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Bukumatula 2/2004

Die Morita-Therapie

Hanmon Soku Gedatsu
Christian Rieder über Morita Masatake Shôma

Eine sinngemäße Übersetzung dieses wohl etwas ungewöhnlichen Ti-tels könnte „der Konflikt ist die Lösung“ lauten. Das Kredo geht auf den japanischen Arzt Morita Masatake Shôma (1874-1938) zurück. Als Begründer der nach ihm benannten Morita-Therapie, welche 1919 in seiner Heimat eingeführt wurde, ging er in die Geschichte der japanischen Psychiatrie ein.

„Hanmon soku gedatsu“ ist die von ihm gewählte Bezeichnung für eine während der Behandlung ganz entscheidende Situation. Bedingt durch ärztlich überwachte, tagelange Bettruhe, gerät die von ihrer Umwelt isolierte Person zunehmend in einen krisenhaften Zustand. Unruhe und Verzweiflung erreichen ihren Höhepunkt ungefähr am vierten Behandlungstag in einer Nullpunkterfahrung und werden daraufhin von einer durch Entspannung gekennzeichneten Phase abgelöst.

Langeweile und der Wunsch nach Beschäftigung sind die typischen Folgen. In der zweiten Periode, die sich über drei bis fünf Tage hinzieht, verbringt er oder sie die meiste Zeit zur Erholung in der Natur. Die etwa vierzehn Tage dauernde dritte Periode soll das Ausleben des sich aufgestauten Beschäftigungsdrangs ermöglichen, was gewöhnlich mit einem Gefühl der Freude erlebt wird. Anzumerken in diesem Zusammenhang ist, dass es sich hier keinesfalls um Beschäftigungstherapie handelt, da der bzw. die PatientIn mittels geregelter Arbeit in den Krankenhausbetrieb eingegliedert wird.

In der letzten Periode geht es um die Reintegration in den Alltag; sofern alles planmäßig verläuft, ist eine Entlassung nach ungefähr zehn Tagen möglich. Um Rückfälle zu vermeiden nimmt man nach der insgesamt etwa vierzig Tage dauernden Behandlung an einer Nachbetreuungsgruppe teil; zusätzlich steht ein regelmäßiger Besuch der Vorträge des Oberarztes auf dem Programm.

Zu den Wirkmechanismen und der Behandlungsphilosophie lässt sich in aller gebotenen Kürze folgendes sagen:
Gefühle sah Morita als Reaktionen auf innere oder äußere Verhältnisse, die einen rein subjektiven Charakter haben und bezüglich derer es somit kein „richtig“ oder „falsch“ geben kann. Ohne sie wäre unser Leben zweifelsohne flach und steril. Da sie nicht direkt willentlich kontrolliert werden können, ergeben sich unter Umständen Schwierig-keiten im Umgang mit ihnen.

In der Morita-Therapie macht man sich jedoch zwei Tatsachen zu Nutzen: Eine Veränderung der Außenwelt kann positiv auf den Gefühlshaushalt wirken, sowie das Ursache-Wirkungs-Prinzip im Fall der mehr oder weniger stark evokativen Wirkung von Handlungen. Grundsätzlich geht es darum, Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Der zur Selbstkonfrontation zwingende Raum jenseits der Alltagswelt in der ersten Behandlungsphase, die wohltuende Wirkung der Natur in der zweiten, sowie eine während der dritten Phase als sinnvoll erlebte Tätigkeit, die von den Symptomen ablenkt, sind herausragende Heilfaktoren in diesem Behandlungsprogramm. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass der aus westlicher Sicht zentrale Wirkfaktor „Beziehung“ hier kaum mehr als eine Nebenrolle spielt.

PatientInnen Moritas wurden sogar ausdrücklich dazu aufgefordert, nicht über ihr Leiden zu klagen, da dadurch eine Verschlechterung der Befindlichkeit verursacht werden könne. Stattdessen galt es für ihn als besonders wünschenswert, während einer Betätigung möglichst vollständig darin aufzugehen, wodurch sich die problematische Symptomfixiertheit (Stichwort: „Erwartungsangst“) relativieren lässt. Der Gebrauch des Wortes dürfe nicht als Ersatz für das Erleben von Gefühlen oder das Setzen von Aktionen dienen. Wie für Wilhelm Reich (1897-1957), gab es auch für Morita keine radikale Trennung von Körper und Geist/Seele. Die Behandlung zielt daher stets auf beide Dimensionen ab.

