Kontakt | Links | Impressum | Suche

Archiv ‘2010’ Kategorie

Zurück zu Bukumatula 2010
Bukumatula 1/2010

Reich im Studienplan unterzubringen ist heutzutage gar keine Selbstverständlichkeit!

Gespräch mit Renate Wieser über ihren Lehrauftrag an der Universität Innsbruck
und ihre Sympathie für die „Audimaxisten“
Robert Federhofer:

Robert: In dieser BUKUMATULA-Ausgabe veröffentlichen wir einen Artikel von Michaela Holaus einer Studentin, die an deiner Lehrveranstaltung über Wilhelm Reich teilgenommen hat.

Renate: Ja, ich freue mich darüber! Es handelt sich um eine Seminararbeit, die im Rahmen dieser Lehrveranstaltung entstanden ist. Ich freue mich vor allem darüber, dass Studierende über die einfache Rezeption von dargebotenen Inhalten hinausgehen darüber nachdenken, ob und in welcher Form die Thesen von Wilhelm Reich zum Verständnis von Phänomenen beitragen können, die uns heute in der Gesellschaft begegnen.

Robert: Um welche Lehrveranstaltung handelt es sich da genau?

Renate: Das Seminar heißt „Wilhelm Reich: Psychoanalyse, Körper und Energie“ und wurde zuletzt im Sommersemester 2009 am Institut für Erziehungswissenschaften der Uni Innsbruck angeboten; in zwei Wochenend-Blocks pro Semester sollte es das Gesamtwerk von Wilhelm Reich darstellen (uff!).An dieser Stelle möchte ich besonders dem engagierten Ordinarius des Institutes, Professor Josef Aigner, danken, dass er es geschafft hat, das kontroversielle Thema „Reich“ im Studienplan unterzubringen das ist heutzutage gar keine Selbstverständlichkeit!

Robert: Vielleicht kommen wir später noch auf die Situation an den Unis zurück. Ich möchte dich zuerst noch über die Lehrveranstaltung befragen: Wie wurde denn Reich von den Studierenden aufgenommen?– Gab es besondere Interessensschwerpunkte?

Renate: Grundsätzlich glaube ich sagen zu können, dass die meisten Studierenden froh waren, sich im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit einem Forschungsansatz auseinander setzen zu können, der sich in vielerlei Hinsicht vom üblichen Angebot an der Uni unterscheidet. Die Lebendigkeit des Reich´schen Werkes hat sich in einem lebendigen Seminar gespiegelt: Es gab sehr rege Debatten, viele in die Tiefe der Materie gehende Fragen und oft neue, ungewohnte Perspektiven auf ein Thema; vielleicht auch ungewohnte Perspektiven auf Lehrende.

Einmal habe ich auf dem Tisch stehend Energieübungen zur Auflockerung vorgezeigt, nachdem in einem Seminarraum mit 20 Sitzplätzen rund um den Tisch 45 TeilnehmerInnen waren und sonst keine Chance auf ein Sehen und Mitmachen bestanden hätte. Wo immer Reich ins Spiel kommt, fördert er auch die Polarisierung. Das liegt an seiner unkonventionellen Art der Forschung und Hypothesenbildung dem orgonomischen Funktionalismus. Dadurch, dass er sich Analogieschlüsse ziehend, auf der Suche nach gemeinsamen funktionalen Wurzeln durch Medizin, Psychologie, Biologie, Soziologie usw. bewegt, kommt er zu oft genialen und unvermuteten Ergebnissen und Visionen, die auf vielen Gebieten vor allem im Spätwerk natürlich noch viel Raum für detailliertere Forschung lassen.

Das ist ja aber auch ein spannender Aspekt seiner Arbeit. Großes Interesse hat das Menschenbild von Reich ausgelöst, das der späten Psychoanalyse diametral gegenüber steht: Das Modell der charakterlichen Schichtung: kooperierender und liebender biologischer Kern gepanzerte, sekundäre Charakterschicht soziale Oberfläche. Die damit verbundenen Funktionalitäten Entstehungsgeschichte und Effekte für das Individuum und die Gesellschaft waren ein Kernstück der Debatte im ersten Seminarblock.

Rege Resonanz fand auch die Entwicklung von Reichs energetischem Ansatz und seiner Nutzung und Anwendung, sowie die Einbeziehung des Körpers in die Therapie. Im zweiten Seminarblock stand vor allem die Auseinandersetzung mit Reichs Theorie zur Krebsbiopathie im Zentrum der Aufmerksamkeit der Studierenden. Viele Studierende sind bereits in pädagogischen oder angrenzenden Berufen tätig, werden es später sein und/oder haben selbst bereits Kinder. Die Frage nach Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen Stichwort: „Neurosenprophylaxe“ hatte naturgemäß ebenso eine brennende Relevanz für die TeilnehmerInnen.

Ich habe auch nach dem Seminar Anfragen von Studierenden bekommen, die sich, durch die Lehrveranstaltung angeregt, in ihrem Beruf weiter mit dem Reich´schen Ansatz beschäftigen wollen. Zum Beispiel ein Berufsschullehrer, den die in die politisch rechte Richtung gehende Entwicklung vieler seiner SchülerInnen beschäftigt und der nach Antworten für sich in seinem Lehrersein sucht, bzw. sich weitergehend mit den tieferen Bedürfnissen der SchülerInnen auseinandersetzen möchte. Summa summarum habe ich mit großer Lust meine Kenntnisse über Reich weitergegeben. Mir war es auch wichtig, Raum für eine freie Auseinandersetzung zu schaffen, sowie für die Möglichkeit, selbständig die dargebotene Materie zu reflektieren; ich glaube, dass mir das in dieser Lehrveranstaltung gelungen ist.

Robert: Danke für deine Seminarreflexion. Freiraum im Studium, Bildung statt Ausbildung sind ja gerade jetzt zentrale Forderungen vieler Studierender ausgehend von der „Audimaxisten-Bewegung“, die an der Wiener Uni ihr Zentrum hat. Was gibst du dieser Bewegung für eine Bedeutung?

Renate: Ich möchte an dieser Stelle keine tiefschürfende Analyse des Bildungssystems und der Bewegung, die in diesem Kontext stattfindet, abgeben. Einen Aspekt möchte ich aber doch gerne ansprechen: Ich freue mich darüber, dass diese bewegten StudentInnen erstmals seit langer Zeit in diesem Ausmaß für ihre Interessen eintreten. Interessen, die dem Leben, der Entfaltung, der Entwicklung von „(self)-respons-ability“ dienen.

Selbstverantwortung drückt für mich in der Tiefe die Fähigkeit aus, aus dem menschlichen Kern heraus auf das Leben zu antworten. Interessen, die Konkurrenz und Getrenntheit überwinden wollen, bergen für mich Hoffnung für unser aller Leben in der Zukunft im Gegensatz zu Interessen, die aus der Angststeuerung des Systems erwachsen und lediglich auf einen kurzfristigen persönlichen Vorteil gegenüber Anderen zielen.

Die Audimaxisten bilden jetzt gerade den Kontrapunkt zu den vielen Besorgnis erregenden politischen und menschlichen Entwicklungen in unserem Land. In den vor Lebendigkeit und Aufgewecktheit sprühenden, unter persönlicher Beteiligung von Vielen, demokratisch herbeigeführten Ausdrucksformen dieser Bewegung, steckt noch viel Entwicklungspotenzial.

Klar kann auf der Ebene der Forderungen noch viel den Bach hinuntergehen, klar können mögliches Steckenbleiben und/oder Ausdünnen der Bewegung noch viel Frustration hervorrufen. Aber ich bin tief davon überzeugt, dass, wer einmal in so einem Rahmen den Geschmack eines gemeinsamen Wollens für das Wohl des Gesamten gekostet hat, ein Stück mehr bereit ist, sich auch in anderen Zusammenhängen auf das Leben auszurichten und die Angststeuerung zu überwinden und sich auch weiterhin dafür im Kollektiv einzusetzen.

Ich möchte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Lichtblick dieser Bewegung leider keineswegs die Gesamtsituation Aller und insbesondere der jungen Generation widerspiegelt. Ich glaube, wir haben als engagierte Menschen noch viel zu tun, um unser eigenes Wohl und das des Gesamten zu fördern. Auf der Ebene der praktischen Unterstützung habe ich den Studierenden angeboten, als Facilitator für lösungsfokusierte Großgruppenveranstaltungen zur Verfügung zu stehen falls sie einen Bedarf danach haben.

Robert: Abgesehen von der Uni – was treibst du denn sonst gerade im öffentlichen Raum in Bezug auf deine genannten Anliegen?

Renate: Ich backe kleine Brötchen und experimentiere. Im Oktober habe ich im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Rassismusfreie Zone“ unter dem Titel „Sind es immer die Anderen?“ in einer Ottakringer Galerie eine Performance zur Reich´schen Massenpsychologie gemacht.Frei nach Vally Exports „Tapp-und-Tast-Kino“ konnten die BesucherInnen die Qualität von unterschiedlich emotional besetzten Gegenständen ertasten und mit den unterschiedlichen charakterlichen Schichten in Verbindung bringen. Danach wurde heftig darüber diskutiert, was es wohl bedeutet, wenn Reich davon spricht, dass der Faschismus nicht die Bewegung einer Minderheit ist, sondern der direkte Ausdruck der „zweiten“ Charakterschicht ihr politisch organisierter Ausdruck.

Die Gegend um den Yppenplatz/Brunnenmarkt in Ottakring wird immer stärker von der Integrationsförderung geprägt: Die erwähnte Galerie befindet sich zum Beispiel im Haus von Frederik Morten, der unter den Nazis Österreich verlassen musste ebenso im Haus befindet sich eine Moschee, was Morten zum Ausspruch veranlasste: „Wahrscheinlich bin ich der einzige Jud’ auf der Welt mit einer eigenen Moschee“.

Kurz gesagt: ich glaube es steht an verstärkt mit unserem Angebot dorthin zu gehen, wo bereits das Neue keimt, es zu unterstützen und das Unsere dazu beizutragen und darüber hinaus uns was Neues einfallen zu lassen!Ach ja, damit ich es nicht vergesse: Vor unserer WRI-Veranstaltung zur Wiederkehr des 50. Todestags von Wilhelm Reich habe ich mit einigen Anderen im Museumsquartier eine „free hug“ Aktion gemacht und ein Jahr davor mit Beatrix Teichmann-Wirth auf dem Adventmarkt vor der Karlskirche.

Unsere Erfahrungen mit den Menschen, die unsere Gratis-Umarmungen angenommen oder aber auch verweigert haben waren sehr bewegend. Menschen eine liebevolle, körperliche Berührung anzubieten, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten, bringt Bewegung in viele Richtungen. Ich glaube überhaupt, dass sich unsere Aktionen über neue Formen ausdrücken sollten: “Form Follows Function“ wird für mich ein immer wichtigeres Motto.

Ich möchte gerne wieder eine „free hug“-Aktion starten und suche interessierte Gleichgesinnte. Ein schon länger bestehender Plan, so eine Aktion auch einmal zweisprachig in Klagenfurt/Celovec abzuhalten, harrt noch immer seiner Verwirklichung, eventuell auch mit einer Doku darüber. Wie gesagt: Interessierte mit aktionistischem Blut in den Adern bitte bei mir melden!

Robert: Danke für das Gespräch.

_____________________________________________________________
Kontaktadresse: renate.wieser@ki-solutions.cc

Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/10 Reich im Studienplan unterzubringen ist heutzutage gar keine Selbstverständlichkeit!
  • Kategorie: 2010
  • Zurück zu Bukumatula 2010

    Bukumatula 1/10

    Massenpsychologie des Faschismus – Damals – Heute

    Das politische Werk Wilhelm Reichs
    von
    Michaela Holaus:

    Seit dem Fall der Berliner Mauer, spätestens aber seit der Gründung der WTO im Jahr 1995 und den Anfängen eines bis dahin nicht erreichten, weltweit schrankenlosen Handelsund Wirtschaftsgeschehens sind Sozialismus und Kommunismus Relikte aus einer wirtschaftlichen wie politischen Steinzeit, wie es scheint. Anstelle einer „Vereinigung der Proletarier aller Länder“ erleben wir die Vereinigung und Konzentration von Kapital und Macht in den Händen einiger weniger. Angesichts eines sich zunehmend aggressiv gebärdenden Kapitalismus, der die Verarmung von großen Teilen der Weltbevölkerung, zunehmend auch im „Westen“, verschuldet, erlangt die Marx‘sche Theorie neue Aktualität.

    Dennoch bleiben die Forderungen von NGO‘s und linksgerichteten Jugendund Studentenbewegungen nach einer gerechten Verteilung des Wohlstandes bis jetzt nur fromme Wünsche. Auf der anderen Seite werden wir Zeugen eines Wiederauflebens faschistischer Tendenzen: Vom Überwachungsstaat ist die Rede; in Tschechien musste eine Wahlwerbung, die die „Endlösung der Romafrage“ versprach, verboten werden.

    Migranten werden nicht selten als potentielle Sozialstaatssaboteure und Verbrecher betrachtet und immer wieder Opfer von offener Gewalt, während in erniedrigenden Konkurrenzund Ausleseverfahren diverser Medienformate vorgezeigt wird, was ein „perfekter“ Mensch ist. „Die Ideologie jeder gesellschaftlichen Formation hat nicht nur die Funktion, den ökonomischen Prozeß dieser Gesellschaft zu spiegeln, sondern vielmehr auch die, ihn in den psychischen Strukturen der Menschen dieser Gesellschaft zu verankern.“1)

    Ideologie

    In seinem Werk unternimmt Reich den Versuch, die ökonomische/ gesellschaftliche Struktur mit der massenpsychologischen Struktur zusammen zu bringen. Er spricht von der „Rückwirkung der Ideologie auf die ökonomische Basis“2). Diese Ideologie ist dabei stets die der „herrschenden Klasse“, jener gesellschaftlichen Schicht, die mit den Mitteln zur materiellen auch über die Mittel zur geistigen Produktion verfügt. Die Restbevölkerung ist dieser Ideologie nicht nur als passives Objekt ausgesetzt, sondern reproduziert sie durch ihre Arbeit, durch ihr Mitwirken am Wirtschaftsprozess.

    Reich verortet hier eine der fundamentalen Schwachstellen des „Vulgärmarxismus“ des beginnenden letzten Jahrhunderts. Anders als Marx, der wohl erkannt, aber damals mangels einer tragfähigen Psychologie nicht weiter verfolgt hatte, dass nicht allein die Verteilung der Produktionsmittel, sondern auch der Mensch als Subjekt an der Etablierung gesellschaftlicher Verhältnisse Anteil hat, verwarf jener verflachte Marxismus jegliche Psychologie. In Anlehnung an den Satz von Marx „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“3) sah er die Ideologie einseitig aus der ökonomischen und sozialen Situation hervorgehen.

    Der Sieg der Linken und der Arbeiterbewegung wäre in den Jahren der Wirtschaftskrise 1929 bis 33 demnach logische Konsequenz gewesen; das Gegenteil geschah und breite Teile der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterschaft, wechselten ins rechte Lager. Wenngleich die NSDAP nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nicht die absolute Mehrheit erreichte, verzeichnete sie seit den Reichstagswahlen von 1930 sprunghafte Stimmzuwächse4).

    Die Situation heute scheint weniger radikal, zumal nicht unmittelbar zu erwarten ist, dass in Europa erneut „demokratisch gewählte“ Diktaturen errichtet werden oder Krieg ausbricht. Ein rechtskonservativer Trend in der Politik ist jedoch nicht zu übersehen, ebenso wenig wie die prekäre wirtschaftliche Lage und zunehmend rassistische Tendenzen. Heute wie damals ist ein Auseinanderdriften von sozialer Lage und sozialem Bewusstsein zu beobachten: „Ständig den Blick nach oben gerichtet, bildet der Kleinbürger eine Schere aus zwischen seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideologie“5), schreibt Reich 1942 in der dritten Auflage der „Massenpsychologie des Faschismus“.

