantwortung und von seinem verzweifelten Gefühl entlastet zu sein, nämlich dem, dass es aus irgendeinem Grund wissen sollte, was sie tun soll.

    Kurz gesagt: das Kind sucht die Gewissheit, dass der Erwachsene weiß, was er tut!

    Kein Kind würde im Ernst davon träumen, die Initiative einem Erwachsenen abzunehmen. Sobald das Kind jedoch spürt, dass es die Kontrolle übernommen hat, wird es verwirrt und ängstlich und muss sein Verhalten bis ins Extreme ausweiten, um so den Erwachsenen zu veranlassen, die Führungsrolle wieder an sich zu reißen – dort, wo sie auch hingehört. Sobald das verstanden ist, verschwindet auch die Angst der Eltern, dem Kind etwas aufzuzwingen, und sie können verstehen, dass es keinen Grund zu irgendeiner Feindseligkeit gibt. Indem sie die Kontrolle bei sich behalten, erfüllen sie eher die Bedürfnisse ihres geliebten Kindes, als dass sie gegen diese verstoßen.

    Meine Ostküsten-Klientin im oben genannten Beispiel brauchte eine Woche, bis sie die ersten Ergebnisse dieser neuen Einstellung beobachten konnte. Heute sind sie und ihr Mann, so wie viele meiner ähnlich gelagerten Fälle, aus eigener Erfahrung glücklich davon überzeugt, dass Kinder absolut nicht auf Gegensätzlichkeit und Widerspruch eingestellt sind, sondern von Natur aus sehr sozial. Indem wir von ihnen erwarten, dass sie sozial sind, erlauben wir ihnen auch, sozial zu sein. Weil das Kind bei den Eltern die Erwartung eines sozialen Verhaltens wahrnimmt, erfüllt es auch diese Erwartungen. So funktioniert das.
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    Jean Liedloff, amerikanische Schriftstellerin, lebte zwei Jahre im Dschungel Venezuelas bei den Yequana-Indianern. Sie gab von 1968 bis 1970 die Zeitschrift „The Ecologist“ heraus. Heute lebt sie als Publizistin und Therapeutin in Sausalito/Kalifornien. Sie hält zudem Vorlesungen und Seminare über ihre Arbeit mit Erwachsenen und über „nicht-gegnerische Kindererziehung“.

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    Bukumatula 1/2003

    Was sucht der Mensch in der Psychotherapie

    Persönlicher Nach-Klang einer Podiumsveranstaltung des Wilhelm Reich Instituts.
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Da war ich wieder wie zu Anfang der achtziger Jahre – damals bei den Wilhelm Reich Tagen – im Amerlinghaus. Ein Déja-vu. Und genauso wie damals strömten Menschen unaufhörlich in den Raum, Sitzplätze wurden geortet, Menschen standen in allen Ecken – es war „gesteckt voll“ wie man so schön sagt. Nein das ist kein Witz, wie die interessierten Buk-LeserInnen glauben mögen, es waren an die 120 Menschen hierher gekommen, um …

    Da sind wir schon bei der zentralen Frage:

    Was suchte der Diskussions-Besucher-Mensch am 13. Februar 2003 im Amerlinghaus?

    Die Ausschreibung – veröffentlicht auch in der letzten BukAusgabe ließ vieles offen und erregte gleich einmal meinen Ärger. Da wird alles Plakative hervorgekramt, was zugkräftig zu sein scheint und vielleicht auch war. Dario Lindes prangert die „Geschäftemacherei“, „die unkritische Haltung der eigenen Zunft“, „die unrealistische Heilsversprechungen“ gegenüber dem „ahnungslosen, gutgläubigen Klientel“ ebenso an wie auch die „gegenseitigen Ausgrenzungen bis zu gezielten Verleumdungen“ von PsychotherapeutInnen.

    Wovon spricht er?

    Ganz in diesem Sinne war das Podium pointiert besetzt – da fand sich mit Johann Klotzinger der konsequente Therapie-Warner, mit Dr. Eva Mückstein, der Vizepräsidentin des Dachverbandes eine Vertreterin von PsychotherapeutInnen, Alfred Zopf als WRI-Therapeut, mehr jedoch in der Rollen-Besetzung des sozialkritischen Aufdeckers, dann Dr.Dr. Alfred Kirchmayr, Theologe und Adlerianischer Psychotherapeut mit Kenntnissen der Reich´schen Lehre und dann natürlich er – Hermes Phettberg, den man, wie Dario Lindes in der Eingangsrunde sagte, nicht vorzustellen braucht. Wer weiß, vielleicht sind ja auch viele „Phettberg-Schauen“ gekommen, intelligente Pointen sind ja von ihm immer zu erwarten.

    Erstaunlicher- und auch erfreulicherweise wurden von den Podiums-DiskutantInnen die polarisierenden Rollenzuschreibung nicht übernommen. So „gebärdete“ sich Johann Klotzinger nicht als wütender Therapeuten-Ankläger und packte trotz mehrmaliger „Ermutigung“ nicht seinen Hass gegen diese aus. Und auch Phettberg stellte gleich einmal klar, dass er hier nicht in der Barbara Karlich-Show zu sein wünscht und erwähnte wider Erwarten zwei seiner Therapeuten durchaus lobend. Dario Lindes war als Moderator tätig, eine Rolle in die er meiner Ansicht nach nicht ganz hineinfand, zu drängend schien es zu sein, die eigenen kritischen Punkte anzuführen.

    Also: Der letzte Sitzplatz wurde eingenommen (Phettberg: „Bitte den Greisen und Greisinnen die Sitzplätze zu überlassen“). Es konnte beginnen.

    Das Aufbereiten von Themen:

    • Klotzinger wies auf die mangelnden Rechte des Klienten auf Auskunfts- und Wahrheitspflicht von seiten des Therapeuten hin. Dies aufgrund eigener, offensichtlich schmerzlicher Erfahrungen, im Zuge welcher er erleben musste, dass ein derartiges Ansinnen auf eine Diagnose oftmals als ein Hinweis auf die Krankheit des Patienten/ Klienten selbst gewertet wird.
    • Mückstein replizierte, dass das Diagnosestellen im Sinne des Medizinsystems in der Psychotherapie problematisch ist und viel Feingefühl von Seiten des Therapeuten braucht, wie diese in der therapeutischen Beziehung vermittelt wird. Sie problematisierte auch die ambivalenten Zuschreibungen an Psychotherapie zwischen Idealisierung – da gibt es einen, der wird mir aus meinem Leid helfen – und gesellschaftlicher Abwertung wegen Autonomieprozessen durch eine Therapie. Auch sie nahm nicht die „angebotene“ Polarisierung ein und vermittelte eine, meiner Ansicht nach sehr differenzierte Sicht und einige hilfreiche Informationen.
    • Phettberg stellte seine Vision eines (nicht nur auf Aids-Kranke beschränkten) Buddy-Systems vor, ein wie ich meine, kluger Gedanke. Begleitpersonen, oder wie er sagt „Aufpasser“, welche in ständigem, direkten Kontakt zum Klienten bleiben, Wegbegleiter, die, so würde ich sagen, Elternschaft auf dem Weg in die Autonomie übernehmen. Visionen wurden nicht nur zu Reichs Zeiten nicht gern angenommen, und so blieb auch diesbezüglich eine belächelnde Stimmung im Saal – schade. „Der Peter Altenberg, der Reich und ich – die Utopisten“ – zitierte Phettberg.
    • Kirchmayr wies darauf hin, dass es neben der zuvor angesprochenen Macht des Therapeuten auch eine Ohnmacht gibt. Er bot an diesem Abend auch immer wieder Heiteres aus dem Anekdotenschatz rund um Freud, Psychotherapeuten, Religionsangehörige und andere.
    • Der mir durch die Skan- Ausbildung so vertraute Alfred Zopf provozierte mit einer Vielzahl von plakativen Anmerkungen meinen Ärger. So sei zum Beispiel das Interesse von Psychotherapeuten, die Abhängigkeit des Klienten zu lösen aufgrund von pekuniären Interessen gering. dass diese Gefahr besteht mag wohl stimmen, doch wird der langjährige Prozess der Selbstreflexion, welcher einen Großteil der Ausbildung ausmacht, dabei außer Acht gelassen. Ungenauigkeit hat mich immer schon geärgert. Alfred hat damit – wiewohl von Dario als Fahnenträger der Reichschen Idee vorgestellt – meiner Ansicht nach vieles, was Reichs Arbeit und Ansatz essentiell ausmacht, verletzt: die Genauigkeit und Differenziertheit der Betrachtung und auch die Gründlichkeit, die jegliche vordergründige Verallgemeinerung verbietet.
    • Und der Moderator Dario Lindes war bisweilen keiner; vielleicht auch überwältigt durch die Menschenmassen ließ er die Diskussion viel zu lange auf dem Podium, bezog sich nicht auf Publikumsfragen, welche unbeantwortet blieben, brachte, wenn sich einmal gerade ein energetischer Strom herausbildete, also Spannung und Interesse im Saal spürbar wurden – eine eigene Idee in den Vordergrund, was den Spannungsaufbau – um es mit Reichs Worten zu sagen – zum frühzeitigen Abbruch brachte. Dennoch gilt ihm mein Dank, denn ohne sein großes Engagement wäre so eine Veranstaltung wohl nicht in diesem Ausmaß zustande gekommen und damit auch der Anschluss an eine im WRI lang vergessene Tradition von Auseinandersetzung mit bewegenden Themen in größerem Rahmen.
    • Und das Publikum? Sehr unterschiedlich und vielfältig – alle Schichten und Altersgruppen waren da vertreten. Konkrete Fragen zu Therapie, Beiträge über das Anpassungs- und Autonomiepotential von Psychotherapie, über die Rolle der Religion und über die Ziele von Psychotherapie wurden aufgeworfen; Wertvolles wie die Fähigkeit zur Responsibility, die Fähigkeit zum Antworten als Therapieziel oder der Wunsch nach Halt und Autorität im Sinne einer Mentorenschaft des Therapeuten und vieles mehr wurde angesprochen. Da gab es viel Buntheit im Publikum: den Hypnotherapeuten, welcher gleich eine Demonstration von hypnotherapeutischem Handeln zum Besten gab, soziologisch interessierte, ernsthafte Menschen, solche, welche eigene Therapieerfahrungen erzählten, bis zum Stephansdombesucher, welcher von seiner Beichte berichtete … So war die Zusammensetzung schillernd und viele Individualitäten sichtbar
    • Und ich? Ich saß (entgegen der Ankündigung) doch nicht auf dem Podium – sondern mittendrin. Hab mich – wohl auch durch die (psycho)therapeutische- oder mehr noch „Lebensarbeit“ – davon gelöst, die Rolle der missionierenden, die Reichsche Flagge hochhaltenden Kämpferin erfüllen zu müssen und daher meine Teilnahme an derart exponierter Stelle abgesagt.

    Wenn ich mich als Resonanzkörper in dem energetischen Feld dieses Abends wahrnehme, so spüre ich Wachheit, Interesse, ein Dranbleiben, auch ein Warten, mehr vielleicht noch ein wartendes Suchen. Worauf?

    Darauf, dass mich etwas berührt, dass ich etwas spüre in meinem Körper, in meinem Herzen, dass es mich vielleicht sogar erschüttert, weil etwas Altes, ein Gedankengebäude, etwas Festgefügtes durcheinandergebracht wird, letztlich auch der Wunsch wahrscheinlich sogar als stärkstes Motiv – der Wunsch nach Begegnung. Gleichzeitig, im Moment der Realisierung dieses Wunsches auch das Gewahrwerden meiner Angst, dass dort jemand die Regeln der Nichtantastbarkeit durchbricht und zur Begegnung einlädt oder mir begegnen will. In Unmittelbarkeit, mich sehend, sich zeigend. Jetzt.

    Dafür bin ich dankbar, dass ich dies jetzt in der Sicherheit des Schreibtisches anlässlich des Abends – erleben kann: dass es da eine Sehnsucht gibt nach Gemeinschaftlichkeit, nach menschlicher Begegnung und vegetativem Kontakt und dass dies vielleicht hinter allen sekundären Motiven das ist, was mich (uns) dorthin ins Amerlinghaus am 13. Februar gebracht hat. Und dass es da eine ebenso große Angst gibt, welche uns dann diskutieren lässt, mit Themen beschäftigt, in Gedanken vertieft. Mit dem Ergebnis, dass man einerseits erleichtert ist – „wieder nichts was die Lebensbahn verändert hat“ -, aber einen auch hungrig, unerfüllt weggehen lässt mit der nächsten Hoffnung, dass vielleicht dann im „Plutzer-Bräu“ oder im „Lux“ gleich nebenan „Es“ stattfindet …

    Ich konnte also das erleben, was unser lieber Wilhelm Reich den „tragischen Widerspruch in den Menschenmassen, den Widerspruch zwischen Freiheitssehnsucht und realer Freiheitsangst“ nennt. Dafür, und für die vielfältige Inspiration, welche dieser Abend in mir bewirkt hat, danke ich dem Dario Lindes und den anderen vom Reich Institut aufrichtig.
    Und wer weiß, vielleicht findet diese Veranstaltung ja eine Fortsetzung.- Mir hat dieser Abend schon gezeigt, dass der „Mensch“ etwas sucht. Vielleicht braucht es ja Schutzräume welche es ermöglichen, dass sich diese tieferen Motive und Wünsche, das Suchen in der Begegnung ausdrücken können. Formen, Räume, BegleiterInnen, Sehnsuchtsbiotope, oder wie bei den Trobriandern das „Bukumatula“, das JunggesellInnenhaus, wo experimentiert werden darf …

    1. Epilog als ein Beitrag zur Ent-Idealisierung von PsychotherapeutInnen: Worüber sprechen drei PsychotherapeutInnen auf dem Weg nach Hause von einer Veranstaltung des Wilhelm Reich-Instituts im Amerlinghaus? Richtig geraten: Über „Starmania“ und die Niddl und die Christl und den Boris und den Michael, über deren Haartracht und das Kindische … und wer wohl abgewählt wird. Das alles kichernd, weil doch auch nicht wirklich salonfähig sozusagen, sich so was anzusehen.
    2. Epilog als ein Beitrag zur Ent-Idealisierung von PsychotherapeutInnen – diesmal schon weniger lustig: Am Samstag, dem 22. Februar fand wie seit vielen Jahren der jährliche Psychotherapeutenball im Palais Auersperg statt. Als Mitternachtseinlage war Karl Heinz Hackl vorgesehen, welcher erkrankte und durch Grissemann und Stermann vertreten wurde, die für ihren „tiafen“ Humor einschlägig bekannt sind. Sie nutzten die Gelegenheit, um in menschen-verachtender Weise alles in den Dreck zu ziehn, was menschliches Leid ausmacht … Das Ganze war gar nicht lustig. Hunderte von PsychotherapeutInnen – mich eingeschlossen – schenkten dem Unerhörten Gehör und machten gute Miene zum bösen Spiel. Hermes Phettberg hat an jenem Abend im Amerlinghaus eine Frage in den Raum gestellt, welche dort leider unbeantwortet stehen geblieben war und sich nun im Palais Auersperg in beschämender Weise beantwortet hat.- Phettbergs Frage lautete meiner Erinnerung nach: „Was macht Ihr PsychotherapeutInnen eigentlich anhand des schreienden Unglücks in der Welt?“. Die Antwort, gegeben am Samstag, dem 22. Februar: Schweigen.

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    Bukumatula 2/03

    Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse.
    Fritz Erick Hoevels

    Buchbesprechung von
    Günter Hebenstreit:


    Hoevels gewährt in diesem Buch einen detaillierten Einblick in die wissenschaftliche Periode Wilhelm Reichs während seiner psychoanalytischen Phase, also von ca. 1919 bis 1934. Die Hoevelsche Sympathie gilt für den Reich bis 1934, mit den „biologistisch-mystischen“ Theorien und spekulativen Verbindungen von Libidotheorie und Physiologie der späteren Jahre Reichs kann er nichts anfangen.

    Diese gelten für ihn als Ausdruck des allseits verfolgten und hinausgeworfenen „Opfer“- Reichs, wobei der wohl schlimmste und folgenschwerste Initialkonflikt die heimliche Streichung von der Mitgliederliste der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gewesen ist. So, wie der Autor an die Sache herantritt, ist die Abgrenzung gegenüber dem „späten“ Reich dem Thema selbst nicht abträglich. Wer als Leser mit dieser Einschränkung leben kann, dem eröffnet sich ein vielschichtig wissenschaftliches wie biographisches Werk über Wilhelm Reich.

