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Bukumatula 4/2003

Auf der Suche nach der idealen Gesellschaftsform …

Zwei melanesische Kulturen im Vergleich von
Susanne Wittmann:

Wilhelm Reich interessierte sich für die Kultur der Trobriander, als er der Frage nachging, welche Faktoren in unserer Gesellschaft zur Entstehung von Neurosen beitragen und wie deren Auftreten verhindert werden könnte. Er stützte sich hierbei auf die Schriften des Verhaltensforschers Bronislaw Malinowski, der 1915-1918 bei den Trobriandern gelebt hatte und dort in unserer Kultur weit verbreitete Neurosen nicht vorfand.

Aufgrund eines Forschungsprojektes, das unter der Leitung der Abteilung für Humanethologie des Max-Planck-Instituts in Andechs ab 1982 über viele Jahre durchgeführt wurde, sind zahlreiche Einzelheiten über die heutige Lebensweise der Trobriander sehr gut dokumentiert.

In diesem Artikel möchte ich eine weitere melanesische Kultur vorstellen, die Kultur der „Eipo“. Diese zählt zu den ältesten Kulturen überhaupt, sie besteht seit 50.000 Jahren.

Anhand dieser beiden Kulturen soll exemplarisch gezeigt werden, dass Menschen – je nach Beschaffenheit ihres Lebensumfelds – sehr unter-schiedliche Lösungen gefunden haben, ihr Zusammenleben zu gestalten. Neben den Unterschieden existieren aber auch kulturüber-greifende Gemeinsamkeiten, besonders im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern, worauf ich später näher eingehen werde. Diese Gemeinsamkeiten halte ich für besonders interessant im Hinblick auf die Frage, wie die beschriebenen Kulturen über Jahrtausende existieren und trotz relativer materieller Armut und teilweise unbequemen Lebensumständen psychisch gesunde und lebendige, liebenswerte Menschen hervorbringen können.

Bezüglich der Unterschiede beziehe ich mich vor allem auf den Artikel „Zwischen Patriarchat und Matrilinearität – melanesische Antworten auf ein biopsychologisches und soziokulturelles Problem“ des Ethnomediziners und Humanethologen Wulf Schiefenhövel. Er vergleicht die Trobriander und die Eipo in diesem Artikel vor allem in bezug auf Unterschiede in den Rollen, die sie den Geschlechtern zuschreiben.

Die Eipo

Die Eipo gehören zu den ältesten Bevölkerungen der Erde. Sie leben in West-Neuguinea im Hochtal des Eipo-Flusses zwischen 1600 und 2100 m Höhe. Tagsüber ist es 20-25 Grad warm, nachts sinkt die Temperatur auf 11-13 Grad. Die Eipo sind trotz schwieriger Lebens-bedingungen erstaunlich gesund und außerordentlich leistungsfähig.
Sie sprechen eine Untergruppe der Mek-Sprache.

Im oberen Eipomek-Tal leben ca. 800 Menschen, in einem Dorf zwischen 50 und 200 Bewohner. Grundnahrungsmittel ist die Süßkartoffel; die Eipo leben von Gartenbau, Sammeln und Jagen. Bereits vor 14.000 Jahren wurden von ihnen Nahrungspflanzen angebaut, viele tausend Jahre vor der Erfindung des Ackerbaus in Mesopotamien.

Darüber hinaus erfüllen ihre metaphernreichen Lieder und Mythen hohe künstlerische Ansprüche.
Von Fremden wurden sie erstmals 1969 kontaktiert. Inzwischen traten durch den Einfluß fundamentalistischer nordamerikanischer Missionen viele Veränderungen ein.

Die folgenden Beschreibungen treffen auf den Zeitpunkt des Beginns der humanethologischen Forschungsarbeiten im Jahre 1974 zu und gehören heute teilweise der Vergangenheit an.

Die Gesellschaftsform ist patrilineal und patriarchisch, gleichzeitig demokratisch, egalitär und akephal („ohne Kopf“, ohne etablierte Häuptlingsfunktion) organisiert. Führungsrollen sind an persönliche Eigenschaften wie soziale Kompetenz gebunden, werden nicht vererbt und werden nur aufrechterhalten, solange die positiven Eigenschaften bestehen oder bis eine neue fähige Person diese Funktion übernimmt.

