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Archiv ‘2004’ Kategorie

Buk 1/04 Organisierter Mystizismus

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Bukumatula 1/2004

Organisierter Mystizismus, geniales Elend und die Bedeutung Christi

Wilhelm Reich
J. Edgar Bauer:

„Some friend at [a] party mentioned her interest in Krishnamurti and remarked that he was the most Christ-like person she had encountered. Reich’s immediate question was, ‚If he is Christ-like, why hasn’t he been murdered?'“

Ilse Ollendorff Reich: Wilhelm Reich. A Personal Biography. [1]

1. Unter den Schülern Sigmund Freuds gehörte Wilhelm Reich (1897-1957) – zusammen mit Otto Gross (1877-1920) und Otto Fenichel (1897-1948) – zu einer Gruppe von linksgerichteten Theoretikern, deren Bemühungen um eine Synthese von Psychoanalyse und Marxismus vielfach auf Unverständnis und Ablehnung in beiden Bewegungen stießen. Als der prominenteste Dissident in der Generation von Psychoanalytikern, die erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Zuge kam, wurde Reich von Freud bald zurückgewiesen, [2] von der International Psychoanalytical Association im Jahre 1934 ausgeschlossen [3] und von dem kanonischen Freud-Biographen Ernest Jones diffamiert. [4] Zwar Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, [5] wurde Reich schon 1936 zu einem kompromisslosen Kritiker der Sowjetunion. [6]

Die extrem feindlichen Reaktionen, die Reichs Positionen und Projekte innerhalb der Psychoanalyse und des Marxismus auslösten, trugen maßgeblich dazu bei, ihn als Person und Wissenschaftler in weiteren Kreisen zu diskreditieren. Sowohl sein Anspruch darauf, die orgonische bzw. Lebens-Energie entdeckt zu haben, als auch seine Experimente mit Orgon-Akkumulatoren in den 40er Jahren wurden des öfteren als Nachweis seiner Exzentrik oder gar geistiger Umnachtung gedeutet. Nicht von ungefähr gehört Reich zu den wenigen Autoren, deren Bücher von den Behörden nicht nur in Nazi-Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten verboten und verbrannt wurden. In einem Prozess, zu dem die Anwendung seiner viel diskutierten Theorien und angebliche Entdeckungen geführt hatten, wurde Reich zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Kurz vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis erlag er einem Herzinfarkt.

Trotz des stets wachsenden Interesses an seinem Werk seit der Studentenrevolte in den 60er Jahren wurde die Tragweite und Relevanz von Reichs Werk für Religionsphilosophie und -theorie bislang kaum gewürdigt. Vor dem Hintergrund der weitverbreiteten Tendenz, Reichs postchristlichen Denkansatz zu übersehen bzw. zu ignorieren, wird hier der Versuch unternommen, die Fundamente von Reichs intrahistorischer, unmystischer Religiosität am Leitfaden der Begriffe „organisierter Mystizismus“ [7] und „genitales Elend“ [8] kritisch zu beleuchten. In der Hauptsache beziehen sich folgende Überlegungen auf das Buch „Christusmord. Die emotionale Pest der Menschheit“, das Reich zwischen Juni und August 1951 schrieb und erst 1953 veröffentlichte.

2. Schon vor seiner Emigration nach Amerika im Jahre 1939 hatte Reich eine beeindruckende Anzahl von Werken vorgelegt, zu denen wissenschaftliche Traktate mit Titeln wie „Die Funktion des Orgasmus“ (1927), „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ (1935) oder „Die Sexualität im Kulturkampf“ (1936) gehörten. So nimmt es nicht wunder, dass Reich oft zur Zielscheibe konservativer Kräfte wurde, die darauf absahen, seine unerbittliche Kritik an der abendländischen Auffassung und Ausgestaltung des geschlechtlichen Lebens zum Schweigen zu bringen. [9] Es ist diesbezüglich kennzeichnend, dass eine Zeitungskampagne gegen Reich während seines Exils in Norwegen im Jahre 1940 gestartet wurde, in der u.a. Vorwürfe gegen den „Jewish pornographer“ [10] erhoben wurden.

Das von seinen Widersachern propagierte, öffentliche Image Reichs kontrastiert jedoch aufs schärfste mit dem biographischen Portrait, das Ilse Ollendorff Reich, seine zweite Ehefrau, nach dem Tod Reichs niederschrieb.- Gleich im Vorwort des Buches hebt sie hervor, dass „Reich detested pornography, dirty jokes, and all perversions of sexuality. I never heard him tell a dirty joke. For him sex and love were one.“ [11] Diese persönliche Einschätzung entspricht Reichs eigener Betonung der hohen ethischen Ansprüche, nach deren Erfüllung der kritische Sexualforscher trachten soll. So hoffte Reich darauf, dass Anständigkeit und Reinheit künftig ein Gegengewicht zur „emotionalen Pest“ bilden würden, die aus der repressiven Kultursublimierung resultiert. [12]

Ausdrücklich verwies Reich darauf, dass die unabdingbare Voraussetzung der Arbeit des Psychoanalytikers darin besteht, dass er selber „gänzlich sauber, klarsichtig und orgastisch erfüllt [sei], [dass er] ein gutes Leben führe.“ [13] Reichs ethische Forderungen, die im Rahmen des gängigen psychoanalytischen Diskurses seiner Zeit sicherlich befremdend anmuteten, basieren letztlich darauf, was Ilse Ollendorff Reich als Reichs „absolute faith in the power of truth to win out in the end“ [14] bezeichnet hat. Diesem Vertrauen auf Wahrheit entsprang das Lebensmotto, das Reich vielen seiner Bücher voranstellte: „Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Lebens. Sie sollten es auch bestimmen.“

3. Die intellektuelle Entwicklung Reichs wurde von drei Hauptleitungen markiert: (1) Der Bruch mit der Freudschen Psychoanalyse zugunsten seiner eigenen „Charakteranalyse“, die Reichs Orgasmustheorie und die Thesen über die soziale Funktion der sexuellen Verdrängung einbezog, (2) die Entwicklung der „Vegetotherapie“, einer Technik, die neurotische Symptome im Verhältnis zu deren somatischer Basis setzt und (3) die vorgebliche Entdeckung einer unabhängigen Lebensenergie in der Atmosphäre und in lebendigen Organismen, welche zur Postulierung von Reichs Orgontheorie führte. [15] Vor dem Hintergrund dieser Errungenschaften versuchte Reich in seinem Buch „Christusmord“, das er in der letzten und wohl turbulentesten Periode seines Lebens [16] schrieb, die Grundsätze seines Lebensschaffens zusammenzufassen und sie in eine religiöse Dimension zu überführen.

Gleich in der Einführung des Buches aber dämpft Reich die Erwartungen des Lesers: „Die Probleme, um die es in CHRISTUSMORD geht, sind die aktuellen Probleme unserer heutigen Gesellschaft. Die Problemlösungen jedoch, die in diesem Buch angeboten werden, sind unausgereift, emotional verschleiert, unzulänglich oder unvollständig.“ [17] Obwohl das Buch Mängel in der Ausführung aufweist und es letztlich eine mit dem historischen Christentum inkompatible Position vertritt, mahnen sein religiöser Ton und Anspruch an klassische Texte der christlichen Spiritualität wie De Imitatione Christi von Thomas a Kempis, den Reich in seiner umfangreichen Bibliographie erwähnt.

Auch wenn die Kreuzigungsgeschichte des Neuen Testaments den historischen Ausgangspunkt von Reichs Meditationen bildet, stellt der Christusmord für Reich kein Geschehnis dar, das sich einmalig vor zwei Jahrtausenden ereignet hatte. Vielmehr gibt es „uns ein Rätsel auf, das die Menschheit zumindest seit Beginn der Geschichtsschreibung beschäftigt.“ [18] Vor diesem menschheitsgeschichtlichen Horizont hebt Reich die Tragweite seiner eigenen Entdeckung der Lebensenergie im Jahre 1936 hervor [19] und sagt voraus, dass die sogenannte „emotionale Pest“, d.h. die „Krankheit“ im Inneren des Menschen, der der historische Jesus zum Opfer fiel, erst an dem Tag bekannt und begriffen wird, an dem „dieses Werk die Menschen erreichen wird.“ [20]

Die deiktischen Selbstverweise des Textes, die in Ausdrücken wie „dieser Bericht über den Christusmord“ [21] , „diese Zeilen“ [22] oder „dieses Buch“ [23] enthalten sind, unterstreichen die privilegierte Jetztzeit, in der Reichs rettende Einsichten in Natur und Schicksal des Menschen gewährt werden. Sie implizieren, dass “ [d] as ENDE des Christusmordes […] in greifbare Nähe gerückt [ist], nicht als das Reich Gottes, nicht als ein Traum, sondern als eine entscheidende Aufgabe für Generationen von Pädagogen, Psychiatern, Ärzten und Staatsbediensteten.“ [24] Folgerichtig und im Kontrast zur bisherigen Leidensgeschichte der Menschheit endet das Buch mit der Aussicht auf eine künftige Erfüllung:

„KULTUR UND ZIVILISATION HAT ES BISHER NOCH NICHT GEGEBEN. SIE SIND GERADE ERST IM BEGRIFF, AUF DIE BÜHNE DER MENSCHLICHEN GESELLSCHAFT ZU TRETEN. DAS IST DER ANFANG VOM ENDE DES CHRONISCHEN CHRISTUSMORDES.“ [25]

4. Da Kultur die Beendigung des seit Jahrtausenden unausgesetzt begangenen Mordes an der Menschheit voraussetzt, betrachtete Reich es als eine weltgeschichtliche Aufgabe, die abendländische religiöse Tradition von ihrem mörderischen Erbe zu befreien und sie in einer Weise umzuformen, die der Förderung des Lebens dient. Dabei intendiert Reich keine Schaffung einer gänzlich neuen Religion oder Schule der Spiritualität, sondern die Aufdeckung der ursprünglichen Bedeutung des Lebens und der Botschaft Christi, um mit deren Hilfe die grundlegenden theologischen Begriffe der abendländischen Religion neu zu definieren und dementsprechend ihre erlösungsmäßigen Ziele zu transformieren. In Reichs Reinterpretation des Christentums ist „Gott“ mit der „Natur“ identisch und „Christus“, der als „die Verwirklichung des Naturgesetzes“ [26] fungiert, wird ermordet, weil er das Leben schlechthin verkörpert. [27]

Als Vermittler ist Christus zugleich Menschen- und Gottessohn, da „der Mensch das Kind Gottes und Gott der kosmische Energieozean ist, in dem der Mensch ein winziges flüchtiges Teilchen darstellt, eine Welle, die aus Gott kommt und wieder in ihn zurückkehrt, die wieder in den Großen Vater eingeht.“ [28] An der Stelle rekurriert Reich indirekt auf das neuplatonische Schema von monos, proodos und epistrophe, um die Idee des Heils im Sinne eines Aktes von kosmischer Reintegration zu verdeutlichen, in dem die Trennung von der ursprünglichen göttlichen Ganzheit bewusst wahrgenommen und somit im Ansatz überwunden wird. [29] Im Vollzug des religiösen Aktes der Selbsterlösung ist entscheidend, dass der Mensch sich nicht an einer einzelnen Welle oder einer ganzen Wellengruppe festhält, sondern jede Welle als ein „sich wiederholendes Ereignis“ [30] begreift: „Wenn du den Ozean nicht kennst, bist du schlicht verloren, wer immer du auch sein magst.“ [31]

Da das göttliche Leben in diesem Zusammenhang sich als ein Prozess von Entstehung aus der Seinsganzheit und Rückkehr zu ihr erweist, ist jeglicher Versuch, das Werden des Göttlichen aufzuhalten oder zu fixieren, mit dem Teuflischen identisch. [32] Insofern als „die Bewegung allein unendlich“ [33] ist, darf weder das Göttliche ontologisiert, noch das Individuum verabsolutiert werden. Von daher wird ersichtlich, dass das fundamentale Problem, mit dem sich Christus auseinandersetzt, im „Kampf der Bewegung gegen erstarrte Strukturen“ [34] besteht. Seine Kreuzigung (d.h. seine Fixierung an einem Kreuz) war die Reaktion der menschlichen Unbeweglichkeit auf Christi Fortbewegung ins Unbekannte. [35]

5. Durch die Vorgänge von Entstehen und Vergehen, Nehmen und Geben werden die Individuen in den universellen Fluss des Lebens einbezogen. Wenn der Mensch aber nicht bereit ist, das kosmische Werden für sich zu akzeptieren, und versucht, sich ihm zu entziehen, entwickelt er zwangsläufig einen gepanzerten Charakter, der den Menschen zum Gefangenen seiner selbst macht. In seiner Isolation vermag der Mensch nicht, „DAS TOR ZUM UNENDLICHEN, OFFENEN RAUM“ [36] zu finden und seine Liebe wird zu einer eingefrorenen Emotion, die zum strukturellen Hass des Lebens führt. Diese spezifische Perversion der Liebe, die Reich sonst die „emotionale Pest“ nennt, konstituiert das charakteranalytische Pendant zum christlichen Sünden-Begriff im Sinne des Teufelswerkes, das die Menschheit auseinanderdividiert. [37]

Für jeden Menschen, der in der „Falle“ seiner eigenen Panzerung gefangen gehalten bleibt, wird die Ausgestaltung seiner Lebensumstände in Konformität mit dem internalisierten Hass der emotionalen Pest zu einer unabdingbaren Voraussetzung des Überlebens. Trotz seines Wissens darum, dass „außerhalb der Falle, in ihrer unmittelbarsten Nähe, […] das lebendige Leben überall um einen herum ist“ [38] , erwehrt sich der Gefangene seiner selbst derjenigen, die auf den Ausweg aus der Falle verweisen. Der Mord an dem um die Existentialnot des Menschen Wissenden, d.h. der Christusmord, ist die kontraproduktive Überlebensstrategie des sich seiner eigenen Entfremdung anheim gegebenen Menschen.

In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Reich die Bibel [39] als das großartigste Buch apostrophiert, das „der Mensch in der Falle […] im Laufe der Jahrtausende“ [40] geschaffen hat. Ihre großartige Beschreibung des Verlorenseins des Menschen stößt aber auf Grenzen, wenn es darum geht, Auskunft darüber zu geben, wie die Menschen in die Falle gerieten und wie sie der Falle entrinnen können. Vor diesem Hintergrund hebt Reich hervor, dass nicht einmal Christus „von dem aus Frustration geborenen, strukturellen Hass im Menschen“ [41] gewusst hat.

Bei aller Liebe zum Menschen war Christus Reich zufolge nicht in der Lage, den Menschen wirklich zu verstehen, da „er von der Pest im Menschen nichts weiß, und zweitausend Jahre lang wird niemand etwas von dieser im Menschen wuchernden Pest wissen.“ [42] Reichs unausgesprochener Anspruch ist freilich, dass er selbst den Schlüssel zum Verständnis dieser Pest hat und dass infolgedessen die in seinem Buch vermittelten, spirituellen Einsichten denen der Bibel weit überlegen sind. Von der Überzeugung ausgehend, dass die Pest „das Resultat der Vermeidung der Tiefe der Dinge“ [43] ist, geht Reich dazu über, den Weg zum „offenen Raum“ des nicht entfremdeten, „lebendigen Lebens“ zu zeigen. [44]

6. Die stets hervorquellende Energie des Lebens kulminiert nach Reich in der genitalen Umarmung, die als ein Akt verstanden wird, in dem eine gegenseitige Übertragung von Energie zwischen zwei Liebenden stattfindet. Von daher ist die Liebe aus der Perspektive Reichs keine bloß vergeistigte Metapher, sondern eine konkrete körperliche Funktion, die auf die Herbeiführung des Orgasmus hin angelegt ist: „Der bioenergetische Kern des Lebens und seiner kosmischen Bedeutung ist die Orgasmusfunktion, d.h. die unwillkürliche Konvulsion des gesamten lebendigen Organismus, wenn Mann und Frau in der Umarmung ihre Bioenergie ineinander entladen.“ [45]

Im Gegenzug zur herkömmlichen Beteuerung der christlichen Bibelexegese stellt Reich die These auf, dass Christus den genitalen Charakter der Menschheit offenbart, deswegen, weil er Gott bzw. die Natur als die körperliche Liebe begreifen lehrt, die der gepanzerte Mensch bestrebt ist, in sich selbst zu negieren und in der äußeren Realität zu unterdrücken. Da die Voraussetzung für die vollendete Genitalität Christi in der „Spontaneität seiner Kontaktaufnahme mit allem, was ihn umgab“ [46] , in „seinem […] Gefühl der Einfachheit, Direktheit und Nähe zur Natur“ [47] besteht, insistiert Reich darauf, dass es kein zu offenbarendes Mysterium im Kern der Botschaft Christi gibt. Ausgehend von seiner beispielhaften Lebenshaltung kritisiert Reich nicht nur das aus der misslungenen Sublimierung des Geschlechtlichen resultierende, genitale Elend, das die ganze christliche Geschichte prägt, sondern auch das genitale Elend desjenigen gepanzerten Menschen, den Reich „den Ficker“ nennt.

Da die Kritik an der paulinischen Mystifizierung der körperlichen Liebe Christi keineswegs vom Standpunkt einer von Reich so genannten „Bordellreligion“ erfolgt, distanziert er sich ausdrücklich und wiederholt von dem Versuch, „AUS DER LEHRE EINER LIEBE, DIE DIE NATÜRLICHE GENITALE UMARMUNG MIT EINSCHLIESST, EINE RELIGION DER HEMMUNGSLOSEN PROMISKUITÄT HERZULEITEN“ [48] , und legt auf die Feststellung wert, dass die „orgastische Potenz“ Christi das Gegenteil von dem „hässlichen, leeren, widerwärtigen Akt der Reibung eines kalten Penis an trockenen Vaginalwänden“ [49] darstellt. In letzter Instanz konstituiert die das Leben fördernde, weder mystifizierte noch mystifizierende Genitalität Christi das kritische Paradigma, auf dem die sittliche Verwerfung des „schmutzigen Ficks aus dem Nichts und hin zum Nichts“ [50] gründet.

7. Für Reich stellt die uneingeschränkte Annahme der Vergänglichkeit des Lebens eine unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung einer authentischen Religiosität dar, deren Hauptmerkmal darin besteht, dass an die Stelle des phantasierten bzw. ontologisierten „Jenseits“ der religiösen Überlieferung „das Reich der inneren Würde und Güte“ [51] tritt. Aus der Sicht dieser, die Entfremdung der Religion überwindenden Religiosität existiert die Seele „nach dem Tode nicht in einer umrissenen materiellen Form“ weiter, sondern „geht wieder in dem kosmischen Ozean auf, dem ‚Königreich Gottes‘, dem sie entsprungen war.“ [52] Nach Reichs Überzeugung stimmen diese Ansichten mit der ursprünglichen Botschaft des Gründers des Christentums überein, der eine Religiosität des „Reiches Gottes hier und jetzt“ [53] , frei von Geheimnissen, [54] Jenseitigkeit [55] und mystischen Sehnsüchten [56] vertrat.

Im Grunde ist Christus für Reich ein Eschatologe der radikalen Diesseitigkeit, der sich weigerte, ins Jenseits oder in die Zukunft das zu projizieren, was dem nicht gepanzerten, genitalen Menschen im hic et nunc erlangbar ist. Reichs diesbezügliche Überlegungen und Spekulationen sind jedoch um so problematischer, als er offen einräumen muss: „Wir wissen nichts über [Christi] Liebesleben.“ [57] Da die textliche Überlieferung über den historischen Jesus für Reichs theoretische Zwecke sich als wenig ergiebig erweist, rekurriert er auf die charakteranalytische These, dass die von den Evangelien mehrfach bezeugte Herzensreinheit Jesu nur als Folge seines vollkommenen, genitalen Charakters, d.h. seines harmonischen, von den Perversionen der emotionalen Pest unbefleckten Sexuallebens verständlich wird.

In diesem Zusammenhang ist Reichs Annahme zu beachten, dass eine Überlieferungszäsur zwischen Jesus und seinen Jüngern zustande kam, als diese realisierten, dass sie nicht in der Lage waren, den Forderungen ihres Meisters gemäß zu leben. Daraufhin verdrängten sie seine Botschaft und kompensierten den Verlust durch die Mystifizierung und Idealisierung seiner Person. Streng genommen war „die Transformierung ins Mystische von all dem, was in der Existenz und den Lehren Christi wirklich war“ [58] eine unmittelbare Konsequenz des Entschlusses der Jünger, sich der Lehre ihres Meisters und somit ihres Meisters selbst zu entledigen.

Durch den Akt der Vergöttlichung der historischen Gestalt vollzog sich nach Reich der eigentliche Christusmord, denn damit wurde den künftigen Mitgliedern der christlichen Kirche der Zugang zur eigentlichen Lehre ihres Helden auf immer versperrt. Als „Opfer der menschlichen Sehnsucht nach einem Idol“ [59] verschwand Christus gänzlich aus der Religion derer, die sich auf ihn beriefen. [60] Folgerichtig lautet Reichs unerbittliche Bilanz: „Die christliche Religion ist eine mystifizierte Religion des Lebendigen, die sich gegen die Wirklichkeit eben dessen richtet, was sie als Ideal repräsentiert und anbetet.“ [61]

8. Auch wenn Reich „Mystifizierung, Vergöttlichung, Übertragung und Verklärung“ [62] als die geistigen Prozesse aufdeckt, die zur Transformierung des historischen Jesus in den Christus seiner Mörder führten, war Reich weniger an der konkreten Individualität des Religionsstifters, als an der universellen Bedeutung seines Lebens interessiert. In dieser Hinsicht ist es symptomatisch, dass Reich auf Jesus in der Regel nur unter Verwendung seiner messianischen Titulatur verweist: Christus. [63]

Dementsprechend nehmen Reichs Beschreibungen von Jesus oft die Züge einer Gegen-Christologie an, in der die traditionelle „Apotheose“ des Religionsstifters einer bioenergetischen Reinterpretation unterzogen wird, [64] die – wie ihre Vorlage – sich relativ wenig um Historizität kümmert. Da Reichs Christus sich zunehmend als Illustration eines universellgültigen Prinzips im Kampf gegen stereotypische Feinde ausnimmt, ist nicht überraschend, dass Reich oft den von den Evangelisten verwendeten Topos eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Christus und den „Schriftgelehrten und Pharisäern“ verwendet.

So stilisiert Reich „die Schriftgelehrten und Talmudisten sowohl in der jüdischen, als auch in der christlichen Welt“ [65] als archetypische Gegner Christi, die ihn ermordeten, weil er seine zugleich revolutionäre und ewig gültige Botschaft von der körperlichen Liebe „nicht in talmudischen Büchern versteckt hat[te].“ [66] Auch wenn Reich behauptet, dass „die Talmudisten Gott suchen, indem sie ihn töten “ [67] , hebt er gleichwohl hervor, dass „die Kreuzigung Christi […] ein allgemein menschliches, nicht ein speziell jüdisches Problem ist.“ [68] Da Reich des weiteren meint, dass „die Geschichte Christi ihre gewaltige Kraft nicht aus dem speziellen Schicksal des Menschensohnes, sondern aus ihrer Allgemeingültigkeit bezieht“ [69] , fällt es ihm leicht, unter Umgehung der persönlichen Singularität Christi die Idee einer sich stets wiederholenden Erscheinung von Christusgestalten in der Weltgeschichte zu postulieren. [70]

In diesem Zusammenhang wird dem historischen Jesus lediglich die Rolle einer eminenten Konkretisierung desselben Lebensprinzips zugewiesen, das den Wandel und die Lehre von Sokrates, Bruno, Savonarola und vielen anderen bestimmte. [71] Angesichts der vielfältigen Äußerungen Reichs, in denen er die weltgeschichtliche Tragweite seines Lebenswerkes und seine Rolle als Opfer der Feinde von Erkenntnis und Wahrheit thematisiert, [72] kann kein Zweifel daran bestehen, dass er sich selbst zu diesen außergewöhnlichen Lehrern der Menschheit zählte.