    Der Autor ruft die chronologische Abfolge der Entwicklung Reichs innerhalb der psychoanalytischen Bewegung in Erinnerung: Reichs Interesse an der naturwissenschaftlichen Orientierung der Psychoanalyse und an einer fächerübergreifenden Wissenschaft zur Sexualität. Schon bald erfolgt der Aufstieg Reichs zum glänzenden Kliniker, der sich engagiert, die psychoanalytische Methode zu systematisieren. Die Entwicklung seines Konzeptes der orgastischen Potenz, dem er später das Modell des genitalen Charakters anfügt, hat die Konkretisierung der Frage „Was ist psychische Gesundheit?“ zur Folge.

    Als Leiter des technischen Seminars verändert er die psychoanalytische Behandlungstechnik derart, dass die ungeordnete Widerstandsanalyse zur systematischen Charakteranalyse verfeinert wird. Mit Hilfe seiner dialektisch-materialistischen Forschungsmethode – auf das Gebiet der Sexualität angewandt – gelangt Reich genau dort hin, wo Freud zwanzig Jahre zuvor die Verbindung des Seelischen mit dem Physiologischen vermutete – zum Vegetativum.

    Die Suche nach den Quellen der neurotischen Angst stand im Mittelpunkt. Die neurotische Angst als Antithese zur Sexualerregung sollte durch die therapeutische Rückverwandlung in libidinöse Erregung die Genitalität stärken und somit der Gesundung dienen. Dort, wo die Angsterregung nicht vorhanden war, fand Reich sie gebunden in der Muskulatur, in der Mimik und in der Körperhaltung (Panzerung). All diese Erfahrungen mündeten in die Frage nach einer effektiven Neurosenprophylaxe, welche Reich zur Soziologie, Ethnologie und zum Marxismus führte (vgl. auch Bernd Laskas Bemerkungen dazu unter: www.lsr-projekt.de/wrnega.html).

    Nicht „was“ Reich erforscht hat, findet sich vergrößert unter der Linse des Beobachters in diesem Buch, sondern „wie“ er dies tat: In der fachlichen Diskussion war Reich kompromisslos gegenüber Beiträgen von Kollegen, die gesellschaftlich-moralische (Über-Ich-) Zugeständnisse in sich trugen. Die Versuche von Reik, Alexander und Freud – z.B. die Gleichsetzung von Strafangst und Strafbedürfnis, die Revision der ursprünglichen Angsttheorie und die Einführung des Todestriebs – wären geeignet gewesen, die Schärfe und Klarheit der naturwissenschaftlich orientierten Psychoanalyse durch die Einführung philosophischer und mystischer Konzepte zu unterminieren.

    Reich kämpfte heftig dagegen an und wies beharrend auf die Zusammenhänge materieller Verwurzelungen psychischen und menschlichen Elends durch die Unterdrückung der Sexualität hin. Die Theorien ins Mystische und Unerreichbare verschoben, brauchte sich die Psychoanalyse – und damit die Psychoanalytiker selbst – nicht mehr dafür verantwortlich fühlen („Institutionelle Panzerung“).

    Soweit die kurze chronologische Darstellung des ersten Teils des Buches. Interessant ist, wie Hövels den eigentlichen „Sündenfall“ Reichs beschreibt: Er widerlegt die öfters ausgedrückte Meinung, Reich hätte sich von der Psychoanalyse zu weit entfernt, wäre eben Kommunist geworden, verleugne den Ödipuskomplex, etc. Den Nachweis erbringt Hoevels durch a) das Aufzeigen des Fehlens von Widerspruch von Beginn weg, als Reich seine neuen Thesen vorstellte, und b) dass er in der ersten Zeit nach seinen Präsentationen überaus positive Rezensionen erhielt! Wodurch wurde Reich nun zum „Problem“ in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung?

    Die sich im gesellschaftlichen Anpassungsprozeß befindende psychoanalytische Vereinigung war im Begriffe, nach mehreren Jahrzehnten des „Outlaw“- Daseins endlich Gesellschaftsreife zu erhalten. Zwar durfte Reich einmal ungestraft die Bedeutung der Genitalität vor der versammelten Analytikerschaft kundtun – wohlwollend wurde auch sein Konzept der „orgastischen Potenz“ aufgenommen, da es ja an Ansätze von Abraham, Ferenczi und Freud anknüpfte (z.B. am Psychoanalytiker-Kongress 1924 in Salzburg. Sein Beitrag: „Über Genitalität“).- Aber: Einmal ist keinmal. Die ewigen Wiederholungen der selben Themen – dass durch sexuelle Unterdrückung massenhaft Neurosen produziert würden – machten die Kollegenschaft mürbe. Hätte sich Reich in philosophische Spekulationen verstiegen, hätte ihm das keiner Übel genommen.

    Die Anknüpfungen der sexuellen Misere an andere Wissenschaftsgebiete wie die Ethnologie (Trobriander und Mutterrecht: Reich stellte die Universalität des Ödipuskomplexes in der spezifischen Form, wie er unter der patriarchalen Gesellschaftsordnung auftritt, in Abrede), die Soziologie (zwecks Neurosenprophylaxe und neuen Lebensformen und Formen der Organisation der Arbeit – „Arbeitsdemokratie“), die Physiologie und die Biologie (Anknüpfung der Libidotheorie, der Theorien des Unbewussten sowie der Abwehrmechanismen an dialektisch-materialistische Thesen) erregten sehr den Unmut der Kollegen. Überall also Anknüpfungspunkte, die das gemeinsame Thema der Neurosenprophylaxe nicht nur noch weniger leugnen ließen, sondern sogar die wissenschaftliche Basis dafür bildeten.- Bei Beachtung dieser wichtigen Fragestellungen hätte im Grunde kein halbwegs kritischer Psychoanalytiker mehr ruhig schlafen können.

    Es hätte ja so schön sein können! Zufrieden lehnt sich der gesellschaftlich anerkannte Psychoanalytiker zurück, all den wissenschaftlichen Kram, den man fürs „Handwerk“ – für die Therapie – nicht braucht, schiebt man beiseite und genießt den netten Lebensunterhalt. Wenn die Patienten nicht und nicht gesunden wollen, dann erklärt man das halt mit einem primären Strafbedürfnis, mit Masochismus, vulgo Todestrieb – das erspart auch die Frage nach der Verbesserung einer mangelhaften Behandlungstechnik.

    Nach Aufgabe der Libidotheorie, sucht man nun das Heil in den philosophischen Gebilden von Eros und Thanatos, so als hätte Richard Wagner eine Oper mit gleichnamigem Titel verfasst: Festlich, undurchschaubar, schicksalsartig, verborgen und übermächtig. Das wäre gegangen, wäre da nicht dieser Steckenpferdreiter Wilhelm Reich gewesen, der die Ruhe dauerhaft störte. Und das alles in seinem Bemühen, die von Freud ursprünglich aufgestellten Theorien über die Libido, den Narzissmus, den Widerstand, die somatischen Quellen der dualen Triebe, etc., weiterzuverfolgen und von allen Seiten her erforschen zu wollen.

    Reich selbst ließ sich nichts zu Schulden kommen: er forschte und stellte seine Ergebnisse, die ihn zu einer dialektisch-materialistisch orientierten Triebtheorie führten, dar. Die Kollegen meinten, er solle doch nicht so übertreiben, nicht immer so „aggressiv“ sein; er handelte sich jedenfalls die Rolle des Störenfrieds ein. Nicht genug damit: er ließ sich noch mit dem Marxismus ein, um die Neurosenprophylaxe besser umsetzen zu können.

    Die Verbindung der Psychoanalyse mit dem Marxismus war Reichs zweite Kardinalsünde neben der „Orgasmus-Steckenpferdreiterei“. Sünde Nummer Drei aber war der Gipfel: Durch die 1932 veröffentlichte klinische Widerlegung der Todestriebshypothese (denn den Namen „Theorie“ verdient dieses Unding nicht) hat sich gezeigt, wie streng nun Reich der Wind innerhalb der Vereinigung entgegen blies. Niemand ließ sich auf eine inhaltliche Diskussion ein, lieber ließ man Siegfried Bernfeld durch intrigenhaften Journalismus gegen Reich polemisieren. Dessen Ausspruch, dass Reich kein Kommunist, sondern ein anarchistischer Sexualethiker sei, haftete Reich noch mehrere Jahrzehnte an.

    Da half nur mehr die Streichung des Übeltäters – nicht nur von der Mitgliederliste der IPV, sondern auch aus der offiziellen Geschichte der Psychoanalyse. Und damit komme ich von der Polemik zum Buch zurück: Der Tatbestand der kompletten nachträglichen(!) Streichung von Reichs Namen aus den Büchern und Chroniken, reiht sich als großer Skandal in die Geschichte der Psychoanalyse ein. Reich wurde da in eine Situation gebracht, die vor ihm nur der weitgehend unbekannte Otto Gross, ein „Sexualanarchist“, erlitt.- Daran kann man sehen, wie hilflos die Internationale Psychoanalytische Vereinigung 1934 war, oder sollte man hier eher die Gegenwartsform verwenden?

    Die Psychoanalyse wurde damit zum Packesel und Stabilisator der damaligen Gesellschaftsordnung. Mir erscheint die von Hoevels beschriebene Entwicklung der IPV als eine Kontraktionsbewegung; die kostbaren Anknüpfungspunkte zur Neurosenprophylaxe, zu alternativen Erziehungs- und Lebensformen, zur somatischen Seite der Triebquellen, etc., wurden aufgegeben.- Bei der Amöbe geschieht beim Abkugelungsprozess dasselbe mit dem Einziehen der Plasmafüsschen – also der Rückzug der Energiebesetzungen weg von der (materiellen) Welt ins Innere.

    Dort können nun in Sicherheit biologis-tisch-mystische Triebkonzepte entworfen werden und überhaupt psychoanalytische Theorien, die rein psychologischer Natur sind und nicht mehr der oben erwähnten Anknüpfungspunkte bedürfen – in Sicherheit, aber alleine, ohne Kontakt, ohne Reibungsflächen. Hoevels belegt diesen Umstand mit den in der Physiologie und Psychophysiologie zahlreich existierenden Konzepten (z.B. von Sokolov), die u.a. den Verdrängungsvorgang somatisch belegen oder gar erklären können.- Interesse von psychoanalytischer Seite ist dazu so gut wie nicht vorhanden.

    Ich verstehe diesen Kontraktionsprozess so: Ist unter den realen Lebensbedingungen kein Weiterkommen im Sinne von Veränderungen der Daseinsverhältnisse möglich, dann mutiert der Unzufriedene zum „spirituell Suchenden“, der das Glück im „rechten“ Pfad der Erleuchtung sucht, womit er aber – ob er will oder nicht – die Daseinsverhältnisse mit stabilisiert und unterstützt.

    Zurück zu Hoevels: Dem Werkzeug eines Restaurateurs gleich führt er mit viel intellektuellem Witz auch an Punkte heran, bei denen schon in der Vergangenheit mehr als einmal Unklarheit bestand. Wer derart gute inhaltliche Zusammenstellungen (eben nicht die ewig gleichen Zusammenfassungen) sucht, wird in diesem Buch fündig: Hoevels vermittelt fundiertes Wissen über die psychoanalytische Theorie und hebt dazu die besonderen Ansatzpunkte heraus, an denen Reich – über seine Vorgänger hinaus – etwas originär Neues schuf. Ein paar Punkte seien hier aufgezählt, z.B. im Bereich der Charakteranalyse: Eine veränderte therapeutische Technik führt zu anderen Ergebnissen – und damit wirken die Ergebnisse wieder zurück auf die Theorie, wie etwa die qualitative Unterscheidung von prägenitalen und genitalen Triebstrebungen.

    Oder: die Vermittlung des funktionellen Zusammenhangs von Aktualität und Historizität, z.B. in therapeutischen Inhalten, oder: die kulturelle Relativität des dann nicht mehr als solchen zu benennbaren Ödipuskomplexes, wie er in der patriarchalen Gesellschaft existiert; weiters die „ökonomische Potenz“ der verschiedenen Abwehrmechanismen, wie z.B. die Sublimierung des genitalen Charakters im Gegensatz zur Reaktionsbildung des neurotischen Charakters, die Kritik an der Todestriebtheorie, etc.

    Es ist Hoevels hoch anzurechnen, dass er unbeachtet gebliebene Sachverhalte verständlich aufzeigt: Z.B. bei einem weiteren „Prototyp der orgastischen Funktion“, dem Witz. Die libidinöse Ökonomie des Witzes folgt gänzlich den funktionellen Gesetzmäßigkeiten. Beim Erzählen wird zuerst – in „libidinöser Erwartung“ des Zuhörers – Spannung aufgebaut – und in der anschließenden Pointe folgt ein jähes und plötzliches Lösen der Spannung (auch) im Motorischen („Lachen“) mit lustvollem Charakter. Beim schlechten Witz folgt die Kurve eher der der orgastischen Impotenz (mit Unzufriedenheit, Ärger, etc.).

    Als noch einen Punkt herausgegriffen finde ich z.B. die Hoevelschen Querverbindungen zwischen der Sublimierung und dem Marxschen Begriff der „produktiven Selbsterweiterung“ interessant. Beide sind sich im Wesen sehr ähnlich und verfolgen funktionell die Veränderung der Außenwelt bzw. auch des eigenen Erlebens, geprägt vom Merkmal der Dauerhaftigkeit (S.196). Ob hier nicht noch mehr drinnen wäre in Richtung Kreativitätsforschung und Produktivität in „plasmatischer Expansion“?

    Warum hat die Studentenbewegung Reichs Werk inhaltlich und praktisch nicht wirklich umsetzen können und was blieb von der Psychoanalyse nach Reichs Ausschluss und der Inkorporierung in den Nazi-Staat übrig? Hoevels genaue chronologische Schilderung der Reich-Bezugnahme ab den Fünfziger Jahren zeigt, wie z.B. 1955 Herbert Marcuses oberflächliche und missgedeutete Interpretation von Reichs Sexualtheorie (zit. in: „Triebstruktur und Gesellschaft“) später weitertradiert wurde. Weiter verdreht und gesponnen lieferte sie dann nur denen Material, die Reich nicht verstanden haben.

    In der Phase des Abflauens der heißen 68er Zeit bot sich damit die Gelegenheit, den von seinen Ideen her nunmehr ungemütlich gewordenen Reich endlich (wieder einmal) loszuwerden. Hier anknüpfend könnte man Reich alles heißen, ohne als Marxist, Sexualliberalist oder (linker) Praxisfreund das Gesicht zu verlieren, wie das z.B. Dahmer (in Gente: „Marxismus- Psychoanalyse- Sexpol 2. Teil, 1972) oder Ruebsam („Das Argument 60“) taten. Nach Abzug der sachlich widerlegbaren Argumente dieser Reich-„Kritiker“ bleibt nur eine dünne Suppe übrig – was mich zur Frage führt: Wer hat denn Reich wirklich verstanden? Reich ist auch in dieser Zeit nie wirklich angenommen worden. Nach Hoevels konnte dies auch gar nicht geschehen, da es weder eine Tradition gab, noch kompetente Leute, die Reich mit einiger Tiefe interpretieren konnten, das musste alles von Anfang an wieder angeleiert werden.

    Die oben erwähnten Reich-Kritiker waren nun keine Vertreter der Psychoanalyse. Rechts außen überholt haben sie dann aber noch Grunberger/Chasseguet-Smirgel mit ihrer reaktionären Schrift „Freud oder Reich“ (1986). Die Autoren implizieren einen Gegensatz von Freud und Reich als einen Gegensatz zwischen „inneren und äußeren Faktoren“: Der innere Faktor wird Freud zugeordnet; ein unpolitischer Wissenschaftler, der weiß, was sich „gehört“ – der Wahrer des Ödipuskomplexes und der kindlichen Sexualität, die Reich angeblich negieren soll. Der äußere Faktor wird Reich zugeordnet: Der Marxist, der sich weigert, die Realität anzuerkennen.

