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Bukumatula 2/03

Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse.
Fritz Erick Hoevels

Buchbesprechung von
Günter Hebenstreit:


Hoevels gewährt in diesem Buch einen detaillierten Einblick in die wissenschaftliche Periode Wilhelm Reichs während seiner psychoanalytischen Phase, also von ca. 1919 bis 1934. Die Hoevelsche Sympathie gilt für den Reich bis 1934, mit den „biologistisch-mystischen“ Theorien und spekulativen Verbindungen von Libidotheorie und Physiologie der späteren Jahre Reichs kann er nichts anfangen.

Diese gelten für ihn als Ausdruck des allseits verfolgten und hinausgeworfenen „Opfer“- Reichs, wobei der wohl schlimmste und folgenschwerste Initialkonflikt die heimliche Streichung von der Mitgliederliste der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gewesen ist. So, wie der Autor an die Sache herantritt, ist die Abgrenzung gegenüber dem „späten“ Reich dem Thema selbst nicht abträglich. Wer als Leser mit dieser Einschränkung leben kann, dem eröffnet sich ein vielschichtig wissenschaftliches wie biographisches Werk über Wilhelm Reich.

Der Autor ruft die chronologische Abfolge der Entwicklung Reichs innerhalb der psychoanalytischen Bewegung in Erinnerung: Reichs Interesse an der naturwissenschaftlichen Orientierung der Psychoanalyse und an einer fächerübergreifenden Wissenschaft zur Sexualität. Schon bald erfolgt der Aufstieg Reichs zum glänzenden Kliniker, der sich engagiert, die psychoanalytische Methode zu systematisieren. Die Entwicklung seines Konzeptes der orgastischen Potenz, dem er später das Modell des genitalen Charakters anfügt, hat die Konkretisierung der Frage „Was ist psychische Gesundheit?“ zur Folge.

Als Leiter des technischen Seminars verändert er die psychoanalytische Behandlungstechnik derart, dass die ungeordnete Widerstandsanalyse zur systematischen Charakteranalyse verfeinert wird. Mit Hilfe seiner dialektisch-materialistischen Forschungsmethode – auf das Gebiet der Sexualität angewandt – gelangt Reich genau dort hin, wo Freud zwanzig Jahre zuvor die Verbindung des Seelischen mit dem Physiologischen vermutete – zum Vegetativum.

Die Suche nach den Quellen der neurotischen Angst stand im Mittelpunkt. Die neurotische Angst als Antithese zur Sexualerregung sollte durch die therapeutische Rückverwandlung in libidinöse Erregung die Genitalität stärken und somit der Gesundung dienen. Dort, wo die Angsterregung nicht vorhanden war, fand Reich sie gebunden in der Muskulatur, in der Mimik und in der Körperhaltung (Panzerung). All diese Erfahrungen mündeten in die Frage nach einer effektiven Neurosenprophylaxe, welche Reich zur Soziologie, Ethnologie und zum Marxismus führte (vgl. auch Bernd Laskas Bemerkungen dazu unter: www.lsr-projekt.de/wrnega.html).

Nicht „was“ Reich erforscht hat, findet sich vergrößert unter der Linse des Beobachters in diesem Buch, sondern „wie“ er dies tat: In der fachlichen Diskussion war Reich kompromisslos gegenüber Beiträgen von Kollegen, die gesellschaftlich-moralische (Über-Ich-) Zugeständnisse in sich trugen. Die Versuche von Reik, Alexander und Freud – z.B. die Gleichsetzung von Strafangst und Strafbedürfnis, die Revision der ursprünglichen Angsttheorie und die Einführung des Todestriebs – wären geeignet gewesen, die Schärfe und Klarheit der naturwissenschaftlich orientierten Psychoanalyse durch die Einführung philosophischer und mystischer Konzepte zu unterminieren.

Reich kämpfte heftig dagegen an und wies beharrend auf die Zusammenhänge materieller Verwurzelungen psychischen und menschlichen Elends durch die Unterdrückung der Sexualität hin. Die Theorien ins Mystische und Unerreichbare verschoben, brauchte sich die Psychoanalyse – und damit die Psychoanalytiker selbst – nicht mehr dafür verantwortlich fühlen („Institutionelle Panzerung“).

Soweit die kurze chronologische Darstellung des ersten Teils des Buches. Interessant ist, wie Hövels den eigentlichen „Sündenfall“ Reichs beschreibt: Er widerlegt die öfters ausgedrückte Meinung, Reich hätte sich von der Psychoanalyse zu weit entfernt, wäre eben Kommunist geworden, verleugne den Ödipuskomplex, etc. Den Nachweis erbringt Hoevels durch a) das Aufzeigen des Fehlens von Widerspruch von Beginn weg, als Reich seine neuen Thesen vorstellte, und b) dass er in der ersten Zeit nach seinen Präsentationen überaus positive Rezensionen erhielt! Wodurch wurde Reich nun zum „Problem“ in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung?

