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Bukumatula 4/2003

 

Wilhelm Reich meets Ken Wilber

Arbeitskreis Ken Wilber – Wien
Monika Frühwirth:

 

Eine kurze Einführung

Am besten lässt sich Ken Wilber – Naturwissenschafter, Bewusst-seinsforscher, Mystiker – wohl mit dem Prädikat „passionierter Denker“ beschreiben.

1969 – unbefriedigt vom Medizinstudium, mit bereits zwei Abschlüssen und einem weiterführenden Stipendium in Biophysik und Biochemie – erstellte sich der 20jährige Student selbst einen privaten Studienplan in östlicher und westlicher Philosophie sowie in westlicher Psychologie und Metaphysik und fand sich dann drei Jahre später eines Tages mit hunderten Seiten seiner Notizen über den Boden seines Wohnzimmers verteilt auf der Suche nach einer Gesamtsicht der Wirklichkeit.

Daraus entstand in nur drei Monaten niedergeschrieben das Manuskript zu seinem ersten Buch, Das Spektrum des Bewusstseins. Ein Buch, das Spiritualität und Psychotherapie, Osten und Westen miteinander verbinden sollte. Nach Wilbers Sicht hatte bisher keine der vielen Schulen auf dem Gebiet der Psychologie und Spiritualität alle Aspekte des Menschen zum Gegenstand ihrer Studien gemacht.

Den begeisterten Kritiken, die ihn aufgrund dieser universellen Sicht der Wirklichkeit zum „Einstein der Bewusstseinsforschung“ hoch-stilisierten, begegnete er mit der Feststellung: „Diese Gedankenbilder stammen nicht von mir. Es sei denn, ich habe versucht, sie mir zu eigen zu machen, nach ihnen zu leben, ihnen Form und Inhalt zu geben, sie mit Leben zu erfüllen. Aber ich bin nicht ihr Urheber, auch wenn ich einige ihrer Kernpunkte herausgearbeitet habe. Ich bin kein neuer Hegel, Freud oder Marx. Mein Versuch ist lediglich eine Vergegenwärtigung der spirituellen Traditionen.“

Holons und das Grosse Nest des Seins

Wilber postulierte, dass eine wirklich integrale Psychologie die gültigen Einsichten vormoderner, moderner und postmoderner Quellen umfassen würde. Die Kernaussage der großen spirituellen Traditionen ist, dass Wirklichkeit aus den verschiedenen Ebenen der Existenz – Ebenen des Seins und des Wissens – zusammengesetzt ist, die von der Materie, über den Körper, den Geist („mind“) und die Seele bis zum GEIST („spirit“) reichen.

Jede spätere Dimension transzendiert die vorangehende und schließt sie zugleich auch ein, in einem Konzept von Ganzen in Ganzen in unendlicher Folge. Wilber übernahm von Arthur Köstler den Begriff „Holon“, um ein in sich geschlossenes Ganzes – mit vier Perspektiven der Wirklichkeit – als Grundebene zu definieren, ein Ganzes, das wiederum Teil eines größeren Ganzen ist; wie z.B. ein Atom Teil eines ganzen Moleküls ist, ein ganzes Molekül ist Teil einer ganzen Zelle, eine ganze Zelle ist Teil eines ganzen Organismus und so weiter.

Somit ist diese „Grosse Kette des Seins“ im Grunde ein „Nest“: Ausgehend von Materie/Physik, erweitert zu/umfasst von Leben/Biologie, dieses von Geist/Psychologie, zur Seele (subtil)/Theologie zum GEIST (kausal)/Mystik – auf dem nichtdualen Grund aller Ebenen. Dieses „Grosse Nest“ jedoch ist ein Potenzial, nicht etwas Gegebenes. Holons können durchaus als Gewohnheiten der Evolution verstanden werden. Der menschliche Organismus hat mit seinem Gehirn, in seiner gegenwärtigen Form, die Kapazität für höhere Zustände, im sogenannten transpersonalen Bereich.