    Reich wird darin zum Verführer zur Ideologie. Er muss für die schändlichen Dinge von diversen „liberalen Erziehern“ – von Verführung von Kindern und sexuellem Mißbrauch – herhalten! Die Parole lautet: Mitgehangen ist mitgefangen. Hoevels analysiert die Widersprüche dieses Buches gründlich und demaskiert die Absichten der Autoren mit der Klinge von Ironie und Witz.

    Jeder, der sich mit Reichs Leben und Wirken in dieser Zeitspanne näher befassen will, ist mit diesem Buch gut beraten. Ein Minimum an Wissen um die psychoanalytischen Theorien wird vorausgesetzt. Vielleicht kann es dennoch Lust darauf machen, mehr über die erste wissenschaftliche Heimat Reichs zu erfahren.
    ____________________________________

    Fritz Erick Hoevels: Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse;
    Ahriman-Verlag, Freiburg/Breisgau, 2001

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    Bukumatula 2/03

    Was ist Therapie?
    oder
    „Die Kutte macht den Mönch“

    Betrachtungen zum Fall Gert Postel von
    Dario Lindes:

    Im Anschluss an unser Wilhelm-Reich-Forum am 13. Februar, einer Diskussion zum kontroversiellen Thema „Was sucht der Mensch in der (Psycho-)Therapie“, kamen mir noch ein paar Gedanken zum Großkomplex „Therapie und Heilung“, die ich den Bukumatula-Lesern als eine Art Nachbetrachtung nicht vorenthalten möchte.

    Dazu einleitend folgendes Denkbeispiel:
    Stellen Sie sich vor, eines Tages erscheint Ihnen eine gute Fee und bietet Ihnen an, Sie hätten einen Wunsch frei, den sie Ihnen sofort erfüllen wird, mit der Einschränkung, dass nur zwei Auswahlmöglichkeiten gegeben sind:

    1. Die Fee macht, dass Sie in Ihrer Tätigkeit der/die Beste WERDEN,
      oder
    2. sie macht alle Leute GLAUBEN, dass Sie der/die Beste sind

    Für welche der beiden Varianten würden Sie sich entscheiden?

    Einleitung: Fallgeschichte

    Im Vorjahr wurde ein Mann durch mehrere österreichische („Vera“) sowie bundesdeutsche Talkshows („Fliege“, „Biolek“) gezogen, der sich Mitte der 90er Jahre in einem ostdeutschen Spital einen spektakulären Coup erlaubt hatte, welcher nach seiner Aufdeckung haushohe mediale wie juristische Wellen schlug:

    Der gelernte Briefträger Gert Postel, ohne höhere Schulbildung, gab sich – nach dem Vorbild des berühmten „Hauptmann von Köpenick“ – in einem sächsischen Krankenhaus als Psychiater aus. Er praktizierte an der dortigen psychiatrischen Abteilung erfolgreich als Oberarzt und leitender Chef-Assistent! Auf diesem Spitalsposten blieb er fast zwei Jahre unentdeckt und flog letztendlich nur durch einen dummen Zufall auf – er hatte aus eigener Unvorsichtigkeit seinen echten zusammen mit seinem gefälschten Ausweis irgendwo liegen gelassen – sonst würde er vermutlich noch heute ebendort als Psychiater arbeiten!

    Über seinen Werdegang, seine Bewerbung, wie er zu dieser Anstellung kam, und die Praxiszeit im Spital schrieb er ausführlich in seinem Buch „Doktorspiele“*) – es sei jedem (psycho-) therapeutisch Tätigen als Pflichtlektüre ans Herz gelegt!

    Das Buch hatte er in der Haft als eine Art Memoiren – und wohl auch zur eigenen Rechtfertigung – geschrieben. Eine Freundin, die selbst in einem sächsischen Gefängnis als Kunsttherapeutin tätig ist und deshalb von Berufs wegen diesen Fall besonders interessiert mitverfolgt hatte, empfahl mir dieses Buch und prophezeite mir gleich vorweg: „Wenn Du dieses Buch anfängst zu lesen, kannst Du nicht mehr aufhören.“

    Und so kam es dann auch. Es war für mich das durchschlagendste, spannendste, unterhaltsamste, witzigste, aber auch deprimierend entlarvendste Buch, das ich seit Jahren gelesen hatte, und es sollte meine bisherige Sichtweise auf den ganzen Themenkomplex (Psycho-) Therapie, Psychologie, Psychiatrie zutiefst erschüttern. Als Folge fing ich an, mir einige kritische Fragen zum Psycho-Metier zu stellen, die all meine Überzeugungen bezüglich den Heils- und Therapiebetrieb einmal deutlich auf den Kopf stellen sollten.

    Wie wird man Therapeut?

    Wer ist also dieser Mann, dem es gelungen ist, die offizielle Therapiewelt dermaßen übel hinters Licht zu führen?

    Als sich Gert Postel 1995 für die vakante Stelle eines psychiatrischen Oberarztes an dem kleinen Landkrankenhaus im sächsischen Zschadraß bewarb, hatte er bereits eine lange Latte an betrügerischen Erfahrungen als Arzt (und ein ebenso langes Vorstrafenregister) hinter sich: Anfang der 80er Jahre arbeitete Postel erstmals als Assistenzarzt in einem Fachklinikum für psychotherapeutische Medizin in Oldenburg. Danach bekleidete er eine Arztstelle beim Reichsbund-Berufsbildungswerk in Bremen. 1982 ließ er sich als Mediziner bei der Bundeswehr mustern und bewarb sich unter Verwendung gefälschter Zeugnisse als Stabsarzt.

    Nach Aufdeckung des Schwindels – ohne strafrechtliche Folgen, das Verfahren wurde wegen „Unwesentlichkeit“ eingestellt – bewarb sich Postel noch im selben Jahr (!) als stellvertretender Amtsarzt beim Gesundheitsamt in Flensburg und bekleidete diesen Posten ein halbes Jahr lang. Danach bewarb er sich erfolgreich für eine Assistentenstelle in der Psychiatrie der Universitätsklinik Kiel, die er wohl auch angetreten hätte, wenn er nicht zuvor aufgeflogen wäre: erste U-Haft und Bewährungsstrafe.

    In den Folgejahren viele kleinere, aber nicht-ärztliche Gaunereien und Betrugsdelikte u.a. wegen fortgesetzter Amtsanmaßung und unerlaubter Führung akademischer Titel sowie Erschleichung einer Studienberechtigung (er studierte 1989/90 in Münster Katholische Theologie und schaffte eine persönliche Audienz beim Papst, mit Foto dokumentiert!). Von 1990 – 93 war er als Dermatologe in einem „Haar-Institut“ tätig; 1994 wurde er Begutachtungsarzt für sozialmedizinische Gutachten im Berufsförderungswerk Berlin-Brandenburg.

    1995 folgte dann die (vorläufige) Krönung seiner betrügerischen Mediziner-Karriere: sein „Abenteuer“ in eben jenem sächsischen Krankenhaus von Zschadraß, das ihn bis weit über die deutschen Grenzen hinaus berühmt machen sollte. Bis 1997 praktiziert er als Oberarzt in der dortigen psychiatrischen Abteilung. 1997 Enttarnung, 1997/98 Flucht, ab Mai 1998 U-Haft, 1999 Verurteilung im größten deutschen Schauprozess seit dem Reichstagsbrand zu vier Jahren Haft in Leipzig, nach zwei Drittel Verbüßung Freiheit auf Bewährung. Danach zahlreiche Talkshow-Auftritte. Und in Zukunft?

    Wir müssen uns diesen Sachverhalt einmal auf der Zunge zergehen lassen: ein einfacher kleiner Briefträger hatte fast 20 Jahre lang nur durch sein überzeugendes Auftreten den gesamten Medizinbetrieb gezielt an der Nase herumgeführt. Das eigentlich Erstaunliche an seinem Fall ist dabei aber nicht, dass es ihm glückte, sich mit List und Tücke, gepaart mit einer großen Portion Kaltschnäuzigkeit und Frechheit in den Spitalsbetrieb hinein zu schwindeln, sondern dass er es schaffte, so lange mit Erfolg in dem System auch zu verbleiben, ohne bei Kollegen, Vorgesetzten und Patienten den leisesten Verdacht der fachlichen Inkompetenz zu erwecken.

    Wenn jemand über so einen langen Zeitraum den Posten eines er-folgreichen Therapeuten bekleidet, welche Qualitäten muss er dann haben? Er ist wahrscheinlich hochintelligent, geistig äußerst rege, flexibel und wach und verfügt über ein hohes Maß an Sensibilität und emotionaler Intelligenz.

    Was kann man von einem „Heiler“ mehr erwarten? Das bringen die meisten legal Praktizierenden in dieser Branche bestenfalls auch mit. Dieser mysteriöse Gert Postel scheint also nicht nur ein grandioser Verstellungskünstler zu sein und das soziale Rollenspiel und die Attitüde eines Arztes/Psychiaters perfekt zu beherrschen, sondern er muss offensichtlich auch etwas von der Heilkunst selbst verstehen.

    Wie sonst wäre denn seine Überzeugungskraft zu erklären? Offen-sichtlich war es ihm auch gelungen, das Vertrauen der vielen Patienten zu gewinnen und ihnen das Gefühl zu geben, in seinen Händen gut aufgehoben zu sein. Jedenfalls wurde er nach seiner Enttarnung niemals wegen eines Behandlungsfehlers angeklagt und verurteilt, sondern nur wegen seines Betrugs, also der Vorspiegelung der falschen Arztrolle (= Amtsanmaßung, Urkundenfälschung, unerlaubte Führung eines akademischen Grades).

    Deshalb sage ich es frei heraus: Gert Postel ist für mich ein therapeutisches Genie!
    Nun werden einige der Leser empört reagieren und einwenden: das ist ja skandalös, wie kann man denn einen so gefährlichen Halunken, der das Heilssystem derart düpiert hat und das Schicksal von vielen hilfsbedürftigen Patienten fahrlässig aufs Spiel gesetzt hat, auch noch entschuldigen und verharmlosen, das ist doch unmoralisch und verantwortungslos!

    Aber halt, nicht zu voreilig urteilen. Denn: kann es vielleicht sein, dass dieser einfache, ungeschulte Mann mehr von (Psycho-) Therapie verstanden hat als so mancher studierte Fachmann auf diesem Gebiet? Denn was die meisten in unserer Gesellschaft immer noch nicht begriffen haben: in Wahrheit ist Therapie Kunst, nicht Wissenschaft! Die Beziehung heilt, nicht das ärztliche Zeugnis.

    Gut, Postel hatte zwar selbst nachträglich eingeräumt, dass er während seiner Zeit in Zschadraß mit direktem Patientenverkehr nur untergeordnet zu tun gehabt hatte und sich vor der persönlichen Verantwortung oft dadurch erfolgreich drücken konnte, indem er heiklere medizinische Tätigkeiten, etwa die Verschreibung von Medikamenten und die Verabreichung von Injektionen, an seine untergebenen Turnus- und Hilfsärzte delegierte – er selbst empfahl zur Therapie eher Naturheilprodukte wie Tees und Kräuter.

    Aber wie konnte es Postel gelingen, auch seine Ärzte-Kollegen und die Vorgesetzten derart zu täuschen? Nichts leichter als das, antwortete er einmal in einer deutschen Talkshow, er habe erkannt, dass die Psychiatrie und die gesamte „Seelenkunde“ ohnehin nur ein völlig nebuloses, nichts-sagendes theoretisches Gebilde ohne Hand und Fuß sei, in dem sich in Wahrheit niemand wirklich auskenne.

    Jeder echte oder angemaßte „Experte“ könne unwidersprochen behaupten, was er wolle, wenn es nur kompliziert genug klingt und mit vielen unverständlichen Fremdwörtern und Fachausdrücken gespickt ist. Die ganze „Psycho-Lehre“ sei ein reines illusionistisches Blendwerk, heiße Luft, ein abgehobenes Hirnkonstrukt, wo nur die gekonnte Rhetorik zähle. Es gäbe keine Spur einer wissenschaftlichen Fundierung mit verbindlichen, überprüfbaren Aussagen und Tatsachenbeweisen – das müsse man nur einmal richtig durchschaut haben, dann ergäbe sich der Rest schon von selbst. Und das habe er sich eben zunutze gemacht. Das Bluffen sei in allen medizinischen Disziplinen am leichtesten in der Psychiatrie möglich. „Psychiatrieren, das kann auch ein dressierter Affe.“ (Originalzitat Postel)

    Und er fädelte es schlau ein: während er die stumpfsinnige Knochenarbeit des Ärztealltags seinen karrieresüchtigen Untergebenen überließ, zog er sich in sein Büro zurück, wo er Fachliteratur las und aus ihr die einschlägige Nomenklatur und Fachterminologie einfach auswendig lernte – ein abschreckendes Stück Arbeit, um das ich ihn wahrlich nicht beneide.

    Mit diesem angelesenen Wissen und einem plakativ zur Schau gestellten Fachlatein brillierte er dann rhetorisch bei internen Ärzteschulungen und Patientenvisiten, er hielt Vorträge und Referate vor der versammelten Kollegenschaft und trug so das Image eines souveränen Könners zur Schau. Diese Vernebelungstaktik machte auf alle Eindruck und hatte Erfolg. Im Auditorium wagte offensichtlich niemand bei Unklarheiten nachzufragen, um sich keine Blöße zu geben und sein vermeintliches Unwissen öffentlich einzugestehen. Ein Ärztemärchen frei nach „Des Kaisers neue Kleider“.

    Man sieht, Rhetorik ist eben auch im Ärzteleben bedeutsam, man kann die Menschen nach Belieben manipulieren, wenn man nur gut reden kann. Durch Verwendung von viel Pseudo-Fachsprache lässt sich also Kompetenz vortäuschen. Wann wird wohl ein ähnlicher Hochstapler hochoffiziell auf einem Psychotherapie-Kongress auftreten und dort das Publikum mit abgehobenem Geschwafel zum Narren halten – oder passiert das vielleicht nicht ohnehin schon längst?

    Der französische Psychoanalytiker Lacan nannte Freuds Psychoanalyse einst eine „hermeneutische Wissenschaft“. Die Hermeneutik (griech.) ist die „Lehre von der Auslegung, der Interpretation“. Soll das heißen, dass es sich bei der Erforschung unseres Seelenlebens um eine reine Auslegungssache handelt, also um eine Art „Exegese“ – eine Auslegung, die man drehen und wenden kann, wie man sie gerade braucht? Und das soll dann nur einem erlauchten Kreis von eingeschworenen Experten vorbehalten sein…

    Freilich, in anderen Fachgebieten der Medizin wie z. B. der Chirurgie oder der Zahnmedizin, wo es sehr viel mehr auf handwerkliches Können und überprüfbare Tatsachen ankommt, würde so ein Bluff wie der von Postel natürlich nie durchgehen, das ist klar – nur eben in jener eher spekulativen Lehre von der Psyche und Seele.

    Postel übte sich auch gezielt im Opportunismus, er redete seinen Vorgesetzten grundsätzlich immer nach dem Munde, las ausgesucht ihre wissenschaftlichen Fachpublikationen, um sich über deren aktuellen Stand auf dem Laufenden zu halten, bezog sich in seinen Referaten ausdrücklich auf diese, zitierte sie ausgiebig und strich vor dem versammelten Ärztestab deren wissenschaftliche Qualität hervor. Dadurch erwarb er sich rasch den Ruf eines besonders begabten und tüchtigen jungen Nachwuchsarztes, der jederzeit stets mit Elan und Einsatz zur Stelle war, und ihm wurden immer mehr und mehr verantwortungsvolle Aufgaben übertragen.

    So stieg er in der Spitalshierarchie unaufhaltsam und stetig empor. Aber nun denkt man sich: Bekam er es nie mit der Angst zu tun? Erhöhte sich mit zunehmender Karrierestufe für ihn nicht um so mehr das Risiko der Enttarnung? Dazu Postel im Originalkommentar: „Nein, keineswegs! Im Grunde genommen ist es immer dasselbe: Ab einem gewissen Niveau braucht man als Oberster keinen Finger mehr zu rühren, das erledigen dann alles die Assistenten, und man selbst bleibt unbehelligt.“ Praktisch, nicht?

