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Bukumatula 2/2010

Wilhelm Reich – Pionier des neuen Denkens

Buchbesprechung
Amherd Willi:

David Boadella: „Wilhelm Reich – Pionier des neuen Denkens“
427 S. Schirner Verlag, Darmstadt 2008. Brosch.
ISBN 978-3-89767-602-2. € 13,40

Die Anfrage von David Boadella für eine Rezension bedeutete für mich eine große Ehre, aber auch eine echte Herausforderung, denn Leben und Werk von Reich und damit auch die Biographie, sind gekennzeichnet durch Dichte, Mehrschichtigkeit und Komplexität. Das Buch zwingt den Leser zur Stellungnahme. Für mich war es eine Möglichkeit, die Entwicklung meiner Beziehung zu Reich und den verschiedenen Lebensphasen zu klären.

Reich und die Politik Als junger Psychologiestudent habe ich oft im Theologischen Institut von Freiburg gesessen und Bücher von Reich in mich aufgesogen. Er lieferte uns damals Antworten auf Fragen, die wir uns in nächtelangen Diskussionen stellten: Wie entstehen psychische Strukturen, die für autoritäre Herrschaftsformen anfällig sind? Ist ein „genitaler Charakter“ eher gegen solche Verführungen gefeit, weil er weniger Ängste hat? Reich lieferte plausible Antworten zum so genannten „subjektiven Faktor“, die in neomarxistischen Texten nicht zu finden waren. Er konnte komplexe Zusammenhänge leicht auf den Punkt bringen wie zum Beispiel mit der Aussage: „Der Satte braucht nicht zu stehlen, der sexuell Befriedigte begeht keinen Lustmord“. Auch wenn die Antworten nicht so einfach waren, so hat er doch richtige Fragen gestellt.

Das konnte einen ansteckenden Optimismus verbreiten. Besonders, wenn man aus einer konservativen Gegend stammte, hatten seine Bücher erstmals im Kopf eine befreiende Wirkung. Reich und die Psychoanalyse David Boadella zeigt auf, wie schnell sich Reich innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft Achtung verschaffte. 1919 wird er als Medizinstudent erstmals mit psychoanalytischer Literatur konfrontiert, hält im gleichen Jahr einen Vortrag im Psychoanalytischen Seminar zum Thema: „Libidobegriff von Forel bis Jung“ und wird im selben Jahr Seminarleiter.

In dieser Funktion war er bis 1930 tätig und hatte einen großen Einfluss in den wöchentlichen Fallbesprechungen und Fachdiskussionen. In dieser Zeit entsteht meiner Meinung nach eines der besten Bücher der Psychoanalyse überhaupt, sein Werk „Charakteranalyse“. Da sich Reich auf die erste Triebtheorie von Freud bezieht und dieser sich zwischenzeitlich teilweise davon abwandte, entstehen erste metapsychologische und auch methodische Differenzen zu Freud. Angst ist für Freud nun nicht mehr die Folge von Hemmung sondern umgekehrt. Reich ging noch offener den Widerstand an und dann erst zur Kindheit.

Reich und Körperpsychotherapie Durch die Ausbildung nach dem Ansatz von John Pierrakos und die eindrückliche Begegnung mit ihm sowie die wichtige integrative Arbeit im Institut für Biosynthese HBS von Silvia und David Boadella lernte ich langsam am eigenen Leibe zu erfahren und zu verstehen, was ich vorher geahnt habe von dem, was Reich gemeint haben muss. Es ist viel leichter, den Körperpanzer und die diversen Körpersegmente am anderen zu beobachten, als sie selber zu spüren und darüber hinaus noch aufzulösen.

Da die eigene Person das wichtigste methodisch-therapeutische Werkzeug ist, helfen mir diese Einsichten bei allen Patienten, ganz besonders bei den psychosomatischen. Reich und die Wissenschaft Nach David Boadella hat sich Reich bei seiner Forschung sehr streng an das Beobachtbare gehalten. Ausgehend von dessen frühen und zentralen Frage nach der Lebensenergie hat er auch hier die relevanten Fragen gestellt und mit unermüdlichem und systematischem Einsatz zu beantworten versucht. Er war einer der ersten Psychosomatiker, der sich Fragen stellte wie: „Welche psychischen und psychosomatischen Faktoren begünstigen eine Krebsentwicklung bzw. einen Herzinfarkt?“ Er hat hiermit heutige Fragen der Psychoneuroimmunologie vorweggenommen. Er konnte experimentell nachweisen, dass Mäuse in einem biologisch günstigen Umfeld (genannt Orgonenergie) länger leben oder gesund wurden.