Die Trobriander

Die Besiedlung der Trobriand-Inseln erfolgte vor 4.000 – 5.000 Jahren durch die sogenannten Austronesier, ausgehend von Südchina und Taiwan über die Philippinen und Indonesien. Die Inseln liegen in der westlichen Südsee und gehören dem Staat Papua Neuguinea an. Sie wurden 1793 von einem französischen Forschungsreisenden entdeckt. 1884 wurde Südost-Neuguinea einschließlich der Trobriand-Inseln englisches Protektorat, wenige Jahre später Kolonie. Die Christianisierung erfolgte hier zurückhaltend, es wurden viele traditionelle Elemente beibehalten.

Die Trobriander, ca. 25.000 Menschen, sprechen Kilivila, eine austronesische Sprache. Die Dörfer werden von einigen Dutzend bis zu wenigen hundert Einwohnern bewohnt.

Ihr Hauptnahrungsmittel sind Yamswurzeln und andere Nahrungspflanzen, außerdem fischen und jagen sie. Unter- und Mangelernährung sind bei den Trobriandern unbekannt, auch „Zivilisationskrankheiten“ wie Bluthochdruck und Herzinfarkt gibt es bei ihnen nicht.

Durch Tauschsysteme innerhalb der Familie und zwischen Familien, Klanen, Dörfern und Inseln werden wechselseitige Verpflichtungen geschaffen, die das soziale Gefüge stärken. Getauscht werden materielle Güter, aber auch besondere Kenntnisse und Dienstleistungen wie z.B. die Mithilfe beim Hausbau.

Die Trobriander sind sehr begabt für Musik und Schnitzkunst. Sie haben außerdem eine genaue Kenntnis ihrer Umwelt und hohe soziale Kompetenz. Außerdem begleiten religiöse Handlungen den Alltag, z.B. in Form von religiösen Riten und dabei gemurmelten Formeln.

Die Gesellschaftsordnung ist durch eine klare Kasten- und Feudalstruktur gekennzeichnet. Die politische Macht liegt bei den Häuptlingen, wobei dieses Amt nur über die mutterrechtliche Linie erworben werden kann; ein Häuptling kann es also nicht an seinen Sohn vererben.

Männliches und weibliches Rollenverhalten:
Kulturspezifische Unterschiede

Die Hochlandgesellschaften, einschließlich der Eipo, sind patrilineal strukturiert, bei den Trobriandern besteht eine matrilineale Deszendenzregel. Die Zugehörigkeit der Kinder, deren soziale Stellung und Rechte werden also nach der Sippe der Mutter bestimmt.

Der Wohnort eines jungen Paares wird bei den Hochlandgesellschaften einschließlich der Eipo nach der Herkunft des Mannes bestimmt – es sind also patrifokale Gesellschaften.

Bei den Trobriandern zieht die Frau zwar ebenfalls zum Ehemann, ihre Kinder haben jedoch im Falle einer Trennung oder Scheidung Anrecht auf Wohnung und auf Land im Heimatdorf ihrer Mutter. Die Gesellschaft der Trobriander kann als partiell bifokal bezeichnet werden.

Führungsrollen werden bei den Eipo und anderen Hochlandgesellschaften von Männern übernommen. Es handelt sich hierbei um Männer, die aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften wie Kraft, Vitalität, Intelligenz und soziale Kompetenz von den anderen in dieser Rolle akzeptiert werden. Ändert sich dies, zum Beispiel aufgrund nachlassender Führungsqualitäten durch Krankheit oder Alter, verliert die jeweilige Person ihre Position.

Bei den Eipo werden sämtliche politischen Entscheidungen von den Männern getroffen. Auch für religiöse Angelegenheiten sind die Männer zuständig, sakrale Reliquien werden in den Männerhäusern aufbewahrt und von Kultführern verwaltet.