    Zweifellos, Gert Postel hat uns beschämt! Er hat uns in unnachahmlicher Weise vorgeführt, wie durchschaubar der Therapie- und Heilsbetrieb eigentlich funktioniert, und wie leicht man mit Grips das allgemeine therapeutische Gehabe mit all seinen Allüren imitieren, ja sogar parodieren kann. Er hat uns mit seinem Fall aber nicht nur die Schwächen des Systems aufgezeigt, sondern auch die Chancen, die in dieser Geschichte stecken.

    Was zählt denn wirklich beim Heilen?

    Was lehrt uns also dieses einzigartige wie sensationelle Beispiel des Gert Postel? Vielleicht, dass ein gelernter Psychiater bei der Behandlung von seelischen Störungen und Erkrankungen im Endeffekt auch nicht mehr Erfolg hat als ein Schwindler, dem man genug Glauben schenkt (= klassischer Placebo-Effekt)? Dass ausgebildete Psychotherapeuten von der menschlichen Seele auch nicht mehr wissen als ein Normalbürger mit Empathie (an welcher es vielen Heilern, Therapeuten, Ärzten durchaus oft mangelt)?

    Müssen wir weiters nicht staatliche Reglementierungsversuche von (Psycho-) Therapie deutlich revidieren und als eher zweifelhaft oder gar unsinnig betrachten? Wir haben in Österreich seit 1991 ein Psychotherapie-Gesetz, welches vom Establishment der etablierten Therapiemethoden als europaweit führend und als vorbildlicher Meilenstein gepriesen wird.

    Aber in der Realität sieht es doch so aus, dass sich hauptsächlich derjenige, der über genügend finanzielle Mittel verfügt, sich durch eine Psychotherapieausbildung „durchzahlen“ kann. Im Laufe der Ausbildung sind zwar 200 Stunden Selbsterfahrung (plus 50 Stunden im Propädeutikum) vorgeschrieben, aber ohne einen daraus folgernden „Erfolgsnachweis“ für den Kandidaten.

    Heißt das, man braucht die 250 Stunden Eigentherapie nur artig „abzusitzen“ und bekommt den Schein zum Therapieren schon ausgehändigt? Soll das vielleicht eine bessere Qualifikationsgarantie sein als der gesunde Menschenverstand eines Gert Postel? Ist es nicht beschämend, dass man zum Helfen eine staatliche Lizenz brauchen soll? Heißt es nicht so schön: Wer heilt, hat recht – egal, ob mit oder ohne staatlichem Zeugnis?!

    Wie mir von ein paar befreundeten Ärzten, die derzeit in Deutschland in Spitälern arbeiten, berichtet wurde, wurden seit dem „Fall“ Postel die Zeugnis-Kontrollen bei jungen Ärzten drastisch verschärft – jeder Neubewerber wird streng nach seinen Dokumenten durchleuchtet. Aber ich frage mich: muss es uns nicht zu denken geben, dass ein echter von einem gefälschten Psychiater/Psychologen/Psychotherapeuten nur durch ein Stück Papier unterschieden werden kann und nicht aufgrund seiner fachlichen – geschweige denn menschlichen – Qualifikation?

    Was bedeutet das für den gesamten therapeutischen Berufsstand und dessen Selbstverständnis? Was bedeutet es für das Phänomen (Psy-cho-) Therapie als ganzes? Kann also jeder ein Therapeut sein? Gibt es so etwas wie einen Placeboeffekt bei Therapeuten und Heilern „wenn ich nur fest daran glaube, dann kann ich auch wirklich heilen, dann bin ich auch ein Heiler“? Der Glaube soll ja bekanntlich Berge versetzen. Und stimmt es vielleicht doch, dass im gegenseitigen sozialen Verkehr der „Habitus“ entscheidet, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu einst definierte – „die Kutte macht den Mönch“ bzw. in diesem Fall: der weiße Mantel den Arzt?

    Ist die Figur des Gert Postel nicht auch ein typisches Produkt der heutigen postmodernen Imagegesellschaft, wo man mehr auf den Schein als auf das Sein schaut, wo es auch keine absoluten Wahrheiten mehr gibt und in der sich jeder selbst zum Herrn über die (eigene) Wirklichkeit machen kann – anything goes, alles ist erlaubt, wenn es die soziale Umwelt nur richtig glaubt?

    Eine konkrete Message hat mir Gert Postel jedenfalls jetzt schon mitgegeben: im Grunde genommen kochen alle nur mit Wasser, und man braucht sich vor irgendwelchen sogenannten „Experten“ nicht schamvoll zu verstecken; kein „Fachmann“ kann sich anmaßen, mehr über das menschliche Seelenleben zu wissen als man selbst! Und das ist eine beruhigende Erkenntnis und hat mir letztlich auch mehr Selbstbewusstsein und Halt für mein Leben gegeben.

    Epilog:

    Zum Abschluss ein weiteres abschreckendes Beispiel: In einem Testversuch sollte an einer amerikanischen Universität erhoben werden, ob menschliche Psychotherapeuten bei Klienten mehr Erfolg haben als „Therapie-Computer, mit denen Probanden eine Therapiestunde lang schriftlich per Tastatur kommunizieren sollten. Auf der einen Hälfte der Computer war eine spezielle Psychotherapie-Software installiert, die stereotype Therapie-Phrasen produzierte. Die andere Hälfte der Computer wurde hingegen unmerklich von echten menschlichen Therapeuten fernbedient, die wie in einer wirklichen Therapiesitzung live nach bestem Wissen und Gewissen antworteten.

    Nach diesem Experiment sollten die Testpersonen zuordnen, ob die Antworten mechanisch oder menschlich waren. Das Ergebnis war erstaunlich und niederschmetternd zugleich: zwar wurden alle „Therapie-Computer“ als solche erkannt, jedoch beinahe 50 Prozent der menschlichen Therapeuten wurden für Computer gehalten!

    Man sieht: die Grenze zwischen wirklich und falsch, zwischen Realität und Illusion ist nur hauchdünn.- Die Kutte macht also doch den Mönch – oder?!
    _____________________________
    *) Literaturhinweise:
    Gert Postel „Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers“,
    Eichborn-Verlag, Berlin
    auch: http://www.gert-postel.de/

    Paul Watzlawick „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, Piper-Verlag
    Film-Tipp: „Catch me if You can“ (Steven Spielberg).
    Mit Leonardo di Caprio, Tom Hanks, Christopher Walken

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  • Buk 2/03 Wilhelm Reich und A.S. Neill

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    Bukumatula 2/03

    Wilhelm Reich und A.S. Neill

    Christian Rieder über zwei verwandte Denker

    Wir schreiben das Jahr 1936, als sich der österreichische Psychoanalytiker W. Reich und der englische Pädagoge A.S. Neill in Oslo das erste Mal begegnen. Es folgt eine zwanzigjährige Freundschaft, während derer Neill sowohl Schüler als auch Patient Reichs wird.

    Es ist kein Zufall, dass beide später zu Leitfiguren der rebellischen 68er Generation avancieren werden. Vertreten sie doch die gesellschaftskritische Überzeugung, dass die Ursache emotionaler Deformation soziale Konditionierung sei. Im Grunde seines Wesens wäre der Mensch gut und eine liberale Erziehung sei der beste Garant zur Verhinderung asozial-destruktiven Verhaltens.

    Obwohl sich beide in wesentlichen Dingen wie Herkunft, Ausbildung, Alter und Temperament unterscheiden, kämpfen sie im Grunde für die gleiche Sache, nämlich das Leiden der Menschen zu mildern. Neill findet in Reich’s Schriften die Untermauerung seiner Grundüberzeugungen und wird damit in seiner pädagogischen Praxis bestätigt. So schreibt Reich etwa in der klassischen Studie Charakteranalyse „dass es die Hemmung der Sexualität durch die autoritäre Erziehung ist, die die Aggressivität zu einem nicht bewältigbaren Anspruch macht, indem sich gehemmte Sexualenergie in Destruktivität umsetzt.“ (Reich 1973, 287)

    Wie kann nun antiautoritäre Erziehung aussehen? Im Jahre 1921 gründet A.S. Neill die Schulgemeinschaft „Summerhill“ in der Nähe Londons. Es handelt sich dabei um eine Internatsschule, in der auf autoritäre Einschüchterung und sexuelle Repression verzichtet wird. „Selbstregulation statt Zwangsbeglückung“ lautet hier das Rezept für ein erfülltes Leben. Aufrichtigkeit und Achtung vor dem Mitmenschen werden in Summerhill von allen Mitgliedern der Gemeinschaft gefordert und die Lehrer versuchen auf den aktuellen Entwicklungsstand des Kindes Rücksicht zu nehmen.

    Neben der Schulung kognitiver Fähigkeiten wird auch auf die Herzensbildung geachtet. Es besteht kein Leistungsdruck und sämtliche Entscheidungen bezüglich Sicherheit, Gesundheit und Ordnung werden demokratisch in Schulversammlungen entschieden. Interessanterweise findet in Summerhill kein Religionsunterricht statt. Reich kommt in seinem Buch Die Massenpsychologie des Faschismus zum Schluß, „dass also die natürliche Geschlechtlichkeit der Todfeind der Religion ist.“ (Reich 1974, 238)

    Neill steht genau wie Reich der Religion sehr kritisch gegenüber, da sie häufig Angst und Schuldgefühle erzeugt. Stattdessen setzt er auf die Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen. So schreibt der Schulleiter in einem Brief an Reich: „Ich habe mit der Analyse eines 17jährigen Mädchens begonnen, natürlich mit der vegetherapeutischen Technik.“ (Placzek 1989, 175)

    Wie aus dem Briefmaterial hervorgeht hat der Freudianer Neill also in Summerhill Reich`sche Therapietechniken bei mindestens acht Kindern bzw. Jugendlichen selbst angewendet. In einem Brief vom 18. Juni 1944 schreibt er sogar, dass er statt zu unterrichten nur mehr vegetotherapeutisch arbeite. Ungefähr einenhalb Jahre später berichtet er vom Ende seiner Behandlungen: „Als wir jeweils den vitalen Verdrängungen näher kamen, sind sie alle nicht mehr gekommen.“(Placzek 1989, 220)

    Im selben Brief fasst er auch den Einfluss seines Freundes zusammen:

    „Kurz gesagt, ich habe Deine Botschaft nicht voll und ganz verstanden, wahrscheinlich deshalb, weil ich sie erst zu spät im Leben empfangen habe. Oder anders ausgedrückt: Ich habe zu S`hill ein wenig Reich hinzugefügt, ….“ (Placzek 1989, 219-220)

    Ich glaube, dass man den gegenseitigen Einfluss nicht überschätzen sollte. Wichtiger als der intellektuelle Austausch war wohl die gegenseitige psychische Unterstützung. In einem seiner letzten Briefe schreibt Neill etwa ein Jahr vor Reichs Tod die folgenden Zeilen: „Ich glaube, Du hast zeitlebens nur wenige Freunde gehabt…“ und „Ich war ein Freund, der Dich geliebt hat, der Dein Genie, aber auch den Kleinen Mann in Dir anerkannt hat, aber ich bin niemals ein `Reichianer´ gewesen…“. (Placzek 1989, 585-586)

    ________________________

    Literatur:

    Neill, Alexander Sutherland: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1969.
    Placzek, Beverley (Hg.): Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und A.S. Neill 1936-1957. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1989.
    Rattner, Josef: Klassiker der Psychoanalyse. Weinheim: Beltz Psychologie Verlagsunion 2. Auflage 1995.
    Reich, Wilhelm: Charakteranalyse. Frankfurt: Fischer Vlg., 3. Aufl. 1973.
    Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt:
    Fischer Verlag 1974.

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    Bukumatula 3/2003

    Wien – die sicherste Hauptstadt der Welt?

    Traumatisierte Jugendliche in der Fremdunterbringung.
    Gespräch mit Alfred Zopf
    Wolfram Ratz:

    zum Thema: „Wien wird Chicago werden“.- Alfred Zopf arbeitet als Sozialpädagoge im Heim Aichhorngasse der Magistratsabteilung 11 im 12. Wiener Gemeindebezirk.

    Bukumatula: Du arbeitest als Sozialpädagoge in einem Heim der MA11 – Kinder und Jugendwohlfahrt. Kannst Du uns Deine Arbeit beschreiben?

    Alfred: Korrekt wäre MA11, Überregion weiblich, weil im Jahr 2000 die Fremdunterbringung in Regionen eingeteilt worden ist. Es gibt insgesamt sechs Regionen und eine Überregion für weibliche und männliche Jugendliche. Ich arbeite mit weiblichen Jugendlichen. In der Überregion weiblich und männlich bin ich auch als Personalvertreter tätig. Ich arbeite in der Fremdunterbringung, das heißt konkret, dass ich im Heim 2 Mal 24 Stunden – mit der Übergabe 25 Stunden pro Woche Dienst habe.

    Ich habe eine 45 Stundenverpflichtung, wobei die Zeit zwischen 24 und 6 Uhr zur Hälfte gezählt wird. Die Arbeit besteht aus der Aufnahme der Jugendlichen, der Hilfestellung bei Ämtern und in der individuellen und kollektiven Betreuung. In der Regel kommen die Mädchen über das Krisenzentrum oder vom Jugendamt zu uns.

    Also es gibt eine Krise, da wird geschaut, ob Eltern und Jugendliche noch zusammenleben können und wenn das nicht geht, dann kommen sie zu uns; die meisten sind im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, in Einzelfällen auch darüber. Normalerweise sind das schwer erziehbare Jugendliche, heute sagt man schwer traumatisierte Jugendliche, die eine verminderte Arbeitsfähigkeit – und Liebesfähigkeit nach Freudscher Definition haben …

    B: … nach Reichscher Definition haben.

    A: Nein, nach Freudscher Definition haben, Wilhelm Reich hat neben Liebe und Arbeit „Wissen“ hinzugesetzt.

    B: Was ist das Ziel der Betreuung?

    A: dass die Jugendlichen selbständig und in einer eigenen Wohnung leben können.

    B: Ist mit dem Heimaufenthalt auch eine berufliche Ausbildung verbunden?

    A: Eigentlich nicht, nur selten schaffen unsere Jugendlichen einen Lehrabschluss. Wir sind schon froh, wenn sie regelmäßig einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können. Die Jugendlichen sind oft dermaßen traumatisiert, dass die Arbeitsfähigkeit so eingeschränkt ist, dass sie einen 40-Stundenjob gar nicht ausüben könnten, auch nicht in einer Lehrstelle. Ein Wunsch für die Zukunft wären Lehrstellen auf Teilzeitbasis. Die meisten landen bei Hilfsarbeits-Jobs. Man Muss nicht wissenschaftlich erklären, dass diejenigen, die keine Ausbildung haben die zukünftigen Langzeitarbeitslosen sein werden, bzw. in der working-poor-Klasse dahin vegitieren werden.- Aber eigentlich heißt der Titel: Wien, die sicherste Hauptstadt …

    B: Ja, ich wollte nur wissen, was Du konkret machst. Also Du arbeitest mit schwer traumatisierten Mädchen …

    A: Ja, mit Mädchen, die massiver Gewalt ausgesetzt waren, Mädchen mit schweren Persönlichkeitsdefiziten. Diese Jugendlichen sind meiner Meinung nach in der Psychiatrie nicht erwünscht.

    B: Weil …

    A: Weil es eine Streitfrage ist, was ein pädagogischer Fall ist und was ist ein medizinischer Fall ist. Da wird auf höchster Ebene sehr un-glücklich agiert. Es geht in erster Linie um Geld, das „anscheinend“ nicht vorhanden ist. Wenn Jugendliche außer sich geraten, also extrem agieren, werden sie medikamentös ruhiggestellt. Sie bekommen aber keine Psychotherapie. Möglichkeiten zur Therapie, so wie ich Therapie verstehe, gibt es seit einigen Jahren überhaupt keine mehr.

    De facto kommen die Jugendlichen wieder zu uns; wir müssen dann mit sehr wenig Personal mit ihnen wieder zurechtkommen. In den 90er Jahren habe ich in einem Heim in Nußdorf noch in einem Team mit einem psychoanalytischen Ansatz gearbeitet, mit viel Regressionsarbeit, die als spätere Konsequenz zur Ich-Stabilisierung bzw. Ich-Stärkung führt. Es gab damals in der Fremdunterbringung noch Freiräume, wo die psychoanalytische Sozialtherapie sehr wohl einen Stellenwert hatte.