Die sich im gesellschaftlichen Anpassungsprozeß befindende psychoanalytische Vereinigung war im Begriffe, nach mehreren Jahrzehnten des „Outlaw“- Daseins endlich Gesellschaftsreife zu erhalten. Zwar durfte Reich einmal ungestraft die Bedeutung der Genitalität vor der versammelten Analytikerschaft kundtun – wohlwollend wurde auch sein Konzept der „orgastischen Potenz“ aufgenommen, da es ja an Ansätze von Abraham, Ferenczi und Freud anknüpfte (z.B. am Psychoanalytiker-Kongress 1924 in Salzburg. Sein Beitrag: „Über Genitalität“).- Aber: Einmal ist keinmal. Die ewigen Wiederholungen der selben Themen – dass durch sexuelle Unterdrückung massenhaft Neurosen produziert würden – machten die Kollegenschaft mürbe. Hätte sich Reich in philosophische Spekulationen verstiegen, hätte ihm das keiner Übel genommen.

Die Anknüpfungen der sexuellen Misere an andere Wissenschaftsgebiete wie die Ethnologie (Trobriander und Mutterrecht: Reich stellte die Universalität des Ödipuskomplexes in der spezifischen Form, wie er unter der patriarchalen Gesellschaftsordnung auftritt, in Abrede), die Soziologie (zwecks Neurosenprophylaxe und neuen Lebensformen und Formen der Organisation der Arbeit – „Arbeitsdemokratie“), die Physiologie und die Biologie (Anknüpfung der Libidotheorie, der Theorien des Unbewussten sowie der Abwehrmechanismen an dialektisch-materialistische Thesen) erregten sehr den Unmut der Kollegen. Überall also Anknüpfungspunkte, die das gemeinsame Thema der Neurosenprophylaxe nicht nur noch weniger leugnen ließen, sondern sogar die wissenschaftliche Basis dafür bildeten.- Bei Beachtung dieser wichtigen Fragestellungen hätte im Grunde kein halbwegs kritischer Psychoanalytiker mehr ruhig schlafen können.

Es hätte ja so schön sein können! Zufrieden lehnt sich der gesellschaftlich anerkannte Psychoanalytiker zurück, all den wissenschaftlichen Kram, den man fürs „Handwerk“ – für die Therapie – nicht braucht, schiebt man beiseite und genießt den netten Lebensunterhalt. Wenn die Patienten nicht und nicht gesunden wollen, dann erklärt man das halt mit einem primären Strafbedürfnis, mit Masochismus, vulgo Todestrieb – das erspart auch die Frage nach der Verbesserung einer mangelhaften Behandlungstechnik.

Nach Aufgabe der Libidotheorie, sucht man nun das Heil in den philosophischen Gebilden von Eros und Thanatos, so als hätte Richard Wagner eine Oper mit gleichnamigem Titel verfasst: Festlich, undurchschaubar, schicksalsartig, verborgen und übermächtig. Das wäre gegangen, wäre da nicht dieser Steckenpferdreiter Wilhelm Reich gewesen, der die Ruhe dauerhaft störte. Und das alles in seinem Bemühen, die von Freud ursprünglich aufgestellten Theorien über die Libido, den Narzissmus, den Widerstand, die somatischen Quellen der dualen Triebe, etc., weiterzuverfolgen und von allen Seiten her erforschen zu wollen.

Reich selbst ließ sich nichts zu Schulden kommen: er forschte und stellte seine Ergebnisse, die ihn zu einer dialektisch-materialistisch orientierten Triebtheorie führten, dar. Die Kollegen meinten, er solle doch nicht so übertreiben, nicht immer so „aggressiv“ sein; er handelte sich jedenfalls die Rolle des Störenfrieds ein. Nicht genug damit: er ließ sich noch mit dem Marxismus ein, um die Neurosenprophylaxe besser umsetzen zu können.