9. Obwohl Reichs „Christusmord“ als ein Meilenstein der postchristlichen Religiosität angesehen werden kann, ist nicht zu leugnen, dass erhebliche Mängel – vor allem in Hinblick auf die Beurteilung der kulturhistorischen Leistung der Offenbarungsreligionen – dem Buch anhaften. Besonders problematisch in diesem Zusammenhang ist Reichs ambivalente Einschätzung der Rolle, die Judentum und Christentum bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der patriarchalischen Antigenitalität gespielt haben.

Von der Prämisse ausgehend, dass „DIE WAHRHEIT ZU BERÜHREN DER BERÜHRUNG DER GENITALIEN GLEICHKOMMT“ [73] , geißelt Reich die Verstümmelung [74] und Qual [75] , welche durch die rituelle Beschneidung nach dem mosaischen Gesetz verursacht werden, [76] sowie die christliche Leibfeindlichkeit, die im Verbot enthalten ist: „Du sollst nicht daran rühren – an den Genitalien nämlich.“ [77] Über diese Kritik hinaus versucht Reich aber, die historischen Bedingungen zu verstehen, die zum jüdischen Gebot und zum christlichen Verbot führten.

In zwei bemerkenswerten Passagen, in denen Reich sich mit Moses und dem Apostel Paulus auseinandersetzt, erörtert er die Notwendigkeit der Bekämpfung der von ihm so genannten „Bordell-“ [78] bzw. „Fickreligion“ [79] , welche das Wesen und das Erscheinungsbild des vor- und parabiblischen Heidentums prägte. Nach Reich waren die monotheistischen Religionen seit Moses unermüdlich danach bestrebt, die unmenschliche Charakterstruktur zu überwinden, „wie sie in den Untertanen der großen patriarchalisch beherrschten Reiche des asiatischen und mediterranen Raums geschaffen worden war.“ [80] Moses eigener zivilisatorischer Auftrag konnte aber nur dadurch erfüllt werden, dass er die von ihm vorgefundene, entfremdete Charakterstruktur durch eine Ethik aufzuheben versuchte, welche auf „die brutalen Wesenszüge, die sie mit aller gebotenen Strenge und Härte in Zaum zu halten hatte“ [81] , zurückgriff.

Im Hinblick darauf hält Reich „die Vorschrift der Beschneidung“ für geschichtlich berechtigt, obwohl Christus nach seinem Verständnis vor diesem rituellen Eingriff zurückschreckte, da er das Leben Gottes als das „Leben der Natur einschließlich unbeschnittener Genitalien“ [82] verstand. Auf eine vergleichbare historische Legitimationsstrategie rekurriert Reich, wenn er meint: „Paulus ist kein Vorwurf daraus zu machen, dass er das grausamste System sexueller Aushungerung einführte, das die Menschheit je ertragen hat. Er war gezwungen, dies zu tun, wollte er die christliche Kirche aufbauen.

Er musste das pornographische, obszöne, kranke Bewusstsein der Menschen in bezug auf die Sexualität energisch eindämmen, selbst um den Preis, dass er den wahren Christus damit tötete.“ [83] In Anbetracht seiner emanzipatorischen Geschichtsauffassung mutet seltsam an, wenn Reich diese Art von Argumentation nicht nur in Verbindung mit der biblischen Vergangenheit, sondern auch im Hinblick auf das zwanzigste Jahrhundert verwendet. So heißt es in einer entscheidenden Passage gegen Ende von „Christusmord“: „Die Unterdrückung der Genitalität bei Kleinkindern und Heranwachsenden war notwendig; ihre Abschaffung wäre fatal gewesen […] In der Gesellschaft im Jahre 1930 hätte ein ungepanzertes Kind nirgendwo auf unserem Planeten überleben können.“ [84]

Trotz des sexualrevolutionären Impetus seines Gesamtentwurfes kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Reich an der Stelle gegenüber den sogenannten historischen Notwendigkeiten kapituliert und somit die Glaubwürdigkeit seiner Bemühungen um die Befreiung des „lebendigen Lebens“ gefährdet. Reichs unzulängliche Bewältigung des Grundproblems vom „Christusmord“ kommt wohl nirgends so deutlich zum Ausdruck, wie wenn er schreibt: „WÜRDE DER MENSCH, SO WIE ER HEUTE IST, GOTT FINDEN UND ERKENNEN, WÜRDE DIES GROSSES UNHEIL ÜBER DIE MENSCHHEIT BRINGEN.“ [85]

10. Entsprechend seinem prinzipiellen Anspruch, die Dimension des Diesseitigen in der abendländischen Religion zu ergründen, präsentiert sich „Christusmord“ über weite Strecken als eine Studie über die Führer-Problematik, deren Schwerpunkt in der Analyse der psychosozialen Interaktion zwischen Christus und einer Gemeinschaft liegt, die ihn zum Führer machte, obwohl sie weder bereit noch in der Lage war, seine Lehre zu befolgen.

Entscheidend in der Argumentation des Buches ist die These, dass Christus sein Schicksal durch die Annahme der Führer-Rolle besiegelte, weil einer wie er, der den Versuchungen der Macht widerstand, die Erwartungen seiner Jünger nie hätte erfüllen können und wollen. Im Gegensatz dazu verraten die Hoffnungen der ersten Christen die Charakterstruktur des „kleinen Mannes“ [86] , d.h. des Menschen, der im Konnex der emotionalen Pest lebend, alles Erdenkliche unternimmt, um sich seine Selbstentfremdung verschleiernd zu erhalten. Dazu gehört in erster Linie der Mechanismus der Führer-Mystifizierung, aus der der Christus der Kirche hervorging und die auch beim Aufkommen von Stalins rotem und Hitlers schwarzem Faschismus am Werk war.

In Anbetracht der Sehnsucht nach totalitärer Führung, die die bisherige Weltgeschichte religiös und politisch beherrscht, wagt Reich die Prognose, dass der wahre Führer der Zukunft einer sein wird, für den Macht nichts Erstrebenwertes darstellt. Sein unterscheidendes Merkmal wird darin bestehen, dass er sich „weigert, Führer zu sein“ [87] , da er „augenblicklich die Gefahr wittern würde, die über jeden Volksführer hereinzubrechen droht, nämlich die Gefahr, bloßes Objekt der Bewunderung und Überbringer der Rettung und Hoffnung für das Volk zu werden.“ [88]

Aus Reichs Kritik an der Führerrolle im Christentum und Faschismus geht hervor, dass der neue Führer eigentlich gar kein Führer sein wird, sondern eher ein geistiger Wegbereiter [89] , der nicht vorgibt, die Menschen retten zu wollen, sondern sich darauf beschränkt, sein eigenes Leben diesen Menschen vorzuleben. [90] So präzisiert Reich: „Es geht nicht darum, die ‚Wahrheit zu verkünden‘, sondern darum, seinem Mitmenschen voraus für die Wahrheit zu leben.“ [91]

11. Reich entzieht der „patriarchalischen Struktur“ [92] , in der die Mechanismen der Führer-Mystifizierung eingebettet sind, die Existenzberechtigung, indem er der Sexualität eine Wertung zuerkennt, die unabhängig von ihrem Beitrag zur Gattungsvermehrung Bestand hat. Trotz Reichs sexualemanzipatorischer Einsicht, dass „die genitale Umarmung von der Natur und von Gott nicht nur zum Zweck der Fortpflanzung geschaffen wurde“ [93] , impliziert die konkrete Ausgestaltung seiner Theorie des genitalen Charakters eine psychosoziale Sanktionierung der heterosexuellen Teleologie, auf deren normativer Geltung ausgerechnet die Etablierung und Konsolidierung des Patriarchats fußt.

Auch wenn Reich das Werk von Magnus Hirschfeld [94] und Otto Weininger [95] kannte und darum über deren Theorien bezüglich der sexuellen Zwischenstufigkeit eines jeden Menschen Bescheid wusste, hinterfragte er nie die theoretische Legitimation der Subsumption von Individuen unter die sich gegenseitig ausschließenden Kategorien von „Mann“ und „Frau“. Von daher ist Reichs Annahme nicht gänzlich überraschend, dass die Heterosexualität die einzige sexuelle Kombinatorik sei, die zum befreienden Orgasmus führen kann. Im Kontext von Reichs Theorie der Lebensenergie kann die Homosexualität folglich nur als ein sekundärer oder abgeleiteter Trieb erscheinen, der als ein perverses Abweichen von der primären Heterosexualität aller Menschen keine vollständige sexuelle Befriedigung gewähren kann.

Die autobiographische Vorlage dieser Ansichten bietet Reich in einem Bericht über seine Kindheit, demzufolge Homosexualität für ihn „ein Mysterium [war], wie es das Bordell gewesen war, jedoch mit negativem Vorzeichen.“ [96] Diese frühe Einstellung Reichs wirkte sich später dahingehend aus, dass er – wie Ollendorff Reich schreibt – „never knowingly accepted a homosexual for treatment“ und gesagt haben soll: „Ich will mit solchen Schweinereien nichts zu tun haben.“ [97] Reichs Biographin vermutet, dass seine moralisierende Haltung gegenüber der Homosexualität „another aspect of some unresolved conflicts in Reich’s own character structure“ [98] sei.

Unabhängig von der Plausibilität dieses Erklärungsversuches ist festzustellen, dass Reich bis zu seinem Lebensende an einem Rousseauistischen Bild vom Menschen und dessen primären Trieben festhielt, das in der Heterosexualität die ursprüngliche und darum naturgemäße Sexualorientierung der Menschheit zu erkennen meinte. [99] Vor diesem Hintergrund musste Reichs Christus, der die in der genitalen Umarmung gipfelnde Liebe Gottes verkörpert, zum Verfechter einer subtilen Form dessen werden, was Adrienne Rich „compulsory heterosexuality“ [100] genannt hat.

Da Christus bei Reich im Grunde die Inkarnation des heterosexuellen Paradigmas ist, können die Abweichungen von dem Geschlechtlichkeitsideal, das er repräsentiert, nur das Werk seines mythologischen Gegenspielers sein, den die christliche Tradition den Teufel nennt. Es braucht kaum betont zu werden, dass Reichs unkritische Sanktionierung der abendländischen Ideologie der Heterosexualität eine erhebliche Einschränkung seiner sexualemanzipatorischen Programmatik mit sich brachte, insofern als sie keine eigentliche Befreiung der unterdrückten sexuellen Minderheiten bezweckt, sondern sich lediglich darauf beschränkt, für deren Tolerierung oder Heilung zu plädieren.

12. Wie schon früher gezeigt, diagnostiziert Reich einen weltgeschichtlichen Hiatus im Verhältnis zwischen Christus und Christentum. Während das geschichtliche Christentum für Reich eine Form von „organisiertem Mystizismus“ darstellt, die die Überwindung der charakterlichen Panzerungsstruktur des westlichen Menschen verhindert, hebt er die „gewaltigen biophysikalischen Konsequenzen von [Christi] irdischer Existenz und seinen Lehren“ [101] hervor.

So ist verständlich, dass er dafür eintrat, dass die Kirche „zu dem Christus des Jahres 25“ [102] zurückkehre und darüber hinaus der Ansicht war, dass „das Betragen Christi geeignet ist, der Samen einer künftigen Religion zu werden.“ [103] Anzeichen einer anfänglichen Rückbesinnung auf Christus meinte Reich darin feststellen zu können, dass die von der Kirche eigenmächtig aufgestellte „Gegenwahrheit“ dabei war, gegenüber „der vollen Wahrheit über Christus“ [104] in den Hintergrund zu treten, und dass eine „neue Reformation“ sich ankündigte, die die Kluft zwischen der spirituellen und der biologischen Existenz des Menschen zu überbrücken versprach.

Eine solche Überbrückungsfunktion erfüllte vor allem die Orgonomie selbst, welche sich nach Reich von Christentum und Hinduismus nur im Hinblick auf ihre „Konkretheit“ unterscheidet und „in keinem fundamentalen Widerspruch zum religiösen Denken steht.“ [105] Reich behauptet sogar, dass die Orgonomie auf demselben Gebiet wie diese Religionen und „wesentlich tiefer als irgendeine technologische, materialistische oder mechanistische Konzeption der Verwurzelung des Menschen in der Natur“ [106] sich entfaltet.

In Anbetracht dieser religionsgeschichtlichen Einordnung von seiner eigenen Lehre der Orgonenergie ist die von Ilse Ollendorff Reich vertretene Ansicht befremdend, dass die religiöse Inbrunst, von der viele der im Gefängnis geschriebenen Briefe Reichs zeugen, schwer nachvollziehbar war „in the man who for so many decades of his life had fought very articulately any kind of organized religion.“ [107] Es ist ausreichend bekannt, dass Reich im Gefängnis Gebete mit Titeln wie „Resurrection = Life is Eternal, Indestructible“ oder „Prayer for Self-Realization“ [108] niederschrieb und dass er kurz vor seinem Tod in einem Brief an seinen Sohn Peter feststellte, dass „a new, universal faith in Life and Love, comprising all monotheistic beliefs, races, etc., is becoming a dire necessity to counterweight and -act the ‚Enemy of Man.'“ [109]

Bei Lichte besehen widersetzen sich die Briefe, Meditationen und Gebete, die Reich im Gefängnis verfasste, weiterhin dem „organisierten Mystizismus“, aber sie widersprechen in keiner Weise der Hoffnung auf eine „künftige Religion“, von der im „Christusmord“ die Rede war. [110] Von daher können die nachweisbare Einheitlichkeit und Kontinuität seiner religiösen Ansichten und Äußerungen als Mahnung daran gelten, dass Reich – nicht anders als Baruch de Spinoza – sich letztlich in der Tradition zweier Vorboten menschlicher Kultur sah: Moses, der Lehrer Israels, und Jesus, der Messias der Völker.

[* Bis auf wenige erläuternde Änderungen stellt der nachstehende Text die deutsche Fassung eines Vortrages dar, der auf Englisch am 13. Dezember 2003 im Rahmen der 5th Conference of the International Study of Religion in Eastern and Central Europe Association (ISORECEA) zum Thema “Challenges of Religious Plurality for Eastern and Central Europe” in Lviv, Ukraine gehalten wurde.]

_________________________
Anmerkungen:
[1] Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich. A Personal Biography. With an Introduction by Paul Goodman. London: Elek Books, 1969, S. 40.

[2] Reich sagte in einem Interview: „I had drawn the social consequences of the libido theory. To Freud’s mind, this was the worst thing I did.“ Im selben Interview zitiert Reich Freud, der zu ihm gesagt haben soll: „Ihr Standpunkt hat nichts mit dem mittleren Weg der Psychoanalyse zu tun.“ [sic!]. (Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud. Wilhelm Reich discusses his work and his relationship with Sigmund Freud. Edited by Mara Higgins and Chester M. Raphael. With translations from the German by Therese Pol. London: Souvenir Press, 1972, S. 43, 52).

[3] Für die Dokumentation bezüglich Reichs Ausschluss aus der International Psychoanalytical Association cf. Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 255-261.

[4] Bezeichnenderweise schreibt Jones in seiner Freud-Biographie, dass Reich „resigned“ von der International Psychoanalytical Association (Cf. Jones, Ernest: The Life and Work of Sigmund Freud. Edited and abridged by Lionel Trilling and Steven Marcus. London: Penguin Books, 1964, S. 622), obwohl er eigentlich ausgeschlossen wurde. Reich schildert Jones’ Haltung ihm gegenüber in: Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 8, 12, 51, wenn er schreibt: „I only know that at the Lucerne Congress [Paul Federn] and Jones did all kinds of things. They told people that I was a psychotic, that I was sleeping with many women, and so on.“

[5] Im schon zitierten Interview präzisiert Reich: „I was never a communist in the usual sense. I was never a political communist. I would like to have that fully on record. Never. Oh, yes, I worked in the organization. I worked with them.“ (Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., p. 114).

[6] Cf. das Kapitel über „The Sex-political Furor: 1930-1934“ in: Sharaf, Myron: Fury on Earth. A Biography of Wilhelm Reich. London: Andre Deutsch, 1983, S. 160-174; und das Kapitel über „Politik und Antipolitik“ in: Laska, Bernd A.: Wilhelm Reich in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1981, S. 65-85.

[7] Der Ausdruck wird schon in der Überschrift des sechsten Kapitels („Der organisierte Mystizismus als internationale antisexuelle Organisation“) in Reichs Faschismus-Studie verwendet. (Cf. Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. 2. Auflage. Köln: Verlag Kiepenheuer und Witsch, 1972, S. 130-153.)

[8] Der Ausdruck „genital misery“ wird z.B. in: Reich, Wilhelm: The Murder of Christ. The Emotional Plague of Mankind. New York: The Noonday Press / Farrar, Straus and Giroux, 1971, S. 53 verwendet und wird als „genitales Elend“ übersetzt (Cf. Reich, Wilhelm: Christusmord. Die emotionale Pest des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Waltraud Götting. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 100). In einem Text aus den Archiven des Orgone Institute behauptet Reich:

„I introduced the concept of neurosis and genital misery into social thinking.“ (Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 114). Reich benutzt auch den Ausdruck „sexual misery“ (cf. z.B.: Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 92, 179, 192), der mit „sexuelle Not“ (cf. Reich, Wilhelm: Christusmord, op. cit., S. 162, 303, 322) übersetzt wird.

[9] Reich schildert den Zusammenhang zwischen seiner Forschung und den Verleumdungen über seinen geistigen Zustand folgendermaßen: „Yes. He [Sandor Rado] was the one who started that rumor in 1934. He began the rumor that I was schizophrenic. […] The rumor was that I was in a mental institution. I wasn’t. I never was, never have been. […] The rumor preceded me by a year in the United States. Everybody thought that I was psychotic. That was my punishment for the discovery of the orgasm function.“ (Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 112.)

[10] Cf. Boadella, David: Wilhelm Reich. The Evolution of his Work. London: Vision Press Limited, 1973, S. 8; und Chesser, Eustace: Salvation Through Sex. The Life and Work of Wilhelm Reich. New York: William Morrow&Company, 1973, S. 14.

[11] Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit., S. XX. Ollendorff Reich schreibt zudem: „[…] Reich told [A.S.] Neill that […] drawing-room conversations about nothing were sheer agony for him, they took him out of his sphere of thinking and he could not participate. This was always true for Reich, and was mentioned as a part of his character by many others to whom I talked. He could not and would not participate in chitchat and small talk.“ (Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit, S. 80-81.)

[12] Cf. Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 35.

[13] Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 107: „completely clean, lucid, and orgastically satisfied, unless he himself lives in a good way.“

[14] Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit, S. 44. Dementsprechend notiert Reich in einem Brief, den Reich nach seiner Verurteilung zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe schrieb: „[…] I have won the battle against evil […].“ (Zit. in: Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit, S. 142.)

[15] Cf. Edwards, Paul: Reich, Wilhelm. In: The Encyclopedia of Philosophy. Paul Edwards, Editor in Chief. New York: The Macmillan Company and The Free Press / London: Collier-Macmillan Publishers, 1967, Band 7, S. 104-105; und Chesser, Eustace: Salvation Through Sex, op. cit., S. 18.

[16] Die Behandlung dieser Periode von Reichs Schaffen wird von der akademischen Forschung in der Regel vermieden. Bezeichnenderweise schreibt Paul Edwards in seinem Enzyklopädie-Artikel über Reich: „What Reich claimed during the third period is of no philosophical interest. If any of the assertions in question were true, they would be of great scientific interest; but, in fact, most professional physicists who have heard of the orgone theory have dismissed it as nonsense. In fairness to Reich it should be added that a really unbiased investigation of his physical theories remains to be undertaken.“ (Edwards, Paul: Reich, Wilhelm. In: The Encyclopedia of Philosophy. Paul Edwards, Editor in Chief, op. cit., S. 105.)

[17] In den Fällen, in denen die deutsche Übersetzung von Reichs Buch “Christusmord” Nuancen des englischen Originals, die für diese Deutung Reichs von Relevanz sind, unzutreffend wiedergibt, wurden die betreffenden Stellen stillschweigend korrigiert bzw. neuübersetzt. Um den Vergleich mit dem Originaltext Reichs zu erleichtern, werden in den Fußnoten zunächst die bibliographischen Angaben und der Wortlaut der betreffenden Stelle in der englischen Ausgabe erwähnt. Dann folgt die Seitenangabe der deutschen Ausgabe in eckigen Klammern. Die Übersetzung, auf die diese Seitenangaben verweisen, ist folgende: Reich, Wilhelm: Christusmord. Die emotionale Pest des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Waltraud Götting. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1997. Also: Reich, Wilhelm: The Murder of Christ. The Emotional Plague of Mankind. New York: The Noonday Press / Farrar, Straus and Giroux, 1971, S. [IX]: „The problems presented in The Murder of Christ are acute problems of present-day society. However, the solutions of these problems, given in The Murder of Christ are immature, emotionally blurred, insufficient or lacking completeness.“ [11]

[18] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 6: „represents a riddle which harassed human existence at least over the whole period of written history.“ [S. 23]An einer anderen Stelle erwähnt Reich eine Periode von achttausend Jahren, in denen der Christusmord fortgesetzt wurde (Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 49).

[19] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 102. [Cf. 180-181]

[20] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 117: „when this writing will reach the people.“ [206]

[21] Hervorhebung des Verfassers. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 142: „this account of the Murder of Christ“. [246]

[22] Hervorhebung des Verfassers. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 144: „these lines“. [249]

[23] Hervorhebung des Verfassers. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 117: „this writing“. [206]

[24] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 103: „The ENDING of the murder of Christ is at hand, not as the Kingdom of God, not as a dream, but as a crucial task for generations of educators and psychiatrists and physicians and administrators.“ [182]

[25] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 223: „Culture and civilization have not been yet. They are just beginning to enter the social scene. It is the beginning of the end of the chronic Murder of Christ.“ [372]

[26] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. [IX]: „the realization of the Natural Law“. [12]

[27] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 43. [Cf. 85]

[28] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 85: „Man is the Son of God, and God is the Cosmic Energy Ocean of which Man is a tiny passing part, a ripple, coming from and going back into God, returning to the Great Father.“ [151]

[29] Für eine philosophische und religiöse Geschichte und Deutung dieses metaphysischen Grundschemas der Wirklichkeit cf.: Wolfson, Harry Austryn: The Philosophy of the Church Fathers. Faith, Trinity, Incarnation. 3rd edition, revised. Cambridge (Mass.) / London: Harvard University Press, 1976 (insbesondere Part II: „The trinity, the logos and the Platonic ideas“). Eine problemorientierte Einführung ist zu finden in: Armstrong, A.H. (Hg.): The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, 1970 (Part IV: „The Later Platonists“ von A.C. Lloyd und Part VI: The Greek Christian Platonist Tradition from the Cappadocians to Maximus and Eriugena“ von I.P. Sheldon-Williams).

[30] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 85: „returning event“. [152]

[31] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 86: „If you do not know the ocean, you are just simply lost, no matter who you are.“ [153]

[32] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 94. [Cf. 167]

[33] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 58: „Motion alone is infinite“. [107-108]

[34] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., p. 58: „the conflict of motion against frozen structures.“ [107]

[35] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 59-60. [Cf. 109-112]

[36] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 4: „the exit into the endless open space“. [20]

[37] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 99-100, 180. [Cf. 176, 304]

[38] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., p. 5: „[o]utside the trap, right close by, is living Life, all around one“. [22]

[39] Wenn Reich auf die Bibel verweist, meint er nicht die Hebräische Bibel, sondern die aus dem Alten und Neuen Testament bestehende christliche Bibel. Bezeichnenderweise entspricht keine der vier Bibel-Ausgaben, die er in der Bibliographie anführt, der jüdischen Thora.

