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Bukumatula 3/2003

Wien – die sicherste Hauptstadt der Welt?

Traumatisierte Jugendliche in der Fremdunterbringung.
Gespräch mit Alfred Zopf
Wolfram Ratz:

zum Thema: „Wien wird Chicago werden“.- Alfred Zopf arbeitet als Sozialpädagoge im Heim Aichhorngasse der Magistratsabteilung 11 im 12. Wiener Gemeindebezirk.

Bukumatula: Du arbeitest als Sozialpädagoge in einem Heim der MA11 – Kinder und Jugendwohlfahrt. Kannst Du uns Deine Arbeit beschreiben?

Alfred: Korrekt wäre MA11, Überregion weiblich, weil im Jahr 2000 die Fremdunterbringung in Regionen eingeteilt worden ist. Es gibt insgesamt sechs Regionen und eine Überregion für weibliche und männliche Jugendliche. Ich arbeite mit weiblichen Jugendlichen. In der Überregion weiblich und männlich bin ich auch als Personalvertreter tätig. Ich arbeite in der Fremdunterbringung, das heißt konkret, dass ich im Heim 2 Mal 24 Stunden – mit der Übergabe 25 Stunden pro Woche Dienst habe.

Ich habe eine 45 Stundenverpflichtung, wobei die Zeit zwischen 24 und 6 Uhr zur Hälfte gezählt wird. Die Arbeit besteht aus der Aufnahme der Jugendlichen, der Hilfestellung bei Ämtern und in der individuellen und kollektiven Betreuung. In der Regel kommen die Mädchen über das Krisenzentrum oder vom Jugendamt zu uns.

Also es gibt eine Krise, da wird geschaut, ob Eltern und Jugendliche noch zusammenleben können und wenn das nicht geht, dann kommen sie zu uns; die meisten sind im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, in Einzelfällen auch darüber. Normalerweise sind das schwer erziehbare Jugendliche, heute sagt man schwer traumatisierte Jugendliche, die eine verminderte Arbeitsfähigkeit – und Liebesfähigkeit nach Freudscher Definition haben …

B: … nach Reichscher Definition haben.

A: Nein, nach Freudscher Definition haben, Wilhelm Reich hat neben Liebe und Arbeit „Wissen“ hinzugesetzt.

B: Was ist das Ziel der Betreuung?

A: dass die Jugendlichen selbständig und in einer eigenen Wohnung leben können.

B: Ist mit dem Heimaufenthalt auch eine berufliche Ausbildung verbunden?

A: Eigentlich nicht, nur selten schaffen unsere Jugendlichen einen Lehrabschluss. Wir sind schon froh, wenn sie regelmäßig einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können. Die Jugendlichen sind oft dermaßen traumatisiert, dass die Arbeitsfähigkeit so eingeschränkt ist, dass sie einen 40-Stundenjob gar nicht ausüben könnten, auch nicht in einer Lehrstelle. Ein Wunsch für die Zukunft wären Lehrstellen auf Teilzeitbasis. Die meisten landen bei Hilfsarbeits-Jobs. Man Muss nicht wissenschaftlich erklären, dass diejenigen, die keine Ausbildung haben die zukünftigen Langzeitarbeitslosen sein werden, bzw. in der working-poor-Klasse dahin vegitieren werden.- Aber eigentlich heißt der Titel: Wien, die sicherste Hauptstadt …

B: Ja, ich wollte nur wissen, was Du konkret machst. Also Du arbeitest mit schwer traumatisierten Mädchen …

A: Ja, mit Mädchen, die massiver Gewalt ausgesetzt waren, Mädchen mit schweren Persönlichkeitsdefiziten. Diese Jugendlichen sind meiner Meinung nach in der Psychiatrie nicht erwünscht.

B: Weil …

A: Weil es eine Streitfrage ist, was ein pädagogischer Fall ist und was ist ein medizinischer Fall ist. Da wird auf höchster Ebene sehr un-glücklich agiert. Es geht in erster Linie um Geld, das „anscheinend“ nicht vorhanden ist. Wenn Jugendliche außer sich geraten, also extrem agieren, werden sie medikamentös ruhiggestellt. Sie bekommen aber keine Psychotherapie. Möglichkeiten zur Therapie, so wie ich Therapie verstehe, gibt es seit einigen Jahren überhaupt keine mehr.

