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Bukumatula 1/10

Massenpsychologie des Faschismus – Damals – Heute

Das politische Werk Wilhelm Reichs
von
Michaela Holaus:

Seit dem Fall der Berliner Mauer, spätestens aber seit der Gründung der WTO im Jahr 1995 und den Anfängen eines bis dahin nicht erreichten, weltweit schrankenlosen Handelsund Wirtschaftsgeschehens sind Sozialismus und Kommunismus Relikte aus einer wirtschaftlichen wie politischen Steinzeit, wie es scheint. Anstelle einer „Vereinigung der Proletarier aller Länder“ erleben wir die Vereinigung und Konzentration von Kapital und Macht in den Händen einiger weniger. Angesichts eines sich zunehmend aggressiv gebärdenden Kapitalismus, der die Verarmung von großen Teilen der Weltbevölkerung, zunehmend auch im „Westen“, verschuldet, erlangt die Marx‘sche Theorie neue Aktualität.

Dennoch bleiben die Forderungen von NGO‘s und linksgerichteten Jugendund Studentenbewegungen nach einer gerechten Verteilung des Wohlstandes bis jetzt nur fromme Wünsche. Auf der anderen Seite werden wir Zeugen eines Wiederauflebens faschistischer Tendenzen: Vom Überwachungsstaat ist die Rede; in Tschechien musste eine Wahlwerbung, die die „Endlösung der Romafrage“ versprach, verboten werden.

Migranten werden nicht selten als potentielle Sozialstaatssaboteure und Verbrecher betrachtet und immer wieder Opfer von offener Gewalt, während in erniedrigenden Konkurrenzund Ausleseverfahren diverser Medienformate vorgezeigt wird, was ein „perfekter“ Mensch ist. „Die Ideologie jeder gesellschaftlichen Formation hat nicht nur die Funktion, den ökonomischen Prozeß dieser Gesellschaft zu spiegeln, sondern vielmehr auch die, ihn in den psychischen Strukturen der Menschen dieser Gesellschaft zu verankern.“1)

Ideologie

In seinem Werk unternimmt Reich den Versuch, die ökonomische/ gesellschaftliche Struktur mit der massenpsychologischen Struktur zusammen zu bringen. Er spricht von der „Rückwirkung der Ideologie auf die ökonomische Basis“2). Diese Ideologie ist dabei stets die der „herrschenden Klasse“, jener gesellschaftlichen Schicht, die mit den Mitteln zur materiellen auch über die Mittel zur geistigen Produktion verfügt. Die Restbevölkerung ist dieser Ideologie nicht nur als passives Objekt ausgesetzt, sondern reproduziert sie durch ihre Arbeit, durch ihr Mitwirken am Wirtschaftsprozess.

Reich verortet hier eine der fundamentalen Schwachstellen des „Vulgärmarxismus“ des beginnenden letzten Jahrhunderts. Anders als Marx, der wohl erkannt, aber damals mangels einer tragfähigen Psychologie nicht weiter verfolgt hatte, dass nicht allein die Verteilung der Produktionsmittel, sondern auch der Mensch als Subjekt an der Etablierung gesellschaftlicher Verhältnisse Anteil hat, verwarf jener verflachte Marxismus jegliche Psychologie. In Anlehnung an den Satz von Marx „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“3) sah er die Ideologie einseitig aus der ökonomischen und sozialen Situation hervorgehen.

Der Sieg der Linken und der Arbeiterbewegung wäre in den Jahren der Wirtschaftskrise 1929 bis 33 demnach logische Konsequenz gewesen; das Gegenteil geschah und breite Teile der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterschaft, wechselten ins rechte Lager. Wenngleich die NSDAP nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nicht die absolute Mehrheit erreichte, verzeichnete sie seit den Reichstagswahlen von 1930 sprunghafte Stimmzuwächse4).

Die Situation heute scheint weniger radikal, zumal nicht unmittelbar zu erwarten ist, dass in Europa erneut „demokratisch gewählte“ Diktaturen errichtet werden oder Krieg ausbricht. Ein rechtskonservativer Trend in der Politik ist jedoch nicht zu übersehen, ebenso wenig wie die prekäre wirtschaftliche Lage und zunehmend rassistische Tendenzen. Heute wie damals ist ein Auseinanderdriften von sozialer Lage und sozialem Bewusstsein zu beobachten: „Ständig den Blick nach oben gerichtet, bildet der Kleinbürger eine Schere aus zwischen seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideologie“5), schreibt Reich 1942 in der dritten Auflage der „Massenpsychologie des Faschismus“.