Das große Nest mit 4 Seinperspektien (Quadrant)

Integrale Therapie oder Therapie der vier Quadranten

Wie Wilhelm Reich setzt auch Ken Wilber die Bioenergetik als Grundstein einer psychotherapeutischen Behandlung an.- Und will in weiterer Folge, ebenso wie Reich, auch den gesellschaftspolitischen Ansatz erfasst wissen. Wilbers Vorstellung einer integralen Therapie umfasst somit alle vier Perspektiven der Wirklichkeit und eine ganzheitliche und ausgeglichene Beachtung aller Vier Quadranten.

Der integrale Ansatz in der Therapie fördert somit nicht nur die heilsame Arbeit am Selbst und seinen Pathologien, die an den jeweiligen „Drehpunkten“ der kognitiven Entwicklung entstanden, wie zum Beispiel:
Emotional: Bioenergetik, T’ai Qi, Yoga, Qi Gong, tantrische sexuelle Vereinigung, selbsttranszendierende, ganzkörperliche Sexualität.

Mental: Psychotherapie, Schattenintegrationsarbeit, kognitive Therapie, Annehmen einer bewussten Lebensphilosophie, Affirmationen, Visualisierung.

Spirituell: unterschiedliche Meditationsformen, deren Auswirkungen bereits genau feststehen. (Achtsamkeitsmeditation, Konzentrationsmeditation, Bewegungsmeditationen, Zeugenschaft, schamanistische Praktiken).

Ebenso wird auch dem individuellen Verhaltensaspekt – (Quadrant Oben Rechts: Messbares, Sichtbares) – Rechnung getragen:

  • Physisch: die Ernährung, z.B. fettarm nach Ornish, Vitamine
  • Strukturell: Gewichtheben, Joggen, Wandern, Rolfing, usw.
  • Neurologisch: pharmakologisch, wo angemessen
  • Gehirn/Geist: Herbeiführung von Theta- und Delta-Bewusstseinszuständen, auch mittels Apparaturen.

Weiters die kulturell-intersubjektive Perspektive der Wirklichkeit: Beziehungen – mit Familie, Freunden, Lebewesen im allgemeinen; Beziehungen als Teil des eigenen Wachstums sehen, das Selbst dezentrieren. Ehrenamtliche Arbeit, Hospizbewegung, usw. Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen.

Und letztlich auch kollektiv/sozial/interobjektiv (Unten Rechts): Bewusst eine verantwortliche Rolle im Gesellschaftssystem sowie in institutionellen Gegebenheiten zu übernehmen: in Familie, Staat, Nation, Welt und auch Verantwortung gegenüber der Biosphäre und geo-politischen Infrastrukturen auf allen Ebenen.

„Die allgemeine Idee einer integralen Praxis ist deutlich genug: Übe Körper, Geist, Seele und GEIST in Selbst, Kultur und Natur. Wähle eine Grundübung aus jeder Kategorie oder aus so vielen Kategorien wie praktisch möglich ist und praktiziere sie nebeneinander. Je mehr Kategorien angesprochen werden, um so effektiver werden sie alle – weil sie ja als Aspekte unseres eigenen Seins intim miteinander in Beziehung stehen.“ (zitiert aus: Integrale Psychologie)

Als Vertreter eines integralen Ansatzes sitzt Wilber sozusagen zwischen allen Stühlen: Wer behauptet, zwei so weit auseinander liegende und gegensätzliche Gebiete wie die Naturwissenschaften und Religion integrieren zu können, läuft große Gefahr, von beiden nicht ernst genommen zu werden. Für Wissenschafter ist sein Ansatz verdächtig, da sie befürchten, er wolle die Religion durch die Hintertüre hereinschmuggeln. Für die spirituell Orientierten ist er jedoch wieder zu abstrakt, weil zu wissenschaftlich. Vor allem seine umfassende, aber durchaus auch kritische Darstellung der Moderne und den Stärken und Schwächen des Flachland-Egos in Eros, Kosmos, Logos, haben empörte Kritiker auf den Plan gerufen – von Wilber prompt als narzisstische Grundhaltung demaskiert.

