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Buk 1/88 Zur Person Wilhelm Reich

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BUKUMATULA 1/1988

Zur Person Wilhelm Reich

Interview mit Nadine Hauer
Wolfram Ratz

Am 21. April 1987 wurde in ö1 „Radio Diagonal“ der Beitrag „Zur Person Wilhelm Reichs“ gesendet. den Nadine Hauer mitgestaltete. Nadine Hauer ist Journalistin und freie Mitarbeiterin beim ORF. Das nachfolgende Gespräch mit ihr führte Wolfram Ratz.

W: Wie sind Sie eigentlich auf Wilhelm Reich gestoßen?

N: Wie war das? Ja, es war so, daß ich einmal in einer Buchhandlung, eher so im Herumstöbern auf das Buch gestoßen bin von der „Sexuellen Revolution“. Das war Mitte der siebziger Jahre, also nicht im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung. Ich habe dieses Buch gelesen, und es waren zwei Dinge, die mir dabei aufgefallen sind: Erstens, alles, was da geschrieben stand, war für mich so klar, daß ich mir gedacht habe, warum muß man das so schreiben, das ist ohnehin klar. Ich habe so den Eindruck gehabt, daß da jemand Dinge niederschreibt, die für mich selbstverständlich waren, wobei mir aber gleichzeitig klar war, daß es offensichtlich nicht selbstverständlich ist, daß man es so schreibt.

Und das Zweite, das mich sehr fasziniert hat, war, daß in diesem Buch, im Anhang, eine Auseinandersetzung Wilhelm Reichs mit der Sowjetunion war, und zwar eine sehr kritische. Und das hat mich sehr beeindruckt, weil ich den Eindruck gehabt habe, das ist jemand, der mit einer unheimlichen Klarheit Dinge vorweg sieht, die dann so eindeutig gekommen sind und sich entwickelt haben, daß ich mir gedacht habe, also, der ist ein Hellseher, oder was ist da los.

Ich habe den Eindruck gehabt, daß das ein Mensch ist, der unheimlich rasch sieht, spürt, oder wie man das nennen will, wie was läuft, und der auch imstande ist, das gleichzeitig mit einer unheimlichen Klarheit und in einer sehr einfachen Sprache niederzuschreiben, auch wenn es im Augenblick noch so aussieht als „Unsinn, ist nicht wahr“, auch, wenn alles dagegen spricht. Das war eigentlich mein Einstieg. Und alles, was ich später gelesen habe, hat mich darin eigentlich eher bestärkt.

Der spätere Reich war für mich eine Zeitlang ein unheimliches Problem. „Der Krebs“, zum Beispiel, noch nicht; die Psychosomatik war mir eigentlich auch immer sehr einsichtig. Bei den späteren Sachen habe ich eine Weile gebraucht, und dann bin ich selber an dem Punkt gestanden, wo ich mir gesagt habe: Es gibt viele Dinge, die man nicht erklären kann. Ich bin nicht jemand, der sagt, daß etwas falsch ist, nur weil ich es mir nicht vorstellen kann.- Ich war also bereit, das aufzunehmen. Ich nehme gleich vorweg, daß die „Tagung für Lebensenergie“ in Berlin mir eine große Hilfe war; bis dahin bin ich eher „geschwommen“.

Bei manchen Sachen habe ich so gefühlsmäßig den Eindruck gehabt, das könnte schon stimmen, aber gelegentlich war mir dann schon klar, daß Reich psychisch manchmal „umgekippt“ ist, ja, also, ich möchte alle Begriffe mit geistesgestört nicht verwenden, aber ich glaube, er war psychisch oft in Ausnahmesituationen. Und da waren dann die Beschreibungen von manchen Sachen so, daß ich zwar den Eindruck gehabt habe, das, was er sagt, ist nicht falsch, aber die Art, wie er es sagt, hat etwas unheimlich Verbissenes, ja, da hab ich dann manchmal Schwierigkeiten gehabt.-

Es war so, daß ich oft in Volkshochschulen – im Rahmen der Politischen Bildung, zum Beispiel – Reich immer wieder hineingebracht habe. In der ganzen Auseinandersetzung mit der Psychologie war er für mich sehr wichtig. Ja, und dann mein journalistischer Versuch, Reich auch im ORF unterzubringen, mit all den Pleiten, bis – ja, das kenn‘ ma – (lacht).

W: Wie sehr ist Ihrer Erfahrung nach Reich bekannt, etwa auch von Ihren Interviews her?