Die Verbindung der Psychoanalyse mit dem Marxismus war Reichs zweite Kardinalsünde neben der „Orgasmus-Steckenpferdreiterei“. Sünde Nummer Drei aber war der Gipfel: Durch die 1932 veröffentlichte klinische Widerlegung der Todestriebshypothese (denn den Namen „Theorie“ verdient dieses Unding nicht) hat sich gezeigt, wie streng nun Reich der Wind innerhalb der Vereinigung entgegen blies. Niemand ließ sich auf eine inhaltliche Diskussion ein, lieber ließ man Siegfried Bernfeld durch intrigenhaften Journalismus gegen Reich polemisieren. Dessen Ausspruch, dass Reich kein Kommunist, sondern ein anarchistischer Sexualethiker sei, haftete Reich noch mehrere Jahrzehnte an.

Da half nur mehr die Streichung des Übeltäters – nicht nur von der Mitgliederliste der IPV, sondern auch aus der offiziellen Geschichte der Psychoanalyse. Und damit komme ich von der Polemik zum Buch zurück: Der Tatbestand der kompletten nachträglichen(!) Streichung von Reichs Namen aus den Büchern und Chroniken, reiht sich als großer Skandal in die Geschichte der Psychoanalyse ein. Reich wurde da in eine Situation gebracht, die vor ihm nur der weitgehend unbekannte Otto Gross, ein „Sexualanarchist“, erlitt.- Daran kann man sehen, wie hilflos die Internationale Psychoanalytische Vereinigung 1934 war, oder sollte man hier eher die Gegenwartsform verwenden?

Die Psychoanalyse wurde damit zum Packesel und Stabilisator der damaligen Gesellschaftsordnung. Mir erscheint die von Hoevels beschriebene Entwicklung der IPV als eine Kontraktionsbewegung; die kostbaren Anknüpfungspunkte zur Neurosenprophylaxe, zu alternativen Erziehungs- und Lebensformen, zur somatischen Seite der Triebquellen, etc., wurden aufgegeben.- Bei der Amöbe geschieht beim Abkugelungsprozess dasselbe mit dem Einziehen der Plasmafüsschen – also der Rückzug der Energiebesetzungen weg von der (materiellen) Welt ins Innere.

Dort können nun in Sicherheit biologis-tisch-mystische Triebkonzepte entworfen werden und überhaupt psychoanalytische Theorien, die rein psychologischer Natur sind und nicht mehr der oben erwähnten Anknüpfungspunkte bedürfen – in Sicherheit, aber alleine, ohne Kontakt, ohne Reibungsflächen. Hoevels belegt diesen Umstand mit den in der Physiologie und Psychophysiologie zahlreich existierenden Konzepten (z.B. von Sokolov), die u.a. den Verdrängungsvorgang somatisch belegen oder gar erklären können.- Interesse von psychoanalytischer Seite ist dazu so gut wie nicht vorhanden.

Ich verstehe diesen Kontraktionsprozess so: Ist unter den realen Lebensbedingungen kein Weiterkommen im Sinne von Veränderungen der Daseinsverhältnisse möglich, dann mutiert der Unzufriedene zum „spirituell Suchenden“, der das Glück im „rechten“ Pfad der Erleuchtung sucht, womit er aber – ob er will oder nicht – die Daseinsverhältnisse mit stabilisiert und unterstützt.

Zurück zu Hoevels: Dem Werkzeug eines Restaurateurs gleich führt er mit viel intellektuellem Witz auch an Punkte heran, bei denen schon in der Vergangenheit mehr als einmal Unklarheit bestand. Wer derart gute inhaltliche Zusammenstellungen (eben nicht die ewig gleichen Zusammenfassungen) sucht, wird in diesem Buch fündig: Hoevels vermittelt fundiertes Wissen über die psychoanalytische Theorie und hebt dazu die besonderen Ansatzpunkte heraus, an denen Reich – über seine Vorgänger hinaus – etwas originär Neues schuf. Ein paar Punkte seien hier aufgezählt, z.B. im Bereich der Charakteranalyse: Eine veränderte therapeutische Technik führt zu anderen Ergebnissen – und damit wirken die Ergebnisse wieder zurück auf die Theorie, wie etwa die qualitative Unterscheidung von prägenitalen und genitalen Triebstrebungen.

Oder: die Vermittlung des funktionellen Zusammenhangs von Aktualität und Historizität, z.B. in therapeutischen Inhalten, oder: die kulturelle Relativität des dann nicht mehr als solchen zu benennbaren Ödipuskomplexes, wie er in der patriarchalen Gesellschaft existiert; weiters die „ökonomische Potenz“ der verschiedenen Abwehrmechanismen, wie z.B. die Sublimierung des genitalen Charakters im Gegensatz zur Reaktionsbildung des neurotischen Charakters, die Kritik an der Todestriebtheorie, etc.