Der Kleinbürger der Reich‘schen Terminologie ist der heutige „Mittelstand“, den zumindest teilweise und ähnlich wie vor gut 70 Jahren die Angst vor einer Pauperisierung erfasst hat. Zwischen Großkapital und der Arbeiterschaft schwankend, waren jene Kleinbürger die ersten, die in den 1930ern die rechte Ideologie übernahmen, die sich heute freilich anders darstellt. An die Stelle eines nunmehr, zumindest auf wirtschaftlicher Ebene, verpönten Nationalismus ist ein sich mit Begriffen der Freiheit und des Friedens schmückender „Globalismus“6) getreten, der ersterem in seinen ausgrenzenden und menschenverachtenden Mechanismen um nichts nachsteht.

Neoliberale Ideologie bedeutet: das Recht des Stärkeren; die Unterwerfung unter abstrakte und künstlich erzeugte Marktmechanismen, die als unausweichlich ausgegeben werden; die Kategorisierung und Bewertung von Menschen nach ihrer Herkunft und, daran anknüpfend, nach ihrem monetären Wert. Die Verinnerlichung dieser Ideologie scheint unterschiedlich weit fortgeschritten: Zwar wächst mit den als materielle Einbußen spürbar gewordenen Folgen einer naturalisierten, doch nicht einlösbaren Wachstumsgläubigkeit auch die Kritik; dennoch sind nur die wenigsten zu weiteren Abstrichen zugunsten eines langfristig gerechten und stabilen Wirtschaftssystems bereit. Die kapitalistische Ideologie des „höher schneller besser mehr“ hat die Industrieländer fest im Griff.

In erster Linie natürlich jene, deren Reichtum auf dieser Ideologie gründet; jene, die sich erhoffen, ihren Wohlstand zu vergrößern oder zumindest zu erhalten; zuletzt jenes „Prekariat“, der nunmehr politisch korrekte Ausdruck für die einstige Unterschicht, die sich heute aus Arbeitslosen, Mindestrentnern, gesundheitlich Instabilen, Alleinerziehenden zusammensetzt.

Ihnen wird schon im Vormittagsfernsehen in diversen Umerziehungs-Shows vorgeführt, wie sie sich möglichst funktionell wieder in den Markt eingliedern können und sollen. Nicht nur in der künstlichen Realität des Fernsehens wird der Mitmensch dabei zum Konkurrenten, dem man aufs Freundlichste die Hand schüttelt, während man schon überlegt, wie man ihn später ausstechen wird. Dieser Habitus zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, scheint ein dem Menschen inhärenter Wesenszug zu sein. „Faschismus ist keine politische Partei, sondern eine bestimmte Lebensauffassung und Einstellung zu Mensch, Liebe und Arbeit.“7)

Faschismus

Wilhelm Reich hatte bereits erkannt, was heute zum Teil sehr offensichtlich zu Tage tritt: Faschismus ist nicht allein eine Frage der wirtschaftlichen und sozialen Lage und schon gar keine von Parteizugehörigkeit. Entsprechend seiner Charakteranalyse verortet er die faschistische Gesinnung in der zweiten, mittleren Charakterschicht, die zwischen höflicher, schein-sozialer Oberfläche und dem an sich guten „biologischen Kern“ des Menschen alle, von den Ansprüchen der herrschenden Gesellschaftsform verbotenen und verdrängten Strebungen bindet.

Jeder Mensch ist mehr oder weniger stark von solchen Verdrängungen, die Reich auch „Panzer“ nennt, betroffen. Wo diese, für das soziale Leben durchaus auch notwendigen Panzer jedoch durchlässig werden, die antisozialen Strebungen zu Tage treten und entsprechend der Bedeutung des lateinischen „fascere“ von einer mehr oder minder verdeckten rechtspopulistischen Meinungsmache zur Ideologie gebündelt werden, kann diese im Sinne von Diskriminierung und Rassismen, in Form von subtiler Unterdrückung bis hin zu offener Gewalt zur gesellschaftlichen Kraft werden.