N: Ich möchte sagen, er ist schlichtweg unbekannt, und zwar sogar bei Leuten, von denen ich weiß, daß sie eigentlich über eine gute Allgemeinbildung verfügen, für die etwa Freud etwas Selbstverständliches ist. Wenn ich Wilhelm Reich erwähnt habe, bin ich durchwegs auf die Reaktion: „Wilhelm Reich? Wer ist das?“ gestoßen.

W: Und in den Medien?

N: Ebenso. Wenn man einem Journalisten erst einmal von Adam bis Eva erklären muß, worum es geht, dann hat er schon genug. Die peinlichsten Abstürze habe ich gehabt, wenn ich in eine Redaktion oder in den Rundfunk gekommen bin und gesagt habe, ich möchte etwas machen über Wilhelm Reich. Bei einer werde ich nie vergessen, wie sie darauf gesagt hat: „Müsste ich den kennen?“, da hab ich gewußt, oh je, verloren (lacht), ich hab’s dann auch nicht gekriegt.

Und wenn ihn jemand gekannt hat, dann bekam er vor allem das Pickerl „Kommunist“. Ich bin weniger konfrontiert worden mit „irr“ oder „geistesgestört“ – also im Medienbereich – sondern mit „Kommunist“. Das war die Hemmung hier, ich glaube, es war primär eine politische – in Klammer eine sexual-politische.- Die Angst – aber das weiß eh‘ niemand – er sei geistesgestört, das würde gerade bei uns niemanden stören, das wäre eher faszinierend. über Ludwig den Zweiten redet ja auch jeder.

W: Was fängt etwa der ORF mit Reich an, jetzt abgesehen von der Sendung. Kennt den jemand dort, oder wollen sie ihn nicht haben?

N: Es ist schon länger her, daß ich Reich das erste Mal im ORF unterbringen wollte, und zwar bei einem Kollegen, den ich gut kenne und der eher sehr aufgeschlossen ist. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich zu ihm gesagt habe, es würde mich sehr reizen, etwas über Wilhelm Reich zu machen; ob er das mit mir machen würde. Darauf hat er mir so im Scherz gesagt: „Aber nur knapp vor meiner Pensionierung“ – was ja eine Menge sagt! Ich glaube, daß man bei Reich vor allem befürchtet, daß er – was weiß ich – die Massen mobilisiert. Mein Eindruck ist, daß er vor allem als Kommunist verschrien ist. Ja, und die Angst davor ist noch größer, meiner Meinung nach, als alles, was mit Sexualität zu tun hat, weil in irgendeiner Art tätn’s damit schon fertig werden, darüber redt‘ man schon. Denn wenn man den Bornemann reden läßt, bitte, im ORF, dann kann man über Reich auch reden. Der Bornemann ist ja keine – wie soll ich sagen – Unfigur mehr, ich meine, man liebt ihn nicht, aber man ist schon so weit, daß man ihn reden läßt. Ich halte die Ablehnung von Wilhelm Reich für eine rein politische. In Bezug auf Sexualität würde man ihn zwar nicht lieben und würde sehr vorsichtig mit ihm umgehen, aber man würde sich als modern und aufgeschlossen sehen; es wäre „in“ sozusagen: „Wir setzen uns sogar mit dem Reich auseinander“ .- Über den „späteren“ Reich wissen’s nichts, und daher hängen sie sich da nicht an, weil sonst hätten sie ihn vermutlich schon als den großen Antikommunisten verkauft. Aber so weit sind die, meiner Meinung nach, noch nicht. Ich weiß, das klingt jetzt sehr brutal, aber das ist meine Einschätzung.

W: Reich war einen Bruchteil seines Lebens Kommunist.