De facto kommen die Jugendlichen wieder zu uns; wir müssen dann mit sehr wenig Personal mit ihnen wieder zurechtkommen. In den 90er Jahren habe ich in einem Heim in Nußdorf noch in einem Team mit einem psychoanalytischen Ansatz gearbeitet, mit viel Regressionsarbeit, die als spätere Konsequenz zur Ich-Stabilisierung bzw. Ich-Stärkung führt. Es gab damals in der Fremdunterbringung noch Freiräume, wo die psychoanalytische Sozialtherapie sehr wohl einen Stellenwert hatte.

Nach der Pensionierung des Abteilungs- und Dezernatleiters sind dann Frauen an die Macht gekommen, und es ist verwunderlich, dass seither die Freiräume in der Arbeit vollkommen zugemacht worden sind – die erste Maßnahme war z.B. die Schließung der Institute für Sozialtherapie. Es geht jetzt nur mehr um den Vollzug von Gesetzestexten. Die Heimreform 2000 mag zwar ein positives Ziel gehabt haben, aber die Durchführung ist mit sehr autoritären Strukturen verbunden.

Ab der zweiten Hierarchiestufe gibt es nur noch Frauen – bis hin zur Stadträtin Grete Laska. Auf der einen Seite versucht man über „Leitbild“, „Open-Space-Veranstaltungen“, „Controlling“, etc. eine Scheinliberalität zu geben, auf der anderen Seite sind die realen Strukturen viel härter geworden, ich würde sagen im „Riess-Passer-Stil“ wird über die Mitarbeiter drübergefahren. Leider hat sich dieser Stil seither so entwickelt, warum weiß ich nicht. Diese Frauen an der Macht erinnern mich an Wilhelm Reichs „Rede an den kleinen Mann“.

Das sind für mich nur macht- und karriereorientierte Frauen – bestimmt aber keine emanzipierten Frauen.- Und dann gibt es noch einen Punkt: Als psychoanalytisch orientierter Pädagoge tut es mir schon weh, dass sich die Systemiker gegen die Psychoanalyse durchgesetzt haben. Dabei ist für mich verwunderlich, dass ich oft das Gefühl habe, dass ich mehr vom systemischen Ansatz verstehe als die Systemiker selber. Die verwenden einfach systemische Worthülsen, aber in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen agieren sie mit autoritären Mustern.

Ein Beispiel aus meiner Supervisionstätigkeit: Kolleginnen, die ein Jahr lang ein achtjähriges Kind wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch betreuen und diesen Missbrauch bestätigt erleben, müssen zur Kenntnis nehmen, dass ein systemischer Familientherapeut, zusammen mit dem Jugendamt dieses Kind zurück zur Familie entlassen wird; die berechtigten Einsprüche werden einfach ignoriert. Es gibt eine hierarchische Weisungsgebundenheit, Probleme werden nicht mehr diskutiert, es erfolgen Befehle. Aus diesen zusätzlich mit „Controlling“ als Steuerungsinstrument vorgegebenen Strukturen kommt für mich zunehmend klarer hervor, dass man auf Qualität immer weniger Wert legt.

In unserem Arbeitsbereich besteht die wirkliche Qualitätsarbeit oft jenseits von strukturiertem Denken und Handeln – vieles passiert auf der Ebene der Empathie. Den Umgang mit der Kinder- und Jugendwohlfahrt kann man als wichtigen Gradmesser hernehmen, wie die Sicherheit in unserer Stadt in den kommenden Jahren aussehen wird. Wir sind bestimmt eine Präventionseinrichtung für Gefängnis, Psychiatrie, Sozialhilfe, etc. Es ist eben ein Unterschied ob ich Strukturen habe, die die Jugendlichen stärken, dass sie sich auf eigene Füße stellen können, oder ob man diesbezüglich gleichgültig bleibt.

Die Öffentlichkeitsarbeit der MA11 ist ja ausgezeichnet, die Realität ist aber eine ganz andere. Immer mehr Jugendliche identifizieren sich derart mit Gewalt, dass sie alle Institutionen sprengen. Mit einem pädagogischen Anspruch, mit einem menschlichen Anspruch und auch mit einem therapeutischen Anspruch sind sie überhaupt nicht mehr „berührbar“. Als ich noch in Nußdorf gearbeitet habe, haben wir ein oder zwei absolute „Bomber“ gehabt, mit denen konnte man noch in einer Gruppe arbeiten.