    Der Kleinbürger der Reich‘schen Terminologie ist der heutige „Mittelstand“, den zumindest teilweise und ähnlich wie vor gut 70 Jahren die Angst vor einer Pauperisierung erfasst hat. Zwischen Großkapital und der Arbeiterschaft schwankend, waren jene Kleinbürger die ersten, die in den 1930ern die rechte Ideologie übernahmen, die sich heute freilich anders darstellt. An die Stelle eines nunmehr, zumindest auf wirtschaftlicher Ebene, verpönten Nationalismus ist ein sich mit Begriffen der Freiheit und des Friedens schmückender „Globalismus“6) getreten, der ersterem in seinen ausgrenzenden und menschenverachtenden Mechanismen um nichts nachsteht.

    Neoliberale Ideologie bedeutet: das Recht des Stärkeren; die Unterwerfung unter abstrakte und künstlich erzeugte Marktmechanismen, die als unausweichlich ausgegeben werden; die Kategorisierung und Bewertung von Menschen nach ihrer Herkunft und, daran anknüpfend, nach ihrem monetären Wert. Die Verinnerlichung dieser Ideologie scheint unterschiedlich weit fortgeschritten: Zwar wächst mit den als materielle Einbußen spürbar gewordenen Folgen einer naturalisierten, doch nicht einlösbaren Wachstumsgläubigkeit auch die Kritik; dennoch sind nur die wenigsten zu weiteren Abstrichen zugunsten eines langfristig gerechten und stabilen Wirtschaftssystems bereit. Die kapitalistische Ideologie des „höher schneller besser mehr“ hat die Industrieländer fest im Griff.

    In erster Linie natürlich jene, deren Reichtum auf dieser Ideologie gründet; jene, die sich erhoffen, ihren Wohlstand zu vergrößern oder zumindest zu erhalten; zuletzt jenes „Prekariat“, der nunmehr politisch korrekte Ausdruck für die einstige Unterschicht, die sich heute aus Arbeitslosen, Mindestrentnern, gesundheitlich Instabilen, Alleinerziehenden zusammensetzt.

    Ihnen wird schon im Vormittagsfernsehen in diversen Umerziehungs-Shows vorgeführt, wie sie sich möglichst funktionell wieder in den Markt eingliedern können und sollen. Nicht nur in der künstlichen Realität des Fernsehens wird der Mitmensch dabei zum Konkurrenten, dem man aufs Freundlichste die Hand schüttelt, während man schon überlegt, wie man ihn später ausstechen wird. Dieser Habitus zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, scheint ein dem Menschen inhärenter Wesenszug zu sein. „Faschismus ist keine politische Partei, sondern eine bestimmte Lebensauffassung und Einstellung zu Mensch, Liebe und Arbeit.“7)

    Faschismus

    Wilhelm Reich hatte bereits erkannt, was heute zum Teil sehr offensichtlich zu Tage tritt: Faschismus ist nicht allein eine Frage der wirtschaftlichen und sozialen Lage und schon gar keine von Parteizugehörigkeit. Entsprechend seiner Charakteranalyse verortet er die faschistische Gesinnung in der zweiten, mittleren Charakterschicht, die zwischen höflicher, schein-sozialer Oberfläche und dem an sich guten „biologischen Kern“ des Menschen alle, von den Ansprüchen der herrschenden Gesellschaftsform verbotenen und verdrängten Strebungen bindet.

    Jeder Mensch ist mehr oder weniger stark von solchen Verdrängungen, die Reich auch „Panzer“ nennt, betroffen. Wo diese, für das soziale Leben durchaus auch notwendigen Panzer jedoch durchlässig werden, die antisozialen Strebungen zu Tage treten und entsprechend der Bedeutung des lateinischen „fascere“ von einer mehr oder minder verdeckten rechtspopulistischen Meinungsmache zur Ideologie gebündelt werden, kann diese im Sinne von Diskriminierung und Rassismen, in Form von subtiler Unterdrückung bis hin zu offener Gewalt zur gesellschaftlichen Kraft werden.

    Im Dritten Reich war diese Kraft der Nationalsozialismus, der seine Feinde genau definierte, der nicht-konformes Denken ebenso verbot wie Gewerkschaften und dessen überzeugende Wirkung sich in einem Spektrum zwischen Propaganda und Todesdrohungen entfaltete. Die zeitgenössische Ideologie wirkt subtiler; aus Propaganda wurden „Public Relations“ beide Begriffe prägte Freud-Neffe Edward Bernays und eine nicht endende mediale Bilderflut, die das Rohmaterial der Meinungsbildung abgibt, dabei die tatsächliche Zusammenhänge zu verschleiern weiß.

    Randgruppen Migranten, alte Menschen, jugendliche Rebellen kurz alle, die der produktivitätsbesessenen Ideologie entgegen stehen, werden so schnell zu „Problemzonen“ und Sündenböcken stilisiert. Non-Konformisten droht nicht mehr der physische Tod, sondern der gesellschaftliche.

    In seinem Werk versucht Reich Antworten zu finden auf die Frage, warum der Nationalsozialismus resp. Faschismus zur bestimmenden Kraft werden konnte, wenngleich die wirtschaftliche Situation eines Großteils der Bevölkerung dem entgegen stand; warum so viele, trotz nicht eingelöster Versprechen, trotz verheerender Kriegspolitik und Völkermord nationalsozialistisch gesinnt blieben. Er stellt die Frage nach der sozialen Verantwortlichkeit, die damals in „Reich und Führer“ aufging und die sich heute erneut und eindringlich stellt.

    Sexualökonomie

    Wilhelm Reich war Psychoanalytiker und Marxist. Im Jahr der Erstveröffentlichung der „Massenpsychologie des Faschismus“, in der Reich die damalige Form des Kommunismus stark kritisiert, wurde er aus der KPD ausgeschlossen, ein gutes halbes Jahr später, im August 1934, aus der IPA. Wollten die Kommunisten nichts von Triebunterdrückung und Sexualität hören, gründete der Konflikt mit den Psychoanalytikern, allen voran Freud, auf Reichs politischem Engagement.

    In der menschlichen Seele treffen für Reich biologische Voraussetzungen also die Triebe und soziale Bedingungen aufeinander. Anders als für Freud folgt für ihn daraus aber nicht die Unumgänglichkeit der Sexualunterdrückung, die in Freuds kulturtheoretischen Schriften die Grundlage jeglicher Kultur darstellt. Für Reich resultiert sie einzig aus der herrschenden Gesellschaftsordnung, die „sich in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre Hauptziele braucht.“8) Wenn diese Ziele Unterwürfigkeit, Autoritätshörigkeit, Beeinflussbarkeit heißen, so ist laut Reich die Verhinderung einer natürlichen Sexualität dazu eines der besten Mittel.

    Wie Reich in „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ darlegt, gründet die herrschende Wirtschaftsund Gesellschaftsform auf der Ablösung mutterrechtlich organisierter, sexuell relativ freizügiger Kulturen durch das Patriarchat, das in seiner Ablehnung jeglicher außerehelichen Sexualität in späterer Zeit von einer die Sexualität pathologisierenden Kirche unterstützt wurde und wird. Die Verknüpfung von sexualökonomischer und gesellschaftlicher Struktur erfolgt, so Reich, in der frühen Kindheit.

    Der Ödipuskomplex ist dabei nicht apriorische Gegebenheit, sondern resultiert aus der Struktur der autoritären Familie. Das rigide väterliche Verbot des Begehrens zunächst des eigenen Körpers im Autoerotismus, dann der Mutter und später das des Pubertierenden führt nicht zu einem gesunden moralischen Bewusstsein, sondern lähmt, „weil nunmehr jede lebendig-freiheitliche Regung mit schwerer Angst besetzt ist.“9) Während materielle Unterdrückung allein noch zur Rebellion treiben würde, absorbiert die implementierte Hemmung der Sexualität nicht nur jegliche Auflehnung, sondern auch die soziale Verantwortlichkeit: „Der sozial verantwortungslose Mensch ist der in Sexualkonflikten absorbierte Mensch.“10)

    Im Nationalsozialismus fand die gestaute Sexualität der Massen letztlich ein Ventil in dessen Mystik, von hypnotischen Kundgebungen bis hin zur dort geschürten Angst vor der „Blutschande“, des Verkehrs mit Juden und anderen Ausgegrenzten, was die Sexualunterdrückung noch bestätigte. Heute noch von Sexualunterdrückung und autoritärer Familie zu sprechen scheint vermessen, zumal die Gesellschaft augenscheinlich nie freizügiger war und der Vater als Autoritätsperson und Initiator des Ödipus in vielen Familien bereits von der Bühne verschwunden ist. Ebenso wenig aber lässt sich behaupten, es gäbe keine sexuellen Konflikte mehr und keine Kinder, die nicht nur von ihren Eltern unterdrückt werden, im schlimmsten Fall durch Gewalt.

    Die sexuelle Hemmung kehrt nun wieder als ihr Gegenteil. „Sex sells“ lautet die Devise. Sex wird in unterschiedlichsten Formen thematisiert, und auf dem nunmehr liberalen „Liebesmarkt“ hat besonders der Erfolg, der fit, sexy und smart ist und damit jene Eigenschaften besitzt, die auch auf dem Arbeitsmarkt Punkte einbringen. Wenn der zivilisierte Mensch heute sexuelle Ängste entwickelt und an seiner Sexualität leidet, dann nicht an einem „Zu Wenig“ sondern an einem „Zu Viel“.

    Die natürliche Sexualität im Sinne Reichs ist heute keineswegs befreit, sondern Gegenstand medialer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Zurichtung, die immer noch unter patriarchalen Vorzeichen stattfindet. Ähnliches gilt für die Familienstrukturen. Wenn Kinder aufgrund einer Trennung oder der Berufstätigkeit des männlichen Elternteils „vaterlos“ aufwachsen und sie es in den diversen Sozialisationseinrichtungen nicht schaffen, den Leistungsund Verhaltensanforderungen zu entsprechen, wird schnell der Ruf nach einer „harten Hand“ laut. Die Autorität des Vaters scheint entpersonalisiert, sie geht heute auf in den Ansprüchen einer Leistungsgesellschaft, die nach wie vor patriarchal-hierarchisch strukturiert ist und an deren Spitzen überwiegend Männer, Vaterund Führerfiguren, stehen.

    Wenn an dieser Stelle der Versuch, die herrschende Ideologie mit Hilfe von Wilhelm Reichs Werk zu beleuchten enden muss, so ist sie deshalb nicht abgeschlossen. Identifikationsmechanismen als ein wesentlicher Punkt wurden noch nicht berücksichtigt; generell konnte die Untersuchung und der Vergleich der ökonomischen und psychologischen Strukturen in den unterschiedlichen Epochen nur angedeutet werden.

    Als persönliches Schlusswort möchte ich anfügen, dass ich erstaunt bis erschreckt darüber war, wie aktuell die Faschismusanalyse Reichs zu lesen ist. Nicht weniger bietet sie aber Hinweise auf einen hilfreichen Umgang mit Rassismen, antisozialem Verhalten und politischer Gleichgültigkeit, die zu oft ins rechte Lager führen.

    _______________________________________________________________________

    1) Reich 2003, 39
    2) ebd., 33
    3) http://de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus
    4) http://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl
    5) Reich 2003, 63
    6) „From the money in our pockets and the goods and services that we use to a more peaceful world“ Aus: „10 benefits of the WTO trading system“: http://www.wto. org/english/res_e/doload_e/10b_e.pdf
    7) Reich 2003, 22
    8) vgl. Reich 2003, 42
    9) vgl. Reich 2003, 49
    10) Reich 2003, 188

    Quellen:

    Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003

    Dialektischer Materialismus: http://de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus; (Stand: 24.08.2009)

    Reichstagswahl: http://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl; (Stand: 24.08.2009)

    10 benefits of the WTO trading system: http://www.wto.org/english/res_e/doload_e/10b_e.pdf; (Stand: 9.11.2009)

    Wilhelm Reich: Psychoanalyse, Körper und Energie SE 603155 SS 2009; Vortragende: Renate Wieser

    Universität Innsbruck, Institut für Erziehungswissenschaft e-mail: Michaela.Holaus@student.uibk.ac.at
    Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/10 Massenpsychologie des Faschismus – Damals – Heute
  • Kategorie: 2010
  • Buk 1/10 Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?

    Zurück zu Bukumatula 2010

    Bukumatula 1/2010

    Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?

    Gespräch mit dem Filmemacher Antonin Svoboda
    Günter Hebenstreit:

    Günter Hebenstreit: Du hast seit zehn Jahren gemeinsam mit Barbara Albert, Jessica Hausner und Martin Gschlacht die Produktionsfirma COOP 99. Ihr habt eine Vielzahl an Filmen gemacht und zuletzt hast Du selber als Regisseur gearbeitet und warst mit den Filmen „Spiele Leben“ und „Immer Nie Am Meer“ auch international erfolgreich.

    Antonin Svoboda: International sind das eher unsere Produktionen wie der Goldene Bär-Gewinner „Grbavica“, der oscarnominierte Dokumentarfilm „Darwins Nightmare“ oder der Cannes-Wettbewerbsfilm „Die fetten Jahre sind vorbei“.

    G: Wie kamst du als Filmproduzent und Regisseur auf Wilhelm Reich?

    A: Neben vielen anderen Anregungen bin ich irgendwann in meiner Studienzeit auch über Reich gestolpert. Damals gab es ein Regieseminar mit Roland Klick, der auch im Film vorkommt. Das Thema war ‚Reich und die freie Energie’ und zwar im Rahmen eines Seminars über: „Woraus besteht die Welt, worüber machen wir überhaupt Filme, was können Themen sein.“ Es war ein sehr ungewöhnliches Seminar, das Roland Klick damals in Berlin gehalten hat.

    Es ist schon ein sehr aufreibendes Betätigungsfeld Filme zu produzieren. Da ist viel psychischer und physischer Stress dabei, eine ständige Selbstüberforderung und -ausbeutung. Man kann sehr wenig selber regulieren, wenn man so vielen Prozessen ausgeliefert ist, die von anderen Dingen und anderen Menschen abhängig sind.

    Irgendwann ist mir dabei mein `Zentrum´ abhanden gekommen. So ein Gefühl hatte ich damals jedenfalls. Ich habe meditiert und auch vieles andere ausprobiert. Ich habe mich einfach nach etwas `gesehnt´. Dann bin ich einmal zufällig ins Internet, ich weiß gar nicht mehr, was ich recherchieren wollte und habe die Homepage des Wiener Wilhelm Reich Instituts mit der Ankündigung eines Vortrags eines Dr. Heiko Lassek entdeckt. Der war schon für den nächsten Tag angekündigt. Da er im Neuen Institutsgebäude fast gegenüber meines Büros in der Wasagasse angekündigt war, habe ich mir gedacht: wenn es sich so zufällig ergibt, dann schau’ ich doch morgen dort vorbei.

    G: Wie hat es sich weiterentwickelt, wie kam es zum Film?

    A: Es kam erst mal gar nicht zu einem Film, weil ich ja etwas für mich gesucht habe. Ich bin dort hinmarschiert und habe es erstaunlich gefunden, dass da vorne jemand steht, dem zufällig an diesem Vorlesungsabend das Mikrofon ausgefallen ist, was eigentlich auch egal war, weil es ein relativ kleiner Hörsaal war.