Genauso wenig differenzierte er zwischen der Behandlungsphase und dem übrigen Leben eines Menschen. Seine Therapie ist sicherlich nicht als rasches Symptombeseitigungsverfahren aufzufassen, noch wird eine für westliche Therapieverfahren typische Stärkung des Ichs angestrebt. Vielmehr geht es um die Etablierung einer bestimmten Lebenspraxis, deren Fundament in den Überzeugungen Moritas liegt.

Es soll eine möglichst konstruktive Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt stattfinden, in der sich sowohl die progressiven Kräfte des Selbstverwirklichungsdrangs, als auch die konservativ wirkenden Impulse der Angstvermeidung die Waage halten. In der anerkennenden Rücksichtnahme bezüglich der individuellen Wesensart eines Menschen liege der Schlüssel für ein erfülltes Leben. Seiner Ansicht nach sei dies auch ohne der erfolgreichen Behandlung von Leid verursachenden Symptomen und Charakterzügen möglich. Die leider in vielen Fällen nicht aus der Welt zu schaffende Kluft zwischen Ist- und Soll-Zustand gelte es also zu akzeptieren.

Nach dieser Beschreibung eines typischen Behandlungsablaufes, seinen Wirkmechanismen, sowie den dahinter liegenden Grundanschauungen sollen die LeserInnen noch kurz mit einigen Hintergründen und Anwendungsmöglichkeiten vertraut gemacht werden:

Nachdem der junge Morita sein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hatte, beschäftigte er sich intensiv mit den Heilverfahren der westlichen Psychotherapie. Dies geschah – unter anderem – auf Grund einer in Japan zur damaligen Zeit weit verbreiteten, starken Form von Angsterkrankung („shinkeishitsu“). Da Moritas Behandlungsprogramm in Reaktion auf dieses Problem entwickelt wurde, wird heute in Japan, den USA und einigen anderen Ländern fast nur noch Neo-Morita-Therapie angeboten.

Obwohl Therapieformen, die auf seinen Konzepten beruhen, sukzessiv bei einer Vielzahl von medizinischen und psychologischen Problemstellungen (z.B.: Morbus Hodgkin, Essstörungen, Schulversagen, Krebs oder Depressionen; Krankengeschichten unter: http://www.morita-therapy.org/personal.htm) er-folgreich angewendet werden konnten, wäre es übertrieben, von einem bedeutenden Einfluss auf die internationale Fachwelt zu sprechen.

Es kam sogar zu Angriffen von Seiten westlich orientierter Ärzte, die seine Methode als religiöse Praxis missinterpretierten. Tatsächlich ist der Ansatz stark vom Zen-Geist durchdrungen und Morita blieb trotz fundierter wissenschaftlicher Ausbildung zeitlebens seinen buddhistischen Wurzeln treu. Auch haben sich Menschen, für die „nur“ eine Neuorientierung im Leben ein wichtiges Anliegen ist, bereits solch einer Behandlung unterzogen. Jedoch wird im Falle der Morita-Therapie gesundheitlichen Problemen ausschließlich mit Hilfe einer konkreten, lehrbaren und medizinisch langjährig erprobten Behandlungsstrategie begegnet.

Da wir im Westen immer noch zu wenig den Menschen als bio-psycho-soziale Einheit betrachten, bzw. stark im dualistischen Denken verhaftet sind, erscheint mir die Auseinandersetzung mit asiatischen Theorien und Praktiken bedeutungsvoll. Die Morita-Therapie ist hier zweifelsohne ein gutes Beispiel für die Sinnhaftigkeit der interkulturellen Dialogführung zwischen westlicher und östlicher Hemisphäre.
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Quellenverzeichnis:
Dumoulin, Heinrich: Zen im 20. Jahrhundert. München: Kösel. 1990.
Katz, Lothar; Watanabe, Naoki (Hg.): Die Morita-Therapie im Ge-spräch: psychotherapeutische und transkulturelle Aspekte zwischen Ost und West. Gießen: Psychosozial-Verlag. 1999.
Morita Therapy Center: http://www.morita-therapy.org (27.02.04).

Literaturtipps:
Fujita, Chihiro: Morita Therapy. Tokyo: Igaku-Shoin. 1986.
Kora, Takehisa: How to Live Well. Albany: State University of New York Press. 1995.
Morita, Shoma: Morita Therapy and the True Nature of Anxiety-Based Disorders (Shinkeishitsu). Albany: State University of New York Press. 1998.
Reynolds, David: Morita Psychotherapy. Berkeley: University of California Press. 1976.
Reynolds, David: The Quiet Therapies. Honolulu: University of Hawaii Press. 1980.
International Bulletin of Morita Therapy.

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