Auf den Trobriand Inseln liegt die politische Macht ebenfalls bei den männlichen Häuptlingen (guyau). Ihre Position ist ausschließlich über die Matrilinie erblich. Sie ist institutionell abgesichert und damit fester etabliert als die Führerschaft bei den Eipo.

Die guyau bestimmen fast alle wesentlichen Aktivitäten der Dorf- oder Inselgemeinschaft. Bedeutende Häuptlinge, insbesondere der oberste Häuptling aller Trobriand Inseln, haben das Recht auf polygyne Ehen. Dies hat beachtliche ökonomische Konsequenzen, da die Häuptlingsfrauen Gewinn in Form von Gartenprodukten etc. erzielen und ihre Familien verpflichtet sind, dem Ehemann bedeutende Gaben an Yams-Wurzeln zu leisten. Diese Ansammlung von Reichtum dient vor allem der Ausrichtung von Festen und anderen Aktivitäten der Gemeinschaft.

Bei den Eipo sind die Frauen die hauptsächlichen Versorger der Familie mit Nahrung. Sie tragen hierbei Lasten bis zu 40 kg – Süßkartoffeln, Blattgemüse, Feuerholz und oft noch ein Kleinkind auf der Schulter – über mehrere Stunden. Die durchschnittliche körperliche Belastung ist bei den Frauen höher, während bei den Tätigkeiten der Männer, z.B. beim Haus- und Brückenbau, höhere Spitzenbelastungen auftreten können. Gartenarbeit wird von beiden Geschlechtern gemeinsam verrichtet, ansonsten besteht eine geschlechtsspezifische Aufteilung der Aufgaben.

Bei den Trobriandern ist die Verteilung der Arbeitslasten ähnlich. Die Frauen leisten auch hier einen größeren Beitrag zur Versorgung der Familie mit Nahrung. Gartenarbeit sowie Sammeln und Fischen im Küstenbereich wird von beiden Geschlechtern ausgeübt, der Fischfang abseits der Küste ist Aufgabe der Männer.

Bei den Eipo befinden sich jeweils in der Mitte des Dorfes zwei bis drei Männerhäuser, in denen sich Männer zurückziehen und z.B. ungestört politisieren können. Sie dienen außerdem als Unterkunft für un-verheiratete Männer. Das Frauenhaus befindet sich am Rande des Dorfes. Es ist der vorgeschriebene Aufenthaltsort für menstruierende Frauen und der Ort für Geburt und Wochenbett sowie ein Refugium. Es werden hier heilige Zeremonien zum Wohl der Frau und ihres Kindes durchgeführt. Offizielle religiöse Riten für die Dorfgemeinschaft finden hingegen im und beim Männerhaus statt.

Bei den Eipo und in allen anderen Hochlandgesellschaften finden kollektive Initiationsriten statt, um aus den Knaben Männer zu formen. Für die Mädchen findet keine Initiation statt, da davon ausgegangen wird, dass diese von selbst zu Frauen werden.

Bei den Trobriandern gibt es weder Knabeninitiation noch Männer- oder Frauenhaus. Im Junggesellenhaus (bukumatula), in das Jungen ab dem Alter von 15 Jahren nach dem Verlassen des Elternhauses ziehen, sammeln Jugendliche bzw. junge Erwachsene ungestört sexuelle Erfahrungen. Die Pubertät setzt hier erst spät ein, der Beginn der Aufnahme sexueller Aktivitäten erfolgt bei jungen Männern etwa im Alter von 20 Jahren.

Die Altersangaben in älteren Forschungsberichten weichen hiervon erheblich ab, da die Jugendlichen langsamer wachsen als in Europa und dadurch wahrscheinlich jünger geschätzt wurden. Für beide Geschlechter ist Promiskuität bis zur Heirat erlaubt.