N: Ich glaube, daß das, was Reich in seiner kommunistischen Phase gemacht hat, ja nicht weggefallen ist, er hat das nur in eine andere Verkleidung gebracht. Im Grunde hat er, meiner Meinung nach, so grundsätzliche Dinge – ich meine, die Charakteranalyse kommt zwar nicht mehr vor, aber ich glaube nicht, daß er die ad acta gelegt hat, sondern er hat einfach versucht, das weiterzuführen. Also sagen wir so: Man kennt den Reich nicht, und wenn man ihn kennt, dann weiß man, daß er Kommunist war. Das ist mein Eindruck. Aber die Leute, die wissen, daß er sich sehr viel mit Sexualität beschäftigt hat, ich glaube nicht, daß die schon so einen Horror davor haben. Nicht daß ich der Meinung bin, daß die Sexualität wirklich freier geworden ist, nämlich in Echtheit, aber man redet freier darüber. Auch in den Medien ist dieses Thema populär. Vor zwei, drei Jahren sollte ich einen Artikel schreiben, für den „Wiener“. Immerhin wollten sie’s nehmen, aber da war damals ein Chefredakteur, wo’s geheißen hat, na ja, der interessiert sich für Reich. Das ist betont worden, weil der sich interessiert, ja, sonst hätte ich vielleicht auch keine Chance gehabt. Aber das ist mir woanders auch passiert. Ich habe einmal eine Geschichte geschrieben über Moreno, den Urheber des „Psychodrama“. Den kennt man auch nicht, und wenn, dann weiß man, das ist so ein Wilder, der hat die Prostituierten dazu gebracht, daß sie auf die Straße gegangen sind. Aus – kein Thema. Das war ja auch ein Wiener und hat hier gefuhrwerkt. Es war unmöglich, ihn irgendwo unterzubringen.- Ich habe so den Eindruck, alle, die irgendwie politisch revolutionär waren, die werden in Österreich nicht geliebt.

W: Glauben Sie nicht, daß reaktionäre Kräfte „mit Hilfe“ von AIDS das Thema Sexualität nicht wieder zum Verschwinden bringen werden?

N: Mein Eindruck ist, daß das Thema nicht verschwinden wird; es wird bleiben, sozusagen von der anderen Seite her. Man kann über Sexualität anfangen, mehr zu reden, weil’s was Gutes ist und man kann weiter viel über Sexualität reden, um dauernd zu sagen, wie gefährlich und grausam es ist. Also – im Augenblick scheint mir, daß über Sexualität geredet wird, aber eher unter dem Aspekt „aufpassen“, und „um Gottes willen“, und „eigentlich muß man ja nicht“, und so. Vielleicht kommt wieder eine Phase, wo das als Thema verschwindet, aber daß das gleich passiert, glaube ich nicht. Alles, was man da, etwa in Illustrierten, zu lesen bekommt über das Thema Sexualität, ist: „AIDS, eine neue Möglichkeit für die Liebe“, und dann heißt’s: „Sexualität ist ja nicht alles“. Das heißt, es wird jetzt genommen als Argument, daß es nicht sein muß, weil es eh‘ gefährlich ist und dahinter steht: „Na, da sieht man ja, wohin uns das gebracht hat“.

W: Haben Sie den Eindruck, daß oft, je nach Bedarf, nur ein Aspekt der Arbeit Reichs herausgenommen wird und dann ein falsches Bild entsteht?

N: Es gibt wenige, die akzeptieren, das man Reich als Ganzes nehmen muß, ob’s einem Spaß macht oder nicht. Entweder man kennt den einen oder den anderen, oder man liebt den einen und haßt den anderen, oder man haßt den einen und liebt den anderen. In Berlin war das ein bißchen anders, also beim Interview mit Bernd Senf hab ich den Eindruck gehabt, der – gut, das ist aber ein anderer Zugang.

Aber wenn ich mich an Wien erinnere, dann habe ich immer den Eindruck gehabt, man wirft dem Reich vor, daß er schizophren ist; ich finde, die Leute, wie sie mit ihm umgehen, das ist schizophren….(lacht)….er wird so schön „geteilt“.

Dazu fällt mir noch ein anderer Aspekt ein: Die Auseinandersetzung mit Reich im Wissenschaftsbereich, oder besser die Nichtauseinandersetzung; die läuft insofern anders, als da der Kommunist nicht wichtig ist, da ist es der Geistesgestörte. Und da kommt der Wissenschaftsbegriff mit hinein: Wie arbeitet man wissenschaftlich? Man hat etwas, und dann braucht man tausend Beweise, und dann stimmt’s.

Reich war ein Wissenschaftler – und ich stehe dazu, daß das Wissenschaft ist, was er gemacht hat – dem fällt was ein, er hat das Gefühl, es stimmt, dann macht er ein paar Versuche und dann sagt er, die Details können die anderen machen, ich suche mir etwas anderes. Es gibt aber Leute, die sich mit ihm nicht auseinandersetzen wollen, weil sie sagen, das ist so schlampig, das ist ein Blödsinn. Dann sage ich, dann nehmt doch was und widerlegt es. Wenn ihr glaubt, da ist was falsch – ihr müßt es ja nicht verifizieren – dann macht’s Versuche dazu und sagt’s, das ist falsch. Tut aber keiner – bitte warum?