    Man hat das schon ganz gut verstanden, nur hatte man 5 Euro zahlen müssen; also war die Erwartungshaltung so, dass mit dem Eintrittsgeld auch ein Mikrofon mitgekauft wird, und die Beschwerden mancher Zuhörer hatten dann für mich schon etwas offensichtlich `Lächerliches´.

    Es war eine Spiegelung in der Spiegelung einer Situation, weil vorne einer gestanden ist, der über energetische Prozesse gesprochen hat, die nicht immer gleichmäßig ablaufen, bei denen man sich daher auf die wechselnden Gegebenheiten einstellen muss, wie das Leben halt ist es also nicht mit mechanistischen, sondern mit lebendigen Koordinaten zu betrachten. Und gleichzeitig war genau eine derartige mechanistische Haltung aber offensichtlich: „Wenn ich 5 Euro zahle, muss ein Mikrofon auch funktionieren!“

    Das Schöne dabei war, dass sich Heiko Lassek nicht aus der Ruhe hat bringen lassen. Er hat gesagt: „Wenn Sie mich nicht verstehen, dann kommen Sie doch näher oder Sie können ihr Geld auch zurück haben.“ Und er hat mit seinem Konzept weitergemacht: nämlich dann irgendwann einmal von der Reich-Ebene auf die Chi-Energie umzuschwenken, also zu seinem, sag’ ich jetzt einmal, GrundthemA: Herauszufinden was Chi-Energie und Reichs Ansatz von Lebensenergie an Ähnlichkeiten und Deckungsgleichheiten haben.

    Er hat das dann auch praktisch mit den `Spontanen Bewegungen´ demonstriert. Das war für mich das Erstaunlichste: Sich einerseits nicht auf eine banale, materialistische Ebene ziehen zu lassen und andererseits da etwas zu demonstrieren, was sowieso jedem den `Vogel´ raushauen muss, wenn man das sieht. Man spricht sich schnell in so einem universitären Vorlesungsraum jede Seriosität ab, wenn man sich hinstellt und mit den Händen irgendwie spontan zu wackeln beginnt.

    Das war meine `Einführung´ und ich habe auf meiner Suche eine wichtige Erfahrung gemacht.Ich habe mich in die Reich-Literatur eingelesen und an einem Ausbildungsworkshop mit Heiko Lassek teilgenommen. Die Fortbildungsveranstaltungen während der nächsten beiden Jahre waren auch im Wechselspiel meiner Arbeit mit Schauspielern umzugehen äußerst bereichernd, besonders das spontane Moment, was ja in der Behandlung auch etwas Wichtiges ist: Zuzulassen und Nachzuspüren, `In sich hinein zu hören´ und einen Ausdruck dafür zu finden, was man dabei entdeckt und diesen Dialog von Körper und Psyche mit jemandem anderen zuzulassen.

    G: In dieser Zeit hast du dir `deinen´ Wilhelm Reich gesucht und gefunden erschlossen?

    A: Erschlossen wäre vielleicht zu viel. Es ist sicher etwas, was ich gar nicht abschließen kann oder will, kann also für mich ruhig offen bleiben. Ich habe lediglich eine Tür geöffnet und bin durchgegangen.

    G: Wann gab’s da den Punkt, an dem du das erste Mal darüber nachgedacht hast auch beruflich etwas daraus zu machen?

    A: Durch Reichs Biografie.Nachdem ich mir über Behandlung, Therapie und den heutigen Stand der Fortentwicklung ein `einfühlbares´ Bild machen konnte, habe ich mich mit der Zeit für das biografische Moment zu interessieren begonnen und habe schnell festgestellt, dass Reichs Leben schon eine wahnsinnig metaphorische Geschichte ist. Sein Schicksal ist für mich sehr verknüpft mit dem 20. Jahrhundert, oder zumindest mit der ersten Hälfte und deren Folgen.

    Eigentlich war die Biografie also das Erste, was mich an einen Film hat denken lassen. Und wie es halt so beim Recherchieren ist, und besonders bei Reich, kommt man vom Hundertsten ins Tausendste. Da muss man dann eben auch dran denken, dass man bei einem Spielfilm relativ wenig wissenschaftlichen Input liefern kann. Das Spielfilmkino ist vor allem eine emotionale Maschine.

    Man muss sich eher auf das Moment Mensch, das Moment Zwischenmenschlichkeit, das Moment Empathie usw. konzentrieren und deswegen wurde mir dann irgendwann klar: Wenn man versuchen will Reich vollständig zu zeigen in dem Sinne wie Reich bis heute verschieden gesehen wird, welche Arbeiten und Forschungen von seiner Arbeit inspiriert und bereichert wurden, wie viele verschiedene Reichsche Ansätze heute praktiziert werden, dann kriegt man das gar nicht in einem Spielfilm unter.

    Das war dann der Moment den Entschluss zu fassen: O.k. man macht 2 Projekte. Einen Spielfilm, um sich darin mehr auf das persönliche Moment, auf dieses Schicksal, das dieser Wissenschaftler, Forscher, Entdecker als Mensch mit seinem ganzen komplexen Charakter und auch mit seinem ganzen, sehr vielschichtigen Umfeld erlebt hat. Und als Zweites macht man eine Doku mit den therapeutischen und forschungswissenschaftlichen Details.

    Letzteres habe ich mir dann auch fürs Fernsehen gedacht und verwirklicht, weil mit diesem Medium natürlich viel mehr Menschen zu erreichen sind etwa 150.000 Menschen trotz des späten Sendetermins. Das ist auch der einzige Sendeplatz, der im ORF für eine so lange Doku zu bekommen ist. Ich war jedenfalls glücklich, diese Doku in dieser Länge in Zusammenarbeit mit dem ORF machen zu dürfen und auch im Redakteur und Abteilungsleiter des Dokumentarfilms, Franz Gabner, eine große Unterstützung zu finden.

    Es war meine Überlegung, mich jetzt nicht so sehr in dieser TV-Doku zu verwirklichen, sondern zu schau’n, dass ich ein Produkt herstelle, das in gewisser Weise populär genug ist, damit auch Nicht-Reich-Affine, nicht a priori bereits an Orgonomie, Medizin, Psychologie, Soziologie Interessierte, also Menschen, die im Alltagsleben in ihren ganz normalen Familienund Berufskoordinaten stecken, diesen Film interessant und spannend finden.

    Zur Zielgruppe gehört z.B. für mich jeder Mensch, der sich noch fragt, ob sein Leben das ist, was die anderen vorschreiben, oder ob es da nicht noch mehr gibt als die Gesetze, die die Gesellschaft sich selbst aus allen möglichen Nöten heraus gibt und bei dem es Momente gibt, in denen er sich fragt: Wie fühle ich mich? Bin ich glücklich? Lebe ich ein emotional erfülltes Leben, und bin ich mir der gewohnten, täglichen Verhaltensmuster und der dahinter stehenden, oft unausgesprochen Probleme bewusst?

    G: Du meinst also, dass Menschen die sich diese Fragen stellen, auch ihr eigenes Leben in Frage stellen wollen?

    A: Genau, aber vielleicht ist das gar nicht so ein bewusster Prozess. Ich meine nicht in erster Linie die bereits `Wissenden´, sondern die, die zumindest in sich ein waches Bedürfnis nach Klarheit und umfassendem Wissen spüren.

    G: Wen umfasst dein Zielpublikum noch?

    A: Es war mir wichtig, dass keine Vorkenntnis von Nöten sind. Ich wollte einfach eine historisch spannende Figur, die in ihrem Kontext auch viel Zeithistorie zulässt, abbilden. Aber nicht nur das Zeitgeschehen, sondern auch alle Entwicklungen, die sich seit 1920 aus der Psychoanalyse heraus ergeben haben und warum Wilhelm Reich immer wieder an die Grenzen des sozial Tabuisierten gekommen ist und er diese Grenze auch thematisiert hat.

    Das deutlich zu machen war mir ein Anliegen, und ich hoffe, dass ich da eine Balance gefunden habe und dass man diesen Zusammenhang, den ich mit Reichschen Originaltexten verknüpft habe, mitbekommt. Ich wollte, dass klar wird, dass der `Autor´ Reich ein sehr scharf analysierender Beobachter seiner Zeit war, dass er in das Umfeld seiner Zeit eingebettet gezeigt wird immerhin war es ihm als Erster in der Psychoanalyse ein Anliegen, gesellschaftliche, politische Themen in seine Arbeit mit einfliesen zu lassen und dass letztlich auch der `Mensch´ Reich portraitiert wird, vorwiegend unter Verwendung des Briefwechsels mit A.S. Neill.

    G: Von dem Moment an, als der Gedanke, die Absicht da war, bis zur Durchführung: Wie lange war die Vorbereitungszeit?

    A: Na ja, wenn ich überlege: Ich kenne Heiko Lassek seit mehr als sechs Jahren dann waren wir sicher vier, fünf Jahre an dem Projekt dran.

    G: Und worauf bist du dann bei dieser Arbeit gestoßen? War es ein Abenteuer für dich?

    A: Absolut! Dadurch, dass ich für beides recherchierte, also für Dokumentarfilm und Spielfilm, hab’ ich mich quasi für alles interessiert. Ich hatte die Möglichkeit, zwei Mal in Begleitung von Heiko nach Amerika zu reisen, um verschiedene Leute kennen zu lernen. Mit ihm habe ich zu Anfang natürlich am meisten über Reich gesprochen und mir verschiedenste Konzepte überlegt. Eva Reich durfte ich noch vor ihrem Tod kennen lernen oder auch Richard Blasband, der noch ein direkter Schüler von Reich war und sich als Wissenschaftler und Therapeut mit der orgonomischen Forschung über 50 Jahre lang eingehend beschäftigt hat.

    Aber auch andere Persönlichkeiten wie die Journalistin und Filmemacherin Digne Meller Marcovicz, die in den 80er Jahren den Dokumentarfilm über Wilhelm Reich „Viva Kleiner Mann“ für einen deutschen Sender gemacht hat. Dieser wurde dann leider nie ausgestrahlt. Ich habe deswegen auch ganz absichtlich diesen Film an mehreren Stellen in meinem Film zitiert und einige Ausschnitte davon hinein genommen. Und es war auch insofern ein Abenteuer, als wir viele unterschiedliche Menschen getroffen haben, die alle, wie schon gesagt, ein anderes Bild von Reich haben und ihn natürlich auf ihre ganz eigene Art interpretierten.

    Ich habe auch Peter Reich, seinen Sohn, kennen gelernt und es wurde sehr bald klar, dass alle diese Zeitzeugen immer auch wissen wollten, welche Position ich persönlich einnehme. Sehr schnell wandelte sich dann ein unverbindliches Gespräch in ein Verhängnisvolles in ein Gespräch über: „Auf welcher Seite stehe ich eigentlich, welche Theorie spricht mich an, welche bin ich bereit zu verurteilen, zu ignorieren oder fallen zu lassen, weil sie eben so oder so nicht richtig wäre.“ Deswegen war es ganz wichtig, meinen eigenen Standpunkt zu haben und zu sagen: „Ich bin Filmemacher und kein Wissenschafter. Ich bin ein `Kulturauge´ und erlaube mir ein großes Spektrum betrachten und vermitteln zu wollen.“

    Für mich ging es in all diesen Begegnungen darum, keine allzu definierte Position einnehmen zu müssen, denn da gibt es das Phänomen, dass Menschen, die sich über mehr als 50 Jahre lang mit Orgonomie beschäftigen, ein betontes Moment zur Abgrenzung entwickelt haben Abgrenzung zu einem `Aussen´ und auch untereinander. Motto: „Um mich zu definieren, muss ich eine Grenze zu anderen Personen und Meinungen ziehen.“ Und es stellte sich auch die Frage: in wie weit will ich Reich im Original zitieren?

    Dass Reich mehr oder weniger aus der Quellenforschung der Psychoanalyse ausgestrichen ist, ist schon heftig. Man findet einfach in keinem Lehrbuch Texte von ihm oder über ihn, nicht einmal eine Fußnote. An den Universitäten wird `Reich´ ebenfalls mehr als populärwissenschaftliches oder auch als fantastisches Beschäftigungsfeld betrachtet. Da sind Vorurteile mit im Spiel, die u.a. auch mit der 68er Bewegung zu tun haben. Das ist aber ein eigenes Kapitel, das man vielleicht ein andermal besprechen sollte.

    Jedenfalls war es ein großes Abenteuer, da und dort irgendwo eine Essenz zu finden, oder einen Konsens, um schließlich doch zu sagen: O.k., das Spektrum reicht wirklich von hier bis dort. Dieser Arbeitsschritt hat auch relativ lange gedauert. Wir haben sehr viel Material gedreht, wir haben sehr viele Interviews gemacht und ich habe viele schlaflose Nächte damit verbracht mir zu überlegen, worauf ich besonderes Gewicht legen will. Ich habe dann zusätzliche Unterstützung durch meinen Co-Gestalter Nico Dabelstein und die Dramaturgin Irene Reiserer bekommen, die viel Ordnung in den Wust an Themen und Materialien gebracht haben; und nicht zuletzt auch durch meinen Cutter, Oliver Neumann, der dank seiner Geduld und Experimentierfreudigkeit keinen Versuch scheute.

    Es ist wohl etwas Besonderes, wenn man sich über Jahre hinweg mit einem Menschen, einer Person beschäftigt. Die Interviewpartner werfen dann wieder ihren eigenen ‚Spot’, ihre eigene Gewichtung darauf, währenddessen dieser Reich natürlich bereits in mir und in meiner Vorstellung ein eigenes Leben entwickelt hat. All diesen Einflüssen versuchte ich in der Arbeit gerecht zu werden. Wenn du nach `dem Abenteuer´ fragst, also das war wirklich ein Abenteuer!

    G: Zentral war also die Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Menschen, auch solchen, die Reich noch persönlich gekannt haben und wie die auf dich reagierten; wo lag denn die Grenze, der schmale Grat zwischen ‚Freund’ und ‚Feind’?

    A: Ja, das ist ein schmaler Grat. Viele Kontakte sind über Empfehlung von Heiko Lassek zustande gekommen und über diese Empfehlungen bin ich wieder auf andere gekommen. Ein paar Interviewpartner hab’ ich selber eingebracht, auch weil ich z.B. mit dem Filmemacher Roland Klick noch einen weiteren Blickwinkel auf die Thematik haben wollte.

    Die ständige Frage war: Wo finde ich Interviewpartner und -partnerinnen aus den verschiedensten Betätigungsfeldern und mit den unterschiedlichsten Anschauungen über Reich? Deswegen sind die auch gar nicht so vor ausgewählt gewesen im Sinne von ‚Freunde’ oder ‚Feinde’.

    Z.B hat ein Hämatologe, der sich über die Veränderungen der Blutbilder beim Reich’schen Blut-Test mit Reich beschäftigt einen anderen Ansatz, auch einen viel wissenschaftlicheren Ansatz, als jemand, der sich als Historiker über die Frühoder Spätphase Gedanken macht, oder auch wie jemand, der frühkindliche Therapienansätze aus dem Verständnis von Reichs Methode heraus anwendet.

    Das präventive Moment mündet da z.B. in der Frage nach dem Umgang und der Therapie mit Kleinkindern.

    Das sind natürlich sehr verschiedene Ansätze, und in den annähernden Gesprächen war schon auch immer wieder einmal eine distanzierte Haltung dabei.

    G: Wie war das für dich?

    A: Na ja, zum einen wollte ich distanziertere Meinungen ja auch zulassen. Es ist schon gut, dass nicht jeder dasselbe predigt. Ich wollte mit dem Film ja auch das Heute abdecken und wollte viele biografische Details erfahren und einbringen, um einen spannenden Background zu haben.