Im Dritten Reich war diese Kraft der Nationalsozialismus, der seine Feinde genau definierte, der nicht-konformes Denken ebenso verbot wie Gewerkschaften und dessen überzeugende Wirkung sich in einem Spektrum zwischen Propaganda und Todesdrohungen entfaltete. Die zeitgenössische Ideologie wirkt subtiler; aus Propaganda wurden „Public Relations“ beide Begriffe prägte Freud-Neffe Edward Bernays und eine nicht endende mediale Bilderflut, die das Rohmaterial der Meinungsbildung abgibt, dabei die tatsächliche Zusammenhänge zu verschleiern weiß.

Randgruppen Migranten, alte Menschen, jugendliche Rebellen kurz alle, die der produktivitätsbesessenen Ideologie entgegen stehen, werden so schnell zu „Problemzonen“ und Sündenböcken stilisiert. Non-Konformisten droht nicht mehr der physische Tod, sondern der gesellschaftliche.

In seinem Werk versucht Reich Antworten zu finden auf die Frage, warum der Nationalsozialismus resp. Faschismus zur bestimmenden Kraft werden konnte, wenngleich die wirtschaftliche Situation eines Großteils der Bevölkerung dem entgegen stand; warum so viele, trotz nicht eingelöster Versprechen, trotz verheerender Kriegspolitik und Völkermord nationalsozialistisch gesinnt blieben. Er stellt die Frage nach der sozialen Verantwortlichkeit, die damals in „Reich und Führer“ aufging und die sich heute erneut und eindringlich stellt.

Sexualökonomie

Wilhelm Reich war Psychoanalytiker und Marxist. Im Jahr der Erstveröffentlichung der „Massenpsychologie des Faschismus“, in der Reich die damalige Form des Kommunismus stark kritisiert, wurde er aus der KPD ausgeschlossen, ein gutes halbes Jahr später, im August 1934, aus der IPA. Wollten die Kommunisten nichts von Triebunterdrückung und Sexualität hören, gründete der Konflikt mit den Psychoanalytikern, allen voran Freud, auf Reichs politischem Engagement.

In der menschlichen Seele treffen für Reich biologische Voraussetzungen also die Triebe und soziale Bedingungen aufeinander. Anders als für Freud folgt für ihn daraus aber nicht die Unumgänglichkeit der Sexualunterdrückung, die in Freuds kulturtheoretischen Schriften die Grundlage jeglicher Kultur darstellt. Für Reich resultiert sie einzig aus der herrschenden Gesellschaftsordnung, die „sich in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre Hauptziele braucht.“8) Wenn diese Ziele Unterwürfigkeit, Autoritätshörigkeit, Beeinflussbarkeit heißen, so ist laut Reich die Verhinderung einer natürlichen Sexualität dazu eines der besten Mittel.

Wie Reich in „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ darlegt, gründet die herrschende Wirtschaftsund Gesellschaftsform auf der Ablösung mutterrechtlich organisierter, sexuell relativ freizügiger Kulturen durch das Patriarchat, das in seiner Ablehnung jeglicher außerehelichen Sexualität in späterer Zeit von einer die Sexualität pathologisierenden Kirche unterstützt wurde und wird. Die Verknüpfung von sexualökonomischer und gesellschaftlicher Struktur erfolgt, so Reich, in der frühen Kindheit.

Der Ödipuskomplex ist dabei nicht apriorische Gegebenheit, sondern resultiert aus der Struktur der autoritären Familie. Das rigide väterliche Verbot des Begehrens zunächst des eigenen Körpers im Autoerotismus, dann der Mutter und später das des Pubertierenden führt nicht zu einem gesunden moralischen Bewusstsein, sondern lähmt, „weil nunmehr jede lebendig-freiheitliche Regung mit schwerer Angst besetzt ist.“9) Während materielle Unterdrückung allein noch zur Rebellion treiben würde, absorbiert die implementierte Hemmung der Sexualität nicht nur jegliche Auflehnung, sondern auch die soziale Verantwortlichkeit: „Der sozial verantwortungslose Mensch ist der in Sexualkonflikten absorbierte Mensch.“10)