[40] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 10: „man in the trap […] over the millennia“. [31]
p
[41] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 68: „of the structural hate from frustration within man“. [124]

[42] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 71: „he knows nothing about the plague in man and for two thousand years nobody will know about the rampant plague in man“[130]

[43] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 216: „the result of the evasion of the depth of things“. [362]

[44] Die Opposition zwischen dem lebendigen und dem gepanzerten Leben entspricht der langen Liste von Gegensätzen, die Reich unter den Überschriften „Schöpferisches Denken “ und „Das Pendant des Kleinen Mannes“ im Kapitel „Das Pendant des Kleinen Mannes “ im Anhang vom Buch „Christusmord“ anführt (cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 181-183 [Cf. 305-308]). Nicht von ungefähr nimmt Reichs Buch „Rede an den kleinen Mann“ (im Sommer 1945 geschrieben) – oft nicht ohne Ironie – viele der Themen vorweg, mit denen er sich später im „Christusmord „-Buch auseinandersetzen wird. Auch wenn Reich zu dem „kleinen Mann“ sagt: „Du gehst am Wesentlichsten treffsicher vorbei, und du bleibst mit Prägnanz am Fehler haften“, bietet das Buch am Ende eine hoffnungsvolle Aussicht: „Ich hätte diese lange Rede an dich nicht geschrieben, wenn du nicht tief wärst in deiner Tiefe, kleiner Mann. Ich kenne diese Tiefe in dir, denn ich habe sie als dein Arzt entdeckt, als du mit deinem Kummer zu mir kamst. Und diese Tiefe in dir ist deine große Zukunft!“ Die folgende Stelle charakterisiert präzise die welthistorische Perspektive von Reichs „Rede“: „Die menschliche Kultur ist noch gar nicht gewesen, kleiner Mann! Wir sind erst im allerersten keimhaften Begreifen der furchtbaren Abirrung und kranken Abartung des Menschentieres. Wie das erste Rad vor Tausenden von Jahren sich zur modernen Diesellokomotive verhält, so verhält sich diese Rede an den kleinen Mann oder eine beliebige anständige Schrift von heute zur kommenden Kultur in 1000 oder in 5000 Jahren..“ (Reich, Wilhelm: Rede an den kleinen Mann. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1984, S. 91, 112-113, 97.)

[45] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 25: „The bioenergetic core of life and its cosmic meaning is the orgasm function, i.e., the involuntary convulsion of the total living organism during the embrace of male and female at the discharge of the bioenergy into each other.“ [55]

[46] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 24: „immediateness of contact with things“.[54]

[47] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 21: „his […] feeling of simplicity, directness and closeness to nature“. [49]

[48] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 94: „to create a religion of free-for-all 4-lettering [d.h.“ fucking“ (Anmerkung des Verfassers)] out of a teaching of love which includes the natural genital embrace“. [168]

[49] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 96: “an ugly, empty, disgusting act of rubbing a cold penis against dry vagina walls”. [170]

[50] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 96: „the dirty fuck out of nowhere into nothingness“. [170]

[51] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 9: „Kingdom of the inner grace and goodness“. [29]

[52] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 146-147: „does not persist after death as a shaped form“ / „dissipates back into the cosmic ocean, the ‚Kingdom of God‘, from where it came“. [253]

[53] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 44: „the reign of God right now and here“.[86]
[54] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 20. [Cf. 47]

[55] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 24. [Cf. 54]

[56] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 20 [Cf. 47], sowie die prägnante Formulierung: „Christus erging sich nicht in mystischen Träumen.“ / „Christ did not dream mystical dreams.“ (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 114. [202])

[57] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 70: „We know nothing about [Christ’s] love life“. [128]

[58] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 101: „[t]he transformation into the mystical of everything that is real in Christ’s existence and teachings“. [178]

[59] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 117: „victim of the people’s craving for an idol“. [206-207]

[60] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 62: „disappeared entirely“.[114]. Der zeitgenössische Religionsphilosoph und christliche Theologe Don Cupitt hat vergleichbare Ansichten vertreten. Seine Auffassung nach ist „the New Testament […] the book of the eclipse of Jesus by Christianity.“ (Cupitt, Don: After All. Religion without Alienation. London: SCM Press Ltd., 1994, S. 38.)

[61] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 169: „The Christian religion is a mystified religion of the Living, directed against the very reality of what it represents and adores as an ideal.“ [285-286]

[62] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., p. 194: „mystification, deification, transposition and transfiguration“. [325]

[63] Für eine der wenigen Stellen, in denen Reich den Nazarener bei seinem Namen nennt, cf.: Reich, Wilhelm: Rede an den kleinen Mann, op. cit., S. 52.

[64] Wie schon angeführt, Christus ist für Reich „the realization of the Natural Law“, „the messenger of God on earth“ (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. [ix]. [12]), wobei Gott mit der Natur in einer Weise identifiziert wird, die an Baruch de Spinozas Auffassung der natura naturans mahnt. Es ist diesbezüglich bezeichnend, dass Spinoza im „Tractatus theologico-politicus“ Christus nicht als bloßen Propheten, sondern als „os Dei“, d.h.. als Gottes Mund bezeichnet. (Spinoza, Baruch de: Tractatus theologico-politicus, IV, 50. In: Spinoza: Opera – Werke. Lateinisch und Deutsch. 2 Bände. Herausgegeben von Konrad Blumenstock. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980, Band 1, S. 148).

[65] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 145: „scribes and Talmudists, in both the Jewish and Christian worlds“. [251]

[66] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 87: „he did not hide […] away in Talmudic books“. [155]

[67] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 154: „[t] he Talmudists seek God by killing him“. [264]

[68] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 133: „[t]he crucifixion of Christ […] is a general human affair, and not specifically Jewish“. [231]

[69] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 134: „the story of Christ derives its great power from its universal validity rather than from the particular fate of the Son of Man“. [233]

[70] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 86. [Cf. 153]

[71] In einem Brief an seinen Sohn Peter schrieb Reich, dass er „proud to be in the good honorable company of Socrates, Christ, Bruno, Galileo, Moses, Savonarola, Dostojewsky, Ghandi, Nehru, Minscenti, Nietzsche, [and] Luther“ war. (Zitiert in: Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit., S. 155.)

[72] Cf. in diesem Zusammenhang Reichs depreziative Äußerungen über „high priests of the ‚Science of Living Life'“ [„‚Hohepriester der ‚Wissenschaft vom lebendigen Leben'“] und „Talmudists of the Marxian gospel“ [„Talmudisten des marxistischen Evangeliums“] (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 189 und 215 [318 und 360]).

[73] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 192: „to touch the truth is the same as to touch the genitals“. [321]

[74] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 36. [Cf. 73]

[75] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 111. [Cf. 197]

[76] Für Einzelheiten bezüglich Reichs Auffassung der Beschneidung cf.: Reich, Wilhelm: Reich Speaks of Freud, op. cit., S. 28-29.

[77] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 39: „Do not touch it – the genital, namely“. [79]. Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 192. [Cf. 321].

[78] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 94: „brothel religion“. [168]

[79] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 95: „fucking religion“. [169]. In einem ähnlichen Sinne verwendet Reich auch die Ausdrücke „4-lettering religion“ (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 213 [357]) und „pernicious philosophy of 4-lettering“ (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 188 [316]). Für die Übersetzung von „4-lettering“ cf. Fußnote 48.

[80] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 101: „as it had been created in the subjects of the great patriarchal empires of Asia and the Mediterranean Sea“. [179]

[81] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 101: „the cruel qualities it had to keep in check with all the severity and brutality it could muster“. [179]

[82] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 101: „Life of Nature including uncut genitals and Love of love itself“. [179]

[83] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 192-193: „St. Paul is not to be blamed for having introduced the most cruel system of sexual starvation mankind has ever known. He had to if he was to build up the Christian Church. He had to build strong dams against the pornographic, filthy, sick mind of man in sexual matters, even at the price of killing the true Christ.“ [323]

[84] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 203: „The genital suppression in infants and adolescents was necessary; its omission would have been fatal […] Unarmored children could not have existed in the society of 1930 anywhere on this planet.“ [339]

[85] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 50: „disaster would engulf humanity if man as he is today, would find and know God.“ [96]

[86] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 65 und 181-183 [Cf. 120 und 304-308].

[87] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 206: „refuse to be a leader“. [344]

[88] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 206: „would immediately sense the danger that threatens to engulf every leader of people, namely becoming a mere object of admiration and provider of salvation and hope for the people.“ [344]

[89] An der Stelle ist von „guide“ die Rede (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., p. 214). Die Übersetzung „Begleiter“ [357] gibt kaum wieder, was Reich im englischen Original meint.

[90] Cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 124. [Cf. 219]

[91] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 174: „It is not a matter of ‚proclaiming truth‘ but of living truth ahead of one’s fellow man.“ [294: In der Übersetzung von Götting geht der temporale Charakter des „Vorauslebens“ verloren.]

[92] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 53: „patriarchal structure“. [100]

[93] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., p. [ix]: „the genital embrace was not created by Nature and God only for the purpose of propagation“. [12]

[94] Für Reichs Ansichten über die Sexualwissenschaft, deren prominenteste Vertreter Magnus Hirschfeld (1868-1935) war, cf. Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 97 [cf. 172-173]. Dort schreibt er u.a.: „The sexologists in the beginning of the twentieth century will deal with the perverted sex of man as if it were naturally given. […] They will deal with the homosexuals as a third kind of sex.“ Im allgemeinen ignoriert Reich die Tragweite und Relevanz von Hirschfelds „Zwischenstufenlehre“, die zur Postulierung einer potentiell unendlichen Anzahl von Sexualitäten führt. Cf. dazu: Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds. In: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Ausgewählt und herausgegeben von Manfred Herzer. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1998, S. 15-45; und Bauer, J. Edgar: „43 046 721 Sexualtypen“ Anmerkungen zu Magnus Hirschfelds Zwischenstufenlehre und der Unendlichkeit der Geschlechter. In: Capri. Herausgegeben vom Schwulen Museum. Redaktion: Manfred Herzer. Berlin: No. 33, Dezember 2002, S. 23-30. Der erste Aufsatz ist auch erschienen in: Seeck, Andreas (Hg.): Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit? Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld. Münster / Hamburg / London: Lit Vlg., 2003, S. 133-155.

[95] In seiner Autobiographie verweist Reich direkt und indirekt wiederholt auf Weininger. Cf. Reich, Wilhelm: Leidenschaft der Jugend. Eine Autobiographie 1897-1922. Herausgegeben von Mary Boyd Higgins und Chester M. Raphael. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994, S. 26, 99, 104, 108, 116, 124, 142, 156, 173, 185, 189, 195-196, 203-204, 209. In seinem Hauptwerk „Geschlecht und Charakter“ formuliert Weininger die These: „Es gibt unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib, ’sexuelle Zwischenformen‘.“ (Weininger, Otto, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calasso. München: Matthes & Seitz Verlag, 1980, S. 9.)

[96] Reich, Wilhelm: Leidenschaft der Jugend, op. cit., S. 62.

[97] Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit, S. 83. An der Stelle wird Reich auf Deutsch zitiert.

[98] Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit, S. 83.

[99] Im Hinblick auf seine Auffassung von der primären Heterosexualität und den sekundären Perversionen stellt Reich einen Rückschritt gegenüber Freuds Konzeptualisierung des Zusammenhangs zwischen dem Unbewussten und der wesentlichen Instabilität der heterosexuellen Objektwahl dar. Für eine emanzipatorische Radikalisierung von Freuds Sicht der Homosexualität cf.: Hocquenghem, Guy: Le désir homosexuel [1972]. Préface de René Schérer. Paris: Fayard, 2000; und Mieli, Mario: Elementi di critica omosessuale [1977]. A cura di Gianni Rossi Barilli e Paola Mieli. Milano: Feltrinelli Editore, 2002.

[100] Der Begriff wurde von Adrienne Rich in ihrem nun klassischen Essay „Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence“ (1980) geprägt, der in ihrer Textsammlung enthalten ist: Rich, Adrienne: Blood, Bread and Poetry. Selected Prose 1979-1985. London: Virago Press, 1987, S. 23-75.

[101] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 53: „the tremendous biophysical implications of [Christ’s] earthly being and his teachings“. [99]

[102] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 196: „to Christ of 25 A.D“. [328]

[103] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 92: „Christ’s ways lend themselves as the seeds of a future religion.“ [165]

[104] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 180: „the full truth about Christ“. [303]

[105] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 200: „basically not in disagreement with religious thought“. [335]

[106] Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 200: „far deeper than any technological, materialistic or mechanistic conception of Man’s roots in Nature.“ [335] Für Reich ist die Natur „functional and not mechanical“, darum lehnt er die „mechano-rationalistic view“ ab, die von der „mechano-mystical civilization“ vertreten wird (Reich, W.: The Murder of Christ, op. cit., S. 2, 3, 9. [17, 18, 28]).

[107] Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit, S. 156.

[108] Cf. Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit., S. 156.

[109] Zitiert in: Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich, op. cit., S. 155.

[110] In dem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das „Christusmord“-Buch eine alternative Version von „the prayer on the mountain“ (d.h. dem Vaterunser) nach Mattheus 6:10-13 enthält, deren Anfang lautet: „Our Love-Life who art from heaven“ und mit den Worten endet: „And lead us not into distortion of love / But deliver us from our perversions.“ (Reich, Wilhelm: The Murder of Christ, op. cit., S. 41 [81-82]) Entsprechend den von Reich getroffenen Vorkehrungen wurde keine religiöse Zeremonie anlässlich seines Begräbnisses abgehalten. Nur eine Schallplatte mit Schuberts Ave Maria, gesungen von Marian Anderson, wurde aufgelegt. Die kurze, gegen Ende der Zeremonie gehaltene Lobrede schloss mit Reichs Version des Vaterunsers (cf. Ollendorff Reich, Ilse: W. Reich, op. cit., S. 159)
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    Bukumatula 2/2004

    Alles eins!?!

    Ein Beitrag zur Überwindung von Trennendem in der Körperpsychotherapie von
    Beatrix Teichmann-Wirth und Felix Hohenau:

    Gleich vorweg: das ist kein hochwissenschaftlicher Artikel mit Fußnoten und einer korrekten Zitierweise, vielmehr handelt es sich um das “legere“ Ergebnis einer Gemeinschaftsproduktion von Felix und mir, wo wir erstmals unser Zusammensein vom genüsslichen Mittagstisch beim Othmar („St. Josef“) auf ein derartiges Produkt ausgedehnt haben. Felix inspirierte mich mit dem Modell von Polaritäten derart heftig zu theoretischen Ausführungen, in die immer mehr meine eigenen Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis einflossen, dass der Beitrag im Schreiben von einem allgemein gehaltenen immer mehr zu einem persönlichen wurde. Von Felix stammen die Struktur, das Konzept und einige kleinere Textabschnitte, von Beatrix stammt der überwiegende Teil der Ausführungen. Beschreibungen in ICH-Form sind immer von Beatrix.

    Zum Hintergrund:

    Derzeit gibt es innerhalb der AABP die Initiative, ein Institut zu gründen. Ein Ziel des Institutes soll es sein, Körperpsychotherapie in Österreich zu einer wissenschaftlich anerkannten Methode zu machen. Innerhalb der AABP gibt es dazu zwei Modelle: Im ersteren spielen die unterschiedlichen Schulen der Körperpsychotherapie eine bedeutende Rolle, im zweiteren ist das Gemeinsame das Wesentliche, und die verschiedenen Methoden spielen eine untergeordnete Rolle. Die folgenden Überlegungen unterstützen das zweite Modell.

    Wir möchten darin die mögliche Weite und das große Spektrum eines Instituts für integrative Körperpsychotherapie anhand von „Polen“ aufzeigen. Es handelt sich dabei nicht um echte Gegensätze, sondern um gegensätzliche Positionen, die sich erfahrungsgemäß – und bedauerlicherweise – immer wieder als scheinbar unüberwindbare Hindernisse für eine Zusammenarbeit unter KörperpsychotherapeutInnen manifestieren. Die Polaritäten auf die eingegangen wird, sind:

    Humanistisches Weltbild…………………Naturwissenschaftliches/Medizinisches Weltbild
    Strukturelle Sichtweise……………………Existentiell/Phänomenologische Sichtweise
    Intrapsychisch………………………………..Interpsychisch
    Selbstregulation………………………………Konfrontation
    Energetisches Konzept……………………..Analytisches Konzept
    Regression……………………………………..Hier und Jetzt
    Katharsis……………………………………….Einsicht
    Körperliche Berührung……………………..Abstinenz

    Diese, im theoretischen Diskurs oftmals als unvereinbar gehandelten Gegensätze sind natürlich, was die tatsächliche Arbeit betrifft, keine solchen. Vielmehr neigen wir zwar in unterschiedlicher Weise der einen oder anderen Position zu, manche bevorzugen beispielsweise überwiegend eine interpsychische Sichtweise in dem Sinn, dass sie das Beziehungsgeschehen in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit und Interpretationsrichtung rücken, manche wählen vornehmlich ein Setting, welches regressive Prozesse begünstigt, manche bieten oftmals Berührung und ein körperliches „Halten“ an.

    Dies alles hängt von sehr persönlichen Bevorzugungen sowie von unserer „Lerngeschichte“ ab. Darüber hinaus wandeln sich diese Positionen auch im Zuge der therapeutischen Erfahrung und werden optimalerweise an die jeweilige therapeutische Situation angepasst, welche durch die Individualität des Klienten als auch durch den Therapieprozess bestimmt sind. Deren flexible Handhabung gewährleistet, dass das therapeutische Angebot diesem Prozess maximal förderlich ist.

    Wir denken, dass die Flexibilität und Weite der Antwortmöglichkeiten mit zunehmender Berufserfahrung zunimmt – und das ist gut so.

    In diesem Sinne ist eine Festschreibung von Polen immer ein künstliches Unterfangen.- Mit unserem Beitrag wollen wir Ideologien oder dogmatisch gehandhabten Lehren entgegenwirken und Überlegungen, beziehungsweise verschiedene Sichtweisen für eine erweiterte und vertiefte Reflexion des praktischen Tuns zur Verfügung stellen.

    Humanistisch versus Naturwissenschaftlich/Medizinisch

    Wilhelm Reich war Arzt und Biologe. Aus diesem grundlegend natur-wissenschaftlich-empirischen Verständnis hat er sein therapeutisches Tun immer auch in einen Forschungszusammenhang gestellt – auch in einen über die psychoanalytische Praxis hinausreichenden Kontext von Naturgeschehen. Die Entdeckung des Orgasmusreflexes als Ausdruck biologischen Funktionierens war Basis für die Definition eines Gesundheitsbegriffs, der immer Leitlinie war – der genitale Charakter.

    Das Fundament dafür findet sich nicht im psychischen Bereich sondern auf einer tieferen Ebene – in der Wiederherstellung der orgastischen Potenz, der Hingabe an das Strömen der biopsychischen Energien, wie es sich im Orgasmusreflex in einer unwillkürlichen Bewegung des Körpers ausdrückt. In Ausbildungen bei Michel Smith, Al Baumann und auch in Skan mit Loil Neidhöfer und Petra Mathes sowie in Radix wurde dies in den Mittelpunkt gestellt. In der Biodynamik findet sich zwar als allgemeingültiger Gesundheitsbegriff die Wiederherstellung der organismischen Selbstregulation, wie sie sich in der psychopersistaltischen Regulationsfähigkeit zeigt, darüber hinaus geht es um die Zufriedenheit und das Wohlbefinden des Klienten; Gesundheit ist also individuell bestimmt.

    Auch das diagnostische Einordnen von Charakter- und Körperstruktur findet seinen Ursprung bei Wilhelm Reich und wurde sodann, insbesondere von Alexander Lowen sehr eingehend ausgeführt und gibt vor allem bioenergetischen Therapeuten die Orientierung, wie in der therapeutischen Praxis vorzugehen ist. Obwohl es natürlich keine reinen Charaktertypen gibt – vielmehr handelt es sich unseres Verständnisses nach um Prozesse – geben charakteristische Körperhaltungen, die Struktur der Muskelpanzerung sowie die Art der Energiebewegung im Körper Ansatzpunkte für ein therapeutisches Vorgehen.

    Bisweilen wurde dies vielleicht zu rigide gehandhabt, die Ganzheitlichkeit des Geschehens sowie der Beziehungsaspekt übersehen, und dann mutete der therapeutische Kontakt – wie ich in Videos mit Alexander Lowen gesehen habe – sehr distanziert und technizistisch an. Diagnostisches Wissen kann jedoch auch ein erweitertes Verständnis für diese Person eröffnen, sofern man sie nicht dazu (miss) braucht, das bisweilen auftretende Nicht-Weiterwissen damit zu kaschieren.

    Eine Gratwanderung ist von Therapeutinnen diesbezüglich im derzeit gültigen System der Krankenkassenabrechnung zu leisten. Das Diagnoseschema des ICD 9 oder 10 ist kein körperorientiertes, humanistisches, ja nicht einmal ein phänomenologisch orientiertes wie das vormals gültige DSM III.

    Auch wenn eine Zuordnung von Diagnosen aus dem medizinischen System hergeleitet ist, finden sich schon bei Reich humanistische Elemente. So beschrieb er – im Gegensatz zu Freud, welcher destruktive Impulse im Innersten des Menschen vermutete, die es zu überwinden beziehungsweise zu sublimieren gilt – in der Tiefe des menschlichen Wesens „ein Stück anständiger Natur“. Die therapeutische Arbeit ist damit von einem Vertrauen in eine positive Wachstumsrichtung getragen, welche sich bei anderen humanistischen TherapeutInnen wie Rogers, Perls und auch Gerda Boyesen explizit wiederfindet. Anstelle der Defizitorientierung steht hier die Qualität des Wachstums und dessen Förderung im therapeutischen Prozess im Vordergrund.

    Strukturell versus Phänomenologisch/Existentiell

    Diese Polaritäten schließen unmittelbar an die oben genannten an. In einem strukturellen Vorgehen orientiere ich mich vornehmlich an einer Diagnose und plane dann das weitere Vorgehen.

    Es ist evident, dass dies nur schwer möglich ist, denn Leben lässt sich nicht vorstrukturieren, und in diesem Sinne kann eine zu Beginn gestellte Diagnose, eine Zielrichtung, immer nur eine Arbeitshypothese sein, die ich bei neuen Informationen auch zu verwerfen wage. Eine derartige, im Erstgespräch vom Therapeuten formulierte Zielorientierung kann jedoch auch eine strukturelle Hilfe für den Klienten sein, in dem Sinne, dass er das Engagement und die Kompetenz des Therapeuten erkennen kann, was vertrauensbildend und hoffnungsweckend ist.

    Aus einer existentiellen Position heraus ist es jedoch nicht zulässig, eine Person zu klassifizieren und in ein Schema zu pressen. Hier gilt es, dem Menschen in seiner Einzigartigkeit zu begegnen. Und nur auf einer Seins-Ebene kann ich wirklich jemanden zutiefst verstehen und begegnen, und nur in einer wahrhaftigen Begegnung finden kostbare Momente von Heilung statt. Diese sind jedoch nicht planbar, ebenso wie wir Erleuchtung nicht planen können, indem wir uns in der Meditation anstrengen. Vielmehr gilt es, ein Gefäß zu schaffen, das genügend Sicherheit gibt, dass sich etwas Heilsames ereignen kann. Das ist immer auch ein Geschenk und nicht „gemacht“.

    Strukturelle Sicherheit im Sinne von Interpretationsrichtlinien und theoretischen Reflexionsaspekten ist vor allem für Therapeutinnen wichtig, welche am Beginn ihres Berufslebens stehen. Mit größerem Erfahrungshintergrund und „Lebens-Wissen“ steht dieses Wissen zwar zur Verfügung, ein krampfhaftes Festhalten daran ist jedoch nicht mehr nötig.