    Das Ziel war aber zu zeigen, wo Leute wie z.B. Blumenthal oder Andersson, die Skandinavier mit ihren Kliniken, die Arbeitsansätze Reichs einbinden und wo z.B. auch Tina Lindemann mit ihren Behandlungen, bezogen auf diese Ansätze, heute steht.

    Außerdem sollte man verstehen, von wo Reich herkommt, woher wiederum die Interviewpartner Reich kennen und wie sie Reich heute weiterdenken bzw. in ihrer Arbeit fortführen; wie etwa Heiko Lassek, der den energetischen Funktionsprozess in einem Vergleich mit ChiEnergie fortführt und ihn im Film in sozial-philosophischer Art und Weise diskutiert. Aber mein klares Ziel war es zu zeigen, dass Reich heute noch immer aktuell ist.

    Nicht der Reich wie er vor 50 Jahren war und was er damals gemacht hat, sondern der Reich der sich als Gewicht, als Stoff in seinen Texten und durch seine Behandlungsmethoden in Erinnerung gehalten hat und dessen Behandlungskonzepte auch heute erfolgreich angewendet werden.

    G: Es war also ein Prozess über mehr als vier Jahre. Gab es da auch Punkte, Situationen, wo du geglaubt hast, es geht gar nicht weiter?

    A: Natürlich. Das Projekt musste ja auch finanziert werden viele Recherchen, viele Reisen, viele Drehaufnahmen, viel Schnittarbeit; Arbeit, die über viele Monate gegangen ist und finanziell vorgeschossen werden musste. Das kostete alles Geld.

    Dazu kam ein großes Problem: Ursprünglich hatten wir gehofft, mit dem ‚Wilhelm Reich-Infant-Trust-Fund’ (WRITF) zusammenarbeiten zu können. Dann kam aber das Jubiläumsjahr 2007 dazwischen, in dem es auch die von Birgit Johler zusammengestellte Reich-Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien gab.

    Zur Eröffnung waren damals auch Mary Higgins und der Vizepräsident der amerikanischen Reich-Gesellschaft, des WRITF, Kevin Hinchey, anwesend. In Gesprächen konnten wir mit ihnen zu der Übereinstimmung kommen, dass es jetzt wirklich an der Zeit sei, zusammenzuarbeiten. Wir sprachen darüber, dass es nicht mehr so sein kann, dass der WRITF jegliche Publikation über Reich kontrollieren muss.

    Es müsse eine Art von Austauschmitarbeit geben; es erschien klar, dass sich Europa und Amerika gegenseitig bereichern können. Im Dialog mit Heiko Lassek und der deutschen Gesellschaft war das alles gut geplant, und die Aussichten für eine Zusammenarbeit standen gut. Eigentlich war geplant, dass der Film anlässlich der Archiveröffnung gezeigt wird.

    Das hat sich aber sofort zerschlagen als die Amerikaner wieder zurück in ihrem Land waren und drauf gekommen sind, dass bei dieser Ausstellung im Jüdischen Museum irgendwelche Texte nicht so in den Kontext gebracht waren, wie sie es gerne gehabt hätten und sie sind gewohnt zu kontrollieren.

    Das eine oder andere an der Kritik war vielleicht berechtigt: Ein Akkumulator war im Ausstellungsraum neben neonröhrentechnischen Geräten aufgestellt worden. Das war sicher kontraproduktiv. Nur muss man sagen, dass man das als Kunstausstellungsverantwortliche vielleicht nicht wissen muss. Insbesondere muss man aber in so einer Situation nicht wie die Inquisition darauf reagieren und dann meinen, deswegen ist alles andere auch schlecht.

    (Anmerkung der Redaktion: Der zentrale Punkt der Kritik bestand in der dringenden Aufforderung eine Probe radioaktiven Materials aus dem Ausstellungsraum mit dem Orgon-Akkumulator zu entfernen, um analoge Wirkungen wie bei Reichs Experiment mit radioaktivem Material in einem starken Orgon-Feld, auszuschliessen.)

    Eigentlich war das das größte Problem: dass die Amerikaner mir von dieser versprochenen Kooperation wieder abgesprungen sind, mir sogar den Zugang zum Archiv und auch sonst jede Unterstützung verweigert haben.

    G: Wobei du mit dieser Ausstellung ja gar nichts zu tun gehabt hast…?

    A: Natürlich nicht. Aber das ist ja auch das Problem mit ich sag jetzt einmal „Sekten“, denn wie der WRITF in Amerika agiert, verhält er sich wie eine Sekte und ist daher immer abgrenzend und ausschließend. Dass sie nach 50 Jahren nicht kapiert haben, dass ‚Reich’ nicht als Sektenglaube zu betrachten und zu verwalten ist, sondern ein lebendiger Diskussionsprozess ist, ist sowieso die traurigste Erkenntnis, die ich daraus ziehen musste.

    Das war enttäuschend. Ich habe aber trotzdem noch die Hoffnung, die jüngere amerikanische Generation, die sich mit Reich beschäftigt, in einen neuen Dialog mit Europa treten zu sehen. Leider schaffen sie das gegenwärtig aber nicht.

    Offensichtlich ist es eine große Bürde, das Museum in Orgonon mit relativ viel Geld für relativ wenige Besucher aufrecht zu erhalten. Generell ist die Idee „aufrecht zu erhalten“, möglichst zu konservieren, ja ein Quatsch.Ich meine, es muss doch der Welt überlassen bleiben, Reich zu hinterfragen, seine Ansätze zu erforschen und zu erproben und einfach selber zu denken.

    Er hat ja auch selbst gesagt, er habe so wie Columbus Amerika entdeckt hat eine Lebensenergie entdeckt; nur wie sie funktioniert, was damit tatsächlich möglich ist und in welchem Kontext und mit welchen Konsequenzen sie zu betrachten und zu behandeln ist, wird späteren Generationen vorbehalten bleiben.

    Ich bin froh, dass hier in Europa die Möglichkeit besteht, Reich sehr wohl zu thematisieren und erarbeiten zu können und dass nicht alle Rechte schon gar nicht die für einen Dokumentarfilm bei diesem WRITF liegen, sonst wäre das alles wirklich sehr frustrierend gewesen.

    G: Wie schätzt Du die Situation Reich betreffend in Amerika ein? Wie unterscheidet sich Europa von den USA?

    A: Der generelle Unterschied zwischen Europa und Amerika ist der, dass die Amerikaner relativ konservativ auf ihre Art und Weise sind, wie sie Dinge erforschen. Der Europäer, glaube ich, ist ein größerer, offenerer Kulturmensch, was natürlich auch die Gefahr beinhaltet, dass er auch ein Träumer, ein Fantast ist. Der Europäer orientiert sich mehr an Gefühlen, der Amerikaner orientiert sich mehr an Ergebnissen.

    So war es auch, als ich mit Juristen, Therapeuten oder mit Reichs Familienangehörigen gesprochen habe. Es ging immer sehr darum, was effektiv möglich und auch juristisch zu erzielen war. Das ist z.B. auch in der heutigen Diskussion über das Thema „Bachelor-Studium, oder nicht“ so.

    Übernehmen wir jetzt, weil die EU sich an die USA angleichen möchte, mehr oder weniger das amerikanische Unterrichtssystem, oder behalten wir unser europäisches, eher offenes, auch sehr anregendes Studiensystem, in dem sich Studienpläne auch autonom von den Studenten kreieren lassen, wo sie sich selber ihr Betätigungsfeld zusammenstellen, wo sie sich selber ihren Ausbildungswerdegang suchen und finden können?

    Das amerikanische System ist sehr zielorientiert und zwingt die Studenten in weniger Zeit zu mehr Effizienz. Das heißt, sie müssen sich noch mehr spezialisieren und können sich noch weniger einen generellen Überblick verschaffen. Das ist ein großer kultureller Unterschied, der natürlich bis in den Alltag hineinreicht und hat seine Vorund Nachteile.

    Im Film beziehe ich dazu Stellung, indem ich relativ viel aus Europa aufgenommen habe. Bis auf Eva Reich sind keine Amerikaner drinnen. Ich habe Richard Blasband absichtlich nicht hinein genommen, weil ich auch über das ‚cloud-busting’ nicht viel drinnen habe. Das ist einfach auch eine Sache, die für mich unter wissenschaftliche Hybris fällt und auch durch Kate Bushs Video ausreichend abgedeckt ist.

    Aber man kann sehen: Aha, da gibt es noch eine weitere Dimension möglicherweise kann die Forschung dorthin gehen. Mir war es also kein zentrales Anliegen zu zeigen, dass er diese Energieforschung bis in die atmosphärischen, kosmischen Ebenen gebracht hat. Das erschien mir definitiv nur für Leute mit „special interest“ wichtig.

    G: Was waren die Reaktionen nach der der Erstausstrahlung im ORF?

    A: Beim ORF haben etliche Leute angefragt, die den Film nach der Ausstrahlung kaufen wollten; dort kostet sie allerdings 99 Euro, wobei man nur einen `Mitschnitt´ bekommt. Der ORF hat keine Verkaufslizenz, weil der Film von meiner Firma als eigenständiger Fernsehfilm produziert wurde.

    Ich kenne bis jetzt nur Reaktionen aus meinem persönlichen Umfeld und von Kollegen, aber die waren sehr positiv. Die haben sich dann gleich Reich-Bücher gekauft. Sie haben den Film so anregend gefunden, dass sie die Primärliteratur lesen wollten was eigentlich auch mein Anliegen war. Und da sind sie jetzt am nächsten Tag in der Buchhandlung gestanden und haben mehr oder weniger die siebente Bestellung desselben Buches aufgegeben. Es gab also sozusagen kurzfristig in den Buchhandlungen offensichtlich deckungsgleiche Bestellungen. Und es haben sich auch Menschen für Behandlungen z.B. bei Tina Lindemann gemeldet.

    Das habe ich mir auch gewünscht: Dass sich einerseits Leute mit der Primärliteratur zu beschäftigen beginnen und weiter die wissenschaftliche Arbeit fortführen und andererseits das Praktische: dass sich Menschen für diese Art von Behandlung interessieren. Es ist mir schon klar, dass man keinen Erdrutsch mit einem Dokumentarfilm und einer einmaligen Sonntagsabend-Ausstrahlung auslösen kann. Aber ich hoffe dass sich die `Idee´ fortsetzt, zum Beispiel auch in Deutschland.

    Bei deutschen Fernsehsendern stößt man auf relativ viel Ignoranz, weil Wilhelm Reich dort einfach kein seriöses Thema ist. Bei ARTE wurde die Anfrage mit dem Argument abgeschmettert, dass Reich ja eh’ schon einmal thematisiert wurde. Dann stellte sich heraus: das waren gerade drei Minuten in einer sechsteiligen Serie über Sigmund Freud. Und mehr scheinen sie dort nicht zu brauchen.

    Ich glaube, dass Reich in den späten sechziger Jahren zu einem Problem wurde und missinterpretiert wurde. Er hat „Die sexuelle Revolution“ geschrieben, die von den `68ern´ in ihre Headline übernommen wurde. Auch nach 40 Jahren wird das noch immer so genannt, hat aber mit Reich eigentlich nichts zu tun.

    Wilhelm Reich hat sich sehr präzise das zwischenmenschliche Miteinander angesehen. Die Sexualität ist für ihn ein Geschehen zwischen Liebenden, die sich im Vertrauen auf eine intime Welt ihrer emotionalen Intimität öffnen. Und das ist ein energetischer Prozess. Bei vielen schwirrt aber das Bild von irgendeinem Sexguru herum, so nach dem Motto: „fick dich frei“, und das ist natürlich eine krasse Diffamierung.

    Grundsätzlich gibt es für mich drei Bereiche: Den energetischen Prozess, den individuellen Prozess und den kulturellen Prozess und diese drei Bereiche muss man zusammen denken. Wenn man sie auseinander reißt, dann ist Reichs Theorie in alle Richtungen missinterpretierbar. Ich glaube, daher rührt viel Schaden, der sich durch Vorverurteilung hier und heute immer noch zeigt.

    G: Unter der Devise: Alle wissen Bescheid und keiner ist informiert?

    A: Genau. Darin liegt natürlich vieles, was jeden Einzelnen betrifft. Darum ist ‚Reich’ auch nicht etwas, womit man sich so einfach und gerne beschäftigen kann. Auch wenn die Karotte am Ende recht süß ist und appetitlich aussieht: Jeder Mensch möchte frei sein, jeder Mensch möchte sich zumindest gut fühlen, jeder Mensch möchte sich lebendig fühlen der Weg dort hin ist aber mit vielen Hindernissen bestückt. Und so ist es dann doch oft einfacher diese Hindernisse nicht zu überwinden, sondern dort zu bleiben, wo man sich sicher fühlt, wo die Gesellschaft einen auch hin platzieren will, weil man eine Funktion erfüllt und man nichts in Frage stellen muss.

    So ist die Begegnung mit Reich eine Arbeit an der Erkenntnis des Lebendigen, wie letztlich jede Begegnung mit dem Leben: eine Herausforderung, eine Fragestellung. Es ist schon schwierig, sich wesentliche Fragen zu stellen und letztlich auch die Konsequenzen daraus zu ziehen.

    G: Wenn du in 20, 30 Jahren auf deinen Film zurückblickst, was wird dir dazu einfallen?

    A: In die Zukunft zu blicken ist Wunschdenken. Trotzdem: ich wünsche mir, dass der Film dann extrem altmodisch wirkt und dass aber vielleicht, wo über Energie und Energieforschung gesprochen wird, der Film etwas sehr Ursprüngliches hat.

    Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren sehr viel weiter sind. Dass in unserem Alltag das Wissen selbstverständlich ist, dass das, was wir heute noch als psychologische Prozesse, als Migräne, Depression, Lustlosigkeit, Appetitlosigkeit etc. beschreiben, psychische Probleme sind, die einen energetische Ausgangspunkt haben eben eine Konsequenz von Energiestau, Energieüberfluss oder energetischer Verzerrung

    G: Was sind Deine nächsten Pläne?

    A: Nur weil der Dokumentarfilm jetzt fertig ist, heißt das nicht, dass die Arbeit für mich wirklich abgeschlossen ist.Wir haben auch eine englische Fassung gemacht eine DVD mit Sprachauswahl. Das hat alles sehr viel Geld gekostet und muss erst einmal wieder eingespielt werden. Wir haben jetzt auch einen Weltvertrieb für die Doku gefunden, was für ein TV-Produkt relativ ungewöhnlich ist. Alles zusammen bedarf das aber noch recht viel an Zeit und Energie.

    Dann gibt es noch das Spielfilmprojekt, für das ich Klaus Maria Brandauer als Reich-Darsteller begeistern konnte und im Wort habe. Dieses Projekt ist auf jeden Fall eines meiner nächsten großen Ziele. Und dann möchte ich mich einer Liebesgeschichte zuwenden: Alles was `Reich´ und das Drumherum in mir ausgelöst haben, alles was meine eigene Behandlung und alle therapeutischen Erlebnismomente bewirkt haben, möchte ich in einen Liebesfilm umsetzen. Das ist sicherlich eine Aufgabe, wo ich wieder mehr ganz nach Reich, „selbstregulierend“ meine eigene Vision erzählen kann und nicht auf die vielen Meinungen anderer Rücksicht nehmen muss.

    _____________________________________________________

    Die DVD „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“ kann als zweisprachige Promoversion gegen einen Selbstkostenpreis von € 19,90,zuzüglich Porto unter nina@coop99.at bestellt werden.