Jetzt gibt es bei uns nur noch Bomber, und das ist enorm schwierig, weil sich Dynamiken aufbauen, die zu extremer Gewalt führen. Die Stadträtin Brauner hat vor kurzem gemeint, die Gewalt ist „männlich“; sie kennt aber unsere Organisation nicht, denn was sich unter den Mädchen für Gewalttätigkeiten abspielen, das übersteigt oft jede Vorstellung. Es gibt eine strenge Hierarchie, wobei vor allem auf die Schwachen die ganzen negativen Projektionen ausgelebt werden. Das ist die Realität, das sind die Jugendlichen, die heute in der Fremdunterbringung sind.

B: Wieso ist das heute anders als früher?

A: Vor mehr als 10 Jahren hat es eine Studie gegeben, wo angeführt wurde, dass jedes zehnte Kind verhaltensauffällig ist. Warum das jetzt so extrem geworden ist, kann ich nur in Teilbereichen verstehen, wissenschaftliche Erklärungen dazu kenne ich keine. Wir haben auch viele Jugendliche, die als Kinder den Jugoslawien-Krieg miterlebt haben.

Therapien bei sexuell Missbrauchten scheitern bei uns komplett. Ich glaube, dass hier auch falsche Ansätze verwendet werden. Zu erwarten, dass ein Jugendlicher, der schwer traumatisiert ist, von sich aus in Therapie geht, das ist absurd. Ich meine, es braucht TherapeutInnen, die als Einstieg für eine Therapie Bergwanderungen machen oder als 3. Mann im Wiener Kanalsystem herumkriechen, um erst einmal Vertrauen aufzubauen, um überhaupt mit einer Therapie beginnen zu können.

Diese sozialtherapeutische Ebene wird von den TherapeutInnen aber nicht umgesetzt. Die Jugendlichen gehen ein, zweimal in die Therapiestunde und meinen dann „was soll ich da reden, das bringt mir nichts“. Das kann nicht nur an den Jugendlichen liegen, das liegt sehr wohl auch an den TherapeutInnen. Um da besser einsteigen zu können, da muss man sich etwas überlegen. Therapie zu sexuellem Missbrauch funktioniert eher in der Mittel- und Oberschicht unserer Gesellschaft. Die Unbehandelbaren bleiben also uns, was uns von den Rahmenbedingungen her überfordert. Therapie wird zwar scheinhalber von der MA11 angeboten, aber an der Durchführung hapert es gewaltig.

B: Ich bin überrascht, dass es so viele Mädchen aus Ex-Jugoslawien gibt.

A: Ja. Wir betreuen in unserem Heim 24 Mädchen; ein Drittel stammt aus Ex-Jugoslawien und Albanien. Es gibt Gewaltdynamiken wie Kriegssituationen – und natürlich Misshandlungen in der Familie von klein auf an, sexueller Missbrauch, etc. Das hängt ja meistens alles zusammen. Viele Misshandelte und sexuell Missbrauchte stürzen in den Drogen- und dann in den Prostitutionsbereich ab.

B: Sind Drogen im Heim ein Problem?

A: Drogen sind natürlich ein Problem. Wir versuchen unser Haus so gut wie möglich vom Drogenkonsum freizuhalten. Wir vermitteln unseren Jugendlichen, dass sie hier einen sicheren Platz haben, einen Ort der Drogenfreiheit. Das funktioniert größtenteils, weil wir ein gut funktionierendes und geschlossenes Team sind.
B: Bist Du körperlich schon einmal attackiert worden?

A: Ich bin körperlich schon oft attackiert worden, weil ich vielleicht aus Übertragungssituationen heraus oft auch versucht habe zu berühren, anzugreifen, jemanden, der außer sich gerät, ein wenig zu halten, und da kommt unheimlich viel Gewalt heraus. Wenn in diesen Situationen nicht andere Mädchen als Zeugen dabei gewesen wären, hätte man mich als Misshandler beschuldigen können.

B: Gut, dass Du so stark bist, Du siehst ja auch aus wie Bud Spencer.

A: Noch. Jetzt gehe ich auch schon auf den Fünfziger zu, wie das in ein paar Jahren aussehen wird, weiß ich nicht. In meiner Arbeit gehe ich mit meinem psychotherapeutischen Hintergrund und aufgrund meiner Selbsterfahrung schon ein Stück weiter als manche andere KollegInnen. Da spielt sich einiges an Körpertherapie ab, Körpertherapie der anderen Art sozusagen, wo aber über die hysterischen Inszenierungen sehr viel herauskommen kann. Das ist jedoch kein therapeutisches, sondern ein pädagogisches Setting. Für viele bieten wir die vielleicht letzte menschliche Auseinandersetzung an, eine Station vor dem Gefängnis sozusagen.