    Letztlich muss Psychotherapie ja als Berufsausbildung auch lehr- und lernbar sein, und so werden im Zuge der Ausbildung Theorien vorgestellt, welche sodann Leitlinien für das praktische Tun sind.
    So pendelt professionelles Tun immer zwischen der Eröffnung von Begegnungsräumen und einem Sich- Ereignen und dem theoretischen Reflektieren des Geschehenen sowie dessen Einordnung in theoretische Konzepte.

    Intrapsychisch versus Interpsychisch

    Intrapsychisch richtet sich die Aufmerksamkeit auf die psychodynamischen Vorgänge in einer Person, während eine interpsychische Betrachtungsweise diese als Ausdruck und im Kontext von Beziehungsgeschehen versteht.
    Aber auch eine intrapsychische Betrachtungsweise ist aus dem Beziehungsrahmen von Therapeutin und Klientin heraus geboren, geht es doch darum, wie ich als Therapeutin diese Situation wahrnehme.

    ICH nehme wahr, ICH bin aufmerksam, ICH bin empathisch, ICH fühle, ICH begegne, ICH verstehe mein Gegenüber, oder ICH verstehe mein Gegenüber nicht. Eine therapeutische Situation ist immer interpsychisch und es ist sinnvoll, sich dessen gewahr zu sein.

    Wilhelm Reich hat in seinem Forschungsansatz des orgonomischen Funktionalismus darauf hingewiesen, dass ein enger Zusammenhang von Objekt (der Wahrnehmung des Forschungsgegenstandes) und dem Subjekt (des Betrachters) besteht. Die Offenheit des Organismus des Forschers/Therapeuten ist es, die für ein wirkliches Erfassen des sich Ereignenden notwendig ist. Körpertherapeutisch gesprochen: wenn ich in meinem Körper nicht frei bin energetische Bewegungen zuzulassen, werde ich diese beim Klienten auch nicht wahrnehmen können, beziehungsweise werden darüber hinaus sich diese gar nicht ereignen dürfen, weil ich kein Resonanzboden dafür bin.

    Auch hier geht es vor allem darum, mir dieser, meiner Verfassung gegenwärtig zu sein. Andernfalls interpretiere ich ein Geschehen als Ausdruck der Panzerung des Klienten, dem ich mit verschiedenen Interventionen beizukommen suche, wo es doch vielleicht Ausdruck meines gehemmten Energieflusses ist. In diesem Sinne ist es meiner Ansicht nach auch notwendig auf die „Stimmung“ meines „Instruments“ zu achten, insbesondere in einem energetischen Therapieansatz.
    In einem mehr analytisch verstandenen Ansatz ist es das Vergegenwärtigen meiner Gegenübertragung als Ausdruck meiner Resonanz auf das Beziehungsangebot des Klienten, das den interpsychischen Fokus ausmacht.

    In der Praxis ist auch hier ein Pendeln zwischen diesen Polen dem therapeutischen Prozess förderlich – mal werde ich als Therapeutin mehr als Alter Ego zur Verfügung stehen, die über die Empathie die Erfahrungswelt der Klientin zu erkunden sucht, manchmal wird sich ein Betrachten des Beziehungsgeschehens anbieten. Ob dies als Übertragung interpretiert wird oder als eine mehr dialogische Beziehung im Hier und Jetzt wird vor allem von der Ausbildung der Therapeutin abhängen.

    Energetisch versus Analytisch

    Die Vegetotherapie Wilhelm Reichs hat sich aus der Psychoanalyse herausentwickelt. Wilhelm Reich hat im Zuge seiner Arbeit über den „Widerstand“ in der Psychoanalyse entdeckt, dass dieser Widerstand zuallererst ein körperlicher ist. Außerdem erkannte er, dass es keine Neurose ohne Sexualstörung gibt. Diese lässt sich oftmals zwar nicht nach den allgemein gültigen Symptomen wie Frigidität und Erektionsunfähigkeit wahrnehmen – aber bei genauer Erkundung zeigte sich, dass jeder Neurotiker in seiner Hingabefähigkeit während des Orgasmus eingeschränkt ist.

    Das „Nein zur Welt“ von dem Reich sprach, fängt bereits in der Schwangerschaft und bei der Geburt an, indem die Energie als Reaktion auf Traumatisierung sich in den Kern des Menschen zurückzieht und dort einfriert. Je nach Entwicklungsphase lassen sich charakteristische Panzerschichten in den 7 Segmenten auffinden. Reich sprach davon, dass sich in diesen körperlichen Blockaden der Konflikt körperlich darstellt. Entsprechend findet sich eine charakteristische Einschränkung in psychischer Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit. Beide – psychische und körperliche Symptomatik – sind Ausdruck des energetischen Funktionierens einer Person, oder wie Reich es sagt, der „Funktion des Orgasmus“.

    Hier war der Beginn der Trennung von Freud, welcher sich von einem aktualneurotischen Verständnis von Neurosen weg immer mehr den psychischen Inhalten von Neurosen widmete.

    Reich arbeitete zunächst auf beiden Ebenen, der charakteranalytischen wie auch der vegetotherapeutischen, hat sich aber zunehmend dem energetischen Funktionieren einer Person zugewandt, mit dem Ziel der Wiederherstellung des freien energetischen Flusses.

    In der Entwicklung von körpertherapeutischen Schulen zeigte sich zunächst eine Betonung der Arbeit mit energetischen Prozessen; es wurden Übungen vorgegeben, die Gefühlen zum Ausdruck verhalfen. Die vom darauf Einschlagen staubenden Sitzkissen in den Bioenergetikgruppen der 80-er Jahre sind mir noch lebhaft in Erinnerung.
    Hier ging es um Entladung der aufgestauten Energie, um der „Neurose die Nahrung zu entziehen“, wie Reich es ausdrückte.

    Allerdings wiesen bereits damals Reich-Schüler wie auch Gerda Boyesen darauf hin, dass diese Menschen in einem Zustand der chronischen Entladung wie „geplatzte Reifen“ funktionieren und das sensible energetische Gleichgewicht von Pulsation oftmals dauerhaft gestört ist.

    Gerda Boyesen hat betont, dass es neben dem Initiieren der aufsteigenden Energiebewegung ebenso wichtig ist, einem absteigenden Energiefluss Raum zu gewähren. Die nach oben steigende Energie verlangt nach Ausdruck. Dieser zeigt sich in Worten, in der Stimme, im Blick und in der Gestik.

    Die Ladung, die nicht ausgedrückt wird, wird in einem gesunden Organismus durch die Psychoperistaltik „verdaut“. Gerda Boyesen versteht dies nicht nur als Metapher sondern als konkreten Vorgang der mit Hilfe des absteigenden Energieflusses geschieht.

    Auch Will Davis hat die Pulsation als eine nach außen gerichtete Bewegung des Outstroke und eine nach innen gerichtete, die des Instroke beschrieben. Eine Dominanz einer der beiden Richtungen ist interindividuell, also von Person zu Person verschieden, beziehungsweise zeigen sie sich auch situativ unterschiedlich bei ein und demselben Menschen.

    Rigides Outstroke- dominiertes, auf Ausdruck angelegtes Arbeiten lässt in diesem Sinne die Innenbewegung nicht vollziehen und damit energetische Bewegungen nicht wirklich vollenden. Vielleicht war dies ja auch ein Anlass dafür, wieder zu analytischen Theorien zurückzukehren, um über die psychische Ebene des verbalen Aufarbeitens eine Möglichkeit zur Integration von körperlicher Erfahrung zu geben.

    Auch hat sich gezeigt, dass sich in längerfristigen Therapien im analytischen Sinne eine Übertragung herausbildet. Oftmals waren die damals in Gruppen ausgebildeten Körpertherapeutinnen zwar darin unterrichtet, wie man Energie auflädt und Entladung fördert – beispielsweise durch das (bisweilen nackte) Liegen auf der Matte – mit den auftretenden starken Übertragungsprozessen, wie sie sich in den verschiedensten kindlichen Bedürfnissen aber auch in Verliebtheiten ausdrücken, waren sie jedoch überfordert.

    Ein weiteres Motiv für die Wiederbelebung von analytischem Gedankengut in körpertherapeutischen Zusammenhängen dürfte das Bemühen um ein wissenschaftliches Gebäude sein, welches den Eintritt in die Welt der „Anerkannten“- psychotherapeutischen Schulen ermöglichen sollte, etwas, was bis jetzt nicht gelang.

    Besonders zu Beginn der zweiten Hälfte der 90-er Jahre erzeugte der Disput zwischen energetisch und analytisch orientierten Körpertherapeutinnen eine unüberwindbare Kluft. Sowohl innerhalb von Instituten als auch zwischen verschiedenen Instituten und insbesondere beim EABP-Kongress 1997 im Burgenland war diese Kluft stark spürbar.
    In postmodernen Zeiten wie diesen dürfen Gegensätze mittlerweile nebeneinander bestehen, sie werden nicht als eine Bedrohung, sondern mehr als eine Bereicherung erfahren.

    Katharsis versus Einsicht

    Katharsis in der Psychotherapie geht davon aus, dass der Neurose ein Affektstau zugrunde liegt. Freud beschrieb die Katharsis als „ein Abreagieren von eingeklemmten Affekten“ und sah dazu die Freie Assoziation als ein Mittel der Wahl. Katharsis im Reich´schen Sinne erfolgt wesentlich heftiger – und Reich betonte immer wieder, dass es darum ginge, auf eine Ebene der Unwillkürlichkeit, des nicht willkürlich Gemachten zu gelangen.

    Nur dann ist der Körper „angeschlossen“ an ein energetisches Funktionsgesetz, das in allem Lebendigen wirksam ist. Kathartisches Erleben geht auch mit einer Bewusstseinstrübung einher, der Verstand kann keine Kontrolle mehr über Impulse ausüben. Wie schon zuvor erwähnt hat Freud sich zunehmend der psychischen Inhalte von Neurosen gewidmet und damit der Deutung und Interpretation dieser Inhalte ein grösseres Gewicht gegeben. Einsichtsgewinnung wurde gegenüber der Katharsis bedeutsam.

    Einsicht bedeutet für mich das Ein-Sehen von Zusammenhängen, beispielsweise von aktuellen Konflikten aus meiner biographischen Geschichte, ein Erkennen meines Gewordenseins und auch meiner Mechanismen, eine aktuelle Erfahrung nicht zuzulassen. Es wurde immer wieder betont, dass Einsichtgewinnung nur dann verändernd ist, wenn es von einem starken affektiven Erleben getragen ist. Intellektueller Wissenserwerb hingegen ist wirkungslos. In diesem Sinne fußt jede Einsicht, will sie den Charakter von Wandel in sich tragen auf einem (körperlichen) Erleben. Besonders in einem „Aha-Erlebnis“ ist die sie begleitende Erschütterung ganzheitlich, also auch körperlich spürbar. „Es ist mir etwas ganz klar geworden, ich habe etwas erkannt.“

    Diese Momente sind nicht sehr häufig, insbesondere in Therapien, die den Körper nicht einbeziehen. Vielmehr handelt es sich meiner Ansicht nach um einen Erwerb von Wissen, mit der Gefahr, dass sich ein Wissen, welches ohne affektiven Gehalt „erworben“ wurde, vor die Möglichkeit des vollen Erlebens stellt. Es ist dies wie eine Art sekundäres Leben. Man kann das ganze Leben erklären ohne es ursprünglich zu leben.

    Wie ist es aber nun mit dem Aspekt der Einsichtgewinnung in körperorientierten Ansätzen? Aus meiner eigenen körpertherapeutischen Praxis kann ich sagen, dass die Integration von Erfahrung oftmals zunächst auf der körperlichen Ebene stattzufinden hat, in dem Sinne, dass man der energetischen Bewegung Möglichkeit gibt, sich zu vollenden. Oft habe ich die Klientinnen alleine, ungestört im Raum ruhen lassen, bevor ich nochmals ins Zimmer trat, um zu sehen, ob wirklich etwas zu sagen ist, ob das Erlebte sozusagen schon zur verbalen Symbolisierung gereift ist.

    Es braucht Vertrauen in die Weisheit des Organismus und in die Gesetze des Lebendigen, um nicht verfrüht eine Verbalisierung zu intendieren und damit zur Verwendung von Begriffen einzuladen, welche nicht wirklich aus dem Organismus auftauchen. Ein energetischer Kreislauf scheint mir dann abgeschlossen, wenn ein Wort als Symbolisierung in dem Moment auftaucht, wenn es reif ist (organismische Psychotherapie). In diesem Sinne fußt wirkliche Einsicht ebenso auf energetischen Prozessen – wie sollte es anders sein – als diese auch für körperliches Erleben Grundlage sind.

    Das Gegensatzpaar der Katharsis und der Einsicht steht in einem Zusammenhang mit nonverbaler beziehungsweise verbaler Arbeit. Ich meine, dass der Anteil der nonverbalen Arbeit in den letzten Jahren geringer geworden ist. Bisweilen beziehen auch Therapeutinnen mit einer körperorientierten Ausbildung den Körper überhaupt nicht mehr explizit – im Sinne von Ausdrucks- und Atemübungen, Berührung und Massage – ein. Ich denke schon, dass eine Erklärung dafür in der größeren Subtilität von Prozessen liegt. Das meint, dass die Energiearbeit sich auf die weniger manifesten Prozesse und mehr auf die nicht angreifbaren Prozesse verlagert hat.

    Das ist ein kollektiver Entwicklungsschritt. Ein zweiter Grund mag darin liegen, dass sich Körpertherapeutinnen von der tatsächlichen Berührung vielleicht aufgrund von Missbrauchsverdächtigungen zurückgezogen haben. Vielleicht ist es aber auch belastend über lange Zeit in einem derart intimen, nahen Kontakt zu sein.

    An mir selbst konnte ich wahrnehmen, dass körperorientiertes Arbeiten meine Bereitschaft braucht, sich auf diese Welt einzulassen, nicht außen vor zu bleiben, sondern wirklich in einen gemeinsamen, nicht überschaubaren Bereich einzutreten, für Überraschung offen zu sein, mich zu zeigen in meiner Blöße des Nicht-weiter-Wissens. Da ist es oftmals bequemer auf meinem Sessel sitzend unangetastet und hinter Worten verborgen zu bleiben.

    Und dann bestimmt natürlich auch die Prozessphase in der wir, die Klientin und ich, stehen, ob es vor allem das Wort ist, welches Ausdrucksmittel ist oder nonverbale Prozesse. Ein sofortiges Eintreten in eine nonverbale Welt ist anfangs oftmals eine Überforderung, ist es doch gesellschaftlich üblich, sich einander über Worte auszutauschen. Andererseits bietet das Wort auch das größte Abwehr-Potential, das weiß ich aus eigener Erfahrung.

    Ehe eine Erfahrung wirklich schon vollständig gemacht wurde, wird sie über Begriffe in bereits Gewusstes eingeordnet und verliert damit das Potential, hartgewordene Strukturen aufzuweichen. In Gendlins Focusingtherapie geht es in diesem Sinne auch darum, sich immer wieder auf den Bereich des Impliziten, noch nicht Festgewordenen zu beziehen, bevor Explizites die lebendige Erfahrung sozusagen abschließt.

    Es geht also darum, wachsam zu sein, wenn Worte hohl werden und der Erlebensprozess stagniert. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich gleich eine Übung aus dem Hut zaubern muss, „um den Klienten endlich zu seinen Gefühlen zu bringen“. Es bedeutet zunächst nur, dass ich es wahrnehme. Aus dieser Wahrnehmung heraus kann ich etwa mein Erleben mitteilen oder versuchen über Nach-Fragen die Vorgänge besser zu verstehen oder aber auch anbieten, die Ebene zu wechseln.

    Die Offenheit für das, was sich in mir während der Sitzung vollzieht, gibt Sicherheit, dass eine Übung nicht auf meiner Ungeduld, meinem Ärger oder meiner Langeweile basiert, sondern eine wirkliche Antwort darstellt.

    Regression versus Hier und Jetzt

    Im Lexikon der Psychotherapie wird Regression im analytischen Sinne als das „Phänomen des Rückgriffs auf frühere, meist kindliche Verhaltensweisen“ bezeichnet. Dies kann topisch im Sinne einer Annäherung an das Unbewusste, zeitlich als Rückgreifen auf ältere psychische Bindungen und formal als Aktivierung von früheren Ausdrucks- und Darstellungsweisen betrachtet werden.

    Die Wahl bestimmter Settings wie Liegen anstelle von Sitzen, tiefes Atmen, Freie Assoziation, Einladung zu körperlichen Ausdrucksübungen, etc. begünstigen regressive Tendenzen.

    Regression ist eigentlich dem Hier und Jetzt nicht polar gegenüber zu stellen, denn die Regression ereignet sich ja im Hier und Jetzt, die Erfahrungen werden jetzt gemacht und sind daher keine tatsächliche Rückkehr. Auch in der Beziehungserfahrung, welche Hier und Jetzt gemacht wird, werden Erfahrungen aus früheren Lebensabschnitten mit wichtigen Menschen aktiviert.

    Wilhelm Reich hat betont, dass über den körperlichen Zugang die Geschichte immer schon hier und jetzt lebendig zur Darstellung gelangt. Er schreibt dazu: „Die gesamte Erlebniswelt der Vergangenheit lebte in der Form der charakterlichen Haltungen in der Gegenwart.

    Das Wesen eines Menschen ist die funktionelle Summe aller vergangenen Erlebnisse.“ Die Struktur des Körperpanzers ist die Abbildung des vom Klienten Erlittenen. „Es zeigte sich, dass durch ihre Auflockerung sich der alte Konflikt mehr oder minder leicht wiederbeleben ließ.“ Ich entsinne mich einer therapeutischen Situation, in welcher durch eine leichte Berührung der Wange des Klienten das ganze bis dahin verdrängte Erleben von Geschlagenwerden aktiviert wurde.

    In diesem Sinne ist die Arbeit mit dem Körper, welche immer im Hier und Jetzt – wo sonst – stattfindet, jene, welche am stärksten „in die Gegenwart bringt“ und damit, so paradox das klingen mag, auch der direkte Weg in das Aufleben von Vergangenheit. Alles aus der Vergangenheit Herrührende, was notwendig für Veränderung ist, wird erlebbar und damit im wahrsten Sinne des Wortes aktualisiert.

    Das explizite Aufsuchen der Vergangenheit über ein Erfragen von Geschichten fördert meiner Erfahrung gemäß oftmals eine Verfestigung von „Mythen“ über das eigene Gewordensein. Diese dienen mehr einer Stabilisierung von (Charakter-)Struktur als deren Lösung. Auch unterstützen sie die Bildung von „Alibis“, um, wie ein personzentrierter Psychotherapeut, Hans Swildens, sagt, die Gegenwart und Zukunft nicht antreten zu müssen.

    Ob eine Erzählung über die eigene Vergangenheit das Strukturierte verfestigt oder ob es eine Tür in eine Öffnung ist, kann ich aufgrund meiner eigenen Resonanz – der vegetativen Identifikation – nachvollziehen. Ist es in einem Fall ein Erleben von Unberührtheit und bisweilen Langeweile, so ist es im zweiteren ein Gefühl von Aufgeregt- und Bewegtsein.

    Selbstregulation versus Konfrontation

    Man könnte diese beiden Qualitäten als grundsätzlich verschiedene Bewegungsrichtungen betrachten: Im Falle der Selbstregulation ist es eine Einladung, dass sich etwas aus dem Organismus hinausbewegen kann – Emotion -, während es sich im Falle der Konfrontation um eine Intervention von außen – konfrontierend – an bestimmten Widerstandsschichten handelt.

    Man könnte auch sagen, dass bei der Selbstregulation die Kernschicht angesprochen wird, während bei der Konfrontation die erste Schicht (der sozialen Maske), beziehungsweise die zweite Schicht der sekundären Emotionen wie beispielsweise irrationaler Hass, angegangen wird. Im ersteren handelt es sich um ein Ansprechen des Ja, im zweiteren des Nein.

    Selbstregulatives Arbeiten wendet sich an das im Organismus, was heil geblieben ist, während konfrontatives Arbeiten die Panzerung angreift – Reich spricht von „Abtragung von Panzerschichten“.

    In Körpertherapieschulen ist die Handhabung dieser beiden Qualitäten sehr unterschiedlich: In der klassisch reichianischen Arbeit wird davon ausgegangen, dass die höhere energetische Ladung des Therapeuten eine beständige Einladung zur „Herausbewegung“ des Klienten ist – höhere Energieladung zieht niedrigere an.

    Durch Interventionen wie Eingriffe in den Muskelpanzer findet auf der anderen Seite eine sehr starke Konfrontation mit dem was abwehrt statt. Bioenergetische Analyse befindet sich meines Wissens nach eher auf der Seite der Konfrontation, im Sinne einer verbalen Konfrontation mit dem, was der Therapeut wahrnimmt, beziehungsweise durch die sehr eingreifenden körperlichen Übungen zu bestimmten Themen.

    Auch die Core-Energetik befindet sich, vor allem in der ersten Therapiephase, eher auf der Seite der Konfrontation in der Arbeit mit dem Nein und der sekundären Charakterschicht. Hier werden Widerstände konfrontiert.

    Biodynamische Psychotherapie hingegen bevorzugt das Schmelzen von Widerständen und betont mit der Einladung, den eigenen Impulsen und dem Fluss der Bewegung zu folgen, etwa mit Massagen, und dem grundsätzlichen Anpassen des Settings an die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Klienten eher den Selbstregulationsaspekt. Auch in Hakomi wird fast ausschließlich der Selbstregulationsaspekt fokussiert.

    Optimalerweise geht es auch hier um ein Pendeln zwischen Gewähren/Folgen und Konfrontieren, angemessen an die therapeutischen Notwendigkeiten. Und die Angemessenheit des Vorgehens misst sich daran, dass es dem therapeutischen Prozess förderlich ist und nicht Einschränkungen und Hemmnisse des Therapeuten ausdrückt, der beispielsweise gewährend ist, weil er sich vor Konflikten, Auseinandersetzungen und unbequemen Konfrontationen scheut. Ebenso kann das bevorzugte Arbeiten mit der Konfrontation ein mangelndes Vertrauen in die Selbstregulationsfähigkeit des Organismus ausdrücken – es muss immer etwas „getan“ werden aus Angst vor einem vermeintlichen Stillstand.

    Berührung versus Abstinenz

    Vorweg: Keine Psychotherapie kann ohne Berührung, verstanden in einem ganzheitlichen Sinne, wirksam sein.
    Abstinenz in psychotherapeutischem Sinne wird komplex verstanden; wir beziehen uns hier auf Abstinenz im Sinne eines Abstandnehmens von bedürfnisbefriedigenden Interventionen – und im Folgenden auf die Abstinenz von körperlicher Berührung.

    Wie schon oben erwähnt, haben viele Körperpsychotherapeutinnen von der tatsächlichen körperlichen Berührung in der Therapie sukzessive Abstand genommen. Dies dürfte auch unter dem Eindruck von Vorwürfen entstanden sein, die körperliche Berührung in Zusammenhang mit Missbrauch bringt. So wird insbesondere von analytisch orientierten Therapeuten – aber sogar auch von einigen Körperpsychotherapeuten die Meinung vertreten, dass jegliche Berührung Missbrauch sei.

    Wir meinen, dass eine stimmige körperliche Berührung ethisch korrekt ist. Wenn man dies zur Grundlage nimmt, kann ich an die Frage herantreten, ob, wann und wie ich berühre. Berühre ich, um eine Verspannung zu verringern, um die Energie zum Fließen zu bringen, um Widerstand zu geben, um etwas bewusst zu machen, oder um den Klienten im ganzen Sinne des Wortes – zu berühren.