Dazu übernahm er die Sprache von Clare Graves und dessen Modell der Ebenen der kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungslinien des Bewusstseins: Holons zunehmender Bewusstseinsentwicklung. Die „Spiral Dynamik“ mit einer Farbkodierung für den jeweiligen Bewusstseinsstand (Meme) mit den entsprechenden Glaubenssätzen, Ausdrucksmitteln und Durchsetzungsmethoden:

  • Beige = archaisch-instinkthaft entwickelt sich zu
  • Purpur = magisch-animistisch, zu
  • Rot = Dominanzverhalten – Machtgötter, zu
  • Blau = konformistische Regel, gefolgt von
  • Orange = wissenschaftlich-erfolgsorientiert,
  • Grün = empfindsames Selbst – pluralistisch – somit auch antihierarchisch.

Im Flachland

Flachland ist einfach der Glaube, dass nur die Welt der rechten Seite (Außen) real ist. Die Welt von Materie/Energie, die von den menschlichen Sinnen und ihren Erweiterungen (Teleskop, Mikroskop, etc.) empirisch untersucht werden kann. Die ganze Welt wird auf objektiv-äußere Begriffe reduziert oder durch sie erklärt.

Wilber steht nicht nur den Kolonialisierungsbestrebungen einer materialistischen Wissenschaft und Technologie kritisch gegenüber, sondern auch den Beschränkungen durch das sogenannte „New Age“, dem er oft fälschlich zugeordnet wird. Er steht dem rationalen Lager weitaus näher als dem esoterisch- antirationalen und warnt davor, nicht genügend Nachdruck auf den Wert des rationalen Denkens zu legen, da sonst archaische Regression, magisches Denken und mythische Religion als mystische Spiritualität angesehen werden. Wie andere Kritiker des New Age weist er immer wieder beharrlich darauf hin, dass die New Age- Bewegung häufig die präpersonale Ebene mit der transpersonalen verwechsle und zu 80% ihrer Vertreter narzisstische Nabelschau betreibe und letztlich keine authentische Spiritualität anstrebe.

Jedoch kann nur eine Neuintegration der Innerlichkeit aus dem Flachland einer übertechnisierten materialistischen Weltsicht führen, da letztlich niemand im Besitz der ganzen Wahrheit ist.

In den USA ist Ken Wilber nunmehr meistgelesener Sachbuchautor von über 20 Büchern – davon sind 14 bereits in deutscher Sprache erschienen – und Gründer und Leiter der Privatuniversität Integrales Institut in Boulder, Colorado. Auszüge aus dem eben entstehenden zweiten Band seiner Kósmos-Trilogie werden von ihm laufend im Web veröffentlicht – in seinem Verlag www.shambhala.com.- Im Vorabdruck des zweiten Bandes, im „Exzerpt G“, behandelt er erstmals ausführlich subtile Energien – und damit schließt sich erneut der Bogen zu Wilhelm Reich.

Auch in Europa und auch im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) haben sich Arbeitskreise gebildet, die sein integrales Modell diskutieren und in Fachgruppen die praktische Anwendbarkeit auf Gebieten wie Medizin, Pädagogik, Kunst, Gesellschaftspolitik, Friedens- und Konfliktforschung, Business, usw. untersuchen.
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Literaturhinweise: Bücher Ken Wilber:

Ganzheitlich handeln (arbor)
Integrale Psychologie (arbor)
Einfach Das (Fischer Spirit TB)
Eros, Kosmos, Logos (Krüger), (Fischer TB)
Kurze Geschichte des Kosmos (Fischer Spirit TB)
Naturwissenschaft und Religion (Krüger)
Mut und Gnade (Goldmann TB)
Die drei Augen der Erkenntnis (Kösel) vergriffen
Das Atman Projekt (Jungferman)
Wege zum Selbst (Kösel)
Das Spektrum des Bewusstseins (Rowohlt TB)
Meister, Gurus, Menschenfänger (Kösel) vergriffen

Frank Visser: Ken Wilber – Denker aus Passion (vianova)

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