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Bukumatula 4/2004

Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr

Gudrun Heininger:

Aus aktuellem Anlass sind bei mir einige Fragen aufgetaucht, die aufgrund des Themas ins bukumatula passen könnten …

… ausgehend vom Nachdenken über Elfriede Jelinek

  • der Anlass:
    Ein ganzseitiger Cartoon in der größten österreichischen Tageszeitung, der die Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek und die Reaktion der Öffentlichkeit kommentiert.
  • der Cartoon:
    Herr Österreicher zieht auf der Wirtshausbank die widerstrebende, sich offensichtlich ekelnde, entsetzte, aber auch mürrisch-resignierte Autorin an sich, krallt sich ihren Busen und macht sie sich in einem demütigenden Angriff zum Objekt. In dieser manipulierenden Darstellung bleibt der Frau keine Chance – ihr wird die passive Teilnahme und Billigung des Geschehens unterstellt.
    Der kleine Herr Österreicher, vertreten durch die große Zeitung, tut genau das, was Jelinek in allen ihren Veröffentlichungen aus dem dumpfen Alltag auf ihren Schreibtisch holt und in seiner ganzen Hässlichkeit ins Licht stellt.
  • die Fragen:
    Wie ist es möglich, eine integre Persönlichkeit wie Elfriede Jelinek auf derart zynische Weise darzustellen?- Das Bild wirkt auf die Betrachterin nicht grotesk, nicht absurd, sondern nur verletzend!
    Warum erlaubt das „Feld“, in dem sie existiert, sie als Opfer darzustellen, warum schützt sie sich nicht davor?- Sie hätte das Potential, sich abzugrenzen und als Kritikerin der Zustände unantastbar zu sein. Würde genau das aber ein geheimes Einverständnis mit diesen Zuständen voraussetzen?
    Bleibt nur die Möglichkeit, sich zu entziehen oder sich waffenlos ins Scheinwerferlicht zu stellen?- Oder …

bleibt sie bewusst verletzbar? Ist das vielleicht die einzige Position, aus der heraus irgendeine Auseinandersetzung sinnvoll ist?- Ist Verletzbarkeit die unbedingte Voraussetzung für Authentizität, für einen weitest möglichen Blick auf den Horizont?

Gibt es überhaupt eine direkte Teilnahme an der Welt, ohne ganz und gar ansprechbar, erreichbar zu sein?- Wie können wir leben unter den herrschenden Bedingungen ohne Distanzierung?

Wann sind wir gerade aufgrund unserer großen Angreifbarkeit nicht mehr irritierbar und wie kann das zur Seinsweise werden (über das Inseldasein im intimen Kreis unter Freunden und Liebenden hinausgehend)?

Das Beispiel des Ausgesetztseins der Elfriede Jelinek und der stereotypen Reaktionen auf sie machen mich ratlos. Selbstverständlich schützt sich die Autorin Von ihr weiß ich nichts. Ich habe zu tun mit der öffentlichen Person, mit der Schriftstellerin. Und die wird lebendig, sobald ich mich (zu einem Teil) mit ihr identifiziere, sobald sich viele Frauen mit ihr identifizieren, weil sie in derselben Realität leben, dasselbe wahrnehmen und begreifen: nämlich das System, das Muster, das scheinbar unausweichliche Spiel Männer gegen Frauen, Frauen gegen Kinder, Mächtige gegen Machtlose, Menschen gegen Menschen.

Diese öffentliche Person ist verfügbar und freigegeben im doppelten Wortsinn (freigegeben zum Abschuss, Freiwild – und freigegeben, ausgesetzt, weil man erkannt hat, dass die eigenen Machtstrukturen nicht ausreichen, sie zu dominieren).

Meine vielfachen Versuche, einen ihrer Texte in einem Stück zu Ende zu lesen, sind gescheitert. Es war zu entsetzlich. Nicht was sie schreibt, sondern was sie beschreibt: Die Zustände, die Normalität. Meiner Erfahrung nach arbeitet sie nicht mit Zuspitzung und Übertreibung, sondern sie schaut hin und sagt, was ist.

Dass sie es erträgt, mit dem Blick dranzubleiben und nüchtern, un-beschönigend und bei klarem Verstand auszusprechen, was jede(r) andere auch sehen könnte, ist mir unbegreiflich. Vielleicht kann sie es mithilfe ihres exzellenten artifiziellen Sprachstils.

Elfriede Jelinek (die öffentliche Person als Stellvertreterin für alle, die sich in ihr wiedererkennen) ist verwundet und bleibt verwundbar.

Das ist das Eine. Wie kriege ich jetzt die Kurve von all den Schrecken hin zu einer Vision, die mich aufatmen lässt? Ich bin überzeugt: auch das Hinschauen und Benennen ist notwendig, um die Schrecken hinter sich zu lassen und weiterzugehen; einen Schritt beiseite zu treten, damit die Zusammenhänge umfassender sichtbar werden – einen oder mehrere Schritte beiseite zu treten, um die Ebene zu wechseln. Was bedeutet das?- Eine bestimmte Ebene meint den geistigen Aufenthaltsort, den Orbit, die Welt, die wir selbst erschaffen durch Gedanken und Gefühle, durch Ausrichtung und Aufmerksamkeit.

Ist es dann möglich, auf der eigenen Seinsebene ungeschützt und verletzlich zu bleiben und sich trotzdem mit allem einlassen zu können, weil dann offene wie versteckte Angriffe ins Leere gehen, ihre Kraft und Wirkung verlieren? Wie geht das? Möglicherweise ist nur eine winzige Bewegung notwendig, nur eine Entscheidung, um sagen zu können:

Civilisations rise and fall. Stars are born and die away.
Beloved Loved ones come and go. The passing of seasons.
And throughout it all we endure …
We fall and then we rise. We dare to love again. And again.
After awhile the rising and the falling become the same
unified motion.
We love no matter what – simply because that’s who we are.
(Solara)

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