    Berührung wird in den verschiedenen körperorientierten Ansätzen unterschiedlich gehandhabt. In der klassisch Reichschen Therapie wird sie angewandt, um Muskelverspannungen zu lösen, beziehungsweise Panzerschichten zu berühren. In der Biodynamik gibt es eine Vielfalt von Berührungen als therapeutische Intervention; dabei kommen auch sehr differenzierte und unterschiedliche Massagetechniken zur Anwendung.

    In der Bioenergetik wird Berührung meines Wissens nach sparsam eingesetzt. Und in Hakomi ist es das körperliche Übernehmen von körperlichem Widerstand, welches den Therapeuten mit der Klientin in Berührung bringt.
    Generell kann gesagt werden, dass das Wesentliche auch hier die Intention der Therapeutin ist. Ist Berührung motiviert durch eigene Bedürfnisse, ein diffuses Angezogensein durch die Klientin oder einem Wunsch, die Spannung zum Entladen zu bringen, weil sie für den Therapeuten selbst unerträglich ist, so wäre Abstinenz, ein Abstandnehmen davon, angebracht.

    Auch dann, wenn man den Aspekt der „Nachnahrung“ in den Vordergrund rückt, ohne zu beachten, wann der Klient diese wirklich braucht oder wann es ihm zumutbar ist, die körperliche Versagung nochmals – und diesmal bewusster – zu erleben.

    Tilmann Moser wählt hier ein Vorgehen, das beides – die erwachsene wie die kindliche Ebene – zu vereinen scheint. Er spricht von einer notwendigen Kultur des Fragens: Können Sie sich vorstellen, dass ich Sie so oder so berühre? Und während der Berührung: Ist diese noch stimmig? Wie fühlen Sie sich bei dieser Berührung, welche Ängste oder Konflikte werden angesprochen?

    In diesem Fall steht der Therapeut also, um es mit Termini der Transaktionsanalyse auszudrücken, als Eltern-Ich zur Verfügung, welches aber durch den Klienten aktiv genutzt wird. Das Fragen bewirkt also eine Stützung der Eltern-Ich-Instanz. Es ist eine Schulung darin wahrzunehmen, was ich brauche, was sich richtig und stimmig anfühlt.

    In meiner Praxis machte ich die Erfahrung, dass dieses genaue „auf die eigenen Grenzen Achten“ besonders bei missbrauchten Menschen notwendig ist. Diese lassen sich oftmals Berührung lange gefallen, ohne überhaupt noch präsent zu sein. Wie damals während des frühkindlichen Missbrauchs, ziehen sie sich aus dem Körper zurück und lassen mit sich „geschehen“. Wird das durch den Therapeuten nicht beachtet, so ist dann die Gefahr eines neuerlichen Missbrauchs gegeben. Auch die häufig auftretende Sexualisierung von Berührung bei Missbrauchsopfern muss angesprochen werden.

    Traumatherapeutische Ansätze, wie der von Peter Levine, enthalten sich generell körperlicher Berührung bei traumatisierten Menschen (mit Ausnahme einer Berührung der Füße), weil diese zu provokant, das Trauma hervorrufend sei. Generell ist hierbei sowohl die intrapsychische wie auch die interpsychische Position zu beachten.

    Auch hier gibt es keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, welche der beiden Positionen vorzuziehen ist. Die Häufigkeit von Berührung im psychotherapeutischen Kontakt ist von der Eigenart des Therapeuten ebenso abhängig wie von seiner Ausbildung. Stimmig ist sie dann, wenn sie hilft, dass eine innere Bewegung zur Bewusstheit gelangen darf. Und das ist nur von Augenblick zu Augenblick in der jeweiligen therapeutischen Situation zu bestimmen.

    Alles eins !?!

    Zusammenfassend möchten wir nochmals darauf hinweisen, dass die oben vorgestellten Pole jeweils Eckpunkte eines weiten Spektrums darstellen.

    Jeder Ausschluss eines dieser Pole wäre eine Beschneidung, die die Möglichkeiten des Verstehens des therapeutischen Handelns und der Theoriebildung einschränkt. Nicht sinnvoll erscheint uns, auf einzelnen Schulen zu beharren, die meistens jeweils diesen oder jenen Aspekt betonen und andere vernachlässigen. Sinnvoll erscheint uns vielmehr, alle Besonderheiten und Stärken der verschiedenen körperpsychotherapeutischen Schulen und Richtungen anzuerkennen und in einem Modell für ein körperpsychotherapeutisches Institut zu berücksichtigen und sie in ein solches zu integrieren.

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    Bukumatula 2/2004

    Die Morita-Therapie

    Hanmon Soku Gedatsu
    Christian Rieder über Morita Masatake Shôma

    Eine sinngemäße Übersetzung dieses wohl etwas ungewöhnlichen Ti-tels könnte „der Konflikt ist die Lösung“ lauten. Das Kredo geht auf den japanischen Arzt Morita Masatake Shôma (1874-1938) zurück. Als Begründer der nach ihm benannten Morita-Therapie, welche 1919 in seiner Heimat eingeführt wurde, ging er in die Geschichte der japanischen Psychiatrie ein.

    „Hanmon soku gedatsu“ ist die von ihm gewählte Bezeichnung für eine während der Behandlung ganz entscheidende Situation. Bedingt durch ärztlich überwachte, tagelange Bettruhe, gerät die von ihrer Umwelt isolierte Person zunehmend in einen krisenhaften Zustand. Unruhe und Verzweiflung erreichen ihren Höhepunkt ungefähr am vierten Behandlungstag in einer Nullpunkterfahrung und werden daraufhin von einer durch Entspannung gekennzeichneten Phase abgelöst.

    Langeweile und der Wunsch nach Beschäftigung sind die typischen Folgen. In der zweiten Periode, die sich über drei bis fünf Tage hinzieht, verbringt er oder sie die meiste Zeit zur Erholung in der Natur. Die etwa vierzehn Tage dauernde dritte Periode soll das Ausleben des sich aufgestauten Beschäftigungsdrangs ermöglichen, was gewöhnlich mit einem Gefühl der Freude erlebt wird. Anzumerken in diesem Zusammenhang ist, dass es sich hier keinesfalls um Beschäftigungstherapie handelt, da der bzw. die PatientIn mittels geregelter Arbeit in den Krankenhausbetrieb eingegliedert wird.

    In der letzten Periode geht es um die Reintegration in den Alltag; sofern alles planmäßig verläuft, ist eine Entlassung nach ungefähr zehn Tagen möglich. Um Rückfälle zu vermeiden nimmt man nach der insgesamt etwa vierzig Tage dauernden Behandlung an einer Nachbetreuungsgruppe teil; zusätzlich steht ein regelmäßiger Besuch der Vorträge des Oberarztes auf dem Programm.

    Zu den Wirkmechanismen und der Behandlungsphilosophie lässt sich in aller gebotenen Kürze folgendes sagen:
    Gefühle sah Morita als Reaktionen auf innere oder äußere Verhältnisse, die einen rein subjektiven Charakter haben und bezüglich derer es somit kein „richtig“ oder „falsch“ geben kann. Ohne sie wäre unser Leben zweifelsohne flach und steril. Da sie nicht direkt willentlich kontrolliert werden können, ergeben sich unter Umständen Schwierig-keiten im Umgang mit ihnen.

    In der Morita-Therapie macht man sich jedoch zwei Tatsachen zu Nutzen: Eine Veränderung der Außenwelt kann positiv auf den Gefühlshaushalt wirken, sowie das Ursache-Wirkungs-Prinzip im Fall der mehr oder weniger stark evokativen Wirkung von Handlungen. Grundsätzlich geht es darum, Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Der zur Selbstkonfrontation zwingende Raum jenseits der Alltagswelt in der ersten Behandlungsphase, die wohltuende Wirkung der Natur in der zweiten, sowie eine während der dritten Phase als sinnvoll erlebte Tätigkeit, die von den Symptomen ablenkt, sind herausragende Heilfaktoren in diesem Behandlungsprogramm. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass der aus westlicher Sicht zentrale Wirkfaktor „Beziehung“ hier kaum mehr als eine Nebenrolle spielt.

    PatientInnen Moritas wurden sogar ausdrücklich dazu aufgefordert, nicht über ihr Leiden zu klagen, da dadurch eine Verschlechterung der Befindlichkeit verursacht werden könne. Stattdessen galt es für ihn als besonders wünschenswert, während einer Betätigung möglichst vollständig darin aufzugehen, wodurch sich die problematische Symptomfixiertheit (Stichwort: „Erwartungsangst“) relativieren lässt. Der Gebrauch des Wortes dürfe nicht als Ersatz für das Erleben von Gefühlen oder das Setzen von Aktionen dienen. Wie für Wilhelm Reich (1897-1957), gab es auch für Morita keine radikale Trennung von Körper und Geist/Seele. Die Behandlung zielt daher stets auf beide Dimensionen ab.

    Genauso wenig differenzierte er zwischen der Behandlungsphase und dem übrigen Leben eines Menschen. Seine Therapie ist sicherlich nicht als rasches Symptombeseitigungsverfahren aufzufassen, noch wird eine für westliche Therapieverfahren typische Stärkung des Ichs angestrebt. Vielmehr geht es um die Etablierung einer bestimmten Lebenspraxis, deren Fundament in den Überzeugungen Moritas liegt.

    Es soll eine möglichst konstruktive Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt stattfinden, in der sich sowohl die progressiven Kräfte des Selbstverwirklichungsdrangs, als auch die konservativ wirkenden Impulse der Angstvermeidung die Waage halten. In der anerkennenden Rücksichtnahme bezüglich der individuellen Wesensart eines Menschen liege der Schlüssel für ein erfülltes Leben. Seiner Ansicht nach sei dies auch ohne der erfolgreichen Behandlung von Leid verursachenden Symptomen und Charakterzügen möglich. Die leider in vielen Fällen nicht aus der Welt zu schaffende Kluft zwischen Ist- und Soll-Zustand gelte es also zu akzeptieren.

    Nach dieser Beschreibung eines typischen Behandlungsablaufes, seinen Wirkmechanismen, sowie den dahinter liegenden Grundanschauungen sollen die LeserInnen noch kurz mit einigen Hintergründen und Anwendungsmöglichkeiten vertraut gemacht werden:

    Nachdem der junge Morita sein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hatte, beschäftigte er sich intensiv mit den Heilverfahren der westlichen Psychotherapie. Dies geschah – unter anderem – auf Grund einer in Japan zur damaligen Zeit weit verbreiteten, starken Form von Angsterkrankung („shinkeishitsu“). Da Moritas Behandlungsprogramm in Reaktion auf dieses Problem entwickelt wurde, wird heute in Japan, den USA und einigen anderen Ländern fast nur noch Neo-Morita-Therapie angeboten.

    Obwohl Therapieformen, die auf seinen Konzepten beruhen, sukzessiv bei einer Vielzahl von medizinischen und psychologischen Problemstellungen (z.B.: Morbus Hodgkin, Essstörungen, Schulversagen, Krebs oder Depressionen; Krankengeschichten unter: http://www.morita-therapy.org/personal.htm) er-folgreich angewendet werden konnten, wäre es übertrieben, von einem bedeutenden Einfluss auf die internationale Fachwelt zu sprechen.

    Es kam sogar zu Angriffen von Seiten westlich orientierter Ärzte, die seine Methode als religiöse Praxis missinterpretierten. Tatsächlich ist der Ansatz stark vom Zen-Geist durchdrungen und Morita blieb trotz fundierter wissenschaftlicher Ausbildung zeitlebens seinen buddhistischen Wurzeln treu. Auch haben sich Menschen, für die „nur“ eine Neuorientierung im Leben ein wichtiges Anliegen ist, bereits solch einer Behandlung unterzogen. Jedoch wird im Falle der Morita-Therapie gesundheitlichen Problemen ausschließlich mit Hilfe einer konkreten, lehrbaren und medizinisch langjährig erprobten Behandlungsstrategie begegnet.

    Da wir im Westen immer noch zu wenig den Menschen als bio-psycho-soziale Einheit betrachten, bzw. stark im dualistischen Denken verhaftet sind, erscheint mir die Auseinandersetzung mit asiatischen Theorien und Praktiken bedeutungsvoll. Die Morita-Therapie ist hier zweifelsohne ein gutes Beispiel für die Sinnhaftigkeit der interkulturellen Dialogführung zwischen westlicher und östlicher Hemisphäre.
    _______________________

    Quellenverzeichnis:
    Dumoulin, Heinrich: Zen im 20. Jahrhundert. München: Kösel. 1990.
    Katz, Lothar; Watanabe, Naoki (Hg.): Die Morita-Therapie im Ge-spräch: psychotherapeutische und transkulturelle Aspekte zwischen Ost und West. Gießen: Psychosozial-Verlag. 1999.
    Morita Therapy Center: http://www.morita-therapy.org (27.02.04).

    Literaturtipps:
    Fujita, Chihiro: Morita Therapy. Tokyo: Igaku-Shoin. 1986.
    Kora, Takehisa: How to Live Well. Albany: State University of New York Press. 1995.
    Morita, Shoma: Morita Therapy and the True Nature of Anxiety-Based Disorders (Shinkeishitsu). Albany: State University of New York Press. 1998.
    Reynolds, David: Morita Psychotherapy. Berkeley: University of California Press. 1976.
    Reynolds, David: The Quiet Therapies. Honolulu: University of Hawaii Press. 1980.
    International Bulletin of Morita Therapy.

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    Bukumatula 3/2004

    Otto Muehl Austellung

    Immer (noch) ein Ärgernis?
    und
    Impressionen einer Austellung
    Dario Lindes:

    Im Museum für angewandte Kunst (MAK) ging Ende Mai dieses Jahres die große Otto-Muehl-Ausstellung zu Ende. Folgende zwei Texte wollen wir Ihnen als Nachbetrachtung zu diesem nicht unumstrittenen Event nachreichen :

    Woge des Narzissmus: Die Muehl-Retrospektive im MAK zeigte, wie Größenwahn zur Belanglosigkeit führen kann. Ein Kommentar von Paulus Hochgatterer (erschienen im FALTER 11/04 zur Eröffnung der Ausstellung im März 2004.)

    Ein Gutes besaß diese Otto-Muehl-Ausstellung zweifellos: man hatte auch mit Leuten etwas zu reden, an denen man sonst beschleunigten Schrittes vorübergehen würde – weil man sich zum Beispiel mit der Beziehung Kants zur Religion nicht auskennt.

    Mit Alt-68ern sprach man bei dieser Gelegenheit über den Ausbruch aus der sexuellen Zwangsmoral (siehe ein Buchtitel von Wilhelm Reich) mithilfe von Gruppentherapiemarathons und experimentellem Psychodelikagebrauch, außerdem darüber, dass doch auch Wilhelm Reich ein ziemlich erbärmliches Ende genommen hat; mit Szene-Insidern darüber, was Peter Noever und Otto Muehl gemeinsam haben, mit Psychoanalytikern über dasselbe oder über die Rolle des Phallus als narzisstische d.h. im Grunde prägenitale Partialrepräsentanz des eigenen Selbst bei Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen.

    Mit Jugendlichen schließlich – und dabei ist man eindeutig am entspanntesten – sprach man zum Beispiel über die Frage, ob die ausgestellten Fäkalobjekte irgendwann einmal echt waren oder vielleicht doch aus Plastilin, Silikon oder PU-Schaum nachgeformt wurden, oder darüber, welcher Unterschied zwischen der Darstellung des eigenen Gesichtes und jener der Geschlechtsteile besteht.

    Vielleicht erfuhr man von ihnen dabei auch, dass Jugendliche ihren Sex am liebsten mit anderen Jugendlichen praktizieren, soferne man sie lässt, und nicht mit Erwachsenen; vielleicht erfährt man das aber auch nicht, denn heutige Jugendliche pflegen in ihrer Sprache über Sexualität ziemlich diskret zu sein. Als Mann über 40 neigt man dazu, nicht über die Körper von Männern über 40 zu sprechen, eher noch über Körpersäfte und Ekel im Allgemeinen.

    Im übrigen bleibt – und darin bestand wohl auch das Kalkül dieser Schau – eine beeindruckende Woge von Narzissmus, die da über einen hinwegschwappte und einen im Gefühl zurückließ, in erster Linie einem monumental missglückten Künstlerleben begegnet zu sein. Die Rede ist jetzt nicht von fehlender Schuldeinsicht oder gar Reue in Bezug auf die eingestandenen und gesetzesmäßig bestraften Handlungen sexuellen Missbrauchs an Jugendlichen und Kindern.

    Diesbezüglich ist das vielfach zitierte Muehl’sche Diktum „Ich hatte ein neues Material entdeckt: den menschlichen Körper“ wohl als pro-grammatisch anzusehen. Manchen Menschen ist es, wie man weiß, schlecht möglich, den anderen als emotional lebendig wahrzunehmen, sie sehen immer nur das Material in einem. In der Regel bilden ent-sprechende Erfahrungen von Devitalisierung und Instrumentalisierung im Lauf der eigenen Lebensgeschichte den Hintergrund für solchen Mangel.

    Die Rede soll z.B. vom Begleitkatalog zur Ausstellung sein, der sich als einerseits sorgfältig gestaltetes Druckwerk beachtlichen Ausmaßes präsentiert, das andererseits allerdings den Gesamteindruck im Detail bestätigt. Durch das Gitter seines eigenen Namenszuges blickt uns der Künstler an, sodass man Otto Muehl metaphorisch gleich einmal enthaftet, sobald man den knallgelben Umschlag des Katalogs aufschlägt. Wenige Seiten später unternimmt Direktor Peter Noever in seinem Vorwort einen Versuch der Rechtfertigung durch Raunen. Das klingt dann so: „Soll das Gesamtwerk Otto Muehls die Präsentationsplattform des Museums nicht betreten (…)? Weil sich hier ein Werk, weil sich Subjektivität präsentiert, in der sich gerade in der höchsten Individuation konkret Allgemeines artikuliert?“

    Konkret Allgemeines artikuliert dann Peter Gorsen in seinem Beitrag „Die verlorene Utopie, das festgehaltene Leben. Otto Muehl Redivivus“, indem er eine Schleife von Wilhelm Reich zu Sigmund Freud und wieder retour zieht. Immerhin landet er am Schluss im Zentrum: beim narzisstischen Größen-Selbst des Künstlers. Dieses ruft im folgenden Text „Aktionismus und Kunst“ Cezanne, Picasso, van Gogh und Duchamps als Zeugen an; das ist man ja noch geneigt zu verstehen.

    Dass Muehl aber die Schrift mit seiner Erinnerung an den Tod Hitlers beginnen lässt und sein eigenes Scheitern bei der Aufnahmeprüfung an der Akademie der bildenden Künste daran assoziiert, das hätte man nicht unbedingt gebraucht! Wie brauchbar das Konstrukt Peter Turrinis aus seinem im Jahr 1993 entstandenen Aufsatz „Wiener Aktionismus“ ist, das denselben letztlich auf den Zerfall der Donaumonarchie zurückführt (!), sei dahingestellt.

    Das Wesen des Narzissmus besteht darin, dass er keine Konstanz kennt und niemals Erfüllung findet – wenn die Ausstellung im MAK dies illustrieren wollte, so gelang es ihr vortrefflich. Beliebigkeit scheint zunehmend das Entwicklungsprinzip in Otto Muehls Schaffen geworden zu sein, Laune neben Effekt und ökonomischem Interesse sein einziges dynamisches Grundelement.

    Der Aktionismus der 60er-Jahre, getragen von einem sozialrevolutionären Konzept und gespeist durch eine sublimationsverweigernde libidinöse Energie, blieb zumindest über einige Jahre hinweg halbwegs konsequent, samt Otto Muehl. Die Sozialutopie der aktionsanalytischen Kommune scheiterte im Grunde in dem Augenblick, in dem Muehl sie primär in eine Bühne für seine patriachalen Selbstdarstellungs- und Machtbedürfnisse, also für seine Art von feudalistischem Herrschaftszynismus verwandelte.

    Die initiale, unpervertierte Kraft dieser Idee wird in der Ausstellung leider nicht ausreichend sichtbar. Vollends tragisch wird die Angelegenheit freilich angesichts der mangelnden künstlerischen Substanz von Muehls Bildern. In einer Polyepigonalität, die trotz offensichtlicher eigener bildnerischer Unzulänglichkeit vor keinem berühmten Vorbild zurückschreckt, springt er von Cézanne zu Picasso, von van Gogh zu Mondrian, von der Pop-Art zum deutschen Expressionismus und sucht von dem Licht, das auf die Großen fällt, jeweils einen kleinen Strahl zu erheischen, gelangt aber auf diesem Weg doch nur zur einzigen Identität, die einem Größen-Selbst wirklich zusteht: zur absoluten Belanglosigkeit.

    PAULUS HOCHGATTERER ist Kinderpsychiater und Psychoanalytiker, lebt in Wien, und ist auch als Schriftsteller tätig. Zuletzt erschien sein Buch: „Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen“,
    Deuticke Verlag, 2003 (siehe auch Buchrezension in Bukumatula 2/04).

    Impressionen einer Ausstellung
    Von Dario Lindes

    Seit Anfang April habe ich einen kleinen Nebenjob: Ich stehe für ein paar Tage im Monat als Saalaufseher im MAK herum. Und in dieser Eigenschaft hatte ich von Dienst wegen die Gelegenheit, die Muehl-Ausstellung ausgiebigst zu studieren.- Schon das Setting war außer-gewöhnlich: sie wurde vom ersten bis zum letzten Tag zusätzlich von einer privaten Sicherheitsfirma bewacht – offensichtlich aus Angst vor Anschlägen extremistischer Muehl-Gegner und protestierender Ex-Kommunarden – nicht gerade alltäglich für eine einfache Kunstschau. So versah ich meinen Dienst neben baumlangen Muskelpaketen, einer immer einen Funkknopf im Ohr …, welch scharfer Kontrast zu den anderen, eher ruhigen, antiquierten, verstaubten Möbel-Sälen im Haus von Rokoko und Biedermeier bis Jugendstil.

    Die Eröffnung der Ausstellung anfangs März schlug hohe mediale Wellen. Die lokale Presse erging sich in meist negativen Rezensionen (siehe Paulus Hochgatterer, vorhergehende Seiten), nicht nur über den Anlass, den Künstler, sondern auch über die Umstände der Vernissage: „Ein Großaufgebot an zusätzlich gecharterten Sicherheitskräften tummelte sich im Eingangsbereich, ein Kordon von Securities mit mahlendem Kiefer und Bewegungsmelderblick der jeden Besucher musterte, der Ausnahmezustand war erklärt, als stünde ein neuer 11. September zu befürchten, das Haus ein Hochsicherheitstrakt; es regierte die Gewalt, nicht nur auf den Bildern – und die Angst.

    Der eher klein gewachsene Direktor Noever mit psychosomatisch hoch-gespannten Schultern und eingezogenem Genick, stolz umringt von hohen Bodyguards – das alles zu seinem Bedeutsamkeitserweis und des erhofften Skandals“ (Zitat Peter Roos, Kommentar im STAN-DARD 6./ 7. März).- Ein Operettenauftritt, wäre da nicht der Urheber und sein Fall: Otto Muehl.

    Die Eröffnung blieb mir erspart. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich noch nicht im MAK angeheuert, ich begann erst einen Monat später meinen Dienst.

    Ich erinnere mich, dass ich in jenen Tagen bei einer Konkurrenzveranstaltung war: bei einer Buchpräsentation mit Lesung des Bildenden Künstlers Otmar Bauer, dem ehemaligen Wirtschaftschef der Muehl-Kommune und ebenfalls Aktionist der ersten Stunde – sein Buch ist eine scharfe Abrechnung mit seinem ehemaligen Guru und der gesamten Friedrichshof-Bewegung (s. Buchtipp im Anhang).