Wilhelm Reich stellte die These auf, dass ein Mensch, der in seiner Kindheit und Pubertät nicht der sexualfeindlichen Haltung unserer Gesellschaft ausgesetzt ist und dadurch seine natürliche sexuelle Erlebnisfähigkeit beibehalten kann, in der Lage sein wird, später mit einem Partner vollständige sexuelle Befriedigung zu erlangen und kein Bedürfnis nach sexuellen Perversionen und Draufgängertum entwickelt. Dies wird u.a. durch die Tatsache bestätigt, dass bei den Trobriandern keine sexuellen Übergriffe Erwachsener auf Kinder stattfinden.

Auf unsere Kultur ist dies nur schwer übertragbar, da Sexualität ja bereits über Generationen hinweg abgewertet wurde und mit bewussten und unbewussten Schuldgefühlen belastet ist.

Die Männer der Eipo tragen auffällige Peniskalebassen und zeitweise eng gewickelte Rotangürtel, die eine optische Verschmälerung der Leibesmitte bewirken, so dass das Verhältnis Schulter- zu Taillenbreite eine Dreieckskonfiguration, die idealisierte Körpersilhouette des Mannes, ergibt. Die Kalebasse betont den Penis im Sinne einer permanent gemachten Dominanzerektion.

Es ist bekannt, dass Kulturen, in denen Kalebassen getragen werden, kriegerisch sind.
Die Eipo-Frauen und Mädchen tragen Baströckchen aus Riedgras. Bei Tanzfesten werden besonders viele buschige Schichten neuer Grasröckchen angelegt, wodurch Gesäß und Hüfte betont werden. Die Brüste sind, wie in vielen Kulturen, unbekleidet, sie gelten nicht primär als sexueller, sondern als nährender Teil des Körpers.

Bei den Trobriandern tragen Männer und männliche Jugendliche bei bestimmten Tänzen im Rahmen von Erntefeierlichkeiten Röcke, die denen der Frauen sehr ähnlich sind. Aus der Ferne kann nicht erkannt werden, ob es sich um Mann oder Frau handelt. Beim mweki-Tanz, der ebenfalls zu den Erntefeierlichkeiten gehört, besteht diese Verwechslungsmöglichkeit nicht. Hier wird noch die früher übliche Genitalbekleidung des Mannes getragen, die weiße Blattscheide von der Spitze einer Betelnusspalme, die zwischen den Beinen durchgezogen und mit einem Gürtel befestigt wird.

Die Frauen tragen halblange Röcke aus Bananenbastfasern. Sie führen den im Ablauf der Totenfeiern zeremonialen Austausch von Bananenbast-Tanzröcken (doba) durch, eine sehr eindrucksvolle öffentliche Zeremonie. Außerhalb der traditionellen Feste tragen die Trobriander inzwischen westliche Kleidung.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass äußerliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei den Eipo durch die Kleidung zusätzlich stark betont werden, was bei den Trobriandern in sehr viel geringerem Maße stattfindet.

Bei den Eipo herrscht ein hohes Maß an kriegerischen Auseinandersetzungen. In den Hochlandgesellschaften sterben pro Jahr auf je 1000 Einwohner gerechnet ca. drei Personen eines unnatürlichen Todes. Die Kriege sind ritualisiert, auf Zuschauer wirken sie wie Turniere. Die Rollenverteilung ist eindeutig: Die Männer sind für die Verteidigung nach außen, aber auch für den Großteil gewalttätiger Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinschaft verantwortlich.
Auch bei den Trobriandern gibt es gelegentlich bewaffnete Kämpfe mit Speeren, Messern, Äxten und Wurfhölzern; im Gegensatz zur Situation in den Hochlandkulturen sind Todesfälle durch Gewalt hier jedoch wesentlich seltener.

Für die Eipo und generell auch für die anderen Gesellschaften des Hochlandes ist die Furcht des Mannes vor weiblichen Genitalorganen charakteristisch.

Männer und initiierte Knaben vermeiden es, sich auf einen Platz zu setzen, auf dem vorher eine geschlechtsreife Frau gesessen hatte. Dahinter steckt die Vorstellung, daß Kräfte aus der Vagina, stofflich in Form von Menstruationsblut und Vaginalsekret, für den Mann schädlich sein können. Es besteht die Auffassung, dass Frauen ihren Männern trotz deren körperlicher Überlegenheit wesentlich mehr Schaden zufügen könnten als umgekehrt, indem sie z.B. die strengen Vorschriften während der Menstruation nicht einhielten.