    Filmvorführung im Rahmen des WR-Forums:
    „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“
    Dokumentarfilm (2009; 95 Min)

    anschließend Diskussion mit Antonin Svoboda (Regisseur, COOP 99)
    Zeit: Donnerstag, 11. März 2010, Beginn: 19Uhr
    Ort: Amerlinghaus (Galerie), 1070 Wien, Stiftgasse 8
    Kostenbeitrag: € 5.-

    Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/10 Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?
  • Kategorie: 2010
  • Buk 2/10 Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?

    Zurück zu Bukumatula 2010

    Bukumatula 2/2010

    Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?

    …und der Günter Hebenstreit sitzt im Orgon-Kastl…
    von
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Rezensionen zu Antonin Svobodas Dokumentarfilm über Wilhelm Reich, der am 13. Oktober 2009 in ORF 2 gesendet wurde.

    Also ich hab’ keine Angst vor dem Wilhelm Reich, der hier in dem Film von Antonin vorgestellt wird. Das ist ein wissenschaftlich korrekter Mann, der alles ordentlich untersucht hat und mit seinen Forschungen auch viel Gutes, auch Ungewöhnliches in das Leben der Menschen gebracht hat. Nein Angst braucht man vor so jemanden nicht zu haben und dennoch, gleich zu Beginn, hört man, dass sich die Atomenergiebehörde nach der Verurteilung Reichs für die gelungene Zusammenarbeit bedankte und betonte, wie wichtig es war, Reich aus dem Verkehr zu ziehen.

    Auch die American Psychoanalytic Association dankte der FDA für ihr „effektives Vorgehen gegen Reich“. Inhaltlich folgt dann vieles, warum Wilhelm Reich sehr wohl Anlass gegeben hat, um Angst vor ihm zu haben, vor allem jedoch vor dem, was er in uns berührt hat: „Ich habe Unrecht getan“, sagt er da am Anfang in einem der über die Bilder gelegten Originalzitate am Beginn des Films „indem ich die grundlegende Naturkraft entdeckt und praktisch verfügbar gemacht habe, die jahrtausendelang in vielen Sprachen `Gott´ genannt worden ist“. Es ist wohl sehr ängstigend, Gott nicht mehr wie über Jahrtausende traditionell in uns verankert als etwas außerhalb von uns zu sehen, sondern „… als etwas Irdisches, Berührbares und Verstehbares innerhalb des menschlichen Herzens und des Geistes“.

    Diese Angst vor dem Lebendigen in uns wird angesprochen von den Vielen, die hier zu Interviews eingeladen waren; gleich zu Beginn von Annelie Keil, Heike Buhl und Björn Blumenthal, dem schönen, weißhaarigen „Althasen“ der Orgontherapie. Reich hat also die Grundfesten unseres Verständnisses vom Sein berührt, und das hat ihm letztlich das Leben gekostet. Der Film beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, da, wo Reich als 17-Jähriger an der Front von Isonzo mit Gewalt und Obszönität konfrontiert war und einer der wenigen Überlebenden war.

    Der Film beginnt nicht beim Jugendlichen, der seine Mutter an den Vater verriet, welche sich dann nach konflikthaften, eifersüchtigen Auseinandersetzungen mit diesem das Leben nahm. Er beginnt auch nicht da, wo der Elfjährige erste sexuelle Erfahrungen mit Bediensteten machte. All das kommt im Film nicht vor. Vielleicht ja, weil so viel von diesen Tatsachen und biographischen Gegebenheiten oftmals dazu missbraucht wurden, um Reichs bahnbrechende Erkenntnisse, auf das Werk eines schwer traumatisierten Verrückten zu reduzieren, wie dies (leider nicht zuletzt) z.B. im Buch „Das sexuelle Bollwerk“ von Harry Mulisch in für mich dummdreister Art gemacht wurde.

    Da sucht der Filmemacher offenbar einen Abstand. Meiner Empfindung nach ist diese Distanz ein bisschen zu groß. So empfinde ich es für Reichs Kampf um die Freiheit in der Liebe wesentlich, dass die monogame Ehe seiner Eltern und das damit verbundene Gebot zur ehelichen Treue die Grundlage für die Verzweiflung seiner Mutter und damit für all das Leid der ganzen Familie war. All das wird nicht einmal erwähnt, auch nicht die Beziehung Reichs zu (seinen) Frauen, über die er sich selbst sehr offen äußert (vor allem in dem Buch „Jenseits der Psychologie“).

    Die enge Verschränkung und gegenseitige Bedingtheit von Forschungsergebnis und der „Ausstattung“ des Forschers wird außer Acht gelassen. Man könnte sagen, dass Wilhelm Reich wahrhaftig das gelebt hat, was er dann in der Forschung untersucht hat. Da interessiert natürlich auch die Person. Der Film beginnt also mit der Konfrontation von Gräueltaten im Ersten Weltkrieg, welche Reich nicht als moralisch verdammenswerte Handlungen sieht, sondern als „die latente Grausamkeit des Einzelnen“ als Ausdruck einer krankhaften Entwicklung, weshalb es der Heilung und mehr noch der Vorsorge bedarf.

    Ich war erneut berührt, wie Reich über seine erste Begegnung mit Freud sprach: „Freud war anders, er sprach mit mir wie ein ganz gewöhnlicher Mensch und hatte brennend kluge Augen. Sie durchdrangen nicht die Augen des andern in seherischer Pose sondern schauten bloß echt und wahrhaft in die Welt.“ Das war der Beginn einer intensiven Beziehung, die mit einer großen Enttäuschung endete, als Reich Freuds Geund Befangenheit erkennen musste (siehe Interview mit Kurt Eissler: „Reich speaks of Freud; aufgenommen 1952).

    Auch das Ende dieser Beziehung kommt in dieser Brisanz im Film nicht zur Geltung. Lore Reich spricht zwar über die Unterschiede zwischen Reichs und Freuds Neurosenauffassung, darüber, dass Reich an der Libidotheorie festhielt und sie fortführte, während Freud sich vermehrt der Erkundung von Ich-Instanzen und der Beschreibung der Abwehrmechanismen zuwandte. Lore Reich führt den letztendlichen Ausschluss aus der psychoanalytischen Gesellschaft auf Reichs Einbezug des Körpers in die Psychoanalyse und seine kommunistischen Auffassungen zurück und sehr wesentlich auch darauf, dass Anna Freud sehr persönliche Motive hatte (sie selbst war Jungfrau und dürfte sich durch die Theorie Reichs zur `Genitalität´ angegriffen gefühlt haben), weshalb sie seinen Ausschluss vorantrieb.

    Reich sagt dazu im Eissler Interview: „Von da an lautete die große Frage: ‚Woher kommt dieses Elend?’ Und da begannen die Auseinandersetzungen. Und während Freud seine Todestriebtheorie entwickelte, die besagte `das Elend kommt von innen´, ging ich nach draußen, nach draußen, wo das Volk war Hier kam Freuds Enttäuschung auf Ich hatte die gesellschaftlichen Konsequenzen aus der Libidotheorie gezogen. Für Freud war das das Schlimmste, was ich tun konnte.“

    Die enge Verflechtung zwischen Privatem und Persönlichem drückte sich in Reichs Arbeit in Sexualberatungsstellen in Wien und dann in Berlin aus. Er wollte mit politischen Maßnahmen u.a. zur Behebung der Wohnungsnot Bedingungen schaffen, die den Ausdruck von Sexualität z.B. durch ein eigenes Schlafzimmer für die Eltern ermöglichen. Er sah in einer erfüllten Sexualität die Basis für ein gewaltfreies Aufwachsen der Kinder, eine Möglichkeit, dass sich keine Panzerung entwickeln muss. Auch die Autoritätshörigkeit, wie sie sich in der Unterwerfung unter Hitler zeigte, führte er ganz grundsätzlich auf eben jene Trennung des Kindes von seiner (wahren) Natur zurück.

    Beeindruckt war ich vom Interviewausschnitt von Willi Brandt aus „Viva Kleiner Mann“, der von einer tiefen Kenntnis des Reich´schen Ansatzes zeugte. Der Film ist sehr gut gemacht; das Zeigen von Bildern und Filmausschnitten aus der Zeit von 1920-1960 wird teilweise überlagert von Originaltexten aus Reichs Werken, wovon ich viele schon kannte, jedoch über den Wahrheitsgehalt und das Essentielle erneut beeindruckt war. So werden zum Thema `Panzerung´ im Hintergrund Filmausschnitte mit militärischem Turnunterricht gezeigt; zur `genitalen Impotenz´ sind Ausschnitte von Tanzveranstaltungen mit vordergründig lustigen Menschen zu sehen darüber folgendes Originalzitat: „Je genauer die Kranken ihren Geschlechtsakt beschrieben, desto fester umriss ich die klinische Überzeugung, dass ausnahmslos alle schwer gestört sind.“

    Alle relevanten Forschungsthemen werden angesprochen und von den interviewten Experten sehr kompetent ausgeführt die Veränderung des analytischen Ansatzes zur Vegetotherapie, die Rolle der Genitalität für die Gesundheit, die Bedeutung der Säuglingsforschung, die Forschungen zur Orgonenergie, die Arbeit mit dem Orgon-Akkumulator bei Krebs, die Massenpsychologie des Faschismus ebenso wie das Regenmachen mit dem Cloud Buster immer wieder schön, das Video von Kate Bush zu sehen.

    Das mir bereits Bekannte konnte ich noch einmal aus einem neuen, gründlichen Blickwinkel sehen und einiges neu erfahren, wie z.B. dass es die Krebsklinik `Humlegarden´ in Dänemark gibt, in der Patienten mit Orgonakkumulatoren behandelt werden und es neben der Anhebung der Lebensenergie Ziel ist, an der Lebensqualität der Krebskranken zu arbeiten, sodass das Leben erneut bejaht werden kann. Ich war gerührt, wie hoffnungsvoll Reich in Amerika mit dem letzten Schiff aus Norwegen ankam, wie viel Freiheit er sich versprach nach all den Schmähungen und Verfolgungen am europäischen Kontinent.

    Amerika, wo im Zuge einer Hetzkampagne er als Scharlatan und `Sexdoktor´ diffamiert wurde, wo seine Bücher ein zweites Mal verbrannt wurden und wo er letztlich im Gefängnis starb. Ich konnte die drückende, düstere Atmosphäre nach dem Oranur-Experiment förmlich spüren; und ich war neuerlich erschüttert über Reichs `Allein-sein´ danach. Und ich war berührt, die Gewalt der Atombombe zu sehen.

    Ich fand es interessant, einige mir nicht bekannte Menschen zu sehen und zu hören: Den Internisten und Onkologen Christian Rudolph, den Politologen und Körperpsychotherapeuten Marc Rackelmann, den Verleger Uli Leutner, den Chirurgen und Körperpsychotherapeuten Klaus Stinshof, den Chefarzt der Krebsklinik Humlegarden, Finn Andersen, und den Hamburger Autor und Regisseur Roland Klick.

    Es beruhigt, dass auch Menschen aus der potentiellen „Counter Truth“-Welt sich mit der Reich´schen Forschung auseinandersetzen und Brücken bauen. Ich freute mich über das Wiedersehen mit so vielen lieben Menschen, welche ich auch persönlich kennen lernen durfte: Myron Sharaf, Lore Reich, Eva Reich, Johanna Sengschmid, Heiko Lassek, Heike Buhl, Tina Lindemann, Günter Hebenstreit, Thomas Harms.

    Alle sprechen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung da gibt es einen enormen Wissensschatz.Aber: Warum seid ihr alle so ernst, so gefasst, soo seriös wäre da nicht Günter Hebenstreit, der im `Orgon-Kastl´ sitzend darüber spricht, dass er noch keine Orgasmen im Kastl hatte; und wüsste ich nicht, dass Heiko ein sehr lebendiges, pulsierendes, unkonventionelles Leben lebt, würde ich nicht annehmen, dass dieser seriöse Mann mit dem professoralen Gehabe die Botschaften Reichs nicht nur gelesen und so wie wir wissen auch wissenschaftlich und therapeutisch weitergeführt hat, sondern sie ihn auch geprägt oder vielmehr `gelöst´ haben, sodass er diese pulsierende Lebendigkeit auch ist.

    Und würde ich Tina nicht kennen, wie springlebendig sie ist, so würde ich zwar dennoch sofort nach dem Therapieausschnitt zu ihr in `OrgonTherapie´ gehen, weil die Wirkung sehr eindrucksvoll erkennbar ist und auch wie Halt gebend und kompetent sie ist. Dennoch: Ich konnte nicht wahrnehmen, dass die tiefe Beschäftigung mit Wilhelm Reich am eigenen Leib Befreiung bewirkt; und ich konnte den Aufruf zur Radikalität im wahrsten Sinne des Wortes nicht wahrnehmen.

    War dies etwa die „Vorgabe“ für den Film dass die Seriosität das Wichtigste ist, um ja nicht der Abwertung Vorschub zu leisten (das sind ja alles sehr befremdliche, verrückte, nicht ernstzunehmende Menschen, diese Reichianer!)? Fürchten wir uns etwa selbst vor dem Reich in uns? Davor, welche Konsequenzen das für unser Leben hat? Das frag’ ich mich.

    „Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?“ ist für mich ein wissenschaftlicher Dokumentarfilm und daher sehr interessant. Ich danke Antonin und allen, die einen Beitrag für die Seriosität und das Bemühen leisteten, Reich und seinem Werk gerecht zu werden. Das ist gelungen. Wenn Menschen, welche sich schon mit Reich auseinandergesetzt haben die Adressatengruppe sind, an die sich dieser Film wendet, so ist die gründliche, komplexe filmische Werkschau ein tolles Dokument des Reich´schen Werkes.

    Der Film hat mich zu allererst intellektuell erreicht. Unmittelbar berührte er mich selten dann als Thomas Harms mit der Mutter und dem Schreibaby arbeitet und er seine Hand kontaktvoll über die Hand der Mutter legt, dann als Myron Sharaf noch ganz vital in einem Garten sitzend über Reich und die Engstirnigkeit der Menschen spricht, dann, als Auszüge aus Reichs Briefwechsel mit A.S. Neill gelesen werden, man die beiden Männer bildlich sieht und spürt, wie innig die Freundschaft zwischen ihnen trotz der weiten Distanz und der seltenen Treffen war. Es erschütterte mich zu hören, was beide über den bevorstehenden Gefängnisaufenthalt sagten.

    Neill: „Reich, ich liebe Dich. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass Du mit einer irrsinnigen Gefängnisstrafe bestraft wirst. Du würdest es nicht aushalten, und Du weißt das. Tatsache ist, dass Du im Grunde deshalb gekreuzigt wirst, weil Du seit Jahrhunderten der erste Mann bist, der Lebensbejahung predigt und weil Du der einzige Mann bist, der sich für das volle Recht der Jugendlichen auf Liebe einsetzt. Deine Verteidigung vor jedem Gericht sollte lauten: Ich bin für das Leben und die Liebe.“

    Und Reich, der nicht wirklich mit der Notwendigkeit eines Strafantritts rechnete, schreibt in einem Brief an seine Frau Ilse Ollendorf-Reich: „Ich könnte das Gefängnis nicht gut ertragen und werde wahrscheinlich dort umgebracht werden. “Das hat mich berührt, ebenso der Originalton-Ausschnitt aus „Alone“, welcher Reich nach dem „Scheitern“ des Oranurexperimentes aufzeichnete. Und dann, ganz zum Schluss, wenn zur Musik von Melanie Safka Roland Klick einen aufrüttelnden Satz sagt: „Der Schritt zum Menschen hin muss ohne Ideologie auskommen.