    Nach dem werbewirksamen Trubel der Eröffnung blieb die Ausstellung eher schütter besucht, der Skandal wich dem Vergessen und der Alltagsroutine im Museum – auch befürchtete Protestanschläge blieben aus.

    Anfangs ließ ich mich von der allgemeinen Anti-Muehl-Hysterie in den Medien anstecken.- Doch ich muss gestehen: im Laufe der Ausstellungsdauer machte meine Sicht auf Otto Muehl eine Wandlung durch. An meinen ersten Dienst-Tagen im Muehl-Saal stand ich seiner erotischen Malerei ebenso fassungslos und kopfschüttelnd gegenüber wie wohl jeder andere Durchschnittsösterreicher auch. Ich fand sie einfach nur vulgär und zotig. Mir war seine eindringliche Bildsprache mit der drastisch zur Schau gestellten Sexualität und der Genital-Fixiertheit zu plakativ, zu unverblümt.

    In der künstlerischen Thematisierung von Sex hatte ich immer den Anspruch an eine gewisse Dezenz, Esprit, Fingerspitzengefühl, sublime Verschleierung, Umschreibung – doch genau dies ist eben Otto Muehls Sache nicht – und ich begann zu verstehen. Je öfter ich im Saal stand und mich mit den Gemälden konfrontierte, begann sich mein ursprünglicher Widerstand und meine Abneigung gegen ihn aufzuweichen – ich hatte das Gefühl zu begreifen, was der Künstler eigentlich ausdrücken will. Zum Ende der Ausstellung hatte ich mich ein großes Stück an Otto Muehl angenähert und sah ihn nun mit anderen Augen.- Gehirnwäsche? Möglich, wenn „-wäsche“ für „Reinigung von Störendem, Verschmutztem, das den Weg zum ungetrübten Blick verstellt“, steht.

    In Otto Muehls Bildern wird gevögelt, geschissen, gepisst – das ist sicher nichts für empfindliche Gemüter, die bloß auf schmucke Dekorationskunst stehen. In seinen Bildern wird auf Schritt und Tritt die Allgegenwart und die Allgewalt des Sexus deutlich, wie sie unser ganzes Leben durchzieht und bestimmt; kein Fleck bleibt von ihr unberührt: Sexualität ist überall, steckt überall dahinter, egal ob im Essen, in der Politik, in der Kunst, etc. Warum also schönreden und mit Pastellfarben ummalen? Mich faszinierte diese Botschaft – seine Bilder zogen mich mehr und mehr in ihren Bann.
    Otto Muehl ist sicher kein bequemer Mensch und wird es auch nie sein. Man mag ihm auch seine Machenschaften und Entgleisungen in seiner Ex-Kommune ankreiden, da will ich ihn auch gar nicht verteidigen.

    Aber was mich an der öffentlichen Kritik stört, ist die Unsachlichkeit, mit der man dem Künstler Muehl begegnet. Dabei wird oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis – da kann man ihm jetzt juristisch nichts mehr anhaben -, verbeissen sich die Kritiker nun immer mehr an seiner Kompetenz als Maler. Es scheint zur beliebten Taktik im allgemeinen „Muehl-Bashing“ zu gehören, ihn zum Dilettanten und Plagiateur abzustempeln und seine Bilder zur inhaltslosen Pornographie zu erklären; daran sieht man nur, wie sehr das sexuelle Tabu in den Köpfen dieser Leute immer noch wirkt.- Nach ausführlicher Betrachtung seiner Werke bin ich sehr wohl der Meinung, dass Otto Muehl KEIN schlechter Maler ist (was insbesondere in seinen zahlreichen Portraits zum Vorschein kommt), er beherrscht durchaus sein Handwerk, das muss man ihm schon las-sen. Und vor allem: seine Bilder haben Kraft!

    Auch darf man Otto Muehl nicht nur auf seine sexuellen Sujets reduzieren. Sein künstlerisches Oeuvre weist durchaus eine breite Verschiedenheit und Vielfalt auf und hat eine lange Entwicklung hinter sich, dessen Zeugnisse alle in dieser Schau zusammengetragen waren: von den ersten naturalistischen Studien im van Gogh-Stil (50er-Jah-re) über Gerümpelskulpturen aus den frühen 60er-Jahren, Zeitungsausschnitt-Collagen, dann natürlich sein federführendes Wirken im Wiener Aktionismus (auf Photos und mit Kurzfilmen dokumentiert), Politiker- und Prominentenporträts, Selbstporträts, Zeichnungen (Selbstreflexionen zu seinem eigenen künstlerischen Werdegang), abstrakte Ölgemälde, Schüttbilder/Körpermalerei, pinkige Pop-Art in Acryl, Landschaftsmalerei (in Öl) rund um den Friedrichshof, dann die Sexualdarstellungen (vornehmlich aus seiner Haftzeit in den 90ern) und zuletzt, nach 2000, die „Video-Malerei“ (= Video-Installationen) im Mondrian-Stil.

    Ich kann in seiner Vorliebe, bei Fremdstilen wie van Gogh, Gaugin, Picasso, Mondrian und der Pop-Art Anleihen zu nehmen und diese zu paraphrasieren, sie zu persiflieren, auch kein Plagiatentum erkennen – ist das nicht vielmehr ein Beweis seines handwerklichen Talents, in so viele Rollen schlüpfen zu können? Auch möchte ich seine Entdeckung des menschlichen Körpers als „neues Material“ und Projektionsfläche für seine Kunst nicht als menschenverachtende Verdinglichung des Gegenübers zum Objekt sehen. Ich halte seine Körper-Performances im Rahmen des „Wiener Aktionismus“ keineswegs für banal oder überflüssig.

    Vielmehr stand dahinter der durchaus berechtigte Wunsch, so etwas wie körperliche Sinnlichkeit in der Bildenden Kunst wieder zu entdecken, den Körper in seinem sinnlichen Ausdruck darzustellen. Man muss diese Entwicklung auch im größeren kulturellen Umfeld sehen: Otto Muehl stand in den 60er-Jahren in der Tradition der Body Art und Fluxus-Bewegung, die aus Amerika kommend ihre lokale Ausprägung eben im Wiener Aktionismus gefunden hatte. So war er weder der erste noch der einzige, der den Körper zum Betätigungsfeld seines künstlerischen Schaffens machte.

    Meiner Meinung nach wird der Stellenwert des Wiener Aktionismus für die Kunstgeschichte immer noch viel zu sehr unterschätzt. Oft wird mit der Muehl-Kritik auch gleichzeitig der gesamte Wiener Aktionismus in einem Aufwaschen (mit) desavouiert. Doch der Wiener Aktionismus hatte in dieser Zeit eine wichtige Bedeutung: er hatte im biederen Muff und in den erstarrten Strukturen der Nachkriegszeit einiges aufgebrochen und ästhetisch viel Neues bewirkt.

    Die Aktionisten waren keine Krawallmacher, die nur um des seichten Skandals Willen schockieren wollten, nein, diese Leute hatten schon ein Anliegen, das sollten wir nicht verkennen. Und wir sollten stolz sein auf diese Kulturrichtung; sie ist eine der wenigen Bewegungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Wien ihren Ausgang genommen hat und seither in der Kunstwelt untrennbar mit Österreich und Wien in Verbindung gebracht wird.

    Man kann Otto Muehl nachsagen, was man will, aber Dilettant war er auch damals sicher keiner. Vielleicht war er keine intellektuelle Leuchte, kein sensibler Reflektierer oder scharfsinniger Konzeptionist – das war eher Günter Brus; dieser war wohl der schärfere Geist unter den Wiener Aktionisten, das intellektuelle Zugpferd der Bewegung. Vielleicht war auch Hermann Nitsch der ekelerregendere, blas-phemischere, schockierendere – und heute auf dem Kunstmarkt teurere.- Otto Muehl aber war der „Sexuellste“ unter den dreien.- Er war sicher nie ein Mensch der feinen Zwischentöne, nie zimperlich in der Wahl der Mittel, sondern immer kompromisslos und hart, ein „tough guy“, der dem Betrachter auch seine sexuellen Botschaften beinhart um die Ohren knallt.

    Sein Mut jedoch, das Thema Sexualität in sei-nem Leben wie in seinem künstlerischen Werk so direkt anzusprechen, das imponiert mir schon. Ob sein Schaffen in die Kunstgeschichte eingehen wird, kann man heute noch nicht sagen, das wird die Zukunft – und vor allem der Kunstmarkt – weisen. Ob Muehl in seiner Bedeutung durch sein erotisches Genre und dem ähnlichen persönlichen Lebensschicksal (Verurteilung, Gefängnis) gar mit Egon Schiele zu vergleichen sein wird, sei dahingestellt.

    Mir scheint auch, dass bei vielen Kritikern eher eine Art versteckter Neid der Vater des Gedankens ist: Neid auf die sexuelle Freiheit, die Otto Muehl über so lange Zeit hinweg genoss, welche er sich selbst zugestand, bzw. sich eigenmächtig einfach nahm.

    Am Rande kam in der Ausstellung auch sein Wirken in der AAO – der „Aktions-Analytischen Organisation“ – und die Entwicklung seiner Kommune zur Sprache. Dabei wurde auf einer Schautafel ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er die Ideen zu seinem alternativen Lebensmodell und seinen „therapeutischen“ Praktiken („Aktionsanalyse“) in Abwandlung von Wilhelm Reich übernommen hatte.- Es muß für einen Reichianer ein Schlag ins Gesicht sein, dass das Werk Wilhelm Reichs für sein Terrorregime herhalten musste.

    In einer fatalen Mischung aus Halbbildung, Selbstüberschätzung und (vorsätzlicher?) Missinterpretation zog er Wilhelm Reichs Theorien auf das Niveau einer narzisstischen Kasperliade herunter und bastelte daraus (mit Einflüssen aus Gestalt, Psychodrama, Rebirthing, Janovs Urschreitherapie, etc.) seine eigene Methode: Das aktionistische Ausagieren von verdrängten Seeleninhalten vor einer Gruppe – eine haar-sträubend verblödelte Form der körpertheatralen Selbstdarstellung, welche unter seiner Anleitung zum Ausbruch aus kleinbürgerlich-emotionalen Zwängen führen sollte.

    Die Technik der „Selbstdarstellung“, war wohl eher ein Produkt seiner eigenen narzisstischen Schlagseite, entsprang mehr seiner eigenen unaufgearbeiteten Neigung zu Selbstdarstellung als einem real therapeutischen Anliegen.- In der MAK-Ausstellung waren dazu einige bezeichnende filmische Kostproben auf Video zu sehen: Otto Muehl und andere Kommunarden beim Herumgehoppse vor kuderndem „Fan“-Publikum – um dann nach absolvierter „Nummer“ Beifall heischend eitel in der Runde herumzustolzieren.- Mir kam das vor wie eine Schar vernachlässigter kleiner Kinder, die verzweifelt Zuwendung suchen.

    Mit Wilhelm Reich und wirklich freier Sexualität hatte das Muehl-Projekt genauso wenig zu tun wie ein Purzelbaum mit einem Baum.

    Ich will jedoch, trotz all der Auswüchse und Obskurantismen, die ursprünglich gute Absicht, die den Gründervater der Bewegung am Anfang inspiriert hatte, nicht vergessen und durchaus positiv anerkennen – nämlich ein neues Konzept des intimen Zusammenlebens zwischen den Menschen zu finden. Das Projekt „Friedrichshof“ war im Ansprechen und Bearbeiten des Themas Sexualität sicher viel kompromissloser als ähnlich geartete Folgeprojekte heute – nicht so doppelbödig und verlogen wie etwa das ZEGG („trau dich, aber nicht zu viel“).

    Otto Muehl hatte in völliger Verblendung seine Verwandlung vom charismatischen Führer zum patriarchalen Tyrann und das Abdriften seiner Kommune in einen totalitären Sex-Gulag übersehen.- Er hat den ganzen psychischen Ballast und Seelenmüll unserer Gesellschaft in die Kommune mit hineingenommen, ohne ihn vorher zu analysieren und vor den Toren abzulegen. So war Otto Muehl gleichermaßen Diagnostiker wie Symptom dessen, was er selbst anprangerte und zu beheben versuchte: Eine vom Kleinbürgertum und Kapitalismus deformierte „Psyche“, ein „Kleiner Mann“ eben.
    ___________________________

    MAK Seite: http://www.mak.at/programm/ausstellungen/otto_muehl

    Eine Initiative abtrünniger Ex-Kommunarden informiert kritisch mit Zeugenaussagen und Schicksalsberichten von Missbrauchsopfern:
    www.re-port.de

    Die aktuelle Seite des Friedrichshofs heute. Hier erhalten Sie Ein- und Überblick über den derzeitigen Stand und Verwendung des Areals als Wohngenossenschaft (z.B. hat sich STANDARD-Chefredakteur Gerfried Sperl auf dem Gelände ein Privathaus gebaut). Der Friedrichshof ist im Besitz des künstlerischen Nachlasses von Otto Muehl und der weltweit größten Sammlung des Wiener Aktionismus:
    www.friedrichshof.at

    Buchtipps zum Thema:

    Robert Fleck: „Die Muehl-Kommune – Freie Sexualität und Aktionismus“
    Toni E. Altenberg: „Mein Leben in der Muehl-Kommune“
    Eva Badura-Triska und Hubert Klocker: „Otto Muehl – Aspekte einer Totalrevolution“
    Otmar Bauer: „1968 – Autobiographische Notizen – Wiener Aktionismus, Studentenrevolte, Underground, Kommune Friedrichshof, Muehl Ottos Sekte“
    William Levy: „Unser Freund Otto Muehl – eine Studie zum Kulturschock“
    Peter Stoeckl, „Kommune und Ritual. Das Scheitern einer utopischen Gemeinschaft“.

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    Bukumatula 4/2004

    Sieben Schritte zum Aufwachen

    Ein Überblick von
    Christian Meyer:


    Gliederung:

    1. Freiheit ist wichtiger als alles andere
      1.1 Die Wünsche und Ziele: Worin besteht der Sinn meines Lebens?
      1.2 Die Realisierbarkeit der Freiheit erkennen
      1.3 Die Natur des Ich erkennen; das Wirkliche vom Unwirklichen unterscheiden
    2. Die Bereitwilligkeit, alles zu fühlen und zu erfahren
    3.  Du bist nur der Zuschauer
    4. Die Muster Deines Lebens verstehen
    5. Dem Tod begegnen und der Angst
    6. Die Vergangenheit beenden
    7. Die Identifikation mit dem Körper beenden und den Körper durchlässig werden lassen
    8. Schlussbemerkung

    Immer mehr Menschen erfahren diese grundlegende Transformation, die „Erleuchtung“ oder „Aufwachen“ genannt wird. Inzwischen verbindet sich jahrhundertealtes spirituelles Wissen mit den Erkenntnissen und Erfahrungen der Psychologie, sodass das Wissen über die Bedingungen dieser Transformation anwächst. Dennoch werden von den einzelnen Lehrern, die auch verschiedene Wege vertreten, immer nur einzelne Momente hervorgehoben. Die folgenden „sieben Schritte zum Aufwachen“ sind wahrscheinlich die komplexeste und vollständigste Darstellung des Prozesses und seiner Bedingungen, die (gegenwärtig) gefunden werden kann. Es ist die Quintessenz aller spirituellen Wege, die der Form nach verschieden, doch eigentlich nur ein einziger Weg sind.

    Es gibt ganz offensichtlich einen Prozess, der zum Aufwachen führt. Eine Bewegung dahin, so dass jeder, der sich diesem inneren Prozess zuwendet, anfängt oder schon dabei ist, Erfahrungen von Stille, von Leere zu machen, die er vorher nicht kannte.

    Viele sagen, dass es ihnen leichter fällt, wenn sie in der Anwesenheit des Lehrers und der unterstützenden Gruppe sind, diese innere Stille und die Stille des Verstandes zu erleben. Diese Erfahrungen nehmen zu. Du wirst innerlich stiller, du wendest dich mehr dem Strom des Lebens zu und weniger den Gedanken und dem Lärm im Kopf. Du bist in der Lage, mehr Gefühle überhaupt zu erfahren und zu tragen. Das ist ein Prozess und dennoch ist das Aufwachen selbst dann ein plötzlicher Moment, wo du sozusagen ins Bodenlose fällst und danach nichts mehr so ist wie vorher.

    Was dabei geschieht ist offensichtlich eine tiefgehende, tiefgreifende Veränderung der ganzen seelischen Struktur. Nicht der wirklichen Struktur, aber der ganzen Vorstellungen, der ganzen Phantasien, der ganzen Wahrnehmungsbezüge. Es gibt plötzlich kein Zentrum mehr, kein „Ich“ mehr, auf das alle Wahrnehmungen bezogen wären.

    Das hat zur Folge, dass der Verstand zu einem großen Teil der Zeit vollkommen still ist. Und wenn der Verstand still ist, wenn er ganz still ist, dann erfährst du das, was immer da ist: Frieden, Stille, Glückseligkeit, die nicht wie ein Sturzbach sind, sondern mehr wie ein Ozean, nicht wie ein Feuerwerk, obwohl das Ekstatische des Feuerwerks auch da ist, aber dann wie ein Feuerwerk, das nicht anfängt und aufhört.

    Auch nach dem Aufwachen gibt es einen Prozess. Das Aufwachen ist ein Ende und ein Anfang. Auf diesen Prozess nach dem Aufwachen kommt es an. Eigentlich ist da genau das gleiche zu tun wie vorher, nur geschieht es dann, wenn man sich dem widmet, in einer rasenden Geschwindigkeit. Wenn man sich der Vertiefung öffnet.

    Es kann auch passieren, dass jemand nach dem Aufwachen, nach zwei Wochen oder vier Wochen oder einem halben Jahr wieder eingeschlafen ist und der Mensch die Struktur von vorher wieder aktiviert hat. Dann ist für ihn das Aufwachen nur eine vorübergehende Erfahrung geblieben, über die er am Lagerfeuer berichten kann.
    Jetzt gibt es die wichtige Frage, ob man etwas tun kann, um diesen Prozess zum Aufwachen hin zu beschleunigen oder diesen Prozess zu unterstützen. Kann man etwas tun?

    Nach allem, was ich so kenne, was ich erfahren habe, weiß oder erforscht habe, gibt es einige Punkte, auf die man achten kann.

    1. Freiheit ist wichtiger als alles andere

    1.1. Die Wünsche und Ziele: Worin besteht der Sinn meines Lebens?

    Das Erste ist, sich immer wieder Rechenschaft abzulegen und zu untersuchen und zu erforschen: Was will ich? Was ist mir wirklich wichtig? Was wäre so wichtig, dass ich dafür mein Leben einsetzen würde?

    In dem Verhalten, in dem was du tust und was sich in deinem Leben abspielt, kannst du oftmals indirekt entdecken und – wenn du ehrlich und offen bist – erforschen: welche Ziele bestimmen mein Leben, den Fluss meines Lebens?

    Bewusste, unterbewusste, allgemeine, spezielle Ziele. Es gibt materielle, psychische und geistige Ziele: es gibt das neue Auto, Sicherheit und Anerkennung und als Beispiel für ein geistiges Bedürfnis, das Bedürfnis nach Zusammenhang und Erklärung.

    Es können Wünsche, Vorlieben, und das Anhaften untersucht werden. Wo und wofür verkaufst du dich?
    Es gibt zwei wichtige Fragen, die dir helfen zu entdecken, ob du dich mit einem Wunsch verkaufst oder an etwas anhaftest: „Was bin ich bereit, dafür aufzugeben? Was würde ich dafür hergeben?“ Die zweite Frage: „Was will ich damit erreichen? Wenn ich es erreicht habe, was soll es mir geben?“- Als Antwort zeigt sich der Wunsch hinter dem Wunsch, die Intention des Wunsches.

    Der Mensch leidet darunter, dass er sich über die Ziele und Wünsche seines Lebens nicht bewusst ist und dass diese Ziele sich ständig widersprechen und Konflikte erzeugen. Es ist heilsam, sich zu fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Was ist mir so wichtig, dass ich bereit wäre, dafür mein Leben einzusetzen?

    Was aber könnte wichtiger sein, als zu erkennen, wer du wirklich bist, als den Frieden zu finden und die Freiheit? Oder der Wunsch das Leid zu beenden oder die Sehnsucht nach Frieden und Liebe? Wenn dir das wichtiger ist als alles andere, bist du in der Lage, diese normalen Konditionierungen zu beenden: aufzuhören, dem Angenehmen hinterher zu rennen und den Schmerz und die Angst zurückzuweisen, erst dann bist du in der Lage diese Konditionierungen, zu beenden – nur dann. Solange du – bewusst und unterbewusst – immer damit befasst bist, das Angenehme zu wollen und dem Unangenehmen zu entkommen, bist du ständig im Kampf mit dem, was ist. Wenn du den Kampf beendest und das was ist, annimmst, breitet sich Frieden aus.

    1.2. Die Realisierbarkeit der Freiheit erkennen

    Viele Menschen sind auf der Suche. Und der Traum von der Freiheit und das innere Wissen, dass es ein Zuhause-Ankommen für den Menschen gibt, ist so alt wie die Menschheit selbst. Diese Sehnsucht ist auch der Motor für die Erforschung des Weltalls und dieser Erde; die Menschen sehnen sich nach dem Mond und meinen das eigene Herz, sie fliegen zum Mars und suchen das Zuhause im eigenen Innern, das zugleich die Unendlichkeit ist, die nicht in Lichtjahren gemessen werden kann.

    So alt dieser Traum und dieses Wissen sind, so sehr wurden sie immer wieder in weite Ferne gerückt. In Dutzenden, Hunderten von Leben auf dieser Erde müsse sich der Mensch langsam entwickeln und der Erleuchtung oder Befreiung entgegenarbeiten. Oder Befreiung im Leben wäre gar nicht möglich, sondern erst in einer jenseitigen Existenz nach dem Tode. Immer wieder gab es Weise wie den erwachten jüdischen Lehrer aus Nazareth, der meinte: „Das Himmelreich ist jetzt. Es ist in euch.“

    Und weil er die Sehnsucht der Menschen nach äußerer Freiheit und äußeren Göttern kannte, sagte er, um sich ganz klar auszudrücken: „Ihr werdet das Himmelreich nicht an äußeren Zeichen erkennen.“ Und: „Ihr werdet gleiches und größeres vollbringen als ich.“ Und „Wisst ihr denn nicht, dass ihr Götter seid?“ Es ist jetzt. Es ist in dir. Es hängt nicht von äußeren Umständen ab. Das ist die ewige Wahrheit, die immer wieder gelehrt wird und immer wieder vergessen wird.

    Aber erst wenn ein Wunsch realisierbar und erreichbar erscheint, mobilisiert er Energie, richtet er das Leben aus in die Richtung dieser Sehnsucht. Was soll ein Traum, wenn du glaubst, dass er entweder nur von einer Handvoll Buddhas, vornehmlich angesiedelt im Hochgebirge, dem Himalaja, oder – wenn überhaupt – erst in 1600 Jahren nach unzähligen Inkarnationen Möglichkeit wird? Dann wird das Glück im Naheliegenden gesucht, statt der Trauben, die, weil zu hoch, zu sauer sind …

    In den letzten 15 Jahren hat sich dieser Traum verändert. Nicht der Inhalt des Traumes, der ist unveränderlich über alle Zeiten und Kulturen. Aber er ist greifbar geworden. Heute hat in vielen Ländern, so auch in Deutschland, jeder ohne großen Aufwand die Möglichkeit, einen erwachten Menschen zu treffen oder einem erwachten spirituellen Lehrer zuzuhören. In Amerika kann es passieren, dass man beim Channel-Surfing plötzlich bei Eli oder Gangaji, zwei erleuchteten Lehrern landet. Das ist auf eine noch nie da gewesene Weise verfügbar geworden. Es gibt sicher mehrere Gründe dafür, dass heute das Aufwachen nicht nur für einige wenige weit entwickelte Menschen, sondern für jeden verfügbar ist.