    Nach der Pensionierung des Abteilungs- und Dezernatleiters sind dann Frauen an die Macht gekommen, und es ist verwunderlich, dass seither die Freiräume in der Arbeit vollkommen zugemacht worden sind – die erste Maßnahme war z.B. die Schließung der Institute für Sozialtherapie. Es geht jetzt nur mehr um den Vollzug von Gesetzestexten. Die Heimreform 2000 mag zwar ein positives Ziel gehabt haben, aber die Durchführung ist mit sehr autoritären Strukturen verbunden.

    Ab der zweiten Hierarchiestufe gibt es nur noch Frauen – bis hin zur Stadträtin Grete Laska. Auf der einen Seite versucht man über „Leitbild“, „Open-Space-Veranstaltungen“, „Controlling“, etc. eine Scheinliberalität zu geben, auf der anderen Seite sind die realen Strukturen viel härter geworden, ich würde sagen im „Riess-Passer-Stil“ wird über die Mitarbeiter drübergefahren. Leider hat sich dieser Stil seither so entwickelt, warum weiß ich nicht. Diese Frauen an der Macht erinnern mich an Wilhelm Reichs „Rede an den kleinen Mann“.

    Das sind für mich nur macht- und karriereorientierte Frauen – bestimmt aber keine emanzipierten Frauen.- Und dann gibt es noch einen Punkt: Als psychoanalytisch orientierter Pädagoge tut es mir schon weh, dass sich die Systemiker gegen die Psychoanalyse durchgesetzt haben. Dabei ist für mich verwunderlich, dass ich oft das Gefühl habe, dass ich mehr vom systemischen Ansatz verstehe als die Systemiker selber. Die verwenden einfach systemische Worthülsen, aber in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen agieren sie mit autoritären Mustern.

    Ein Beispiel aus meiner Supervisionstätigkeit: Kolleginnen, die ein Jahr lang ein achtjähriges Kind wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch betreuen und diesen Missbrauch bestätigt erleben, müssen zur Kenntnis nehmen, dass ein systemischer Familientherapeut, zusammen mit dem Jugendamt dieses Kind zurück zur Familie entlassen wird; die berechtigten Einsprüche werden einfach ignoriert. Es gibt eine hierarchische Weisungsgebundenheit, Probleme werden nicht mehr diskutiert, es erfolgen Befehle. Aus diesen zusätzlich mit „Controlling“ als Steuerungsinstrument vorgegebenen Strukturen kommt für mich zunehmend klarer hervor, dass man auf Qualität immer weniger Wert legt.

    In unserem Arbeitsbereich besteht die wirkliche Qualitätsarbeit oft jenseits von strukturiertem Denken und Handeln – vieles passiert auf der Ebene der Empathie. Den Umgang mit der Kinder- und Jugendwohlfahrt kann man als wichtigen Gradmesser hernehmen, wie die Sicherheit in unserer Stadt in den kommenden Jahren aussehen wird. Wir sind bestimmt eine Präventionseinrichtung für Gefängnis, Psychiatrie, Sozialhilfe, etc. Es ist eben ein Unterschied ob ich Strukturen habe, die die Jugendlichen stärken, dass sie sich auf eigene Füße stellen können, oder ob man diesbezüglich gleichgültig bleibt.

    Die Öffentlichkeitsarbeit der MA11 ist ja ausgezeichnet, die Realität ist aber eine ganz andere. Immer mehr Jugendliche identifizieren sich derart mit Gewalt, dass sie alle Institutionen sprengen. Mit einem pädagogischen Anspruch, mit einem menschlichen Anspruch und auch mit einem therapeutischen Anspruch sind sie überhaupt nicht mehr „berührbar“. Als ich noch in Nußdorf gearbeitet habe, haben wir ein oder zwei absolute „Bomber“ gehabt, mit denen konnte man noch in einer Gruppe arbeiten.

    Jetzt gibt es bei uns nur noch Bomber, und das ist enorm schwierig, weil sich Dynamiken aufbauen, die zu extremer Gewalt führen. Die Stadträtin Brauner hat vor kurzem gemeint, die Gewalt ist „männlich“; sie kennt aber unsere Organisation nicht, denn was sich unter den Mädchen für Gewalttätigkeiten abspielen, das übersteigt oft jede Vorstellung. Es gibt eine strenge Hierarchie, wobei vor allem auf die Schwachen die ganzen negativen Projektionen ausgelebt werden. Das ist die Realität, das sind die Jugendlichen, die heute in der Fremdunterbringung sind.

    B: Wieso ist das heute anders als früher?

    A: Vor mehr als 10 Jahren hat es eine Studie gegeben, wo angeführt wurde, dass jedes zehnte Kind verhaltensauffällig ist. Warum das jetzt so extrem geworden ist, kann ich nur in Teilbereichen verstehen, wissenschaftliche Erklärungen dazu kenne ich keine. Wir haben auch viele Jugendliche, die als Kinder den Jugoslawien-Krieg miterlebt haben.

    Therapien bei sexuell Missbrauchten scheitern bei uns komplett. Ich glaube, dass hier auch falsche Ansätze verwendet werden. Zu erwarten, dass ein Jugendlicher, der schwer traumatisiert ist, von sich aus in Therapie geht, das ist absurd. Ich meine, es braucht TherapeutInnen, die als Einstieg für eine Therapie Bergwanderungen machen oder als 3. Mann im Wiener Kanalsystem herumkriechen, um erst einmal Vertrauen aufzubauen, um überhaupt mit einer Therapie beginnen zu können.

    Diese sozialtherapeutische Ebene wird von den TherapeutInnen aber nicht umgesetzt. Die Jugendlichen gehen ein, zweimal in die Therapiestunde und meinen dann „was soll ich da reden, das bringt mir nichts“. Das kann nicht nur an den Jugendlichen liegen, das liegt sehr wohl auch an den TherapeutInnen. Um da besser einsteigen zu können, da muss man sich etwas überlegen. Therapie zu sexuellem Missbrauch funktioniert eher in der Mittel- und Oberschicht unserer Gesellschaft. Die Unbehandelbaren bleiben also uns, was uns von den Rahmenbedingungen her überfordert. Therapie wird zwar scheinhalber von der MA11 angeboten, aber an der Durchführung hapert es gewaltig.

    B: Ich bin überrascht, dass es so viele Mädchen aus Ex-Jugoslawien gibt.

    A: Ja. Wir betreuen in unserem Heim 24 Mädchen; ein Drittel stammt aus Ex-Jugoslawien und Albanien. Es gibt Gewaltdynamiken wie Kriegssituationen – und natürlich Misshandlungen in der Familie von klein auf an, sexueller Missbrauch, etc. Das hängt ja meistens alles zusammen. Viele Misshandelte und sexuell Missbrauchte stürzen in den Drogen- und dann in den Prostitutionsbereich ab.

    B: Sind Drogen im Heim ein Problem?

    A: Drogen sind natürlich ein Problem. Wir versuchen unser Haus so gut wie möglich vom Drogenkonsum freizuhalten. Wir vermitteln unseren Jugendlichen, dass sie hier einen sicheren Platz haben, einen Ort der Drogenfreiheit. Das funktioniert größtenteils, weil wir ein gut funktionierendes und geschlossenes Team sind.
    B: Bist Du körperlich schon einmal attackiert worden?

    A: Ich bin körperlich schon oft attackiert worden, weil ich vielleicht aus Übertragungssituationen heraus oft auch versucht habe zu berühren, anzugreifen, jemanden, der außer sich gerät, ein wenig zu halten, und da kommt unheimlich viel Gewalt heraus. Wenn in diesen Situationen nicht andere Mädchen als Zeugen dabei gewesen wären, hätte man mich als Misshandler beschuldigen können.

    B: Gut, dass Du so stark bist, Du siehst ja auch aus wie Bud Spencer.

    A: Noch. Jetzt gehe ich auch schon auf den Fünfziger zu, wie das in ein paar Jahren aussehen wird, weiß ich nicht. In meiner Arbeit gehe ich mit meinem psychotherapeutischen Hintergrund und aufgrund meiner Selbsterfahrung schon ein Stück weiter als manche andere KollegInnen. Da spielt sich einiges an Körpertherapie ab, Körpertherapie der anderen Art sozusagen, wo aber über die hysterischen Inszenierungen sehr viel herauskommen kann. Das ist jedoch kein therapeutisches, sondern ein pädagogisches Setting. Für viele bieten wir die vielleicht letzte menschliche Auseinandersetzung an, eine Station vor dem Gefängnis sozusagen.

    B: Wir machen das Interview für eine Reich-Zeitschrift …

    A: Einen Zusammenhang mit Reich habe ich schon erwähnt: Und zwar dass die „kleine Frau“ sich in unserer Organisation immer mehr durchsetzt – und die Männer, die sich durchsetzen, sind Macho-Männer. Es gibt eine Koalition von patriarchal eingestellten Männern und „patriarchal“ eingestellten Frauen. Das ist auch ein Reich-Thema. Das Patriarchat wirkt in den Machtstrukuren.

    Die andere Seite ist die, und das sehe ich überaus positiv, dass es immer wieder KollegInnen gibt, die sensibel sind und Überlegungen bringen, wie man etwas verbessern, wie man neue Strukturen entwickeln könnte, um diesen Jugendlichen sehr wohl eine Hilfe fürs Leben mitgeben zu können.- Und dann natürlich die sexuell Traumatisierten, die Sexualität schon von Kindheit an auf brutalste Weise erlebt haben, weil das ja die sexuelle Erlebensfähigkeit vollkommen einschränkt.

    Reich sagt ja auch, die Begegnung ist die soziale Maske und wenn sich die Jugendlichen total mit Negativität identifizieren, möchte ich das auch soziologisch sehen, das ist eine wichtige Ebene. Wir bewegen uns immer mehr in Richtung Leistungsgesellschaft, wobei immer mehr Menschen herausfallen, das heißt, die Jugendlichen, die auf diesem Level nicht mithalten können, scheiden aus dem System aus und haben praktisch nur mehr die Möglichkeit: Wenn ich nichts Positives von der Gesellschaft bekomme, dann muss ich mich mit dem Negativen identifizieren. Dahinter steckt natürlich das verletzte Kind, das Anerkennung und Liebe will. Hinter der Maske der Gewalttätigkeit ist auch die Sehnsucht nach dem anderen und dem schmerzvollen: „Ich will geliebt werden“.

    B: Das heißt, Gewalt ist auch ein Ausdruck für Sehnsucht nach Geborgenheit.

    A: Genau.

    B: Wie meinst Du, dass es in Wien in 10 Jahren zugehen wird? Gibt es da nur mehr Handtaschlräuber – und werden Politiker in den USA dann verkünden: „Chicago darf nicht Wien werden“?

    A: Ja, diese Menschen müssen ja auch von irgendwas leben. Da werden auch Überwachungskameras, mehr Sicherheitspersonal in den Kaufhäusern, etc. nichts nützen. Wie kommen sie zu ihren Bedürfnissen, die ihnen von der Werbung einsuggeriert werden? Wenn vom Staat Unterstützungen wie die Sozialhilfe, usw. immer mehr gekürzt werden, dann werden sie sich das mit illegalen Methoden holen.

    Sie lernen ja auch immer mehr auf illegalen Ebenen zu leben, etwa im Drogenbereich; das findet ja in einem unglaublich brutalen Milieu statt. Das ist heute ganz anders als in den 70er Jahren, wo man Drogen zur Bewusstseinserweiterung ausprobiert hat; jetzt geht es immer mehr um die eigenen Bedürfnisse und da wird man schnell zum Kriminellen.

    Für diejenigen, die in Frieden leben wollen, wird es immer schwieriger werden, die Kriminalität wird mit Sicherheit steigen. Ob das ein internationales Phänomen ist kann ich nicht sagen, aber für Wien – da habe ich genug Einblick -, wird das zutreffen. Das hat auch der kürzlich pensionierte Jugendgerichtshofpräsident Udo Jesionek in einem Falter-Interview in ähnlicher Form klargemacht.

    Bei dem Interview muss ich aufpassen, dass mir da nicht etwas auf den Kopf fällt. Obwohl ich geschützter Personalvertreter bin, habe ich trotzdem Befürchtungen, weil ich selbst immer wieder in Graubereiche komme. Derzeit gibt es ein schwebendes Verfahren gegen mich, weil eine Jugendliche, die ich in der Nacht zu beruhigen versucht habe, gegen einen Heizkörper gefallen ist und es vom Spital eine Anzeige gegeben hat.

    Ich weiß nicht, ob ich angeklagt werde. Gewaltdynamik kann unheimlich viel auslösen. Das Mädchen hat gesagt: „Ich werde dich hineinreiten“. Sie hat um Mitternacht herumgebrüllt, und ich habe sie zu beruhigen versucht. Das sind Tatsachen, das ist Berufsalltag, da ist man sehr alleine gestellt, wenn man keinen Schutz von oben hat. Dass unser Beruf immer schwieriger wird, ist spürbar. Die Jugendlichen wollen keine Betreuung. Sie wollen Gewalt, sie wollen „Action“. Ein Job, eine sinnvolle Arbeit ist ihnen vollkommen gleichgültig, sie agieren extrem.

    B: Hast Du immer mit Mädchen gearbeitet?

    A: Nein, ich habe früher auch mit Burschen gearbeitet. Ich habe aber einen guten Draht zu Mädchen, die sehr schwierig und eigentlich wie Burschen unterwegs sind. Im ersten Jahr meiner Berufstätigkeit in Wien, das war 1990, habe ich z.B. ein Skin-Mädchen betreut, die sich sehr stark mit Drogen und Gewalt identifiziert hat, zu der habe ich einen sehr guten Zugang gefunden – z.B. habe ich ihr erlaubt, einen Teil meiner Haare abzuschneiden. Überhaupt: Mit „Wahnsinnigen“ kann ich sehr gut, ich möchte sagen, ich bin ein Spezialist für „wahnsinnige“ Mädchen, das kannst Du ohne weiteres so schreiben.

    B: Ist das Klima bei den Burschen aggressiver?

    A: Nein. Aber in den achtziger Jahren hat es noch eine Trennung von Drogen- und Gewaltjugendlichen gegeben, das hat sich heute total vermischt.

    B: Hast Du zu diesem Thema noch etwas zu sagen?

    A: Ja, ich möchte noch etwas hervorzustreichen: Eine Kollegin ist vor einer Woche von zwei Mädchen derart brutal misshandelt worden, dass sie noch immer im Spital liegt – darüber wird in den Medien nichts berichtet.
    B: Darüber wird nicht berichtet, weil …

    A: Das ist eine gute Frage. Es geht um die verschiedenen Wahrnehmungen der Politik gegenüber der Realität. Dass über diesen Vorfall und über die Kollegin, der es jetzt sicher sehr schlecht geht, nicht berichtet wird, ist unsere Realität. Obwohl ich körperlich recht stark bin, empfinde ich auch manchmal viel Angst, wenn sich ein paar Mädchen zusammentun und auf einem Gewalttrip sind. Es ist im Haus Gott sei Dank noch eine weitere Betreuerin, aber wenn man in dieser Dynamik nicht mehr als Person gesehen wird, sondern als jemand der nur „störend“ ist, dann sieht das schlecht aus. Das heißt auch: wie schütze ich mich in meinem Beruf, damit ich nicht Opfer werde.

    B: Machst Du Deine Arbeit gerne?

    A: Sie macht mir nach wie vor Freude und ich würde sie auch wieder ergreifen, weil man kaum so an die Grenzen seines Ichs kommt, wie in diesem Beruf. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich auf Wilhelm Reich gestoßen bin: Auf der Suche nach der Wahrheit lernt man viele Lügengebäude der Gesellschaft zu durchschauen, weil man über diesen Beruf die dunklen Seiten unserer Gesellschaft erlebt. Das macht sensibel und das macht wach und hat eine ganz eigene Qualität.

    Ich bin sicher ein rotes Tuch für die Hierarchie – da ist auch ein Stück des Reichianischen – ich bleibe bei der Wahrheit und bin unbequem. Und gleichzeitig muss ich natürlich aufpassen. Eigentlich bin ich Personalvertreter aufgrund von persönlich erlebten Mobbingstrategien geworden. Ich bin jetzt um einiges gewiefter, habe Management-Tricks selbst erfahren, die mich in meinen Entscheidungen nicht schwächer, sondern stärker gemacht haben. Aber ich bin unbequem. Für meine Psychohygiene ist es wichtig Missstände aufzuzeigen. Das ist eine meiner Stärken.