    Der Mensch selbst ist der Wert, um den es geht; da wohnt die ganze Lebendigkeit Gottes drin.“ Und da komme ich auf Wilhelm Reich und den `Christusmord´: „Dem Menschen wohnt das ganzheitliche Sein der Schöpfung inne, und wenn wir ihn entfalten, dann entfalten wir die Welt.“ Da war ich in meiner Sehnsucht berührt; in jener Sehnsucht, die mich 1985 auf den Reich´schen (Ausbildungs-)Weg gebracht hat, zu Peter Bolen ins GKK-Ambulatorium am Wienerberg mit aufgeregtem Herzen.

    „…von der Psychoanalyse zur Vegetotherapie…?“

    von Alfred Zopf

    Lange angekündigt war der Film. Und Heiko erzählte uns in der „Simmeringer Reich-Küche“ über den großen Aufwand und die vielen Schwierigkeiten in den USA, diesen Film überhaupt drehen zu können. Und so war ich in freudiger Erwartung, als, natürlich zu später Stunde (die besten Fernsehsendungen werden im ORF fast immer nach 23 Uhr gesendet damit „höhere Bildung“ nur von einigen „Eingeweihten“ gesehen werden kann) endlich der lang ersehnte Film über Wilhelm Reich gesendet wurde.

    Bei der Darstellung der verschiedenen Phasen von Reichs Biografie ist mir aufgefallen, dass der Übergang von der Psychoanalyse zur Vegetotherapie, wie ich es sehe, leider überhaupt nicht thematisiert wurde, obwohl diese Phase therapeutisch die wichtigste ist, weil Reich hier erstmals und sehr bewusst Neuland betreten, und sich damit konsequent als Psychoanalytiker von der Psychoanalyse abgegrenzt hat.

    Aus meiner Sicht ist Reichs therapeutische Entwicklung von der Charakteranalyse zur Vegetotherapie die spannendste und wird bis heute von vielen, die sich als Therapie-ExpertInnen verstehen verleugnet bzw. ignoriert. Wer die Literatur der Körperpsychotherapie studiert findet darin Reichs Werk „Die Charakteranalyse“ nicht, das eigentlich die Grundlage der westlichen Körperpsychotherapie sein sollte. Schade, dass der Film dieses Thema nicht aufgegriffen hat es bleibt so weiterhin unter den „therapeutischen Teppich“ gekehrt.

    Die dargestellten `Orgonsitzungen´ passen nicht wirklich zum Film über Wilhelm Reich, sondern zu einem Film über Heiko Lassek. Ich hoffe meine Kritik wird wohlwollend aufgenommen, insbesondere, da natürlich Antonin Svoboda und Heiko Lassek ohne Einschränkung zu danken ist, dieses Filmprojekt überhaupt in die Wege geleitet und ermöglicht zu haben.

    Mail an Heiko Lassek und Antonin Svoboda

    von Hanspeter Seiler

    Lieber Antonin, lieber Heiko!

    Vielen Dank für die Zusendung Eures Films, der am letzten Wochenende schlussendlich doch noch bei mir eingetroffen ist.Vom Filmischen her habe ich aus meiner Sicht nur Lob zu spenden, er ist von Anfang bis Schluss spannend konzipiert und es gibt kaum Nichts sagende oder langatmige Passagen. Ganz hervorragend finde ich auch die Integration der besten Szenen aus den früheren Reich-Kurzfilmen; diese Sequenzen waren meiner Erinnerung nach auch die besten.

    Vom Grundkonzept her aber hätte ich gut 50 Jahre nach Reichs Tod den biografischen Teil zugunsten des post-reichianischen Teils deutlich kürzer gehalten. Der biografische Teil ist zwar sehr schön und einfühlsam gestaltet, bringt aber erwartungsgemäß kaum Neues, weshalb ich lieber etwas weniger Szenen aus dem 1. Weltkrieg und dem historischen Wien und dafür einiges mehr über die moderne Reich-Aufarbeitung nach 1968 gesehen hätte.

    Dass ihr in dem knappen postreichianischen Teil des Films vor allem den therapeutischen Aspekt mit den Arbeiten von Eva Reich, Heiko, Tina und Heike berücksichtigt habt, finde ich sachlich völlig gerechtfertigt. Immerhin war ja die bioenergetisch-psychosomatische Medizin Reichs Stammdomäne und Ausgangspunkt seiner darüber hinaus führenden Arbeiten. Andererseits aber und dies ist nun natürlich meine persönliche Sicht -, wären die neueren Forschungen zum soziokulturellen und physikalischen Aspekt des Reichschen Werkes zumindest kurz erwähnenswert gewesen.

    Gerade punkto Physik liegt der Film dann ja auch schon in der historischen Ausgangslage schlecht. Was Günter Hebenstreit bezüglich der sehr ausführlich dargestellten „Einstein-Affäre“ von sich gibt, ist nach meiner Beurteilung sehr oberflächlich und schönfärberisch und aus heutiger Sicht wissenschaftlich nicht mehr verantwortbar. Er kolportiert einfach das schon von Reich verbreitete und im Film ja ebenfalls zitierte alte Klischee, dass Einstein Reichs experimentelle Arbeit mit wissenschaftlich sehr vagen Argumenten und damit vor allem aus emotionalen Gründen abgelehnt habe. Dies ist zumindest im überprüfbaren experimentellen Aspekt schlicht und einfach falsch.

    Ich habe das Thema der Orak-Temperatur-Differenz ja schon in den frühen 80er-Jahren über ein Jahr lang im Winter und Sommer sowie Tag und Nacht experimentell überprüft; das bisher völlig unwidersprochen gebliebene Resultat dieser Untersuchungen ist auch in „Emotion“ Nr. 4 ausführlich publiziert worden. Daraus folgt, dass es von Reich tatsächlich naiv war, einen Orgon-Akkumulator von relativ großen Abmessungen einfach in einem Zimmer auf einen Tisch zu stellen, daneben ein Thermometer aufzuhängen und dann nach ein paar sehr mager dokumentierten Ablesungen dies als wissenschaftlichen Beweis für eine durch den Orak bewirkte Temperatur-Differenz und damit auch für die Widerlegung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik zu erklären.

    Der Nachvollzug des Experimentes in Einsteins Keller hat ja dann den durch meine Nachuntersuchungen bestätigten Befund ergeben, dass in einem geschlossenen Raum unabhängig vom Orgon-Akkumulator erhebliche lokale Temperatur-Differenzen vorhanden sein können (und in Einsteins Keller offenbar auch ohne Orak nachweisbar waren), und dies muss man selbstverständlich berücksichtigen. Natürlich kann man Einstein vorwerfen, dass er auf Reichs nachträglichen Korrekturvorschlag (Messungen im Freien) nicht mehr eingegangen ist; aber Reich hatte mit seinem Einstein vorgelegten Versuchsansatz die auch an einen Laien mit immerhin akademisch-naturwissenschaftlicher Grundausbildung zu stellenden Anforderungen an experimentelle Sorgfalt eindeutig nicht erfüllt.

    Dies gilt, wie zwischenzeitliche Nachuntersuchungen mit großer Sicherheit gezeigt haben, leider auch für einige andere physikalische Experimente und Postulate, wobei zu betonen ist, dass Reich dessen ungeachtet mit seiner genialen Intuition wohl meist auf der richtigen Spur war! Im Film folgt dann als Abschluss der Einstein-Affäre die ausführliche Darstellung einer Atombomben-Explosion, welche dem Zuschauer das ebenfalls reichlich ausgeleierte Klischee suggeriert, dass Einstein sich mehr für den tödlichen DOR-Aspekt der kosmischen Lebensenergie als für deren Orgon-Liebesaspekt interessiert habe.

    Wir wissen ja heute mit Sicherheit, dass Einstein seine zögerliche Unterstützung des ManhattanProjektes zur Entwicklung der Bombe keinesfalls leicht gefallen ist. Auf der experimentellen Ebene habe ich dann ja, entsprechend Reichs Vorschlag, die Temperaturdifferenz-Experimente im Freien mit ganz kleinen, nur eine geringe Wärmekapazität aufweisenden Oraks weitergeführt und konnte so unter sämtlichen Bedingungen tatsächlich eine permanente Differenz nachweisen. Allerdings sind auch nach dieser Arbeit einige Fragen offen geblieben, welche ganz klar zu beantworten ich mir nicht zugetraut habe, was für das interessante Thema bis heute gilt und mich dann auch auf meine eigenen Forschungswege geführt hat.

    Diese post-reichianische Klärung der Einstein-Affäre hätte der Film im hierfür gewählten breiten Zeitrahmen zumindest erwähnen müssen. Auch auf anderen Gebieten wäre bei aller Anerkennung von Reichs epochaler Leistung eine etwas differenziertere, kritische Haltung angebracht gewesen. Reichs teilweise egozentrisch-monomane Haltung machte ihn zwar enorm stark, aber auch fehleranfällig, das müssen wir heute wohl einfach zugeben.Mit dieser befreienden Grundhaltung hätte es der Film auch wagen dürfen, auf die post-reichianische Aufarbeitung des wissenschaftlich noch schwieriger zu erfassenden Themas der Reichschen Wetterarbeit mehr als nur andeutungsweise einzugehen. Bernd Senf und James De Meo haben hier ja ebenfalls jahrelange und sehr bemerkenswerte Arbeit geleistet.

    Natürlich hätte der Film dann mit noch viel mehr offenen Fragen geendet, was ihm aber m.E. keineswegs geschadet hätte, ganz im Gegenteil. Für mich gilt nach wie vor die zentrale Frage: Welche Aspekte des gewaltigen Potentials der feinstofflich-bioenergetischen Wechselwirkung von Mensch zu Mensch und vom Menschen zum Kosmos werden „nur“ vom Bewusstsein gesteuert, und welche können oder sollen auf welche Art und Weise apparativ unterstützt oder gar produziert werden? Wo beginnt hier die Gefahr mechano-mystischen Denkens in der Reich-Szene selbst?

    Zum Schluss aber möchte ich aber nochmals betonen, dass der Film auch für mich trotz der genannten kritischen Aspekte eine echte Bereicherung darstellt, worüber ich mich gefreut habe. Insbesondere das schöne Interview mit dem mir bisher unbekannten Roland Klick war für mich ein Leckerbissen!

    Mit herzlichen Grüssen Hanspeter

    Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/10 Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?
  • Kategorie: 2010
  • Zurück zu Bukumatula 2010

    Bukumatula 2/2010

    Wilhelm Reich, das Schreiben, meine Neurose und ich

    von
    Jan Decker:

    Das Schreiben entspringt einem neurotischen Bedürfnis, daran besteht gar kein Zweifel. Wer völlig ausgeglichen durch die Welt geht − und das ist doch ein wünschenswerter Zustand − wird nicht zu Papier und Feder greifen, um seine inneren Konflikte auszugleichen. Dass Schreiben heute im Kontext einer für neurotische Zustände anfälligen Gesellschaft stattfindet, macht das Schreibbedürfnis nicht schlechter oder besser.

    Es richtet sich nicht primär nach der jeweiligen Gesellschaft, in der es stattfindet, eher sucht es in jeder Gesellschaft seine eigenen kanalisierten Wege. Einen Roman der Finanzkrise wird es solange nicht geben, bis ein Schriftsteller sich an diesem Stoff entzündet − und das ist keine Frage der Wahrscheinlichkeit, sondern eher der Unwahrscheinlichkeit.

    Woran der Schriftsteller arbeitet, welches innere Projekt er genau verfolgt − ist ihm selbst verschlossen. Das ist gut so, denn sonst würde er vermutlich nicht schreiben. Der kreative Antrieb besteht nicht im völligen Ausgleich eines inneren Defizits, wie auch immer er beschaffen ist, sondern im scheinökonomischen Ausgleich. Scheinökonomisch deshalb, weil ihn dieses Defizit nicht zum Psychologen führt, sondern an den Schreibtisch. Und das kann nur heißen, der Schriftsteller betrügt sich mit seiner Ausgleichsarbeit, es muss ein ästhetischer Mehrwert herausspringen.

    Nach Karl Marx handelt es sich beim Schriftsteller der äußeren Form nach um einen Selbstausbeuter, der Kosten und Nutzen in ein anderes ökonomisches Verhältnis bringt. Er arbeitet an sich selbst, was auch immer er da anstellt. Ein völlig ausgeglichener Zustand wäre eine Katastrophe. Zwei äußere Zustände bilden den kreativen Motor des Schriftstellers, und er versucht beide wie Warnbojen auf einer undurchsichtigen Meeresstrecke zu umschiffen.

    Äußerste Anspannung einerseits und äußerste Ausgeglichenheit andererseits. Das ist insofern kurios, als er sein schöpferisches Leben doch auf den Wechsel dieser beiden Zustände abgestellt hat. Der Schriftsteller erscheint mithin als ein Mensch, der seine Neurose aus beruflichen Gründen kultiviert.

    Nach psychologischen Gesichtspunkten ist das ein heikler Akt, und die Überfahrt auf der undurchsichtigen Meeresstrecke droht im Netz der eigenen Obsessionen unterzugehen. Soweit wäre das Schreiben sinnlos, wenn nicht der ästhetische Mehrwert hinzutreten würde. Ein Gefallen an der Sprache schlechthin, und die Sympathie des Lesepublikums machen diese Überfahrt erst zu einer wirklich lohnenden Angelegenheit.

    Ohne entsprechende Techniken würde sie trotzdem schnell in die Misere führen, das ist unvermeidlich. Diese sind eben nicht nur literarische, sie bestehen auch darin, dem Schriftstellerleben im Ganzen eine spezifisch literarische Form zu geben, es durchlässig zu machen für das Auftreten und Abtreten verschiedener Zustände, es − und das klingt vielleicht etwas plump − zu erotisieren.

    Durch den Akt des Schreibens geschieht eine innere Umformungsarbeit − so hat es Freud beschrieben, und so gilt es im Kern sicherlich. Was immer auch am Anfang des Schreibbegehrens steht, es wird in eine Dynamik versetzt, die einer seelischen Linderung gleicht. Die körperliche Linderung tritt hinzu, indem das Schreiben den Schriftsteller in jenen Schwebezustand versetzt, der das erotische Ziel jeder Kunstanstrengung ist − bei Künstler wie Publikum gleichermaßen. Allerdings wäre diese Annäherung um Gesichtspunkte von Wilhelm Reich zu erweitern, denn dieser Schwebezustand fällt nicht vom Himmel.

    Gehen wir näher auf den Schriftsteller zu, erkennen wir die Gefahr der Enigmatisierung. Schon in dieser Annäherung ist sie angelegt, indem der Schriftsteller sich auf ominöser Weise des Schreibens bedient und damit eine seelische Linderung erhält, von der manch leidender Mensch nur träumen kann. Der Schriftsteller baut schon ein Enigma auf, wenn er sich als einen defizitären Menschen präsentiert. Zweifellos kommt sein Schreibdrang nicht aus einer in völliger Zufriedenheit verlebten Kindheit, meistens ist eher das Gegenteil der Fall. Doch einmal ästhetisch bewältigt, könnte der Schriftsteller sich der Zukunft zuwenden und ein Bündel ganz neuer Erfahrungen sammeln. Stattdessen schreibt er weiter − meistens an seinem Lebensthema.

    Wie jeder Leidende erlebt er, dass das Verharren in diesen ominösen Meerestiefen eine süße Verlockung ist, man kann hier einige Geltung beanspruchen und ohne nasse Füße herauskommen. Eine lustfeindliche Einstellung steht oft am Anfang des Erlernens der ästhetischen Lust, das lässt sich in groben Zügen festhalten. Es kommt ganz entscheidend auf die Dynamik an, die der Schriftsteller über das Schreiben und seine ganze Lebensführung losbricht. Ich glaube nicht, dass diese Dynamik in Sublimation endet. Sie kann das Aufbrechen einer ursprünglichen Panzerung sein, der Sprung ins kalte Wasser, vor dem man sich vielleicht gedrückt hätte. Eine patente Methode ist das Schreiben dabei nicht, sondern es gleicht eher einer zenbuddhistischen Übung mit vager Heilsversicherung.