    So wird diese grundlegende Transformation für den Einzelnen immer deutlicher realisierbar. Solange du denkst, dass das Aufwachen für dich in weiter Ferne liegt, setzt du dich selber zusätzlich in Trance, die Glaubenssätze wirken wie Suggestionen, die dann helfen den Tiefschlaf aufrechtzuerhalten.

    Erst wenn es für dich realisierbar erscheint, mobilisierst du die erforderlichen Energien und fängst an, den Trance-Induktionen, Glaubenssätzen und Sinnestäuschungen deines eigenen Verstandes nicht mehr zu glauben. Du beginnst der eigenen Erfahrung mehr zu vertrauen als den Gedanken.

    Die inneren Hindernisse sind oft sehr subtil. Vielleicht weißt du, dass das Aufwachen geschieht und möglich ist, auch für dich, aber im Inneren bist du nicht wirklich überzeugt. Vielleicht weißt du, dass es niemand verdienen kann, und dennoch glaubst du, dass du es weniger verdienst als andere. Da kann der Gedanke sein, es nicht wert zu sein.
    Diese tief verwurzelten Glaubenssätze stehen dem Aufwachen im Wege, weil auch das ständige Suggestionen sind, die den Schlaf und den Traum aufrechterhalten.- Die beiden letzten Torwächter am Tor der Freiheit, so heißt es, sind Angst und Zweifel.

    1.3. Die Natur des Ich erkennen, das Wirkliche vom Unwirklichen unterscheiden

    Die Vergangenheit ist nicht wirklich und die Zukunft ist nicht wirklich. Vergangenheit und Zukunft sind Phantasien des Verstandes. Es gibt nur das „Jetzt“. Natürlich hat es zu anderen Zeitpunkten Ereignisse gegeben, aber das waren immer Ereignisse im Jetzt. Außerhalb des Jetzt geschieht nichts. Phantasien, die Erinnerungen genannt werden, haben mit dem, was zu anderen Zeitpunkten ein Jetzt war, wenig gemeinsam. Vor allem: Im Jetzt geschieht Erfahrung, die „Erinnerungen“ sind Gedanken und Kommentare über Erfahrung.

    Wie viel hat der Urlaubsprospekt mit dem Urlaub zu tun? Weil der Verstand ohne Unterbrechung Gedanken aneinander reiht, kennt der Mensch normalerweise reine Erfahrung nicht. Deswegen werden Kommentare über Erfahrung und Erfahrung selbst verwechselt. Die Erfahrung des Jetzt ist nicht das, was geschieht. Das ist nur die Oberfläche. Das Geschenkspapier ist nicht das Geschenk. Die Erfahrung des „Jetzt“ hat nichts mit der sinnlichen Erfahrung zu tun. Die Sinne erfassen das, was geschieht. Die wirkliche Erfahrung ist tiefer – sie ist Unendlichkeit, Glückseligkeit, Lebendigkeit, Liebe und Stille.

    Poonjaji erzählte die Geschichte: Eine kleine Welle fragt eine ganz große, alte Welle, die ganz offensichtlich von weit her kommt: „Gibt es einen Ozean?“ Die alte Welle lächelt und antwortet: „Gesehen habe ich ihn nicht, aber ich habe davon gehört.“

    Wenn der Verstand still ist und wenn die sinnliche Wahrnehmung überschritten wird, kann die Unendlichkeit, kann Glückseligkeit, Lebendigkeit, Liebe und Stille erfahren werden. Dann ist sofort klar: Diese Erfahrung ist wirklich. Sie fängt nirgends an und hört nirgendwo auf. Sie braucht keinen Anlass, keinen Grund. Im selben Moment erscheint all das, was geschieht, wie der Regenbogen, nicht aus sich selbst lebendig und flüchtig. Das ganze Reich der Gedanken und Phantasie, in dem die Menschen sich normalerweise zu 90% aufhalten, wird sofort als vollkommen unwirklich erkannt, als ausgedacht und eingebildet. Damit fällt deine eigene Geschichte weg und damit auch deine Identität. Es gibt kein Ich außerhalb gedanklicher Konstruktion.

    Es gibt die Wahrnehmung mit den fünf Sinnen: sehen, hören, schmecken, riechen, tasten. Die Wahrnehmung ist nach außen und nach innen gerichtet.

    Dann gibt es die Gefühle und die Gedanken, die mehr oder weniger – meistens weniger – auf den Sinnen basieren.
    Es ist sehr hilfreich, wenn diese einzelnen Komponenten der inneren Wahrnehmung und des inneren Erlebens unterschieden werden.

    Die körperliche Bewusstheit des Atmens, der Empfindungen und der pulsierenden und strömenden Energie ist die Tür für die Seele, die Tür für die Wahrnehmung der Gefühle und die Erfahrung des Lebens. Die gefühlsmäßige Erfahrung ist die Tür für die Unendlichkeit.

    Die Gewohnheit besteht darin, von der gefühlsmäßigen Erfahrung zu den Gedanken, Bildern und „Erinnerungen“ zu wandern. So geht es zwischen Gefühl und Gedanken hin und her, immer mit der zusätzlichen Frage, „Was kann ich bloß tun?“ Das ist die Richtung nach oben (in den Kopf) und nach außen (des Tuns). Um die Wirklichkeit zu entdecken, muss diese Richtung umgekehrt werden: nach innen und nach unten.

    Um zu unterscheiden was wirklich und was unwirklich ist, um die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was näher an der Wirklichkeit ist, muß man die Richtung ändern: Nicht nach oben und außen, sondern nach innen und in die Tiefe.

    2. Die Bereitwilligkeit, alles zu fühlen und zu erfahren

    Ramana (1870 bis 1950), der von vielen als der größte Weise und Heilige der Neuzeit bezeichnet wird, sagte: „Zuerst musst du mit dem Leben eins werden. Dann wirst du mit Bewusstsein eins. Danach wirst du eins mit Glückseligkeit.“
    Der zweite Punkt folgt daraus, nämlich die Bereitwilligkeit, alles zu fühlen und zu erfahren, was ist. Etwas ist sehr klar: Wenn du das vollkommen tust, dann ist das Ich verschwunden. Denn das Ich besteht nur daraus: Ich will und ich will nicht.

    Ein Zweijähriger in seiner Trotzphase ist ein sehr gutes Bild für das „Ich“: „Ich will das – ich will jenes nicht.“ Und was für den Zweijährigen in Ordnung ist, ist für den Erwachsenen ganz und gar unangemessen. Bei der Bereitwilligkeit, alles vollkommen zu fühlen, so wie es ist, verbrennt dieses Ich. Es bedeutet annehmen, was ist, es bedeutet sich dem hinzugeben, was ist und es zeigt sich dann sehr schnell eine der grundlegenden Paradoxien. Nämlich: Wenn du den Schmerz annimmst, dann gibt es kein Leid. Das Leid in der Welt wird wirklich dadurch hervorgerufen, dass der Mensch dem Schmerz davonzurennen versucht. Erst dadurch entsteht der Albtraum.

    3. Du bist nur der Zuschauer

    Der nächste Punkt ist der, dass du deine eigene spirituelle Freundin bist oder dein eigener spiritueller Freund. Das heißt, du merkst plötzlich: Du bist mehr der Zuschauer des ganzen Weltentheaters, in dem die Person, die du bisher „ich“ nanntest, auch eine Rolle spielt. Mal die und mal die. Mal eine komische, mal eine tragische, mal eine mutige. Aber welche Rolle es auch immer ist: Du bist der Wahrnehmende, die Beobachterin, der Zeuge, die spirituelle Freundin.

    Diese letzten beiden Punkte sorgen für viel Verwirrung und haben auf der spirituellen Ebene zu Verunsicherung geführt. Solange du nur der Zeuge bist, besteht die Gefahr, dass du die Dinge nicht fühlst und erlebst. Und da wird so viel an Meditationstechnik, Praxis und sonst was darauf verwendet, der Außenstehende zu sein, dass es Menschen gibt, die auf diesem Weg die Natürlichkeit und den Kontakt zum wirklichen Fluss des Lebens verlieren und dann natürlich auch nicht in der Lage sind, die Unendlichkeit zu erfahren. Denn: Wenn man noch nicht einmal die Trauer über die zerbrochene Lieblingstasse erfahren kann, wie soll man dann die Unendlichkeit erfahren?

    Da wird so viel an künstlichem, angestrengtem, konzentriertem nur Beobachten erzeugt, dass der Weg zum Aufwachen dadurch regelrecht verbaut wird. Die andere Verwirrung ist die: Ich will ganz fühlen, was da ist, und das reicht mir.
    Das Geheimnis besteht darin, dass du 100% fühlst und dich der Lebendigkeit hingibst und zu 100% Beobachter, Zeuge und Wahrnehmender bist. Das ist das Geheimnis. Normalerweise ist der Mensch weder wirklich lebendig – er steht neben sich, beurteilt sich, bewertet sich, denkt sich die Dinge aus, wie sie sein sollten und ist nicht wirklich am Leben beteiligt, noch wirklich der Zuschauer des Lebens. Er ist nur eine Karikatur, nur die Imitation eines Beobachters.

    Er ist weder das eine noch das andere. Als Beobachter ist er nur beurteilend, vergleichend, sich schlecht machend oder in den Himmel lobend. Die Lösung besteht darin, sich zu 100% dem Leben hinzugeben und gleichzeitig zu 100% nur der Wahrnehmende des ganzen Theaters zu sein, der ganzen Vorstellung, der ganzen Evolution, des ganzen Kosmos.

    4. Die Muster deines Lebens verstehen

    Dabei spielt das Enneagramm eine wichtige und sehr hilfreiche Rolle. Es ist eine Lehre von 9 Charakterfixierungen, die das Ich annehmen kann. Jeder hat etwas von allen, aber eine Fixierung bestimmt als grundlegende Dynamik das Leben. Jede Fixierung hat noch drei Untertypen entsprechend der drei Grundtriebe des Menschen: Selbsterhaltung, Sexualität und Sozialisation. Eins davon steht im Vordergrund. Es ist eine sehr alte Lehre, die Gurdieff im Westen bekannt gemacht hat und die sich dann weiter-entwickelt und mit der modernen Psychologie verbunden hat. Mit dem Enneagramm kannst du wirklich deine spirituelle Freundin oder Freund sein und sehen, was für Muster sich in deinem Körper-Geist-Gefühlsorganismus manifestiert haben, die ständig versuchen sich auszudrücken.

    Muster, für die du nichts kannst. Muster, für die deine Eltern nichts können. Muster, für die niemand etwas kann. Und du bist derjenige, der diese Muster immer deutlicher sieht. Das verändert die ganze innere Haltung diesem Leben gegenüber: die Haltung dessen, der nichts zu verändern sucht, die Muster nicht verändern will, sondern stattdessen „anhält“.

    Du sollst nicht, wenn du dann deine Charakterfixierung gefunden hast, eine bessere 6 werden oder eine bessere 8. Du sollst auch nicht, wenn du eine 6er-Fixierung hast, eine 8er-Fixierung bekommen. Nichts davon. Du sollst anhalten.
    Und das geschieht durch zwei innere Schritte:

    Erstens: Du siehst mit der Charakterfixierung besonders deutlich, welchem Grundgefühl du aus dem Weg gehst und welches Grundgefühl dein Leben reguliert und bestimmt: Angst, die Angst nicht geliebt zu werden, die Angst die Kontrolle zu verlieren und darauf aufbauend Gefühle von Wut, Neid, wieder Angst, Stolz, Habgier, usw. Und indem du das bemerkst, erkennst du, was die ganze Maschine antreibt. Die wichtigste Aufgabe besteht dann darin, dich diesen zugrunde liegenden Gefühlen zuzuwenden und sie zu erkunden und sie zu erfahren und bereit zu sein, ihnen zu begegnen. Das ist der erste Punkt, wie das Enneagramm nützlich wird.

    Der zweite ist: Du siehst all diese Muster, und erst bist du sehr ernüchtert, schockiert, beleidigt, weil es so demütigend ist zu sehen, dass das, von dem du bisher dachtest, dass es deine originelle Schöpfung und dein Leben wäre und das, was du dir als Persönlichkeit mühsam erarbeitet hättest, dass du das im Buch beschrieben findest. Die meisten Menschen sind sehr überrascht, wenn sie das lesen. Später erkennst du dich bei anderen Menschen, die die gleiche Charakterfixierung haben wieder: Die machen das genauso wie ich.

    Das zu erleben und zu sehen ist sehr beschämend und ernüchternd – zuerst – und dann ist es sehr, sehr erleichternd.
    Dann merkst du: Wenn das so mechanisch abläuft, dann kann ich mich dem zuwenden, was ich wirklich bin.
    Du entdeckst das Grundgefühl und die Grundleidenschaft und kannst dich dem stellen und dem begegnen. Um dich plötzlich, zum Beispiel als 6er-Fixierung zu sehen, wie alles von Angst bestimmt ist. Oder bei der 4er-, 3er- und 2er-Fixierung, wie alles davon bestimmt wird, endlich geliebt zu werden und der Angst, der Verlorenheit und des nicht Geliebt-Werdens zu entkommen.

    Du kannst gleichzeitig klar und deutlich diese spirituelle Freundin sein. Du siehst die Muster, du siehst, was da abläuft, und indem du anhältst und bereit bist, das zu fühlen, kommen diese ganzen Muster zur Ruhe und dann zeigt sich die Essenz, die darin enthalten ist.

    5. Dem Tod begegnen und der Angst

    Als nächstes geht es darum, dem Tod zu begegnen. Es gibt den körperlichen Tod, der ist erst mal so am plastischsten da. Der Tod des Ichs ist sehr viel weniger plastisch, zunächst, wenn man ihn noch nicht erfahren hat.- Das Leben selbst ist eine Metapher. Die Metapher bedeutet auch, dass die Gewissheit des körperlichen Todes dir die Möglichkeit gibt, dich mit dem Wesentlichen zu befassen, nämlich mit dem Nichts.

    Insofern ist der körperliche Tod als solches nicht wichtig. Er ist nur eine Zukunftsphantasie. Niemand weiß, was anschließend wirklich geschehen wird. Aber wenn es ihn nicht gäbe, hättest du kein Bild, keine Metapher, keine Herausforderung, keinen Sog und kein Drängen dahin, das Wesentliche zu finden. Der Tod steht da als die einzig sichere Tatsache des Lebens und als Herausforderung sich dem zu stellen – und zwar nicht nur mental: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, danach ist nichts mehr, wovor sollte ich Angst haben?“, auch nicht so: „Ach Gott, ich wünsch mir den Tod, dann ist endlich alles vorbei“, sondern dich auf der Gefühlsebene, auf der Erfahrungsebene dem Nichts stellen, das der Tod bedeutet: Nichts zu wissen, nichts zu haben, keine Pläne mehr zu haben, keine Kontrolle zu haben.
    Krishnamurthi sagte: „Wenn wir das Leben verstehen, dann verstehen wir auch den Tod.“ Während es im Tibetischen Totenbuch heißt: „Wenn wir den Tod verstehen, dann verstehen wir zu leben.“

    Der Tod ist in jedem Augenblick erfahrbar als das innere Nichts, die innere Bodenlosigkeit. Der Tod muss nicht noch 30 Jahre auf dich warten oder du auf den Tod, um ihn zu erfahren. Du erfährst das Nichts, wenn du so sehr loslässt, dass du in dieser Bodenlosigkeit versinkst.

    Tot sein heißt in erster Linie keine Zukunft mehr zu haben.- Sterben heißt, die Zukunft aufgeben. Und wenn du die Zukunft aufgibst, dann fliegt die Vergangenheit auch weg. Das ist klar, weil Zukunft bedeutet: Ich muss noch das erledigen. Ich will noch das besser machen. Ich will noch unbedingt das und das zu Ende bringen; und all das ist ein Teil der Vergangenheit.

    Und wenn du das beendest und sagst: „Ich will nichts mehr“ – dann fliegt deine Vergangenheit weg. Dann gibt es keinen Menschen aus der Vergangenheit mehr, mit dem du noch etwas zu erledigen hättest. Dann bist du keinem mehr böse, weil du nichts mehr willst.- Wenn also die Zukunft weg fliegt, dann fliegt die Vergangenheit mit weg. Das hat nichts damit zu tun, sterben zu wollen, oder mit dem Tod des Körpers. Auch hier geht es um die Bereitwilligkeit, das als Erfahrung anzunehmen was ist: die eigene Sterblichkeit. Nicht sterben wollen, etwa um seine Ruhe zu haben, sondern bereit sein zu sterben, wann immer es auch geschehen soll, und wenn es der nächste Augenblick wäre, auch wenn du das Leben liebst.

    6. Die Vergangenheit beenden

    Du kannst zusätzlich einiges tun, was dir hilft, die Vergangenheit zu beenden. Solange du dich noch nicht mit der Vergangenheit ausgesöhnt hast, bist du darin verstrickt und gebunden. In den verschiedenen „Ich muss noch … erledigen“, „Ich muss noch wiedergutmachen“, „Ich will noch haben und bekommen“, ist das Ich gebunden.
    Die Vergangenheit anzunehmen, wie sie war, bedeutet, diese Bindung zu beenden und frei zu werden. Darin verbrennt das Ich: Ohne ein „Ich will – ich will nicht“ zerfällt diese Ich-Konstruktion.

    Es ist zugleich die Beendigung des Karmas: Das Karma ist im Kern die Summe all der Handlungen und Gedanken, die auf Wiedergutmachen oder auf Rache gerichtet sind. Dadurch werden das Unrecht und die Gewalt aufrecht erhalten und immer neue Gewalt und neues Unrecht hervorgebracht.- Viele glauben, zur Beendigung der Vergangenheit sei ein Vergeben wichtig. Wenn du allen Menschen in deinem Leben und dir selber alles vergibst, dann bist du frei von Vorwurf und Schuldgefühl und damit bist du nicht mehr an die Vergangenheit, an die „Knochen vom Friedhof“ (wie Gangaji sagt) gebunden, dann „lässt du die Toten die Toten begraben“ – wie Jesus sich ausdrückte.

    Aber wer bist du, dass du vergeben könntest? Wer könnte, wer dürfte das tun? Wer weiß wirklich, wofür er dankbar sein kann und worin Schuld begründet ist? Die wirkliche Lösung liegt jenseits vom Vorwurf und jenseits vom Vergeben. Die Lösung liegt im schlichten Akzeptieren. Denn was könnte verrückter sein, als das nicht zu akzeptieren, was schon geschehen ist?

    Das Ergebnis ist ein Gefühl von Frieden und Dankbarkeit. Das ist eines der größten Geschenke, die du dir machen kannst.

    7. Die Identifikation mit dem Körper beenden und den Körper durchlässig werden lassen

    Als letzten Punkt spielt der Körper eine wichtige Rolle. Auch der Körper ist eine Metapher.- Der Körper demonstriert dir, dass du eine Größe von 1,80 m x 50 cm hast oder 1,60 x 40 oder was auch immer, jedenfalls eine Größe hast, die du messen kannst. Als erstes entsteht das Körper-Ich und bei der Herausbildung des Ichs erfolgt diese Identifizierung mit dem Körper: „Ich bin Hannes, 7 Jahre alt, habe braune Haare und einen älteren Bruder, der gemein zu mir ist.“

    Das ist deine Identifikation und diese Identifikation ist an den Körper gebunden. Ohne Körper gäbe es keinen Namen Hannes. Ohne Körper gäbe es keine braunen Haare. Und genauso, wie man dem Tod begegnen muss, besteht die Aufgabe darin, diese Identifikation mit dem Körper loszulassen.

    Wenn deine wahre Natur Bewusstsein ist, das nie verschwindet, Liebe ist, die keine Grenze hat, Freude ist, die vollkommen grundlos ist und deswegen auch kein Ende hat, dann musst du etwas anderes sein als der Körper. Der Körper hat einen Anfang und ein Ende. Wenn du alles bist, alles, und wenn alles eins ist, musst du alles sein.
    Wenn du etwas anderes wärst als das Alles, dann wäre alles nicht eins. Dann gäbe es zwei.

    Du kannst nicht mit allem verbunden sein, denn wenn du mit allem verbunden wärst, dann hätte es vorher zwei gegeben.- Aber es könnte nicht alles sein, wenn es vorher etwas anderes gegeben hätte, mit dem du dich hättest verbinden können.- Es gibt nur eins und dieses eins bist du.

    Aber wenn du eins bist, dann kannst du nicht dieser Körper sein.

    Und so gehört zu dem Tod dieses Ichs auch der Tod all dieser Vorstellungen wie „ich bin der Körper“.
    Ramana hat 1886, als er sechzehn Jahre alt war, eine wichtige Entdeckung gemacht, die für die Welt von unschätzbarem Wert ist. Er war keinerlei spiritueller Tradition gefolgt, hatte keinerlei spirituelle Praxis, nichts, er war einfach nur ein Schuljunge, der so gut wie die anderen in der Schule war und gut Fußball spielen konnte und sonst nichts. Und dieser Junge von 16 Jahren ist aufgewacht.

    Das wäre noch nicht die Seltenheit, weil es das öfter gibt. Aber die Seltenheit ist die, dass dieser Junge den Prozess des Aufwachens so genau beobachtet hat. Er wusste nichts vom Aufwachen, aber was er merkte, war: er bekam Angst zu sterben. Und er bekam Angst zu sterben mit einer inneren Gewissheit, jetzt sterben zu müssen. Und dann hat er eine Entscheidung getroffen, die so wertvoll war, nämlich: „Wenn ich jetzt sterben muss, dann will ich genau mitbekommen, was da passiert. Dann will ich ganz genau mitbekommen, wer oder was stirbt.“ Er hat sich also auf den Boden gelegt und wahrgenommen, was jetzt passieren würde.

    Mit dieser Entscheidung, sich absolut, hundertprozentig dem hinzugeben, was geschieht und mitzukriegen, was geschieht, also nicht dagegen anzukämpfen und in dieser Situation zu wissen: „Ich sterbe jetzt“, wo man dann natürlich aufgeben kann, über irgend etwas Zukünftiges nachzudenken: in dieser Situation lässt er alles los, lässt der Körper los, lässt dieser Mensch los und gibt sich diesem Nichts hin.- Dieser Prozess hat ihn verwandelt. Das ist das Aufwachen. Dieser Prozess ist das Aufwachen. Dieser Prozess ist das Fallen in die Bodenlosigkeit, in dem alle körperlichen Prozesse losgelassen werden. Es heißt, nichts mehr in der Hand zu haben, sondern dem Körper zu sagen: „Tu, was du willst und was du tun musst.“

    Das Großartige daran ist, dass wir damit in gewisser Hinsicht zum ersten Mal einen wirklichen Bericht über das Aufwachen haben, das nicht, wie vorher immer, auf irgendwelche geheimnisvollen Rituale zurückgeführt werden konnte.

    Wenn ein Mönch zehn Jahre lang meditiert und heilige Gesänge angestimmt hat und dann aufgewacht ist, dann hat er gesagt: „Ah, das Aufwachen ist die Folge dieser heiligen Gesänge.“

    So haben sich dann in den Religionen immer diese Traditionen gebildet: Du musst so und so viele Mantras singen, du musst so und so viele Koans lösen, du musst das und das tun.- Und wenn es jemand anderen gegeben hätte, der in einer Ernährungsknappheit sechs Wochen nur Grünkohl essen musste und dann aufgewacht ist, dann hätten alle im Kloster nur noch Grünkohl essen müssen.