    B: Ein Anarchist also …

    A: Nein, kein Anarchist, aber ich bin nicht bereit, Lügengebäude weiterhin zu unterstützen. „Anarchist“ wird oft in mich hineininterpretiert, ich weiß nicht warum, manche denken ich bin der Urrevoluzzer.
    B: Aber so siehst Du doch auch aus …

    A: Ich bin das aber nicht. Ich will andere nicht manipulieren. Ich spreche aus, was mir ein Anliegen ist, aber ich bin keiner, der strategisch eine Revolution anzetteln will, das mache ich nicht.

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    Bukumatula 3/2003

    Schizophrenie und deren Darstellung in „Das weiße Rauschen“

    Christian Rieder über einen „Wahnsinnsfilm“

    Im Mittelpunkt des Regiedebüts von Hans Weingartner steht der einundzwanzig jährige Lukas, gespielt von Daniel Brühl. Mit dem Umzug in die Großstadt- WG seiner Schwester beginnt für ihn ein neues aufregendes Leben. Der stressreiche Studienbeginn, ein viel versprechendes, jedoch in einer Katastrophe endende Rendezvous sowie wiederholter Drogenkonsum lösen die ersten typischen Symptome einer paranoiden Schizophrenie aus. Nach einem halluzinatorischen Psilo- cybin- Picknick beginnt Lukas Stimmen zu hören, wodurch er sich zunehmend irrational und aggressiv verhält.

    Nach einem ersten Selbstmordversuch kommt es zur Einweisung in eine psychiatrische Heilanstalt. Danach versucht er wieder Selbstmord zu begehen, zwei Hippies können ihn jedoch daran hindern. Lukas wird zum Aussteiger, indem er sich entscheidet, mit seinen Rettern und deren Kommune ans spanische Meer zu fahren. Letzten Endes führt ihn aber sein Lebensweg in die totale zwischenmenschliche Isolation.

    Nachdem ich den Film gesehen hatte ging ich auf die Homepage, wobei mir neben den Stellungnahmen des Regisseurs die Filmrede von Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk M. Emrich bei der Konzeption dieses Artikels besonders geholfen hat. Meiner Meinung nach stellt diese Seite eine optimale Ergänzung dar und ist somit genauso wie der Film selbst durchaus zu empfehlen.

    Ich möchte nun nach dieser kurzen Inhaltsangabe näher auf den Titel eingehen. In der Physik versteht man unter „Rauschen“ eine spezielle Generierung von elektronischen Prozessen, die eine Bildung von semantischen Strukturen unmöglich macht. Zur speziellen Bedeutung im Kontext dieses Filmes ist für Prof. Emrich das „weiße Rauschen“

    „eine Metapher für die besondere Verbindung des Innen mit dem Außen. Signale können dann auch aus dem rein Zufälligen bezogen werden: alles hat Bedeutung, alles wird zur Bedeutung. Psychiater lassen delirante Patienten gerne auf eine weiße Wand blicken und fragen sie, was sie da sehen.

    Oft sind es Käfer, Krabbeltiere aller Art, die sie beschreiben – ein Scheich aus Abu Dabi beschrieb kleine Kamele – dies ein Beleg für die Konstruktivität der Wahrnehmung, die nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen funktioniert.“

    https://www.x-verleih.de/filme/das-weisse-rauschen/

    25.08.2003

    Zu Filmbeginn meint Lukas, dass die Erfahrung aller Visionen aller Menschen aller Zeiten in einem Augenblick als „weißes Rauschen“ bezeichnet wird.

    Hans Weingartner geht es in seinem mehrfach preisgekrönten Werk vor allem um Angstabbau und Entstigmatisierung. Mittels Filmtechnik (besonders Kameraeinsatz und Tongestaltung) und einem überzeugenden Hauptdarsteller vermittelt er Einblicke in eine beängstigende Realitätskonstruktion, die aber immer noch reichlich Identifikationsmöglichkeiten bietet. Wichtig war die Betreuung und Prüfung des Filmprojekts durch Prof. Emrich.

    Er ist Vorstand der psychiatrischen Universitätsklinik Hannover sowie Gastprofessor an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Dadurch wurde wahrscheinlich erst die gelungene Mischung aus Psychiatriefilm und Kunstwerk möglich. Neben Aufklärung und Unterhaltung möchte Weingartner den Betroffenen Mut machen. Auch wenn diese Erkrankung nicht immer heilbar ist kann man doch lernen, mit ihr umzugehen. Auf seiner Homepage schreibt er:

    „Die Radikalität wird nicht in seinen Mitteln liegen, sondern in seiner Hingabe zur Wahrheit. Ich möchte einen authentischen Film machen, der hier und heute spielt und etwas über die Wirklichkeit erzählt.“

    siehe: https://www.x-verleih.de/filme/das-weisse-rauschen/

    25.08.2003

    Auf dem Filmplakat liest man „Die Realität ist ein Hirngespinst“.- Mich persönlich interessiert neben den medizinischen, sozialen und künstlerischen Aspekten die philosophische Dimension des Phänomens „Schizophrenie“. Die Tatsache der Konstruiertheit unserer Realitätsauffassung wird bei der Beschäftigung mit Schizophrenie besonders deutlich. Zweifelsohne spielen situative Begebenheiten eine ganz entscheidende Rolle, jedoch ist Welterfahrung immer auch durch eine stark subjektive Komponente gekennzeichnet. Wenn wir gleichzeitig von innen und von außen mit Reizen stimuliert werden, gestaltet sich die Erfassung der Realität besonders schwierig.

    Leider werden in unserer (angeblich) hoch aufgeklärten westlichen Gesellschaft immer noch an Neurosen und Psychosen erkrankte Menschen tendenziell ausgegrenzt. Bei Schizophrenie im Speziellen handelt es sich um eine häufig vorkommende schwere Geisteskrankheit (Erkrankungsrate: 1%). Dabei kann man weder die Person selbst noch die Familie noch die Gesellschaft für das Auftreten schuldig sprechen. Ausschließlich ein multikausaler Erklärungsansatz kann diesem Phänomen gerecht werden. Besonders signifikant ist der hohe Vererbungsfaktor, dessen Konsequenz in einer fehlerhaften Informationsverarbeitung liegt.

    Zum Ausbruch der Krankheit führen dann in der Regel psychologische, pharmakologische und/oder soziale Belastungsumstände, wie z.B. Stress, Einsamkeit, Drogenmissbrauch oder Arbeitslosigkeit. Der Patient leidet typischerweise an chronischer Reizüberflutung und dem mit ihr einhergehenden Realitätsverlust. Nach Wilhelm Reich ist Lukas´ Diagnose „dementia paranoides“ bzw. „dementia praecox“, gekennzeichnet

    „durch bizarre Ideen, mystische Erlebnisse, Verfolgungsgedanken und Halluzinationen, durch den Verlust der Fähigkeit, Worte ihrer Bedeutung nach zu erfassen und sinnvoll zu assoziieren und im wesentlichen durch einen langsamen Verfall des organismischen, d.h. einheitlichen Funktionierens.“ (Reich 1989, 520)

    Es handelt sich also um eine Fundamentalstörung, die sich im Fühlen, Handeln, Wahrnehmen und Denken äußert. Zentral ist die Unfähigkeit, sich der jeweiligen Situation entsprechend zu verhalten. Im Umgang mit Betroffenen fällt auch auf, dass selten mehrere Funktionen gleichzeitig gestört sind. Besonders wichtig zu betonen scheint mir, dass Schizophrenie nicht mit Persönlichkeitsspaltung à la „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ gleichzusetzen ist. Nicht weniger unsinnig ist die Mystifikation des Erkrankten zum erleuchteten Genie oder seine Verteufelung zum gemeingefährlichen Psychopathen.

    Obwohl mir klar ist, dass es wenig Sinn macht in einer Fachzeitschrift wie dieser Aufklärungsarbeit leisten zu wollen ist es mir doch ein Anliegen, an dieser Stelle gegen solche Fehlmeinungen anzuschreiben. Prof. Emrich ist davon überzeugt, dass in jedem Menschen grundsätzlich auch „schizophrenes Potential“ angelegt ist. Für diese Annahme sprechen Erkenntnisse aus Experimenten mit Reizdeprivation, psychotropen Substanzen und systematischem Schlafentzug Die Ursache bezüglich des Problemfeldes „Stigmatisierung“ scheint mir neben schlichten Informationsdefiziten die Angst vor dem schwer vorhersehbaren Verhalten des Erkrankten zu liegen.

    Auch die eingeschränkte Leistungsfähigkeit wird eine gewisse Rolle spielen. Wie bereits erwähnt werden Schizophrene in besonders radikaler Weise mit dem weit verbreiteten Problem der zwischenmenschlichen Isolation konfrontiert. Ob der an der spanischen Atlantikküste lebende Protagonist aus „Das weiße Rauschen“ den individuellen Sinn seines Lebens erfüllen kann, indem er alleine am Strand sitzt und die Wellen beobachtet, möchte ich anzweifeln. Möglicherweise führt dieser meditative Lebensstil aber auch zur Genesung, frei nach dem Kredo: „Wer das weiße Rauschen sieht, der wird sofort wahnsinnig. Außer wenn er schon wahnsinnig ist.

    Dann wird er normal.“ Wie viele junge Menschen ist er ein „Suchender“, für den es gilt, einen für ihn stimmigen Lebensstil zu entwickeln, um so sich selbst finden zu können. Letztlich würde ich aber Lukas´ Lebensentscheidung verteidigen, da ich fest an das demokratische Recht der individuellen Selbstbestimmung glaube!

    P.S.: Für alle an Psychopathologie interessierten Cineasten und die, die es werden wollen möchte ich noch die zehn „Lieblingswahnsinnsfilme“ des Herrn Weingartner anführen:

    1. Einer flog über das Kuckucksnest
    2. Angel Baby
    3. Lost Highway
    4. Persona – Ingmar Bergmann
    5. Awakening
    6. Apocalypse Now
    7. Shine
    8. Engel des Universums
    9. Barton Fink
    10. Naked Lunch

    ______________________________________________________________________________

    Quellenverzeichnis: Reich, W.: Charakteranalyse. Köln, Kiepenheuer&W., 1989.
    Web: www.dasweisserauschen.de

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    Bukumatula 4/2003

     

    Wilhelm Reich meets Ken Wilber

    Arbeitskreis Ken Wilber – Wien
    Monika Frühwirth:

     

    Eine kurze Einführung

    Am besten lässt sich Ken Wilber – Naturwissenschafter, Bewusst-seinsforscher, Mystiker – wohl mit dem Prädikat „passionierter Denker“ beschreiben.

    1969 – unbefriedigt vom Medizinstudium, mit bereits zwei Abschlüssen und einem weiterführenden Stipendium in Biophysik und Biochemie – erstellte sich der 20jährige Student selbst einen privaten Studienplan in östlicher und westlicher Philosophie sowie in westlicher Psychologie und Metaphysik und fand sich dann drei Jahre später eines Tages mit hunderten Seiten seiner Notizen über den Boden seines Wohnzimmers verteilt auf der Suche nach einer Gesamtsicht der Wirklichkeit.

    Daraus entstand in nur drei Monaten niedergeschrieben das Manuskript zu seinem ersten Buch, Das Spektrum des Bewusstseins. Ein Buch, das Spiritualität und Psychotherapie, Osten und Westen miteinander verbinden sollte. Nach Wilbers Sicht hatte bisher keine der vielen Schulen auf dem Gebiet der Psychologie und Spiritualität alle Aspekte des Menschen zum Gegenstand ihrer Studien gemacht.

    Den begeisterten Kritiken, die ihn aufgrund dieser universellen Sicht der Wirklichkeit zum „Einstein der Bewusstseinsforschung“ hoch-stilisierten, begegnete er mit der Feststellung: „Diese Gedankenbilder stammen nicht von mir. Es sei denn, ich habe versucht, sie mir zu eigen zu machen, nach ihnen zu leben, ihnen Form und Inhalt zu geben, sie mit Leben zu erfüllen. Aber ich bin nicht ihr Urheber, auch wenn ich einige ihrer Kernpunkte herausgearbeitet habe. Ich bin kein neuer Hegel, Freud oder Marx. Mein Versuch ist lediglich eine Vergegenwärtigung der spirituellen Traditionen.“

    Holons und das Grosse Nest des Seins

    Wilber postulierte, dass eine wirklich integrale Psychologie die gültigen Einsichten vormoderner, moderner und postmoderner Quellen umfassen würde. Die Kernaussage der großen spirituellen Traditionen ist, dass Wirklichkeit aus den verschiedenen Ebenen der Existenz – Ebenen des Seins und des Wissens – zusammengesetzt ist, die von der Materie, über den Körper, den Geist („mind“) und die Seele bis zum GEIST („spirit“) reichen.

    Jede spätere Dimension transzendiert die vorangehende und schließt sie zugleich auch ein, in einem Konzept von Ganzen in Ganzen in unendlicher Folge. Wilber übernahm von Arthur Köstler den Begriff „Holon“, um ein in sich geschlossenes Ganzes – mit vier Perspektiven der Wirklichkeit – als Grundebene zu definieren, ein Ganzes, das wiederum Teil eines größeren Ganzen ist; wie z.B. ein Atom Teil eines ganzen Moleküls ist, ein ganzes Molekül ist Teil einer ganzen Zelle, eine ganze Zelle ist Teil eines ganzen Organismus und so weiter.

    Somit ist diese „Grosse Kette des Seins“ im Grunde ein „Nest“: Ausgehend von Materie/Physik, erweitert zu/umfasst von Leben/Biologie, dieses von Geist/Psychologie, zur Seele (subtil)/Theologie zum GEIST (kausal)/Mystik – auf dem nichtdualen Grund aller Ebenen. Dieses „Grosse Nest“ jedoch ist ein Potenzial, nicht etwas Gegebenes. Holons können durchaus als Gewohnheiten der Evolution verstanden werden. Der menschliche Organismus hat mit seinem Gehirn, in seiner gegenwärtigen Form, die Kapazität für höhere Zustände, im sogenannten transpersonalen Bereich.

    Das große Nest mit 4 Seinperspektien (Quadrant)

    Integrale Therapie oder Therapie der vier Quadranten

    Wie Wilhelm Reich setzt auch Ken Wilber die Bioenergetik als Grundstein einer psychotherapeutischen Behandlung an.- Und will in weiterer Folge, ebenso wie Reich, auch den gesellschaftspolitischen Ansatz erfasst wissen. Wilbers Vorstellung einer integralen Therapie umfasst somit alle vier Perspektiven der Wirklichkeit und eine ganzheitliche und ausgeglichene Beachtung aller Vier Quadranten.

    Der integrale Ansatz in der Therapie fördert somit nicht nur die heilsame Arbeit am Selbst und seinen Pathologien, die an den jeweiligen „Drehpunkten“ der kognitiven Entwicklung entstanden, wie zum Beispiel:
    Emotional: Bioenergetik, T’ai Qi, Yoga, Qi Gong, tantrische sexuelle Vereinigung, selbsttranszendierende, ganzkörperliche Sexualität.

    Mental: Psychotherapie, Schattenintegrationsarbeit, kognitive Therapie, Annehmen einer bewussten Lebensphilosophie, Affirmationen, Visualisierung.

    Spirituell: unterschiedliche Meditationsformen, deren Auswirkungen bereits genau feststehen. (Achtsamkeitsmeditation, Konzentrationsmeditation, Bewegungsmeditationen, Zeugenschaft, schamanistische Praktiken).

    Ebenso wird auch dem individuellen Verhaltensaspekt – (Quadrant Oben Rechts: Messbares, Sichtbares) – Rechnung getragen:

    • Physisch: die Ernährung, z.B. fettarm nach Ornish, Vitamine
    • Strukturell: Gewichtheben, Joggen, Wandern, Rolfing, usw.
    • Neurologisch: pharmakologisch, wo angemessen
    • Gehirn/Geist: Herbeiführung von Theta- und Delta-Bewusstseinszuständen, auch mittels Apparaturen.

    Weiters die kulturell-intersubjektive Perspektive der Wirklichkeit: Beziehungen – mit Familie, Freunden, Lebewesen im allgemeinen; Beziehungen als Teil des eigenen Wachstums sehen, das Selbst dezentrieren. Ehrenamtliche Arbeit, Hospizbewegung, usw. Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen.