    Das Spannende ist, wie die von Freud konstatierte Umformungsarbeit des Schriftstellers in ein Gesamtleben integriert ist, was die Fallhöhen eines solchen Lebens sind. Auch der Schriftsteller sollte in erster Linie leben, selbst wenn er in zweiter Linie sein Leben für das Schreiben opfern möchte. Das Opfer wird ihm sowieso nicht gelingen, und sei er noch so unbekannt. Das ist paradox formuliert, weil der Idealzustand des Schriftstellers nicht unbedingt jener der maximalen Durchsetzung ist. In diesem seltenen Fall kann seine Neurose zur Welt werden und die Welt zu seiner Neurose. Allerdings handelt es sich dann um gar kein Opfer mehr. Ein Ich-Ausdruck braucht eine Dynamik.

    Den meisten Schriftstellern ist der Ich-Ausdruck recht, wenn er ihnen zu wahrhaften Schreiberlebnissen verhilft. Wir sollten ganz präzise sagen: Der Selbstbetrug muss perfekt sein, damit er aufgeht. Und das bedeutet eine Klimax im Sich annähern von Neurose und Welt, kein Gleichgewicht. Aber wovon soll der Schriftsteller leben? Ein ganzes Genre der Literatur beschäftigt sich mit diesem Thema. Es ist jenes des Künstlers ohne Kunst, des jungen unbekannten Künstlers. Hier kann man nur sagen, dass die ursprüngliche Panzerung den Schriftsteller durch eine Phase der Kränkungen und Ablehnungen bringt − und dass er nur zusehen muss, diese Panzerung in unnötigen Zeiten abzulegen. Er könnte sich die ganze Episode

    auch anders übersetzen. Dass er sein Glück gar nicht durch dieses Nadelöhr des Ich-Ausdrucks pressen müsste, denn wahrscheinlich wird doch niemand von ihm Kenntnis nehmen. Die Panzerung dient dem Schriftsteller zunächst als Flugapparat. Und sicherlich ist es Teil dieses Bildungsprogramms, sie später gleichsam im Flug abzuwerfen. Der Schriftsteller baut sein Haus gleichwohl auf erhebliche Illusionen. Er handelt wie ein König ohne Königshof, der sich weigert, ein Haus aufzubauen und stattdessen auf den Straßen um neue Gefolgschaft wirbt. Sie stellt sich nicht immer ein.

    Ich leiste also eine seelische Ausgleichsarbeit, die ich im nächsten Moment wieder verwerfen muss. Mit der Arbeit an einem neuen Text beginnt das Spiel von vorne. Es besteht mithin nicht nur aus geistigen Operanden, sondern es berührt sich mit der Welt. Ich entleere mich im Schreiben, darauf kommt es an. Nicht so sehr auf die Qualität der Bilder, die ich finde − sie werden mir durch den Alltag entrissen. Ich strebe eine Praxis an, die wenig tragische Noten hat.

    Das Schreiben führt mich jeden Tag in einen Zustand der Relaxation. Ich werde elastisch, vergesse alle Sorgen und schlafe gut ein. Vielleicht geht es einem Gaukler nicht großartig anders, vorausgesetzt er hat genug zu essen. Ich weiß, dass ich jahrelang nicht ohne Rückenschmerzen schreiben konnte. Es war nicht nur der Zustand des Künstlers ohne Kunst, der da anklopfte. Es war der Motor meiner Kreativität, die Aufgabe meiner Umformungsarbeit als körperliches Symptom.

    Vielleicht wurden die großen Theorien über den Schriftsteller und das Schreiben auf dem Fundament einer bürgerlichen Gesellschaft erfunden. Man muss wissen, dass einem Anspruch auf Berühmtheit in unserer Zeit jegliche Grundlagen fehlen. Das ist wiederum paradox formuliert, doch gar nicht so unberechtigt, wenn man schriftstellerische Begabung als notwendiges Kriterium voraussetzt.

    Hier geht es heute irrational zu, und man müsste fast sagen, gerechterweise. Die Kriterien der Berühmtheit sind eng an Marktkriterien gebunden − und innerhalb des Berufsbilds Schriftsteller ein stark umkämpftes Gut. Wie viele Menschen kennen die jungen Aspiranten, die jedes Jahr mit Romanen und Theaterstücken auf den Markt drängen? So erleben mehr Schriftsteller häufiger Kränkung

    und Ablehnung als früher, nur die wenigen Hartgesottenen setzen sich durch − und wirkliche Überraschungen wird es kaum geben. Nicht, dass das Schreiben dadurch eine Spur langweiliger würde, im Gegenteil. Aber man sollte den romantischen Traum vom Schriftsteller genau kalkulieren − oder sein Leben gleich auf eine Gesamtlust einstellen, die nicht vom Schreiben lassen kann.

    Viel wichtiger als in bürgerlichen Zeiten ist es, dass der Schriftsteller auf die körperliche Seite seiner Arbeit hört, dass er sie ebenso lustvoll wie die literarischen Techniken erlernt. Nehmen wir die Körperhaltung des Schriftstellers. Hinter einem nicht völlig ausgeglichenen Schreibakt verbirgt sich oftmals ein Stocken der Lebensenergie. Ich behaupte: In unserer Zeit wird der Markt keine charmanten Entschuldigungen gelten lassen. Der Schriftsteller muss seine Neurose wie einen perfekt abgerichteten Schäferhund mit sich führen.

    Wenig vom Gaukler darf heute an ihm haften − nach außen hin, denn im Privatleben hat sich so vieles nicht geändert. Also kein Buhlen um Gefolgschaft mehr, kein Werben ums Publikum − das besorgen die Medien im Auftrag der Verlage und Literaturagenturen. Der Schriftsteller hat sich früh zu entscheiden, ob er sich einem harten Wettbewerb stellen will. Und wenn er sich ihm stellen will, muss er schmerzfrei schreiben, unbedingt.

    In bürgerlichen Zeiten dachte man, der Schriftsteller könne sich durch sein Schreiben verwandeln, durch das Werk, jene enigmatische Einheit. Heute sind wir nüchterner. Was nützt die schönste Sublimation, wenn sich das Leben nicht nach seinen eigenen Bedürfnissen artikulieren kann? Ich schreibe seit mehreren Jahren ohne Rückenschmerzen und datiere den Beginn meines Schreibens auf diese Zeit, obwohl ich länger schreibe. Und wo bin ich jetzt? Ich weiß es nicht, jedenfalls bin ich symptomfrei − von meiner Ursprungsneurose abgesehen, über die der Schriftsteller nicht verhandelt.

    Mir bleiben mit den Rückenschmerzen quälende Stunden der Angst des Scheiterns und der narzisstischen Kränkung erspart. Tatsächlich hat die Sexualität hier eine wichtige Veränderung bewirkt, eine andere Ausgangshaltung beim Schreiben. Das Schreiben ist die tägliche Verrichtung − im banalen Sinn des Worts. Und es ist sicherlich nicht pathetisch, wenn ich sage, dass ich am Anfang meines Schreibens genau diesen Widerstand suchte, meine Rückenschmerzen. Sie waren ja der körperliche Ausdruck der Neurose, die mich erst schreiben ließ.

    Ein Blick in die Forschungen von Wilhelm Reich hätte mich früher aufgeklärt. Er hätte mir die körperliche Umformung des Schreibprozesses allerdings nicht erspart. An die Stelle des blinden Schreibverlangens ist eine Verlangenskultur getreten, mit ihren eigenen Lockmitteln und Reizakten. Richtig vergleichen kann ich hier nicht, unter Schriftstellern wird um den Akt des Schreibens ein Enigma gemacht, und vielleicht ist dieses Enigma der Schutz vor einer narzisstischen Kränkung.

    Wie oft hört man über die Texte Verletzendes? Und das Verletzendste ist die völlige Nichtbeachtung, die doch der Regelfall im Leben der meisten Schriftsteller ist. Anstatt von einer Sublimation zu reden, würde ich von einer Einübung des lustvollen Schreiberlebnisses reden. Sich im Schreibprozess zu verlieren − heißt auch, ihn über Jahre hinweg konsequent umzugestalten.

    Ich habe mir eine Schreibumgebung geschaffen, die zuerst meinem Rücken und dann meinem ganzen Körper eine entspannte Zeit garantiert. Der Computer taugt mir als ständiges Schreibmedium nicht, er geht über die Idiosynkrasie des Schreibakts hinweg. Diese Idiosynkrasie wird durch ein Blatt Papier und einen Stift am besten verkörpert. Das Papier halte ich beim Schreiben nicht gerade, sondern um bis zu 45 Grad nach rechts gedreht. Wenn andere mich so schreiben sehen würden, wäre es mir peinlich. Andererseits steckt in dieser Schreibhaltung die eigene literarische Stimme − und auf sie kommt es beim Schreiben an.

    Und wer sagt, dass man auf einem schief gehaltenen Papier nicht gut schreiben kann? Der Schulunterricht hätte mir diese Schreibpraxis nicht durchgehen lassen, davon ist auszugehen. Heute merke ich, wie viel Mut es erfordert, seinen Beruf auf ein solches Schräghalten zu gründen, auf eine verschrobene Persönlichkeit, die im Berufsalltag schnell um ihren Ruf fürchten müsste. Die neuen Bürogemeinschaften der jungen Kreativen gehen andere Wege. Aber merkwürdig, eine potenzierte Verschrobenheit ergibt für mich nicht unbedingt eine Verschrobenheit mit mehr Potenz.

    Der Schreibakt muss durch eine jahrelange individuelle Lernerfahrung erkämpft werden, er läuft parallel zum Erwerben der literarischen Techniken. Und er muss der Gesellschaft gleichsam entrissen werden, denn diese legt ihren Schwerpunkt nicht auf Intimität. Gerade hier gerät die Arbeit des Schriftstellers in eine spannungsreiche Nähe zur Kultur. Mit dem Gauklerhaften verweist sie indirekt auf eine autoritäre Gesellschaft, die eine solche Intimität nur privilegierten Berufen gestattet. Um den Eintritt in diese Berufe herrscht kein kreativer Kampf, sondern ein ganz und gar ökonomischer. Nicht anders deute ich meine Rückenschmerzen heute.

    Sie waren das schlechte Gewissen der Kultur und das schlechte Gewissen meiner eigenen Neurosengeschichte. Ich lernte im engeren Sinn Geduld, und diese kann nicht andauernd durch Sublimation genährt werden, das ist meine feste Überzeugung. Natürlich wäre ich gern hartgesottener, aber gleichzeitig merke ich, welche körperlichen Ressourcen dem heutigen Wettbewerbsmenschen zur Verfügung stehen. Er sollte sich an sie halten, denn auch der Schriftsteller kann als Mensch nur funktionieren, wenn er sich zu seiner Lust bekennt. Er hat wie jeder Mensch den Auftrag, die Gesellschaft umzugestalten. Und er kann sich ein Stück Lust − bei im Durchschnitt chronisch niedriger Bezahlung − sogar leisten.

    Nun könnte man dem Schriftsteller gleich ein gelungenes Liebesleben verordnen, zum Wohl seines Schreibens und der Gesellschaft − und weil er sich in Bereichen der Intimität aufhält, die eine Verstellung gänzlich absurd machen. Dass der Schriftsteller sich überhaupt einen Rückzugsort aufbaut, ist wohl das Wichtigste − denn dieser Ort ist eine unabdingbare Voraussetzung des Schreibakts. Ansonsten muss er herausfinden, was seine Neurose mit seinem Leben anstellen will − mit oder ohne erfüllter Sexualität. Und wird er auf dem Weg zu einer ausgeglicheneren Person ein Werk schreiben, so ist dieses als eine Symptomgeschichte zu lesen, die er hinter sich gelassen hat.

    Im Betonen des Eigenrhythmus eines Schriftstellers halte ich mich an eine Grundtugend, die heute manchmal vergessen wird. Intimität ist in den Werken des Schriftstellers gefordert, im Leben sind die Feuchtgebiete gefragt, wird der Schriftsteller entweder völlig ignoriert oder als Medienliebling überfordert. Deshalb muss der Schriftsteller sich an das obere Konzept halten. Nichts ist peinlicher als falsche Intimität, nichts befriedigt so sehr wie ein durchlässiges Verhältnis von Innen und Außen. Rückzug und Auftauchen haben nichts Bedrückendes. Die Schreibschübe des Schriftstellers entsprechen den beiden Polen von Kontraktion und Relaxation. Und könnten alle Menschen wie der Schriftsteller leben − es wäre eine Gesellschaft nach dem Geist des Orgasmus gebildet.

    Der Schriftsteller soll sich nicht aus dem Leben nehmen, wenn er in diesem Weg allein fortschreitet − er ist mit der gesamten Kultur konfrontiert, da er seine Intimität zum Lebensprinzip macht. Und das ist der springende Punkt. Er muss sich körperlich wohl befinden, sonst bleibt seine Umformungsarbeit ein falscher Gott. Sein Impuls auf die Gesellschaft kann im Aufzeigen der gepanzerten Strukturen liegen − aus seinem eigenen Schreibweg abgeleitet, denn mehr Erfahrungen stehen ihm nicht zur Verfügung.

    Anders gesagt, der Schriftsteller mag zwar ein Gaukler sein, doch er bleibt ein Mensch wie jeder andere, der das unerhörte Bedürfnis nach einem lustbetonten Leben hat. Er nehme das Kriterium aus einem Blick nach innen. Gute Literatur wird mich immer modulieren. Sie wird einen Entspannungszustand herstellen, nachdem sie mich in den Bann gezogen hat. Das Gemachte ist nicht der Mühe wert − in der Gesellschaft wie im individuellen Leben.

    Als gemacht empfinde ich die meisten Anpreisungen für Bücher in den Kaufhäusern. Ein körperlich verkrampftes Auftreten des Schriftstellers in der Öffentlichkeit ist die Folge. Verbale Schüchternheit erlebe ich selten, hier stehen dem Schriftsteller diverse Verstellungstechniken zur Verfügung. Trotzdem diese erstaunliche Linearität. Die erfolgreichen Schriftsteller haben ihre Schultern angehoben, die erfolglosen lassen sie fallen. Ein Vorbote ist die Symptomatik der Körpersprache bei angehenden Schriftstellern. Auf ihnen lastet ein Erwartungsdruck, im Übrigen sind sie hoffnungsfroh. Natürlich geschieht die Vermittlung von literarischen Techniken am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), an dem ich studierte, nicht mit einem körperbetonten Ansatz.

    Das Studium richtet sich vorwiegend an den Kopf, und so konnte ich in den Seminaren glänzende Beiträge hören, doch mitunter eine kollektiv gepanzerte Studentenschaft erleben − zu der ich selbstverständlich selbst gehörte. Wir mussten auf Anhieb um einen Kopf größer sein, anstatt wachsen zu können. Keiner unserer Dozenten, arrivierte Schriftsteller, forderte das von uns. Wir zogen einfach die Wurzel aus unserer Schreibleidenschaft und der gesellschaftlichen Realität. Im Grunde waren wir heillose Romantiker, wie wir dort verkrampft saßen.