    Statt dessen war die Erfahrung des Aufwachens bei Ramana vollkommen klar, vollkommen auf das Wesentliche reduziert. Das hatte die Folge, dass von keinem Lehrer in der neueren Geschichte berichtet wurde, so viele aufgewachte Schüler zu haben. Weil er den Prozess so genau mitbekommen hat, war er dann in der Lage das weiterzugeben. Erst im Nachhinein hat er verschiedene Philosophien und religiöse Traditionen studiert. Ein Schüler von ihm, Poonjaji, war besonders wirkungsvoll und hat über westliche Schüler wie Gangaji und Eli Jaxon-Bear das Aufwachen in den Westen gebracht.

    Und so ist der Körper ein wichtiges Thema. Das Loslassen bedeutet auch, dass man dem Körper erlauben kann, loszulassen. Und das bedeutet in der Körperarbeit, das Nicht-Tun zu lernen.- Und Ramana hat gegenüber dem Yoga und gegenüber der Körperarbeit folgende Empfehlung gemacht: „Wenn ihr zu viel davon macht, verstärkt ihr die Identifikation mit dem Körper und dann richtet ihr mehr Schaden als Nutzen an.“

    Also: Es kommt darauf an eine Körperarbeit zu machen, die erstens die Identifikation mit dem Körper nicht verstärkt und die zweitens das Loslassen fördert – statt des Tuns.

    Das macht sich dann zum Beispiel bemerkbar beim Loslassen des Atems, so dass der Atem dem Gefühl folgen kann.
    Es gibt Grundkriterien, welche Art von Körperarbeit brauchbar ist und welche nicht. Absolut wichtig ist zu wissen, dass auf der Körperebene nicht die entscheidende Veränderung stattfindet. Die entscheidende Veränderung findet im Geist statt, in der inneren Haltung und der inneren Entscheidung. Und das wiederum bestimmt die Körperarbeit.

    Je weicher, entspannter, durchlässiger dein Körper ist, desto leichter bist du in der Lage, alle Gefühle zu spüren und gleichzeitig wahrzunehmen; und so ist das Arbeiten daran, dass der Körper durchlässig und geschmeidig, anmutig, lebendig und energievoll wird, ein wichtiger Punkt -, aber nicht der wichtigste. Für viele Menschen, gerade in der westlichen Welt, beginnt die Reise damit, dass sie die Lebendigkeit des Körpers wieder wahrnehmen und den Körper wieder spüren und auch wieder zu bewegen lernen.- Wie schon oben zitiert wurde: „Zuerst musst du mit dem Leben eins werden. Dann wirst du mit Bewusstsein eins. Danach wirst du eins mit Glückseligkeit.“

    8. Schlussbemerkung

    Diese sieben Punkte stellen die Zusammenfassung meiner Arbeit dar. Sie geben zugleich eine Antwort auf eine immer wiederkehrende Frage: Wenn es kein Ich gibt, dann kann für das Aufwachen doch auch nichts getan werden.- Die Antwort ist die: Tatsächlich ist das, was du tun kannst, jenseits von Tun, weil es nur ein Anhalten, ein Ent-Tun, ein Aufhören des Tuns ist. Es ist aber genauso auch jenseits des Nicht-Tuns, weil es in der beschriebenen Weise deine ganze Aufmerksamkeit, dein ganzes Engagement und die Ausrichtung deines ganzen Wollens erfordert.

    Mit einfachen Worten: Du brauchst nicht einfach abzuwarten – es ist jenseits von Ausgeliefertsein und jenseits von Kontrolle.

    Es gibt noch eine zweite grundlegende Frage: Worin unterscheiden sich die verschiedenen spirituellen Wege und welcher Weg ist für mich der geeignetste?

    Auch hierauf geben die sieben Punkte eine Antwort. Sie sind zwar in erster Linie als Ergebnis meiner eigenen Erfahrung entstanden und basieren hauptsächlich auf dem, was ich bei meinem Lehrer Eli Jaxon-Bear gelernt habe. Aber sie basieren auch auf dem Studium der anderen spirituellen und mystischen Wege und deren Methoden. Diese sieben Schritte stellen den Kern dar, der in allen Wegen enthalten ist. Mir scheint, die verschiedenen Wege betonen jeweils einzelne dieser Punkte, so die christliche Mystik das Annehmen des Leides und die Begegnung mit dem Tod; das Sufitum die Hingabe, die Liebe und das Annehmen, dessen was ist. In der indischen Mystik wird mehr der Körper beachtet; und in der jüdischen Mystik die innere Distanz zum eigenen Leben und die Position des Zeugen und Beobachters.

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    Bukumatula 4/2004

    Körperschmerz – Seelenschmerz

    Buchbesprechung von
    Dario Lindes:

    Hildegund Heinl und Peter Heinl
    Körperschmerz – Seelenschmerz
    Kösel-Verlag, 2004, München;
    217 Seiten, gebunden, 19,95 €

    Als roter Faden zieht sich durch das soeben erschienene Buch, das getrost als „ihr Lebenswerk“ bezeichnet werden kann, der über 60-jährige ärztliche Weg von Dr. Hildegund Heinl (geb. 1919) von der Kriegs- und Nachkriegsorthopädie hin zur psychosomatischen Orthopädie. Hildegund Heinl schildert eindringlich, wie zunächst Patienten mit schweren körperlichen Kriegsschäden versorgt werden mussten. Für die seelischen Verletzungen war da kein Platz.

    In den 60er-Jahren trat verstärkt der damals sogenannte „Weichteilrheumatismus“ in der ambulanten orthopädischen Praxis in den Vordergrund. Dabei fielen zunehmend Krankheitsverläufe auf, die sich nicht in das gewohnte Raster von gestörter Statik oder mechanischer Überbeanspruchung einordnen ließen. Die Behandlung verlief oft erfolglos.

    Heinl beschreibt nun, wie und warum sie die orthopädische Untersuchung durch ihr, im Laufe der Jahre entwickeltes psychosomatisches Konzept erweiterte. Exemplarische Krankengeschichten, die als Leitschiene den Fortgang der Darstellung illustrieren, begleiten den Leser Schritt für Schritt auf der Suche nach Zusammenhängen zwischen Körperschmerz und Seelenschmerz.

    Auch die aus den Erfahrungen der orthopädischen Praxis hervorgegangenen Seminare für Ärzte und Betroffene werden dargestellt und geben weiteres Anschauungsmaterial zum methodischen Vorgehen von Hildegund und Peter (ihr Sohn) Heinl.
    Für an wissenschaftlichen Begründungen interessierte Leser dürften Aufbau und Ergebnisse einer zu dem Thema verfassten Forschungsstudie über Rückenschmerzen aufschlussreich sein, die von der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart (gemeinsam mit Dr. Dietmar Czogalik) erstellt wurde.

    Es ist faszinierend, wie gut die teilweise bereits vor Jahrzehnten aus der klinischen Erfahrung abgeleiteten Erkenntnisse der Autoren mit den Ergebnissen der modernen neurobiologischen Forschung, auf die die Autoren ausführlich eingehen, überein stimmen. – Hier 2 Beispiele:

    1) Die direkte Wirkung des Gehirns auf das periphere Bewegungssystem ist durch zahlreiche Untersuchungen belegt. Sie führt zu einem Körpergedächtnis für Schmerz- und Gewalterfahrungen, das noch Jahrzehnte nach der Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität als Schmerzsyndrom am Ort der Gewalterfahrung in Erscheinung treten kann. Auslöser führen zur Reaktivierung der unbewussten früheren traumatischen Ereignisse. Zum Beispiel können auch spezielle Formen der physikalischen Therapie das unerkannte ursprüngliche Körpertrauma reaktivieren. Dies erklärt, warum einige Patienten einer konventionellen medizinisch-physikalischen Therapie gegenüber resistent sind oder sich das Krankheitsbild sogar noch verschlechtert.

    2) Schmerzempfindung und Schmerzbewertung sind keine lokalisierten Phänomene, sondern werden durch neuronale, hormonelle und biochemische Schaltkreise beeinflusst. Oft liegen die ursprünglichen seelischen und körperlichen Verletzungen im frühen Kindesalter, in denen diese Schaltkreise noch nicht voll ausgebildet sind. Es kommt zu einer zentralen Regulationsstörung mit Daueranspannung der betroffenen Muskelgruppen („Muskelpanzer“, siehe Wilhelm Reich), die letztlich den Effekt einer Arbeitsüberlastung hat. Die Autoren sprechen von „innerer Arbeitsüberlastung“.
    Die ärztliche Intuition und subtile Beobachtungsgabe von Hildegund und Peter Heinl sind beeindruckend. Es ist ihnen ein insgesamt über-zeugender Beitrag zur psychosomatischen Orthopädie gelungen, der Ärzten, Psycho- und Physiotherapeuten entscheidende Impulse in ihrer klinischen Arbeit vermitteln kann.
    ___________________________

    Dr. Hildegund Heinl ist Fachärztin für Orthopädie und Psychotherapeutin (Gestalt) und lebt im Soonwald-Schlösschen im Taunus (westlich von Frankfurt); ihr Sohn Dr. Peter Heinl ist Psychiater und Psychotherapeut und lebt in London.

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    Bukumatula 1/2004

    „ORGASMOTRON“ wird wohl ein Ladenhüter bleiben …

    Wider die Psyche der Frau
    Dario Lindes:

    „ORGASMOTRON“ wird wohl ein Ladenhüter bleiben …
    so prophezeit Rolf DEGEN, Psychologe und Wissenschaftsjournalist in Bonn, die Absatzchancen eines neuen Orgasmusgeräts

    Vor einiger Zeit strapazierte ein seltsames Umfrageergebnis die Gutgläubigkeit der Zeitungsleser. Danach wäre den meisten Frauen ein Einkaufsbummel wichtiger als ein Orgasmus. Die Mehrheit der befragten Damen hatte doch tatsächlich erklärt, sie könne im Zweifelsfall eher auf Sex verzichten als aufs Shopping. Jetzt stößt eine neue, ähnlich bizarre Pressemeldung ins gleiche Horn: da hat ein amerikanischer Wissenschaftler eine neue „Orgasmusmaschine“ für Frauen entwickelt – und die Angesprochenen wollen sie nicht einmal ausprobieren!

    Fallbeispiel: Um sie von ihren chronischen Rückenschmerzen zu befreien, hatte der Schmerzspezialist Dr. Stuart Meloy aus Winston-Salem/US-Bundessaat North Carolina, einer Patientin Elektroden in die Wirbelsäule eingepflanzt. Doch einer der Drähte rutschte am Ziel vorbei und traf den „falschen“ Nerv. Das daraufhin folgende laute Stöhnen der Frau war höchst merkwürdig und ließ nur eine Deutung zu: die Impulse hatten bei ihr einen Orgasmus ausgelöst. „Als ich sie fragte, was denn los sei, antwortete sie nur: Das müssen Sie unbedingt meinem Mann beibringen!“, erinnert sich Meloy.

    Dieser Zufallstreffer brachte den findigen Mediziner auf eine zündende Idee: eine elektronische Prothese zur entwickeln, die Frauen mit Orgasmusschwierigkeiten – egal welcher Ursache – den ultimativen Glücksrausch verschafft. Das nach dem Vorbild aus einem Woody-Allen-Film benannte „Orgasmotron“ sollte zukünftig nur noch aus einem Kasten von der Größe eines Herzschrittmachers bestehen, der unter die Haut eingepflanzt und per Fernbedienung ausgelöst werden kann.

    Jetzt, zweieinhalb Jahre nach der Entdeckung, erhielt Meloy von der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA (Anm.: dieselbe Behörde, die Wilhelm Reich verfolgte und ins Gefängnis brachte) grünes Licht, seinen Lustverstärker an freiwilligen Probandinnen zu testen. „Ich dachte, die Leute würden mir die Tür einrennen, um an den Versuchen teilnehmen zu können“, gestand der verdutzte Meloy dem britischen Wissenschaftsmagazin „New Scientist“. Doch weit gefehlt: nur eine einzige Frau(!) hatte bislang die erste Versuchsphase absolviert, und lediglich eine weitere hatte sich angemeldet. Dabei erfüllen nach aktuellen Daten 32 % aller Frauen eine der beiden Voraussetzungen für die stimulierende Behandlung: lebenslange Anorgasmie, oder Verlust der früheren Orgasmusfähigkeit.

    Meloy ist nicht der erste Mann, der erfahren muss, dass die weibliche Sexualität sein Begriffsvermögen bei weitem übersteigt. Ein Gerät, das einen Orgasmus auf Knopfdruck liefert, geht offenbar voll an den weiblichen Bedürfnissen vorbei. Frauen wünschen sich ihren Sex viel stärker in Gefühlen und Beziehungen zu ganz bestimmten Partnern eingebunden, also keinen konsumierbaren Schnellimbiss, sondern vielmehr eine Eruption, die aus nicht plan- und berechenbarer Leidenschaft erwächst. Zumindest ein gewisses Überraschungsmoment, das Sex in der realen Welt oft so reizvoll macht, sollte erhalten bleiben. Vielleicht könnte man ja das „Orgasmotron“ mit einem Zufallstimer versehen, wie er in Einbruchssicherungen bei Hausanlagen vorkommt, die das Licht unvorhersehbar an- und aus schalten …

    Doch letztlich entstammt das Konzept des beliebig steuerbaren sexuellen Höhepunkts eindeutig der Psyche der Männer, die anscheinend ja auch Viagra für die beste Erfindung seit der Einführung des Videorekorders halten. Ihr Wunsch, die Partnerin in jeder Hinsicht erschöpfend zu befriedigen, verbindet sich in diesem neuen Gerät vorzüglich mit einer weiteren zentralen Leidenschaft: der Heimwerkerei. Wenn Baumärkte das Orgasmotron für 99 € pro Stück anbieten würden, wäre das der Knaller und würde millionenfach an Frauen verschenkt. Am besten gleich mit Universalfernbedienung, die wahlweise auch das Garagentor ansteuert.

    Doch was Frauen sich eigentlich wünschen, ist eine Fernbedienung für Männer, damit nach mühevollem Styling und Auf-sexy-Trimmen auch nur das eine konkret angepeilte Subjekt der Begierde anspringt – und nicht immer nur all die anderen Schürzenjäger, mit denen frau nun wirklich nichts zu tun haben will.

    (aufgelesen in der Zeitschrift „GEHIRN & GEIST – Magazin für Psychologie und Hirnforschung“ Nr. 2/2004; Verlag SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT)

    Kommentar von Dario Lindes:

    Als ich in der Zeitschrift GEHIRN & GEIST über diese Nachricht stolperte, war ich nicht schlecht erstaunt. Was will uns diese Meldung sagen? Dass der Orgasmus (den Frauen) gar nicht so wichtig ist, dass nur wir Männer so orgasmusfixiert sind und uns zu viel (unnötige) Gedanken darüber machen, dass dies also eine rein männliche eingeengte Sichtweise und darum falsch und behandlungsbedürftig ist, wie uns von den Frauen immer wieder gesagt wird?

    Vor allem dieser Aspekt, die Betonung des Sexuellen, wird ja gerade von feministischer Seite immer wieder an Freud und der ganzen Psychoanalyse als zu männlich dominiert und als patriarchale Vereinnahmung kritisiert. Aber dieser Meinung möchte ich als intelligenter, denkender und vor allem körperlich fühlender Mensch und Reichianer – und NICHT nur als Mann – klar entgegentreten. Ich habe Wilhelm Reich gerade über die Sexualökonomie und Orgasmuslehre für mein Leben entdeckt und schätzen gelernt und stimme ihm in dieser rigorosen Haltung voll und ganz zu (eigentlich war ich schon lange vorher Reichianer – bevor ich überhaupt je etwas von W. Reich gehört habe, überhaupt seinen Namen kannte). Ich finde seine Erkenntnis von der Bedeutung des Orgasmus für die psychische Gesundheit eine bahnbrechende Entdeckung und DIE zentrale Botschaft an uns alle.

    Ich bin in meiner ideologischen Ausrichtung daher durchaus auch orgamusorientiert, das bekenne ich offen ein, aber nicht aus männlich-chauvinistischer Borniertheit und Sexismus, sondern aus tiefster psychohygienischer Überzeugung. Denn wie Reich schon in seiner Sexualökonomie darlegte, können nur im optimalen, gemeinsamen (!) Orgasmus eines Paares, der das einzig anzustrebende Endziel jeglichen sexuellen Begehrens und aller sexueller Interaktion ist, die sexuellen Energien der Libido vollständig und restlos aufgelöst (verbraucht) werden, sodass libidinöse Energiereste nicht übrigbleiben und so ins Psychische umgeleitet werden und als Futter für Neurosen dienen.

    Deshalb stehe ich dieser orgasmus-verleugnenden Haltung der Frauen, die offenbar durch diese Pressemeldung transportiert werden soll, durchaus skeptisch gegenüber. Diese lapidare Haltung der Geringachtung „Des brauch ma eh´ net, des kommt nur alles von den sexbesessenen Männern“ halte ich für eine gefährliche Unterschätzung. Vielmehr kommt in mir jedes Mal der stille Verdacht auf, dass es sich hierbei selbst schon um eine neurotische Verirrung handelt, die dann nur nach außen hin als hochmoralische Haltung kaschiert wird.

    Unter der Decke des Moralinsauren und Pseudo-Erhabenen aber brodeln im Unbewussten weiterhin die gestauten sexuellen Energien, die man nicht wahrhaben will, die aber auf Erlösung im erfüllenden Orgasmus hoffen, anstatt dessen aber ins Verkopfte, Abwertende sublimiert werden (im schlimmsten Fall gar in Gewalt und Totalitarismus – s. „Die Massenpsychologie des Faschismus“).

    Zugegeben: ein elektronisches Gerät, das ein Orgasmus-Surrogat hervorrufen soll, erscheint mir ebenfalls grotesk. Aber die dahinter steckende pauschal sexualverdrängende Haltung der Frauen, das Thema „Orgasmus“ so zu ignorieren, macht mir schon Stirnrunzeln.

    Soweit meine kleinen Anmerkungen. Auf eine heiße Kontroverse – und eventuelle Widersprüche – mit den Lesern (vornehmlich den weiblichen) freue ich mich schon!

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    Bukumatula 4/2004

    Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr

    Gudrun Heininger:

    Aus aktuellem Anlass sind bei mir einige Fragen aufgetaucht, die aufgrund des Themas ins bukumatula passen könnten …

    … ausgehend vom Nachdenken über Elfriede Jelinek

    • der Anlass:
      Ein ganzseitiger Cartoon in der größten österreichischen Tageszeitung, der die Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek und die Reaktion der Öffentlichkeit kommentiert.
    • der Cartoon:
      Herr Österreicher zieht auf der Wirtshausbank die widerstrebende, sich offensichtlich ekelnde, entsetzte, aber auch mürrisch-resignierte Autorin an sich, krallt sich ihren Busen und macht sie sich in einem demütigenden Angriff zum Objekt. In dieser manipulierenden Darstellung bleibt der Frau keine Chance – ihr wird die passive Teilnahme und Billigung des Geschehens unterstellt.
      Der kleine Herr Österreicher, vertreten durch die große Zeitung, tut genau das, was Jelinek in allen ihren Veröffentlichungen aus dem dumpfen Alltag auf ihren Schreibtisch holt und in seiner ganzen Hässlichkeit ins Licht stellt.
    • die Fragen:
      Wie ist es möglich, eine integre Persönlichkeit wie Elfriede Jelinek auf derart zynische Weise darzustellen?- Das Bild wirkt auf die Betrachterin nicht grotesk, nicht absurd, sondern nur verletzend!
      Warum erlaubt das „Feld“, in dem sie existiert, sie als Opfer darzustellen, warum schützt sie sich nicht davor?- Sie hätte das Potential, sich abzugrenzen und als Kritikerin der Zustände unantastbar zu sein. Würde genau das aber ein geheimes Einverständnis mit diesen Zuständen voraussetzen?
      Bleibt nur die Möglichkeit, sich zu entziehen oder sich waffenlos ins Scheinwerferlicht zu stellen?- Oder …

    bleibt sie bewusst verletzbar? Ist das vielleicht die einzige Position, aus der heraus irgendeine Auseinandersetzung sinnvoll ist?- Ist Verletzbarkeit die unbedingte Voraussetzung für Authentizität, für einen weitest möglichen Blick auf den Horizont?

    Gibt es überhaupt eine direkte Teilnahme an der Welt, ohne ganz und gar ansprechbar, erreichbar zu sein?- Wie können wir leben unter den herrschenden Bedingungen ohne Distanzierung?

    Wann sind wir gerade aufgrund unserer großen Angreifbarkeit nicht mehr irritierbar und wie kann das zur Seinsweise werden (über das Inseldasein im intimen Kreis unter Freunden und Liebenden hinausgehend)?

    Das Beispiel des Ausgesetztseins der Elfriede Jelinek und der stereotypen Reaktionen auf sie machen mich ratlos. Selbstverständlich schützt sich die Autorin Von ihr weiß ich nichts. Ich habe zu tun mit der öffentlichen Person, mit der Schriftstellerin. Und die wird lebendig, sobald ich mich (zu einem Teil) mit ihr identifiziere, sobald sich viele Frauen mit ihr identifizieren, weil sie in derselben Realität leben, dasselbe wahrnehmen und begreifen: nämlich das System, das Muster, das scheinbar unausweichliche Spiel Männer gegen Frauen, Frauen gegen Kinder, Mächtige gegen Machtlose, Menschen gegen Menschen.

    Diese öffentliche Person ist verfügbar und freigegeben im doppelten Wortsinn (freigegeben zum Abschuss, Freiwild – und freigegeben, ausgesetzt, weil man erkannt hat, dass die eigenen Machtstrukturen nicht ausreichen, sie zu dominieren).

    Meine vielfachen Versuche, einen ihrer Texte in einem Stück zu Ende zu lesen, sind gescheitert. Es war zu entsetzlich. Nicht was sie schreibt, sondern was sie beschreibt: Die Zustände, die Normalität. Meiner Erfahrung nach arbeitet sie nicht mit Zuspitzung und Übertreibung, sondern sie schaut hin und sagt, was ist.

    Dass sie es erträgt, mit dem Blick dranzubleiben und nüchtern, un-beschönigend und bei klarem Verstand auszusprechen, was jede(r) andere auch sehen könnte, ist mir unbegreiflich. Vielleicht kann sie es mithilfe ihres exzellenten artifiziellen Sprachstils.

    Elfriede Jelinek (die öffentliche Person als Stellvertreterin für alle, die sich in ihr wiedererkennen) ist verwundet und bleibt verwundbar.

    Das ist das Eine. Wie kriege ich jetzt die Kurve von all den Schrecken hin zu einer Vision, die mich aufatmen lässt? Ich bin überzeugt: auch das Hinschauen und Benennen ist notwendig, um die Schrecken hinter sich zu lassen und weiterzugehen; einen Schritt beiseite zu treten, damit die Zusammenhänge umfassender sichtbar werden – einen oder mehrere Schritte beiseite zu treten, um die Ebene zu wechseln. Was bedeutet das?- Eine bestimmte Ebene meint den geistigen Aufenthaltsort, den Orbit, die Welt, die wir selbst erschaffen durch Gedanken und Gefühle, durch Ausrichtung und Aufmerksamkeit.

    Ist es dann möglich, auf der eigenen Seinsebene ungeschützt und verletzlich zu bleiben und sich trotzdem mit allem einlassen zu können, weil dann offene wie versteckte Angriffe ins Leere gehen, ihre Kraft und Wirkung verlieren? Wie geht das? Möglicherweise ist nur eine winzige Bewegung notwendig, nur eine Entscheidung, um sagen zu können:

    Civilisations rise and fall. Stars are born and die away.
    Beloved Loved ones come and go. The passing of seasons.
    And throughout it all we endure …
    We fall and then we rise. We dare to love again. And again.
    After awhile the rising and the falling become the same
    unified motion.
    We love no matter what – simply because that’s who we are.
    (Solara)

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