    Und letztlich auch kollektiv/sozial/interobjektiv (Unten Rechts): Bewusst eine verantwortliche Rolle im Gesellschaftssystem sowie in institutionellen Gegebenheiten zu übernehmen: in Familie, Staat, Nation, Welt und auch Verantwortung gegenüber der Biosphäre und geo-politischen Infrastrukturen auf allen Ebenen.

    „Die allgemeine Idee einer integralen Praxis ist deutlich genug: Übe Körper, Geist, Seele und GEIST in Selbst, Kultur und Natur. Wähle eine Grundübung aus jeder Kategorie oder aus so vielen Kategorien wie praktisch möglich ist und praktiziere sie nebeneinander. Je mehr Kategorien angesprochen werden, um so effektiver werden sie alle – weil sie ja als Aspekte unseres eigenen Seins intim miteinander in Beziehung stehen.“ (zitiert aus: Integrale Psychologie)

    Als Vertreter eines integralen Ansatzes sitzt Wilber sozusagen zwischen allen Stühlen: Wer behauptet, zwei so weit auseinander liegende und gegensätzliche Gebiete wie die Naturwissenschaften und Religion integrieren zu können, läuft große Gefahr, von beiden nicht ernst genommen zu werden. Für Wissenschafter ist sein Ansatz verdächtig, da sie befürchten, er wolle die Religion durch die Hintertüre hereinschmuggeln. Für die spirituell Orientierten ist er jedoch wieder zu abstrakt, weil zu wissenschaftlich. Vor allem seine umfassende, aber durchaus auch kritische Darstellung der Moderne und den Stärken und Schwächen des Flachland-Egos in Eros, Kosmos, Logos, haben empörte Kritiker auf den Plan gerufen – von Wilber prompt als narzisstische Grundhaltung demaskiert.

    Dazu übernahm er die Sprache von Clare Graves und dessen Modell der Ebenen der kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungslinien des Bewusstseins: Holons zunehmender Bewusstseinsentwicklung. Die „Spiral Dynamik“ mit einer Farbkodierung für den jeweiligen Bewusstseinsstand (Meme) mit den entsprechenden Glaubenssätzen, Ausdrucksmitteln und Durchsetzungsmethoden:

    • Beige = archaisch-instinkthaft entwickelt sich zu
    • Purpur = magisch-animistisch, zu
    • Rot = Dominanzverhalten – Machtgötter, zu
    • Blau = konformistische Regel, gefolgt von
    • Orange = wissenschaftlich-erfolgsorientiert,
    • Grün = empfindsames Selbst – pluralistisch – somit auch antihierarchisch.

    Im Flachland

    Flachland ist einfach der Glaube, dass nur die Welt der rechten Seite (Außen) real ist. Die Welt von Materie/Energie, die von den menschlichen Sinnen und ihren Erweiterungen (Teleskop, Mikroskop, etc.) empirisch untersucht werden kann. Die ganze Welt wird auf objektiv-äußere Begriffe reduziert oder durch sie erklärt.

    Wilber steht nicht nur den Kolonialisierungsbestrebungen einer materialistischen Wissenschaft und Technologie kritisch gegenüber, sondern auch den Beschränkungen durch das sogenannte „New Age“, dem er oft fälschlich zugeordnet wird. Er steht dem rationalen Lager weitaus näher als dem esoterisch- antirationalen und warnt davor, nicht genügend Nachdruck auf den Wert des rationalen Denkens zu legen, da sonst archaische Regression, magisches Denken und mythische Religion als mystische Spiritualität angesehen werden. Wie andere Kritiker des New Age weist er immer wieder beharrlich darauf hin, dass die New Age- Bewegung häufig die präpersonale Ebene mit der transpersonalen verwechsle und zu 80% ihrer Vertreter narzisstische Nabelschau betreibe und letztlich keine authentische Spiritualität anstrebe.

    Jedoch kann nur eine Neuintegration der Innerlichkeit aus dem Flachland einer übertechnisierten materialistischen Weltsicht führen, da letztlich niemand im Besitz der ganzen Wahrheit ist.

    In den USA ist Ken Wilber nunmehr meistgelesener Sachbuchautor von über 20 Büchern – davon sind 14 bereits in deutscher Sprache erschienen – und Gründer und Leiter der Privatuniversität Integrales Institut in Boulder, Colorado. Auszüge aus dem eben entstehenden zweiten Band seiner Kósmos-Trilogie werden von ihm laufend im Web veröffentlicht – in seinem Verlag www.shambhala.com.- Im Vorabdruck des zweiten Bandes, im „Exzerpt G“, behandelt er erstmals ausführlich subtile Energien – und damit schließt sich erneut der Bogen zu Wilhelm Reich.

    Auch in Europa und auch im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) haben sich Arbeitskreise gebildet, die sein integrales Modell diskutieren und in Fachgruppen die praktische Anwendbarkeit auf Gebieten wie Medizin, Pädagogik, Kunst, Gesellschaftspolitik, Friedens- und Konfliktforschung, Business, usw. untersuchen.
    _______________

    Literaturhinweise: Bücher Ken Wilber:

    Ganzheitlich handeln (arbor)
    Integrale Psychologie (arbor)
    Einfach Das (Fischer Spirit TB)
    Eros, Kosmos, Logos (Krüger), (Fischer TB)
    Kurze Geschichte des Kosmos (Fischer Spirit TB)
    Naturwissenschaft und Religion (Krüger)
    Mut und Gnade (Goldmann TB)
    Die drei Augen der Erkenntnis (Kösel) vergriffen
    Das Atman Projekt (Jungferman)
    Wege zum Selbst (Kösel)
    Das Spektrum des Bewusstseins (Rowohlt TB)
    Meister, Gurus, Menschenfänger (Kösel) vergriffen

    Frank Visser: Ken Wilber – Denker aus Passion (vianova)

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  • Buk 4/03 Soll ich das alles erzählen?

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    Bukumatula 1/2003

    Soll ich das alles erzählen?

    Eva Reich, einst frühstaufgeklärte Dreijährige:
    Wolfram Ratz:


    Die Premiere des Films von Heidrun Moessner „Experiment für die Zukunft – ein filmisches Portrait über Dr. Eva Reich“ fand am 16. November 2003 im Kino „Schauburg“ in Bremen statt. Die Filmkritik stammt von Wilfried Hippens (taz-bremen).
    ________________________

    „Da gibt es ein ganzes Buch drüber“ sagt Eva Reich einmal über eine Episode im Leben ihres Vaters Wilhelm – eine Episode, die sie selber nur mit einem Satz erwähnt.

    Über alles, von dem sie in Heidrun Moessners 75 Minuten langen Dokumentarfilm erzählt, wurden Bücher geschrieben. Und wenn man nicht zumindest ein paar von ihnen gelesen hat, kann man manchmal schon Schwierigkeiten bekommen zu verstehen, worüber hier geredet wird. Die Tochter des umstrittenen Psychoanalytikers und Theoretikers der sexuellen Revolution erzählt ihre Biografie, und diese scheint untrennbar mit dem Schicksal und Werk des übermächtigen Vaters verbunden.
    „Er war ein Diktator, aber im Guten“ sagt sie einmal, und solche Sätze, um deren Widersprüchlichkeit sie natürlich weiß, machen den Film spannend.

    Die Bremer Filmemacherin Heidrun Moessner hat radikal auf alle Erklärungen verzichtet. Es gibt keinen Off-Kommentar, der den Zuschauer durch diesen Film führt. Da ist man erst ein wenig verloren, aber durch die Stimme der fast 80-Jährigen wird man unweigerlich in den Fortgang des Erzählten hineingezogen. So analytisch genau, detailreich und berührend spricht selten ein Mensch von seinem Leben. Mit einem weichen wienerischen Akzent, der ein paar amerikanische Kanten bekommen hat, schildert sie etwa, wie sie als frühstaufgeklärte Dreijährige den anderen Kindern auf der Straße erklärt hat, wo die Babys herkommen.

    Manchmal liegt die größte Leistung eines Dokumentarfilmers darin, einen interessanten Menschen zu finden, sein Vertrauen zu gewinnen, ihn dann einfach vor eine Kamera zu setzen und reden zu lassen. Genau das hat Heidrun Moessner hier gemacht. Einmal sitz Eva Reich in Jeans entspannt am Küchentisch und sieht dabei so cool und lässig aus, dass diese eine Einstellung alles darüber sagt, wie sie in Amerika heimisch geworden ist.

    Manchmal kommentieren die Regisseurin und der Kameramann Henry Fried die frühen Erinnerungen der Protagonistin mit seltsam verschwommenen, unscharfen Zeitlupenaufnahmen, die wie Traumbilder oder freie Assoziationen wirken. Der Bremer Filmmusiker André Feldhaus hat sie sehr stimmig mit einer Art Stummfilmbegleitung unterlegt.

    „Soll ich das jetzt alles erzählen?“ fragt Eva Reich einmal in die Kamera, und die Antwort muss „Ja“ gewesen sein. Natürlich musste dann gekürzt werden, so dass ein paar Sätze über Reichs „Cloudbuster“, seinen Orgon-Akkumulator und seine Inhaftierung reichen müssen. Aber darüber sind ja in der Tat genügend Bücher geschrieben worden. Interessant ist, wie leidenschaftlich die alte Dame heute noch das Werk ihres Vaters verteidigt. Wie sie sich plötzlich fast ereifert zeigt, dass diese Wunde immer noch offen ist. Und ihr Satz „Ich habe mich mit ihm versöhnt – nach seinem Tod“ lässt viel Unausgesprochenes ahnen.

    Dass sie selber später mit dem Wohnwagen durch die USA zog, um die amerikanische Landbevölkerung über Empfängnisverhütung aufzuklären und dann eine Koryphäe der alternativen Heilkunst wurde, erzählt sie dagegen eher nebenbei und völlig uneitel. Heidrun Moessner hat eine Liebeserklärung an diese alte, weise, schöne Frau gedreht, und so steckt der Film voller positiver Energie, die Papa Reichs Akkumulator sicher zum Brummen gebracht hätte.

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    Bukumatula 4/2003

    Auf der Suche nach der idealen Gesellschaftsform …

    Zwei melanesische Kulturen im Vergleich von
    Susanne Wittmann:

    Wilhelm Reich interessierte sich für die Kultur der Trobriander, als er der Frage nachging, welche Faktoren in unserer Gesellschaft zur Entstehung von Neurosen beitragen und wie deren Auftreten verhindert werden könnte. Er stützte sich hierbei auf die Schriften des Verhaltensforschers Bronislaw Malinowski, der 1915-1918 bei den Trobriandern gelebt hatte und dort in unserer Kultur weit verbreitete Neurosen nicht vorfand.

    Aufgrund eines Forschungsprojektes, das unter der Leitung der Abteilung für Humanethologie des Max-Planck-Instituts in Andechs ab 1982 über viele Jahre durchgeführt wurde, sind zahlreiche Einzelheiten über die heutige Lebensweise der Trobriander sehr gut dokumentiert.

    In diesem Artikel möchte ich eine weitere melanesische Kultur vorstellen, die Kultur der „Eipo“. Diese zählt zu den ältesten Kulturen überhaupt, sie besteht seit 50.000 Jahren.

    Anhand dieser beiden Kulturen soll exemplarisch gezeigt werden, dass Menschen – je nach Beschaffenheit ihres Lebensumfelds – sehr unter-schiedliche Lösungen gefunden haben, ihr Zusammenleben zu gestalten. Neben den Unterschieden existieren aber auch kulturüber-greifende Gemeinsamkeiten, besonders im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern, worauf ich später näher eingehen werde. Diese Gemeinsamkeiten halte ich für besonders interessant im Hinblick auf die Frage, wie die beschriebenen Kulturen über Jahrtausende existieren und trotz relativer materieller Armut und teilweise unbequemen Lebensumständen psychisch gesunde und lebendige, liebenswerte Menschen hervorbringen können.

    Bezüglich der Unterschiede beziehe ich mich vor allem auf den Artikel „Zwischen Patriarchat und Matrilinearität – melanesische Antworten auf ein biopsychologisches und soziokulturelles Problem“ des Ethnomediziners und Humanethologen Wulf Schiefenhövel. Er vergleicht die Trobriander und die Eipo in diesem Artikel vor allem in bezug auf Unterschiede in den Rollen, die sie den Geschlechtern zuschreiben.

    Die Eipo

    Die Eipo gehören zu den ältesten Bevölkerungen der Erde. Sie leben in West-Neuguinea im Hochtal des Eipo-Flusses zwischen 1600 und 2100 m Höhe. Tagsüber ist es 20-25 Grad warm, nachts sinkt die Temperatur auf 11-13 Grad. Die Eipo sind trotz schwieriger Lebens-bedingungen erstaunlich gesund und außerordentlich leistungsfähig.
    Sie sprechen eine Untergruppe der Mek-Sprache.

    Im oberen Eipomek-Tal leben ca. 800 Menschen, in einem Dorf zwischen 50 und 200 Bewohner. Grundnahrungsmittel ist die Süßkartoffel; die Eipo leben von Gartenbau, Sammeln und Jagen. Bereits vor 14.000 Jahren wurden von ihnen Nahrungspflanzen angebaut, viele tausend Jahre vor der Erfindung des Ackerbaus in Mesopotamien.

    Darüber hinaus erfüllen ihre metaphernreichen Lieder und Mythen hohe künstlerische Ansprüche.
    Von Fremden wurden sie erstmals 1969 kontaktiert. Inzwischen traten durch den Einfluß fundamentalistischer nordamerikanischer Missionen viele Veränderungen ein.

    Die folgenden Beschreibungen treffen auf den Zeitpunkt des Beginns der humanethologischen Forschungsarbeiten im Jahre 1974 zu und gehören heute teilweise der Vergangenheit an.

    Die Gesellschaftsform ist patrilineal und patriarchisch, gleichzeitig demokratisch, egalitär und akephal („ohne Kopf“, ohne etablierte Häuptlingsfunktion) organisiert. Führungsrollen sind an persönliche Eigenschaften wie soziale Kompetenz gebunden, werden nicht vererbt und werden nur aufrechterhalten, solange die positiven Eigenschaften bestehen oder bis eine neue fähige Person diese Funktion übernimmt.

    Die Trobriander

    Die Besiedlung der Trobriand-Inseln erfolgte vor 4.000 – 5.000 Jahren durch die sogenannten Austronesier, ausgehend von Südchina und Taiwan über die Philippinen und Indonesien. Die Inseln liegen in der westlichen Südsee und gehören dem Staat Papua Neuguinea an. Sie wurden 1793 von einem französischen Forschungsreisenden entdeckt. 1884 wurde Südost-Neuguinea einschließlich der Trobriand-Inseln englisches Protektorat, wenige Jahre später Kolonie. Die Christianisierung erfolgte hier zurückhaltend, es wurden viele traditionelle Elemente beibehalten.

    Die Trobriander, ca. 25.000 Menschen, sprechen Kilivila, eine austronesische Sprache. Die Dörfer werden von einigen Dutzend bis zu wenigen hundert Einwohnern bewohnt.

    Ihr Hauptnahrungsmittel sind Yamswurzeln und andere Nahrungspflanzen, außerdem fischen und jagen sie. Unter- und Mangelernährung sind bei den Trobriandern unbekannt, auch „Zivilisationskrankheiten“ wie Bluthochdruck und Herzinfarkt gibt es bei ihnen nicht.

    Durch Tauschsysteme innerhalb der Familie und zwischen Familien, Klanen, Dörfern und Inseln werden wechselseitige Verpflichtungen geschaffen, die das soziale Gefüge stärken. Getauscht werden materielle Güter, aber auch besondere Kenntnisse und Dienstleistungen wie z.B. die Mithilfe beim Hausbau.

    Die Trobriander sind sehr begabt für Musik und Schnitzkunst. Sie haben außerdem eine genaue Kenntnis ihrer Umwelt und hohe soziale Kompetenz. Außerdem begleiten religiöse Handlungen den Alltag, z.B. in Form von religiösen Riten und dabei gemurmelten Formeln.

    Die Gesellschaftsordnung ist durch eine klare Kasten- und Feudalstruktur gekennzeichnet. Die politische Macht liegt bei den Häuptlingen, wobei dieses Amt nur über die mutterrechtliche Linie erworben werden kann; ein Häuptling kann es also nicht an seinen Sohn vererben.