    Ich lernte über eine Studienpause, die ich in Japan verbrachte, meinem eigenen Atem zu vertrauen. Im Schreiben wie im Leben, es war eine Bewegung an der Wurzel. Auch bei Roland Barthes machte es in Japan übrigens »klick!«, und es ist vieles an dieser an sich patristischen Kultur zu loben, um Roland Barthes zu folgen. Etwa die Laxheit im Sitzen, das auf dem Boden geschieht. Ich glaube, dort in dem kleinen Zimmer in Japan vergingen meine Rückenschmerzen. Und ich fragte mich zum ersten Mal, ob Schriftsteller ein erfülltes Liebesleben haben. Unstatthaft so zu fragen, wenn man an Goethe, Thomas Mann oder Elias Canetti denkt?

    Doch auch ihre Lernerfahrung war eine Lusterfahrung, oftmals vermittelt über eine Fremderfahrung. Denken wir an Goethes Italienische Reise, an die Aufenthalte von Thomas Mann in Davos oder an die Stimmen, die Elias Canetti in Marakesch hörte. Warum müssen Schriftsteller aus ihrer Kultur aussteigen, um sich zu ihrer Intimität zu bekennen? Ich bestehe darauf, dass wir unseren Traum leben sollten. Es muss ja nicht das Verfassen literarischer Texte sein. Wenn die Intimität in einer patristischen Kultur unbeschadet bleibt, ist schon viel erreicht.

    Ob der ungepanzerte Charakter sich durchsetzt, ist eine andere Frage. Prominenz besteht heute in einem hohen Grad aus Verstellung, und wir dürfen annehmen, dass alle privilegierten Berufe mittlerweile durch das Raster der Prominenz gelesen werden. Interessant ist vor allem eine Variante des jungen Schriftstellers, der sozusagen seine Neurose zu Markte trägt. Ein Kult des Krankhaften und Hässlichen ist das Erkennungszeichen eines jugendlichen Panzers, er hält der Gesellschaft natürlich ihr verdrängtes Spiegelbild vor Augen.

    Es wird geritzt und gekotzt, es wird vor die Schienen gegangen und über den Haufen geschossen. Diese Texte finde ich bedenklich, weil sie eine Karte auf dem Markt der Möglichkeiten sind − auf die allerdings häufig gesetzt wird. Nein, ich glaube diesen Texten nicht. Sie zeigen eine Stockung der Lebensenergie, und sie enden dort. Habe ich Angst vor dem Hässlichen? Ich kann den Akt des Schreibens nicht lassen, das ist mein literarisches Projekt. Die Texte modulieren mich, und ich moduliere meine Texte.

    Das Projekt der Hässlichkeit lautet: Ich lasse meine Texte als Panzer gegen eine gepanzerte Welt krachen. Das ist interessant, kann aber bloß gemacht sein. Der Schriftsteller antizipiert den Selbstklärungsbedarf der Gesellschaft, hätte ich im 19. Jahrhundert als Schlusswort dieser lockeren Betrachtung geschrieben − in einer Zeit vor Wilhelm Reich und der Erdung solcher Sätze auf ihre sexualökonomische Basis.

    Ich lebe in einer patristischen Kultur, schreibe ich heute. Das ist leicht zu erkennen, durch meine Schreiberfahrungen wie durch meine Studienzeit am DLL. Hätte ich es nicht schon als Kind und Heranwachsender erkannt, wie eine Kultur auf der Hemmung individueller spontaner Ausdrücke gebaut ist. Das nehme ich in meine Arbeit als Autor hinein: Entlastung der Schriftstellerseele durch körperliche Entspannung. Und bei allem mitbedenken, dass meine Neurose gar nicht so übel ist. Ich muss sie nur bearbeiten. So kann ich es herrlich weit bringen.

    __________________________________________________________________

    © Jan Decker
    (Kurzvita)
    Jan Decker, geboren 1977 in Kassel, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt dort als freier Autor. Uraufführungen seiner Theaterstücke am Theater Vorpommern und am Staatstheater Nürnberg. Zahlreiche seiner Hörspiele wurden von SWR und WDR produziert.
    Homepage: www.decker-jan.de

    Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/10 Wilhelm Reich, das Schreiben, meine Neurose und ich
  • Kategorie: 2010
  • Zurück zu Bukumatula 2010

    Bukumatula 2/2010

    Wilhelm Reich – Pionier des neuen Denkens

    Buchbesprechung
    Amherd Willi:

    David Boadella: „Wilhelm Reich – Pionier des neuen Denkens“
    427 S. Schirner Verlag, Darmstadt 2008. Brosch.
    ISBN 978-3-89767-602-2. € 13,40

    Die Anfrage von David Boadella für eine Rezension bedeutete für mich eine große Ehre, aber auch eine echte Herausforderung, denn Leben und Werk von Reich und damit auch die Biographie, sind gekennzeichnet durch Dichte, Mehrschichtigkeit und Komplexität. Das Buch zwingt den Leser zur Stellungnahme. Für mich war es eine Möglichkeit, die Entwicklung meiner Beziehung zu Reich und den verschiedenen Lebensphasen zu klären.

    Reich und die Politik Als junger Psychologiestudent habe ich oft im Theologischen Institut von Freiburg gesessen und Bücher von Reich in mich aufgesogen. Er lieferte uns damals Antworten auf Fragen, die wir uns in nächtelangen Diskussionen stellten: Wie entstehen psychische Strukturen, die für autoritäre Herrschaftsformen anfällig sind? Ist ein „genitaler Charakter“ eher gegen solche Verführungen gefeit, weil er weniger Ängste hat? Reich lieferte plausible Antworten zum so genannten „subjektiven Faktor“, die in neomarxistischen Texten nicht zu finden waren. Er konnte komplexe Zusammenhänge leicht auf den Punkt bringen wie zum Beispiel mit der Aussage: „Der Satte braucht nicht zu stehlen, der sexuell Befriedigte begeht keinen Lustmord“. Auch wenn die Antworten nicht so einfach waren, so hat er doch richtige Fragen gestellt.

    Das konnte einen ansteckenden Optimismus verbreiten. Besonders, wenn man aus einer konservativen Gegend stammte, hatten seine Bücher erstmals im Kopf eine befreiende Wirkung. Reich und die Psychoanalyse David Boadella zeigt auf, wie schnell sich Reich innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft Achtung verschaffte. 1919 wird er als Medizinstudent erstmals mit psychoanalytischer Literatur konfrontiert, hält im gleichen Jahr einen Vortrag im Psychoanalytischen Seminar zum Thema: „Libidobegriff von Forel bis Jung“ und wird im selben Jahr Seminarleiter.

    In dieser Funktion war er bis 1930 tätig und hatte einen großen Einfluss in den wöchentlichen Fallbesprechungen und Fachdiskussionen. In dieser Zeit entsteht meiner Meinung nach eines der besten Bücher der Psychoanalyse überhaupt, sein Werk „Charakteranalyse“. Da sich Reich auf die erste Triebtheorie von Freud bezieht und dieser sich zwischenzeitlich teilweise davon abwandte, entstehen erste metapsychologische und auch methodische Differenzen zu Freud. Angst ist für Freud nun nicht mehr die Folge von Hemmung sondern umgekehrt. Reich ging noch offener den Widerstand an und dann erst zur Kindheit.

    Reich und Körperpsychotherapie Durch die Ausbildung nach dem Ansatz von John Pierrakos und die eindrückliche Begegnung mit ihm sowie die wichtige integrative Arbeit im Institut für Biosynthese HBS von Silvia und David Boadella lernte ich langsam am eigenen Leibe zu erfahren und zu verstehen, was ich vorher geahnt habe von dem, was Reich gemeint haben muss. Es ist viel leichter, den Körperpanzer und die diversen Körpersegmente am anderen zu beobachten, als sie selber zu spüren und darüber hinaus noch aufzulösen.

    Da die eigene Person das wichtigste methodisch-therapeutische Werkzeug ist, helfen mir diese Einsichten bei allen Patienten, ganz besonders bei den psychosomatischen. Reich und die Wissenschaft Nach David Boadella hat sich Reich bei seiner Forschung sehr streng an das Beobachtbare gehalten. Ausgehend von dessen frühen und zentralen Frage nach der Lebensenergie hat er auch hier die relevanten Fragen gestellt und mit unermüdlichem und systematischem Einsatz zu beantworten versucht. Er war einer der ersten Psychosomatiker, der sich Fragen stellte wie: „Welche psychischen und psychosomatischen Faktoren begünstigen eine Krebsentwicklung bzw. einen Herzinfarkt?“ Er hat hiermit heutige Fragen der Psychoneuroimmunologie vorweggenommen. Er konnte experimentell nachweisen, dass Mäuse in einem biologisch günstigen Umfeld (genannt Orgonenergie) länger leben oder gesund wurden.

    Teilerfolge konnte er auch bei Menschen nachweisen. Ohne Hartnäckigkeit im Beweisen seiner Hypothesen und Visionen wäre Reich nie zu all diesen Erkenntnissen gelangt. Seine letzten Publikationen sind rational aber immer schwerer zu begründen. David Boadella geht gerade bei diesem schwierigsten Kapitel äußerst sensibel und differenziert vor. Geheimnisvolle Kindheit – tragisches Ende Es ist offenbar wenig über Reichs Kindheit bekannt, außer dass er gerne auf dem Hof des Vaters arbeitete. Wir wissen nicht, wie lange die Mutter ein Verhältnis mit dem Hauslehrer unterhielt, bevor der sensible Junge dem Vater diese Außenbeziehung verraten hat, worauf sich die Mutter suizidierte.

    Wie konnte der sicherlich selbst traumatisierte Vater seine beiden Söhne in dieser schrecklichen Lage unterstützen? War er selbst depressiv, so dass er sich Gesundheitsrisiken aussetzte, um drei Jahre später ebenfalls zu sterben? Wie war Wilhelms Beziehung zu seinem Bruder, mit dem er später keine Kontakte hatte? Warum hat er den elterlichen Hof nie mehr besucht? Wollte oder konnte er sich dem traumatisierenden Ort nicht mehr stellen? Durch Verrat ausgelöste Konflikte haben Reich ein Leben lang begleitet. Warum ließ Freud ihn wirklich fallen? Warum durften psychoanalytische Kollegen nicht dazu stehen, dass sie teilweise mit reich´schen Erkenntnissen arbeiteten? Hat etwa Reich mit seiner tiefen Intuition Schwächen bei Freud aufgedeckt? Warum hat man ihn aus der kommunistischen Partei hinausgeworfen? War er nicht einfach zu wenig linientreu, zu tiefgründig? Der letzte große Verrat hat ihm das Herz gebrochen.

    Er konnte nie und nimmer glauben, dass im Land der `unbegrenzten Möglichkeiten´ alle seine Bücher verbrannt und er ins Gefängnis gesteckt wird. Dass er von nun an die Welt als gefährlich wahrzunehmen beginnt und sich am Strohalm seiner eigenen Vorstellung zu halten versucht, ist nur folgerichtig. Ich empfinde ein tiefes Mitgefühl für ihn. Bedeutung der Neuauflage Trotz oder gerade wegen dieser Tragik ist für mich Wilhelm Reich einer der tiefsinnigsten, mutigsten und kreativsten Psychotherapeuten des letzten Jahrhunderts. Die Neuerscheinung der Reich-Biographie von David Boadella ist deshalb einen politische, psychotherapeutische und wissenschaftliche Notwendigkeit.

    Das Buch von David Boadella zeichnet sich aus durch gründliche Recherche, systematischen Aufbau und hervorragender Fachkompetenz bezogen auf alle Lebens- und Schaffensabschnitte von Wilhelm Reich. Man spürt die herzliche, wertschätzende, aber nicht unkritische Haltung gegenüber Wilhelm Reich. Namhafte Wissenschaftler aus diversen Teilgebieten haben inzwischen ins Lächerliche gezogene Aussagen von Reich bestätigt. Reich hat sich einmal als `Aufstehmännchen´ betrachtet. Ich wünsche ihm und David viele interessierte Leser, damit Reichs Ideen wieder auferstehen und er endlich besser verstanden wird.
    ____________________________________
    Amherd Willi
    Psychologe FSP / Psychotherapeut SPV
    Homepage: www.praxis-fuer-psychotherapie.ch
    Die Buchbesprechung ist erstmals in der Zeitschrift „Psychotherapie Forum“ 17/4 (2009), Springer Verlag, erschienen.
    Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlegers.

    Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/10 Wilhelm Reich – Pionier des neuen Denkens
  • Kategorie: 2010
  • Zurück zu Bukumatula 2010

    Bukumatula 2/2010

    EABP Körperpsychotherapie-Kongress: “Body-Mind-Relationship”

    vom 29.10. – 01.11.2010 in Wien
    von
    Regina Hochmair:

    Die AABP-Seite
    Austrian Association for Body Psychotherapy
    Nationale Vereinigung der “European Association for Body-Psychotherapy” (EABP)

    Ergebnisse der Embodiment-Forschung und der Neurowissenschaften sprechen zunehmend dafür, den Körper in die psychotherapeutische Behandlung mit einzubeziehen. Die Europäische Gesellschaft für Körperpsychotherapie möchte mit ihrem Kongress die gesammelten Erkenntnisse der Körperpsychotherapie vorstellen und zeigen, wie sie in Psychotherapie und Medizin angewandt werden können.

    Die moderne neurobiologische und epigenetische Forschung und Disziplinen wie die Psycho-Neuro-Immunologie, die psychologische Traumatheorie, die Neonatalogie und das Studium der frühen Eltern-Kind Interaktionen haben neue Informationen beigesteuert, die den Einbezug des körperpsychotherapeutischen Ansatzes in die Psychotherapie unterstützen. Damit erfahren auch die frühen Untersuchungen Wilhelm Reichs eine späte Verankerung in der therapeutischen Landschaft.

    In der Körperpsychotherapie spielt die Annahme eines dynamischen Unterbewusstseins eine wichtige Rolle. Sie beschreibt Gefühle nicht nur als seelischen sondern auch als einen körperlichen Prozess: Emotionen und Affekte gehen immer auch mit körperlichen Veränderungen, Modifikationen im Muskeltonus und im Vegetativum einher. Das Autonome Nervensystem bekommt als Nahtstelle körperlicher und emo30 tionaler Vorgänge zentrale Bedeutung. Verdrängung, Unterdrückung, Hemmung von Gefühlen oder Impulsen erfolgt mit Hilfe muskulärer An- oder Verspannung und Veränderung in der Atmung.

    Psychotherapeutische Methoden und Theorien, die die Wechselwirkungen zwischen Prozessen der Psyche und des Organismus behandeln, können daher von den in mehr als 50 Jahren gesammelten klinischen Erfahrungen von Körperpsychotherapeuten profitieren und weiterentwickelt werden. Stationärer Einsatz in der Vorsorge und Behandlung von Burnout Im Kurhotel Pirawarth ist die Körperpsychotherapie basierend auf den Erkenntnissen von Wilhelm Reich das Herzstück in der Behandlung von Burnout-Betroffenen. Dieses stationäre Angebot besteht österreichweit nur im Kurhotel Pirawarth. Die Erfahrungen mit dieser Behandlungsmethode haben sich bisher gut bewährt.

    Mehr zum Thema Körperpsychotherapie können Sie auf dem 12. EABP-Kongress: „Body-Mind-Relationship“ vom 29.10. – 01.11.2010 im Hörsaalzentrum der medizinischen Fakultät Wien oder unter www.eabp.at erfahren. Der EABP Kongress richtet sich an ÄrztInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und alle anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen sowie Interessierte. Dieser wird den gegenwärtigen aktuellen Stand der Körperpsychotherapie in Theorie und Praxis präsentieren.

    Zurück zu Bukumatula 2010

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/10 12 EABP Körperpsychotherapie-Kongress: “Body-Mind-Relationship”
  • Kategorie: 2010