Im Nationalsozialismus fand die gestaute Sexualität der Massen letztlich ein Ventil in dessen Mystik, von hypnotischen Kundgebungen bis hin zur dort geschürten Angst vor der „Blutschande“, des Verkehrs mit Juden und anderen Ausgegrenzten, was die Sexualunterdrückung noch bestätigte. Heute noch von Sexualunterdrückung und autoritärer Familie zu sprechen scheint vermessen, zumal die Gesellschaft augenscheinlich nie freizügiger war und der Vater als Autoritätsperson und Initiator des Ödipus in vielen Familien bereits von der Bühne verschwunden ist. Ebenso wenig aber lässt sich behaupten, es gäbe keine sexuellen Konflikte mehr und keine Kinder, die nicht nur von ihren Eltern unterdrückt werden, im schlimmsten Fall durch Gewalt.

Die sexuelle Hemmung kehrt nun wieder als ihr Gegenteil. „Sex sells“ lautet die Devise. Sex wird in unterschiedlichsten Formen thematisiert, und auf dem nunmehr liberalen „Liebesmarkt“ hat besonders der Erfolg, der fit, sexy und smart ist und damit jene Eigenschaften besitzt, die auch auf dem Arbeitsmarkt Punkte einbringen. Wenn der zivilisierte Mensch heute sexuelle Ängste entwickelt und an seiner Sexualität leidet, dann nicht an einem „Zu Wenig“ sondern an einem „Zu Viel“.

Die natürliche Sexualität im Sinne Reichs ist heute keineswegs befreit, sondern Gegenstand medialer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Zurichtung, die immer noch unter patriarchalen Vorzeichen stattfindet. Ähnliches gilt für die Familienstrukturen. Wenn Kinder aufgrund einer Trennung oder der Berufstätigkeit des männlichen Elternteils „vaterlos“ aufwachsen und sie es in den diversen Sozialisationseinrichtungen nicht schaffen, den Leistungsund Verhaltensanforderungen zu entsprechen, wird schnell der Ruf nach einer „harten Hand“ laut. Die Autorität des Vaters scheint entpersonalisiert, sie geht heute auf in den Ansprüchen einer Leistungsgesellschaft, die nach wie vor patriarchal-hierarchisch strukturiert ist und an deren Spitzen überwiegend Männer, Vaterund Führerfiguren, stehen.

Wenn an dieser Stelle der Versuch, die herrschende Ideologie mit Hilfe von Wilhelm Reichs Werk zu beleuchten enden muss, so ist sie deshalb nicht abgeschlossen. Identifikationsmechanismen als ein wesentlicher Punkt wurden noch nicht berücksichtigt; generell konnte die Untersuchung und der Vergleich der ökonomischen und psychologischen Strukturen in den unterschiedlichen Epochen nur angedeutet werden.

Als persönliches Schlusswort möchte ich anfügen, dass ich erstaunt bis erschreckt darüber war, wie aktuell die Faschismusanalyse Reichs zu lesen ist. Nicht weniger bietet sie aber Hinweise auf einen hilfreichen Umgang mit Rassismen, antisozialem Verhalten und politischer Gleichgültigkeit, die zu oft ins rechte Lager führen.

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1) Reich 2003, 39
2) ebd., 33
3) http://de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus
4) http://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl
5) Reich 2003, 63
6) „From the money in our pockets and the goods and services that we use to a more peaceful world“ Aus: „10 benefits of the WTO trading system“: http://www.wto. org/english/res_e/doload_e/10b_e.pdf
7) Reich 2003, 22
8) vgl. Reich 2003, 42
9) vgl. Reich 2003, 49
10) Reich 2003, 188

Quellen:

Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003

Dialektischer Materialismus: http://de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus; (Stand: 24.08.2009)

Reichstagswahl: http://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl; (Stand: 24.08.2009)

10 benefits of the WTO trading system: http://www.wto.org/english/res_e/doload_e/10b_e.pdf; (Stand: 9.11.2009)

Wilhelm Reich: Psychoanalyse, Körper und Energie SE 603155 SS 2009; Vortragende: Renate Wieser

Universität Innsbruck, Institut für Erziehungswissenschaft e-mail: Michaela.Holaus@student.uibk.ac.at
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