B: Wir machen das Interview für eine Reich-Zeitschrift …

A: Einen Zusammenhang mit Reich habe ich schon erwähnt: Und zwar dass die „kleine Frau“ sich in unserer Organisation immer mehr durchsetzt – und die Männer, die sich durchsetzen, sind Macho-Männer. Es gibt eine Koalition von patriarchal eingestellten Männern und „patriarchal“ eingestellten Frauen. Das ist auch ein Reich-Thema. Das Patriarchat wirkt in den Machtstrukuren.

Die andere Seite ist die, und das sehe ich überaus positiv, dass es immer wieder KollegInnen gibt, die sensibel sind und Überlegungen bringen, wie man etwas verbessern, wie man neue Strukturen entwickeln könnte, um diesen Jugendlichen sehr wohl eine Hilfe fürs Leben mitgeben zu können.- Und dann natürlich die sexuell Traumatisierten, die Sexualität schon von Kindheit an auf brutalste Weise erlebt haben, weil das ja die sexuelle Erlebensfähigkeit vollkommen einschränkt.

Reich sagt ja auch, die Begegnung ist die soziale Maske und wenn sich die Jugendlichen total mit Negativität identifizieren, möchte ich das auch soziologisch sehen, das ist eine wichtige Ebene. Wir bewegen uns immer mehr in Richtung Leistungsgesellschaft, wobei immer mehr Menschen herausfallen, das heißt, die Jugendlichen, die auf diesem Level nicht mithalten können, scheiden aus dem System aus und haben praktisch nur mehr die Möglichkeit: Wenn ich nichts Positives von der Gesellschaft bekomme, dann muss ich mich mit dem Negativen identifizieren. Dahinter steckt natürlich das verletzte Kind, das Anerkennung und Liebe will. Hinter der Maske der Gewalttätigkeit ist auch die Sehnsucht nach dem anderen und dem schmerzvollen: „Ich will geliebt werden“.

B: Das heißt, Gewalt ist auch ein Ausdruck für Sehnsucht nach Geborgenheit.

A: Genau.

B: Wie meinst Du, dass es in Wien in 10 Jahren zugehen wird? Gibt es da nur mehr Handtaschlräuber – und werden Politiker in den USA dann verkünden: „Chicago darf nicht Wien werden“?

A: Ja, diese Menschen müssen ja auch von irgendwas leben. Da werden auch Überwachungskameras, mehr Sicherheitspersonal in den Kaufhäusern, etc. nichts nützen. Wie kommen sie zu ihren Bedürfnissen, die ihnen von der Werbung einsuggeriert werden? Wenn vom Staat Unterstützungen wie die Sozialhilfe, usw. immer mehr gekürzt werden, dann werden sie sich das mit illegalen Methoden holen.

Sie lernen ja auch immer mehr auf illegalen Ebenen zu leben, etwa im Drogenbereich; das findet ja in einem unglaublich brutalen Milieu statt. Das ist heute ganz anders als in den 70er Jahren, wo man Drogen zur Bewusstseinserweiterung ausprobiert hat; jetzt geht es immer mehr um die eigenen Bedürfnisse und da wird man schnell zum Kriminellen.

Für diejenigen, die in Frieden leben wollen, wird es immer schwieriger werden, die Kriminalität wird mit Sicherheit steigen. Ob das ein internationales Phänomen ist kann ich nicht sagen, aber für Wien – da habe ich genug Einblick -, wird das zutreffen. Das hat auch der kürzlich pensionierte Jugendgerichtshofpräsident Udo Jesionek in einem Falter-Interview in ähnlicher Form klargemacht.

Bei dem Interview muss ich aufpassen, dass mir da nicht etwas auf den Kopf fällt. Obwohl ich geschützter Personalvertreter bin, habe ich trotzdem Befürchtungen, weil ich selbst immer wieder in Graubereiche komme. Derzeit gibt es ein schwebendes Verfahren gegen mich, weil eine Jugendliche, die ich in der Nacht zu beruhigen versucht habe, gegen einen Heizkörper gefallen ist und es vom Spital eine Anzeige gegeben hat.