Teilerfolge konnte er auch bei Menschen nachweisen. Ohne Hartnäckigkeit im Beweisen seiner Hypothesen und Visionen wäre Reich nie zu all diesen Erkenntnissen gelangt. Seine letzten Publikationen sind rational aber immer schwerer zu begründen. David Boadella geht gerade bei diesem schwierigsten Kapitel äußerst sensibel und differenziert vor. Geheimnisvolle Kindheit – tragisches Ende Es ist offenbar wenig über Reichs Kindheit bekannt, außer dass er gerne auf dem Hof des Vaters arbeitete. Wir wissen nicht, wie lange die Mutter ein Verhältnis mit dem Hauslehrer unterhielt, bevor der sensible Junge dem Vater diese Außenbeziehung verraten hat, worauf sich die Mutter suizidierte.

Wie konnte der sicherlich selbst traumatisierte Vater seine beiden Söhne in dieser schrecklichen Lage unterstützen? War er selbst depressiv, so dass er sich Gesundheitsrisiken aussetzte, um drei Jahre später ebenfalls zu sterben? Wie war Wilhelms Beziehung zu seinem Bruder, mit dem er später keine Kontakte hatte? Warum hat er den elterlichen Hof nie mehr besucht? Wollte oder konnte er sich dem traumatisierenden Ort nicht mehr stellen? Durch Verrat ausgelöste Konflikte haben Reich ein Leben lang begleitet. Warum ließ Freud ihn wirklich fallen? Warum durften psychoanalytische Kollegen nicht dazu stehen, dass sie teilweise mit reich´schen Erkenntnissen arbeiteten? Hat etwa Reich mit seiner tiefen Intuition Schwächen bei Freud aufgedeckt? Warum hat man ihn aus der kommunistischen Partei hinausgeworfen? War er nicht einfach zu wenig linientreu, zu tiefgründig? Der letzte große Verrat hat ihm das Herz gebrochen.

Er konnte nie und nimmer glauben, dass im Land der `unbegrenzten Möglichkeiten´ alle seine Bücher verbrannt und er ins Gefängnis gesteckt wird. Dass er von nun an die Welt als gefährlich wahrzunehmen beginnt und sich am Strohalm seiner eigenen Vorstellung zu halten versucht, ist nur folgerichtig. Ich empfinde ein tiefes Mitgefühl für ihn. Bedeutung der Neuauflage Trotz oder gerade wegen dieser Tragik ist für mich Wilhelm Reich einer der tiefsinnigsten, mutigsten und kreativsten Psychotherapeuten des letzten Jahrhunderts. Die Neuerscheinung der Reich-Biographie von David Boadella ist deshalb einen politische, psychotherapeutische und wissenschaftliche Notwendigkeit.

Das Buch von David Boadella zeichnet sich aus durch gründliche Recherche, systematischen Aufbau und hervorragender Fachkompetenz bezogen auf alle Lebens- und Schaffensabschnitte von Wilhelm Reich. Man spürt die herzliche, wertschätzende, aber nicht unkritische Haltung gegenüber Wilhelm Reich. Namhafte Wissenschaftler aus diversen Teilgebieten haben inzwischen ins Lächerliche gezogene Aussagen von Reich bestätigt. Reich hat sich einmal als `Aufstehmännchen´ betrachtet. Ich wünsche ihm und David viele interessierte Leser, damit Reichs Ideen wieder auferstehen und er endlich besser verstanden wird.
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Amherd Willi
Psychologe FSP / Psychotherapeut SPV
Homepage: www.praxis-fuer-psychotherapie.ch
Die Buchbesprechung ist erstmals in der Zeitschrift „Psychotherapie Forum“ 17/4 (2009), Springer Verlag, erschienen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlegers.

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