Diese Ängste treten bei den Trobriandern nicht auf. Unverheiratete und frischverheiratete Männer und Frauen dürfen sich in der Öffentlichkeit berühren und necken. Das Verhältnis zwischen den Ge-schlechtern ist wesentlich entspannter als bei den Eipo.

Die Eipo-Frauen wohnen während der Menstruation und des Wochenbettes in den Frauenhäusern. Auch die Geburt der Kinder erfolgt hier, wobei die Gebärende von geburtserfahrenen Frauen umsorgt wird. Die Säuglingssterblichkeit ist trotz des Fehlens moderner Medizin gering. Auf die Bedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern wird einfühlsam und liebevoll eingegangen.

Sie sind bei den Eipo fast immer in Kontakt mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen. Auf längeren Strecken werden sie im Netzbeutel getragen. Sie haben einen un-gehinderten Zugang zur Brust, feste Stillzeiten gibt es nicht. Nachts schlafen sie am Körper der Mutter. Wenn sie im Alter von drei Jahren abgestillt werden, haben sie bereits Beziehungen zu anderen Kindern, mit denen sie zunehmend mehr Zeit verbringen. In den Kindergruppen findet, wie in allen traditionellen Kulturen, ein wichtiger Teil der weiteren Sozialisation statt.

Auch bei den Trobriandern sind bei der Geburt eines Kindes nur Frauen anwesend. Die Mutter darf die Hütte, in der sie entbunden hat, für mindestens einen Monat nicht verlassen. Sie wird mit Essen versorgt und von niemandem gestört, so dass sie sich ausschließlich dem Kind widmen kann. Der Säugling wird rund um die Uhr nach Bedarf gestillt. Dies ist auch für die Mutter vorteilhaft, da dadurch ein Milchstau und schmerzhafte Brustentzündungen vermieden werden.

Eine gezielte Untersuchung des Stillverhaltens bei den Trobriandern ergab, dass der Säugling sowohl Häufigkeit als auch die Dauer des Stillvorgangs in der Regel selbst bestimmt. Auch nachts hat das neben der Mutter liegende Kind ungehinderten Zugang zur Brust. In unserer Kultur wird Müttern auch heute von Kinderärzten und Gynäkologen immer noch geraten, nur in gewissen Zeitabständen zu stillen (z.B. alle drei Stunden) und die Stillzeit auf 20-30 Minuten zu begrenzen. Begründet wird dies damit, dass es die Kinder vor Koliken und die Mutter vor Brustentzündungen schütze. Das Gegenteil ist der Fall: In Kulturen, in denen nach Bedarf gestillt wird, sind Brustentzündungen und Koliken unbekannt.

(Anmerkung: Bei bereits bestehenden Stillproblemen oder medizinischen Problemen können diese Vorschriften vorübergehend hilfreich sein, da in manchen Fällen dadurch verhindert werden kann, dass die Mutter aufgrund der Problematik zum Abstillen gezwungen ist. Meine Kritik wendet sich nicht an das Eingreifen in diesen Fällen, sondern an das Aufstellen einer Norm, die einen an sich selbstregulatorisch verlaufenden Prozess behindert.)

Größere Babys krabbeln zwischen den Erwachsenen und anderen Kindern herum und werden jederzeit hochgenommen, wenn sie es wollen. Da die Mutter-Kind-Bindung bei den Trobriandern sehr eng ist und das Kind die Sicherheit hat, selbst bestimmen zu können, wie weit es sich von der Mutter entfernt, um jederzeit wieder zu ihr zurückkehren zu können, leiden die Kinder nicht unter Verlustängsten und werden schneller selbständig als europäische Kinder. Im Alter von zwei bis drei Jahren schließen sich die Kinder einer Spielgruppe an. Das Lernen erfolgt durch Nachahmung größerer Kinder.Besonders eindrucksvoll ist, wie fröhlich und aggressionsarm die Kinder sind.