Ich weiß nicht, ob ich angeklagt werde. Gewaltdynamik kann unheimlich viel auslösen. Das Mädchen hat gesagt: „Ich werde dich hineinreiten“. Sie hat um Mitternacht herumgebrüllt, und ich habe sie zu beruhigen versucht. Das sind Tatsachen, das ist Berufsalltag, da ist man sehr alleine gestellt, wenn man keinen Schutz von oben hat. Dass unser Beruf immer schwieriger wird, ist spürbar. Die Jugendlichen wollen keine Betreuung. Sie wollen Gewalt, sie wollen „Action“. Ein Job, eine sinnvolle Arbeit ist ihnen vollkommen gleichgültig, sie agieren extrem.

B: Hast Du immer mit Mädchen gearbeitet?

A: Nein, ich habe früher auch mit Burschen gearbeitet. Ich habe aber einen guten Draht zu Mädchen, die sehr schwierig und eigentlich wie Burschen unterwegs sind. Im ersten Jahr meiner Berufstätigkeit in Wien, das war 1990, habe ich z.B. ein Skin-Mädchen betreut, die sich sehr stark mit Drogen und Gewalt identifiziert hat, zu der habe ich einen sehr guten Zugang gefunden – z.B. habe ich ihr erlaubt, einen Teil meiner Haare abzuschneiden. Überhaupt: Mit „Wahnsinnigen“ kann ich sehr gut, ich möchte sagen, ich bin ein Spezialist für „wahnsinnige“ Mädchen, das kannst Du ohne weiteres so schreiben.

B: Ist das Klima bei den Burschen aggressiver?

A: Nein. Aber in den achtziger Jahren hat es noch eine Trennung von Drogen- und Gewaltjugendlichen gegeben, das hat sich heute total vermischt.

B: Hast Du zu diesem Thema noch etwas zu sagen?

A: Ja, ich möchte noch etwas hervorzustreichen: Eine Kollegin ist vor einer Woche von zwei Mädchen derart brutal misshandelt worden, dass sie noch immer im Spital liegt – darüber wird in den Medien nichts berichtet.
B: Darüber wird nicht berichtet, weil …

A: Das ist eine gute Frage. Es geht um die verschiedenen Wahrnehmungen der Politik gegenüber der Realität. Dass über diesen Vorfall und über die Kollegin, der es jetzt sicher sehr schlecht geht, nicht berichtet wird, ist unsere Realität. Obwohl ich körperlich recht stark bin, empfinde ich auch manchmal viel Angst, wenn sich ein paar Mädchen zusammentun und auf einem Gewalttrip sind. Es ist im Haus Gott sei Dank noch eine weitere Betreuerin, aber wenn man in dieser Dynamik nicht mehr als Person gesehen wird, sondern als jemand der nur „störend“ ist, dann sieht das schlecht aus. Das heißt auch: wie schütze ich mich in meinem Beruf, damit ich nicht Opfer werde.

B: Machst Du Deine Arbeit gerne?

A: Sie macht mir nach wie vor Freude und ich würde sie auch wieder ergreifen, weil man kaum so an die Grenzen seines Ichs kommt, wie in diesem Beruf. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich auf Wilhelm Reich gestoßen bin: Auf der Suche nach der Wahrheit lernt man viele Lügengebäude der Gesellschaft zu durchschauen, weil man über diesen Beruf die dunklen Seiten unserer Gesellschaft erlebt. Das macht sensibel und das macht wach und hat eine ganz eigene Qualität.

Ich bin sicher ein rotes Tuch für die Hierarchie – da ist auch ein Stück des Reichianischen – ich bleibe bei der Wahrheit und bin unbequem. Und gleichzeitig muss ich natürlich aufpassen. Eigentlich bin ich Personalvertreter aufgrund von persönlich erlebten Mobbingstrategien geworden. Ich bin jetzt um einiges gewiefter, habe Management-Tricks selbst erfahren, die mich in meinen Entscheidungen nicht schwächer, sondern stärker gemacht haben. Aber ich bin unbequem. Für meine Psychohygiene ist es wichtig Missstände aufzuzeigen. Das ist eine meiner Stärken.

B: Ein Anarchist also …

A: Nein, kein Anarchist, aber ich bin nicht bereit, Lügengebäude weiterhin zu unterstützen. „Anarchist“ wird oft in mich hineininterpretiert, ich weiß nicht warum, manche denken ich bin der Urrevoluzzer.
B: Aber so siehst Du doch auch aus …

A: Ich bin das aber nicht. Ich will andere nicht manipulieren. Ich spreche aus, was mir ein Anliegen ist, aber ich bin keiner, der strategisch eine Revolution anzetteln will, das mache ich nicht.

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