Es ist Hoevels hoch anzurechnen, dass er unbeachtet gebliebene Sachverhalte verständlich aufzeigt: Z.B. bei einem weiteren „Prototyp der orgastischen Funktion“, dem Witz. Die libidinöse Ökonomie des Witzes folgt gänzlich den funktionellen Gesetzmäßigkeiten. Beim Erzählen wird zuerst – in „libidinöser Erwartung“ des Zuhörers – Spannung aufgebaut – und in der anschließenden Pointe folgt ein jähes und plötzliches Lösen der Spannung (auch) im Motorischen („Lachen“) mit lustvollem Charakter. Beim schlechten Witz folgt die Kurve eher der der orgastischen Impotenz (mit Unzufriedenheit, Ärger, etc.).

Als noch einen Punkt herausgegriffen finde ich z.B. die Hoevelschen Querverbindungen zwischen der Sublimierung und dem Marxschen Begriff der „produktiven Selbsterweiterung“ interessant. Beide sind sich im Wesen sehr ähnlich und verfolgen funktionell die Veränderung der Außenwelt bzw. auch des eigenen Erlebens, geprägt vom Merkmal der Dauerhaftigkeit (S.196). Ob hier nicht noch mehr drinnen wäre in Richtung Kreativitätsforschung und Produktivität in „plasmatischer Expansion“?

Warum hat die Studentenbewegung Reichs Werk inhaltlich und praktisch nicht wirklich umsetzen können und was blieb von der Psychoanalyse nach Reichs Ausschluss und der Inkorporierung in den Nazi-Staat übrig? Hoevels genaue chronologische Schilderung der Reich-Bezugnahme ab den Fünfziger Jahren zeigt, wie z.B. 1955 Herbert Marcuses oberflächliche und missgedeutete Interpretation von Reichs Sexualtheorie (zit. in: „Triebstruktur und Gesellschaft“) später weitertradiert wurde. Weiter verdreht und gesponnen lieferte sie dann nur denen Material, die Reich nicht verstanden haben.

In der Phase des Abflauens der heißen 68er Zeit bot sich damit die Gelegenheit, den von seinen Ideen her nunmehr ungemütlich gewordenen Reich endlich (wieder einmal) loszuwerden. Hier anknüpfend könnte man Reich alles heißen, ohne als Marxist, Sexualliberalist oder (linker) Praxisfreund das Gesicht zu verlieren, wie das z.B. Dahmer (in Gente: „Marxismus- Psychoanalyse- Sexpol 2. Teil, 1972) oder Ruebsam („Das Argument 60“) taten. Nach Abzug der sachlich widerlegbaren Argumente dieser Reich-„Kritiker“ bleibt nur eine dünne Suppe übrig – was mich zur Frage führt: Wer hat denn Reich wirklich verstanden? Reich ist auch in dieser Zeit nie wirklich angenommen worden. Nach Hoevels konnte dies auch gar nicht geschehen, da es weder eine Tradition gab, noch kompetente Leute, die Reich mit einiger Tiefe interpretieren konnten, das musste alles von Anfang an wieder angeleiert werden.

Die oben erwähnten Reich-Kritiker waren nun keine Vertreter der Psychoanalyse. Rechts außen überholt haben sie dann aber noch Grunberger/Chasseguet-Smirgel mit ihrer reaktionären Schrift „Freud oder Reich“ (1986). Die Autoren implizieren einen Gegensatz von Freud und Reich als einen Gegensatz zwischen „inneren und äußeren Faktoren“: Der innere Faktor wird Freud zugeordnet; ein unpolitischer Wissenschaftler, der weiß, was sich „gehört“ – der Wahrer des Ödipuskomplexes und der kindlichen Sexualität, die Reich angeblich negieren soll. Der äußere Faktor wird Reich zugeordnet: Der Marxist, der sich weigert, die Realität anzuerkennen.

Reich wird darin zum Verführer zur Ideologie. Er muss für die schändlichen Dinge von diversen „liberalen Erziehern“ – von Verführung von Kindern und sexuellem Mißbrauch – herhalten! Die Parole lautet: Mitgehangen ist mitgefangen. Hoevels analysiert die Widersprüche dieses Buches gründlich und demaskiert die Absichten der Autoren mit der Klinge von Ironie und Witz.

Jeder, der sich mit Reichs Leben und Wirken in dieser Zeitspanne näher befassen will, ist mit diesem Buch gut beraten. Ein Minimum an Wissen um die psychoanalytischen Theorien wird vorausgesetzt. Vielleicht kann es dennoch Lust darauf machen, mehr über die erste wissenschaftliche Heimat Reichs zu erfahren.
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Fritz Erick Hoevels: Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse;
Ahriman-Verlag, Freiburg/Breisgau, 2001

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