    Männliches und weibliches Rollenverhalten:
    Kulturspezifische Unterschiede

    Die Hochlandgesellschaften, einschließlich der Eipo, sind patrilineal strukturiert, bei den Trobriandern besteht eine matrilineale Deszendenzregel. Die Zugehörigkeit der Kinder, deren soziale Stellung und Rechte werden also nach der Sippe der Mutter bestimmt.

    Der Wohnort eines jungen Paares wird bei den Hochlandgesellschaften einschließlich der Eipo nach der Herkunft des Mannes bestimmt – es sind also patrifokale Gesellschaften.

    Bei den Trobriandern zieht die Frau zwar ebenfalls zum Ehemann, ihre Kinder haben jedoch im Falle einer Trennung oder Scheidung Anrecht auf Wohnung und auf Land im Heimatdorf ihrer Mutter. Die Gesellschaft der Trobriander kann als partiell bifokal bezeichnet werden.

    Führungsrollen werden bei den Eipo und anderen Hochlandgesellschaften von Männern übernommen. Es handelt sich hierbei um Männer, die aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften wie Kraft, Vitalität, Intelligenz und soziale Kompetenz von den anderen in dieser Rolle akzeptiert werden. Ändert sich dies, zum Beispiel aufgrund nachlassender Führungsqualitäten durch Krankheit oder Alter, verliert die jeweilige Person ihre Position.

    Bei den Eipo werden sämtliche politischen Entscheidungen von den Männern getroffen. Auch für religiöse Angelegenheiten sind die Männer zuständig, sakrale Reliquien werden in den Männerhäusern aufbewahrt und von Kultführern verwaltet.

    Auf den Trobriand Inseln liegt die politische Macht ebenfalls bei den männlichen Häuptlingen (guyau). Ihre Position ist ausschließlich über die Matrilinie erblich. Sie ist institutionell abgesichert und damit fester etabliert als die Führerschaft bei den Eipo.

    Die guyau bestimmen fast alle wesentlichen Aktivitäten der Dorf- oder Inselgemeinschaft. Bedeutende Häuptlinge, insbesondere der oberste Häuptling aller Trobriand Inseln, haben das Recht auf polygyne Ehen. Dies hat beachtliche ökonomische Konsequenzen, da die Häuptlingsfrauen Gewinn in Form von Gartenprodukten etc. erzielen und ihre Familien verpflichtet sind, dem Ehemann bedeutende Gaben an Yams-Wurzeln zu leisten. Diese Ansammlung von Reichtum dient vor allem der Ausrichtung von Festen und anderen Aktivitäten der Gemeinschaft.

    Bei den Eipo sind die Frauen die hauptsächlichen Versorger der Familie mit Nahrung. Sie tragen hierbei Lasten bis zu 40 kg – Süßkartoffeln, Blattgemüse, Feuerholz und oft noch ein Kleinkind auf der Schulter – über mehrere Stunden. Die durchschnittliche körperliche Belastung ist bei den Frauen höher, während bei den Tätigkeiten der Männer, z.B. beim Haus- und Brückenbau, höhere Spitzenbelastungen auftreten können. Gartenarbeit wird von beiden Geschlechtern gemeinsam verrichtet, ansonsten besteht eine geschlechtsspezifische Aufteilung der Aufgaben.

    Bei den Trobriandern ist die Verteilung der Arbeitslasten ähnlich. Die Frauen leisten auch hier einen größeren Beitrag zur Versorgung der Familie mit Nahrung. Gartenarbeit sowie Sammeln und Fischen im Küstenbereich wird von beiden Geschlechtern ausgeübt, der Fischfang abseits der Küste ist Aufgabe der Männer.

    Bei den Eipo befinden sich jeweils in der Mitte des Dorfes zwei bis drei Männerhäuser, in denen sich Männer zurückziehen und z.B. ungestört politisieren können. Sie dienen außerdem als Unterkunft für un-verheiratete Männer. Das Frauenhaus befindet sich am Rande des Dorfes. Es ist der vorgeschriebene Aufenthaltsort für menstruierende Frauen und der Ort für Geburt und Wochenbett sowie ein Refugium. Es werden hier heilige Zeremonien zum Wohl der Frau und ihres Kindes durchgeführt. Offizielle religiöse Riten für die Dorfgemeinschaft finden hingegen im und beim Männerhaus statt.

    Bei den Eipo und in allen anderen Hochlandgesellschaften finden kollektive Initiationsriten statt, um aus den Knaben Männer zu formen. Für die Mädchen findet keine Initiation statt, da davon ausgegangen wird, dass diese von selbst zu Frauen werden.

    Bei den Trobriandern gibt es weder Knabeninitiation noch Männer- oder Frauenhaus. Im Junggesellenhaus (bukumatula), in das Jungen ab dem Alter von 15 Jahren nach dem Verlassen des Elternhauses ziehen, sammeln Jugendliche bzw. junge Erwachsene ungestört sexuelle Erfahrungen. Die Pubertät setzt hier erst spät ein, der Beginn der Aufnahme sexueller Aktivitäten erfolgt bei jungen Männern etwa im Alter von 20 Jahren.

    Die Altersangaben in älteren Forschungsberichten weichen hiervon erheblich ab, da die Jugendlichen langsamer wachsen als in Europa und dadurch wahrscheinlich jünger geschätzt wurden. Für beide Geschlechter ist Promiskuität bis zur Heirat erlaubt.

    Wilhelm Reich stellte die These auf, dass ein Mensch, der in seiner Kindheit und Pubertät nicht der sexualfeindlichen Haltung unserer Gesellschaft ausgesetzt ist und dadurch seine natürliche sexuelle Erlebnisfähigkeit beibehalten kann, in der Lage sein wird, später mit einem Partner vollständige sexuelle Befriedigung zu erlangen und kein Bedürfnis nach sexuellen Perversionen und Draufgängertum entwickelt. Dies wird u.a. durch die Tatsache bestätigt, dass bei den Trobriandern keine sexuellen Übergriffe Erwachsener auf Kinder stattfinden.

    Auf unsere Kultur ist dies nur schwer übertragbar, da Sexualität ja bereits über Generationen hinweg abgewertet wurde und mit bewussten und unbewussten Schuldgefühlen belastet ist.

    Die Männer der Eipo tragen auffällige Peniskalebassen und zeitweise eng gewickelte Rotangürtel, die eine optische Verschmälerung der Leibesmitte bewirken, so dass das Verhältnis Schulter- zu Taillenbreite eine Dreieckskonfiguration, die idealisierte Körpersilhouette des Mannes, ergibt. Die Kalebasse betont den Penis im Sinne einer permanent gemachten Dominanzerektion.

    Es ist bekannt, dass Kulturen, in denen Kalebassen getragen werden, kriegerisch sind.
    Die Eipo-Frauen und Mädchen tragen Baströckchen aus Riedgras. Bei Tanzfesten werden besonders viele buschige Schichten neuer Grasröckchen angelegt, wodurch Gesäß und Hüfte betont werden. Die Brüste sind, wie in vielen Kulturen, unbekleidet, sie gelten nicht primär als sexueller, sondern als nährender Teil des Körpers.

    Bei den Trobriandern tragen Männer und männliche Jugendliche bei bestimmten Tänzen im Rahmen von Erntefeierlichkeiten Röcke, die denen der Frauen sehr ähnlich sind. Aus der Ferne kann nicht erkannt werden, ob es sich um Mann oder Frau handelt. Beim mweki-Tanz, der ebenfalls zu den Erntefeierlichkeiten gehört, besteht diese Verwechslungsmöglichkeit nicht. Hier wird noch die früher übliche Genitalbekleidung des Mannes getragen, die weiße Blattscheide von der Spitze einer Betelnusspalme, die zwischen den Beinen durchgezogen und mit einem Gürtel befestigt wird.

    Die Frauen tragen halblange Röcke aus Bananenbastfasern. Sie führen den im Ablauf der Totenfeiern zeremonialen Austausch von Bananenbast-Tanzröcken (doba) durch, eine sehr eindrucksvolle öffentliche Zeremonie. Außerhalb der traditionellen Feste tragen die Trobriander inzwischen westliche Kleidung.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass äußerliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei den Eipo durch die Kleidung zusätzlich stark betont werden, was bei den Trobriandern in sehr viel geringerem Maße stattfindet.

    Bei den Eipo herrscht ein hohes Maß an kriegerischen Auseinandersetzungen. In den Hochlandgesellschaften sterben pro Jahr auf je 1000 Einwohner gerechnet ca. drei Personen eines unnatürlichen Todes. Die Kriege sind ritualisiert, auf Zuschauer wirken sie wie Turniere. Die Rollenverteilung ist eindeutig: Die Männer sind für die Verteidigung nach außen, aber auch für den Großteil gewalttätiger Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinschaft verantwortlich.
    Auch bei den Trobriandern gibt es gelegentlich bewaffnete Kämpfe mit Speeren, Messern, Äxten und Wurfhölzern; im Gegensatz zur Situation in den Hochlandkulturen sind Todesfälle durch Gewalt hier jedoch wesentlich seltener.

    Für die Eipo und generell auch für die anderen Gesellschaften des Hochlandes ist die Furcht des Mannes vor weiblichen Genitalorganen charakteristisch.

    Männer und initiierte Knaben vermeiden es, sich auf einen Platz zu setzen, auf dem vorher eine geschlechtsreife Frau gesessen hatte. Dahinter steckt die Vorstellung, daß Kräfte aus der Vagina, stofflich in Form von Menstruationsblut und Vaginalsekret, für den Mann schädlich sein können. Es besteht die Auffassung, dass Frauen ihren Männern trotz deren körperlicher Überlegenheit wesentlich mehr Schaden zufügen könnten als umgekehrt, indem sie z.B. die strengen Vorschriften während der Menstruation nicht einhielten.

    Diese Ängste treten bei den Trobriandern nicht auf. Unverheiratete und frischverheiratete Männer und Frauen dürfen sich in der Öffentlichkeit berühren und necken. Das Verhältnis zwischen den Ge-schlechtern ist wesentlich entspannter als bei den Eipo.

    Die Eipo-Frauen wohnen während der Menstruation und des Wochenbettes in den Frauenhäusern. Auch die Geburt der Kinder erfolgt hier, wobei die Gebärende von geburtserfahrenen Frauen umsorgt wird. Die Säuglingssterblichkeit ist trotz des Fehlens moderner Medizin gering. Auf die Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern wird einfühlsam und liebevoll eingegangen.

    Sie sind bei den Eipo fast immer in Kontakt mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen. Auf längeren Strecken werden sie im Netzbeutel getragen. Sie haben einen un-gehinderten Zugang zur Brust, feste Stillzeiten gibt es nicht. Nachts schlafen sie am Körper der Mutter. Wenn sie im Alter von drei Jahren abgestillt werden, haben sie bereits Beziehungen zu anderen Kindern, mit denen sie zunehmend mehr Zeit verbringen. In den Kindergruppen findet, wie in allen traditionellen Kulturen, ein wichtiger Teil der weiteren Sozialisation statt.

    Auch bei den Trobriandern sind bei der Geburt eines Kindes nur Frauen anwesend. Die Mutter darf die Hütte, in der sie entbunden hat, für mindestens einen Monat nicht verlassen. Sie wird mit Essen versorgt und von niemandem gestört, so dass sie sich ausschließlich dem Kind widmen kann. Der Säugling wird rund um die Uhr nach Bedarf gestillt. Dies ist auch für die Mutter vorteilhaft, da dadurch ein Milchstau und schmerzhafte Brustentzündungen vermieden werden.

    Eine gezielte Untersuchung des Stillverhaltens bei den Trobriandern ergab, dass der Säugling sowohl Häufigkeit als auch die Dauer des Stillvorgangs in der Regel selbst bestimmt. Auch nachts hat das neben der Mutter liegende Kind ungehinderten Zugang zur Brust. In unserer Kultur wird Müttern auch heute von Kinderärzten und Gynäkologen immer noch geraten, nur in gewissen Zeitabständen zu stillen (z.B. alle drei Stunden) und die Stillzeit auf 20-30 Minuten zu begrenzen. Begründet wird dies damit, dass es die Kinder vor Koliken und die Mutter vor Brustentzündungen schütze. Das Gegenteil ist der Fall: In Kulturen, in denen nach Bedarf gestillt wird, sind Brustentzündungen und Koliken unbekannt.

    (Anmerkung: Bei bereits bestehenden Stillproblemen oder medizinischen Problemen können diese Vorschriften vorübergehend hilfreich sein, da in manchen Fällen dadurch verhindert werden kann, dass die Mutter aufgrund der Problematik zum Abstillen gezwungen ist. Meine Kritik wendet sich nicht an das Eingreifen in diesen Fällen, sondern an das Aufstellen einer Norm, die einen an sich selbstregulatorisch verlaufenden Prozess behindert.)

    Größere Babys krabbeln zwischen den Erwachsenen und anderen Kindern herum und werden jederzeit hochgenommen, wenn sie es wollen. Da die Mutter-Kind-Bindung bei den Trobriandern sehr eng ist und das Kind die Sicherheit hat, selbst bestimmen zu können, wie weit es sich von der Mutter entfernt, um jederzeit wieder zu ihr zurückkehren zu können, leiden die Kinder nicht unter Verlustängsten und werden schneller selbständig als europäische Kinder. Im Alter von zwei bis drei Jahren schließen sich die Kinder einer Spielgruppe an. Das Lernen erfolgt durch Nachahmung größerer Kinder.Besonders eindrucksvoll ist, wie fröhlich und aggressionsarm die Kinder sind.

    Den Kindern wird viel Toleranz entgegengebracht, es wurde von den Forschern nie beobachtet, dass ein Kind geschlagen wurde. Wie in anderen traditionellen Kulturen findet man auch bei den Trobriandern einen in früher Kindheit permissiven Erziehungsstil, der erst mit zu-nehmendem Alter des Kindes leitender und restriktiver wird. In unserer Kultur scheint dies umgekehrt zu sein: Während kleine Kinder täglich auf zahlreiche Grenzen stoßen, scheinen die Eltern bei größeren Kindern nur noch relativ wenig Einfluss zu nehmen und auf un-erwünschtes Verhalten eher mit Ratlosigkeit zu reagieren.

    Ebenso verhält es sich mit dem Grad des Behütet seins in umgekehrter Reihenfolge: Während europäische Mütter bei Säuglingen und Kleinkindern auf „Lernen von Selbständigkeit“ Wert legen, indem sie sie zum Beispiel zum Schlafen in ein separates Zimmer legen, sind sie andererseits noch mit der Betreuung ihrer Kinder beschäftigt, wenn diese bereits das Teenageralter erreicht haben. In traditionellen Kulturen, in denen die älteren Kinder bereits sehr selbständig sind und zunehmend eigene Aufgaben übernehmen, werden kleine Kinder sehr intensiv behütet; sie unternehmen eigene Schritte, um die Umgebung zu erkunden, nur wenn sie selbst dazu auch bereit sind.

    Sowohl bei den Eipo als auch bei den Trobriandern sind die Mütter die „secure base“, von der aus die emotional gut gebundenen Kinder ihre Umwelt erobern. In beiden Kulturen tragen die Frauen die Säuglinge am Körper und stillen zwei bis drei Jahre lang. Frauen und Mädchen verbringen mehr Zeit mit Säuglingen und Kleinkindern als Männer und Jungen dies tun. Trotzdem haben auch letztere ein enges, positives Verhältnis zu Kindern und verbringen viel mehr Zeit mit ihnen, als dies in unserer Gesellschaft üblich ist, unter anderem deshalb, weil die Welt der Kinder und die der Erwachsenen viel weniger getrennt ist als bei uns.

    Das liebevolle Verhalten gegenüber Säuglingen mit Erfüllung sämtlicher Bedürfnisse rund um die Uhr, wie es bei den Trobriandern und bei den Eipo praktiziert wird, deckt sich mit den Verhaltensweisen nahezu aller traditioneller Kulturen. Man kann deshalb davon ausgehen, dass zwar viele menschliche Verhaltensweisen wie Gesellschaftsstruktur etc. an das Lebensumfeld der jeweiligen Kultur angepasst sind, die Bedürfnisse von Säuglingen jedoch universell sind. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen westliche Erziehungspraktiken, bei denen die ständige Angst vor „Verwöhnung“ des Kindes im Vordergrund steht, sehr fragwürdig.

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