Den Kindern wird viel Toleranz entgegengebracht, es wurde von den Forschern nie beobachtet, dass ein Kind geschlagen wurde. Wie in anderen traditionellen Kulturen findet man auch bei den Trobriandern einen in früher Kindheit permissiven Erziehungsstil, der erst mit zu-nehmendem Alter des Kindes leitender und restriktiver wird. In unserer Kultur scheint dies umgekehrt zu sein: Während kleine Kinder täglich auf zahlreiche Grenzen stoßen, scheinen die Eltern bei größeren Kindern nur noch relativ wenig Einfluss zu nehmen und auf un-erwünschtes Verhalten eher mit Ratlosigkeit zu reagieren.

Ebenso verhält es sich mit dem Grad des Behütet seins in umgekehrter Reihenfolge: Während europäische Mütter bei Säuglingen und Kleinkindern auf „Lernen von Selbständigkeit“ Wert legen, indem sie sie zum Beispiel zum Schlafen in ein separates Zimmer legen, sind sie andererseits noch mit der Betreuung ihrer Kinder beschäftigt, wenn diese bereits das Teenageralter erreicht haben. In traditionellen Kulturen, in denen die älteren Kinder bereits sehr selbständig sind und zunehmend eigene Aufgaben übernehmen, werden kleine Kinder sehr intensiv behütet; sie unternehmen eigene Schritte, um die Umgebung zu erkunden, nur wenn sie selbst dazu auch bereit sind.

Sowohl bei den Eipo als auch bei den Trobriandern sind die Mütter die „secure base“, von der aus die emotional gut gebundenen Kinder ihre Umwelt erobern. In beiden Kulturen tragen die Frauen die Säuglinge am Körper und stillen zwei bis drei Jahre lang. Frauen und Mädchen verbringen mehr Zeit mit Säuglingen und Kleinkindern als Männer und Jungen dies tun. Trotzdem haben auch letztere ein enges, positives Verhältnis zu Kindern und verbringen viel mehr Zeit mit ihnen, als dies in unserer Gesellschaft üblich ist, unter anderem deshalb, weil die Welt der Kinder und die der Erwachsenen viel weniger getrennt ist als bei uns.

Das liebevolle Verhalten gegenüber Säuglingen mit Erfüllung sämtlicher Bedürfnisse rund um die Uhr, wie es bei den Trobriandern und bei den Eipo praktiziert wird, deckt sich mit den Verhaltensweisen nahezu aller traditioneller Kulturen. Man kann deshalb davon ausgehen, dass zwar viele menschliche Verhaltensweisen wie Gesellschaftsstruktur etc. an das Lebensumfeld der jeweiligen Kultur angepasst sind, die Bedürfnisse von Säuglingen jedoch universell sind. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen westliche Erziehungspraktiken, bei denen die ständige Angst vor „Verwöhnung“ des Kindes im Vordergrund steht, sehr fragwürdig.

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Literaturangaben:
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Reich, W.: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Hamburg: Fischer Taschenbuch Verlag, 1975
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Schiefenhövel, W. u.a.: Im Spiegel der Anderen. München: Realis Verlags-GmbH, 1993
Schiefenhövel, W.: Zwischen Patriarchat und Matrilinealität – melanesische Antworten auf ein biopsychologisches und soziokulturelles Problem. In: Interdisziplinäre Aspekte der Geschlechterverhältnisse in einer sich wandelnden Zeit. Bielefeld: Kleine, 1992. S.144 – 164
Schiefenhövel, W.: Ritualized Adult-Male/Adolescent-Male Sexual Behavior in Melanesia: An Anthropological and Ethological Perspective. In: Pedophilia, Hrsg. J.R. Feierman. New York: Springer, 1990
Schiefenhövel, W.: Weitere Informationen zur Geburt auf den Trobriand-Inseln. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn, 1983. S. 143-150
Wittmann, S.: Das letzte Paradies? Die Trobriander heute. In: Bukumatula 1/98
Zimmer, K.: Gute Bindungen machen selbständig. In: Die Zeit, 25.09. 1992, S. 39

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