Der Sozialtherapeut, Ernst Federn, hat mir zum Beispiel gesagt, seiner Meinung nach, aus amerikanischer Sicht – Federn wurde in den USA psychoanalytisch ausgebildet – ist Reich absolut ein Wissenschaftler. Und mir ist aufgefallen, daß es da eine unterschiedliche Auffassung des Wissenschaftsbegriffes gibt, ja, und mir ist in Gesprächen aufgefallen, daß Reich zum Beispiel in Italien sehr viel populärer ist.

Die Italiener haben auch eine ganz andere Art mit Wissenschaft umzugehen. Da spielen so intuitive Dinge, die man nicht mit germanisch-nordischer Überrationalität erreichen kann, eine Rolle. Daß der Basaglia dort möglich ist und bei uns nicht, das nimmt nicht wunder. Dort gibt es auch Reich-Institute. Das sind Leute, die rein intuitiv begreifen, „Moment da ist was“.

Ich bin gar nicht der Ansicht, daß man da nicht weiter schauen soll, was ist gut und was ist nicht gut, aber im Wurf stimmt’s. Und das ist von unserer Wissenschaftsauffassung her hier unüblich, das gilt nicht. Ich glaube, daß das ein Problem in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Reich ist. Das ist eine Art von Wissenschaft, in die Reich nicht hineinpaßt.

W: Können Sie über Ihre, zum großen Teil nicht gesendeten Interviews zur Radiosendung etwas, sagen? Was war da Ihre Erfahrung?

N: In Wien oder in Berlin? Also, für mich war der Kontrast ziemlich stark. Wobei ich sagen will, ich möchte nie Österreich und Deutschland vergleichen, aber Wien und Berlin, glaube ich, kann man vergleichen; vom Stellenwert her, von den Voraussetzungen her. In Wien hab ich den Eindruck gehabt, auch von den „Experten“, auch, wenn es denen jetzt weh tut (lacht), daß vor allem, etwa in Bezug auf Therapie schon gesagt wird, wie gearbeitet wird – also mit Körpertherapie – und was da passiert, wie man das macht. Aber wenn es um die Hintergründe geht, dann kriegt das so was – vielleicht ist das wienerisch – es kriegt so etwas allgemein Schönes.- Wilhelm Reich als der Wunderbare, der Großartige, man kriegt direkt weite Gefühle und man hat das Gefühl, jetzt muß man ein Wienerlied zu singen anfangen.- Das verstehe ich zwar, so rein emotional, aber ich hab den Eindruck einer schlampigen Vermittlung gehabt.

W: Was war Ihr Auftrag zu dieser Sendung?

N: Ich hatte die Aufgabe, als Skeptikerin an dieses Thema heranzugehen. Ich bin jemand, der von Reich was gelesen und gehört hat und sich sagt, was soll ich mit dem, und jetzt schau ich, was bei den Gesprächen herauskommt. Also bei den Wiener Interviews hab ich mir gedacht, da steckt sehr viel Enthusiasmus dahinter, sehr viel Überzeugung, sehr viel auch an Identifikation und sehr viel Positives, was gemacht wird, aber in der Vermittlung habe ich eigentlich nicht sehr viel anfangen können damit, jetzt davon abgesehen, daß ich selbst eine ganze Menge davon weiß.

Aber an wirklich Konkretem kam wenig. Das klang so allgemein wie: Ja, es geht darum, daß man sich wohlfühlt, und daß da Spannungen gelöst werden, und daß das in irgendeinem Zusammenhang steht, und dann ist man befreit, und so weiter. Ich glaube, man kann Reich nur vermitteln, indem man sehr konkret sagt, das hat er gemacht, und das hat er wollen, und das kommt dabei raus, oder, das kommt nicht dabei raus. Das sind die Dinge, die ich in Berlin gehört habe.

Außerdem ist mir in Wien aufgefallen, daß hier eigentlich die. Auseinandersetzung mit dem „späten“ Reich nur stattfindet bei Leuten, die so euphorisch, so guruhaft hinten – herrennen, daß aber im Grunde genommen keine sachliche Auseinandersetzung stattfindet. Das, was hier stattfindet ist doch der frühe Reich, ja, jetzt gar nicht einmal negativ gewertet. Den späten Reich überläßt man den neokonservativen Naturschwärmern, was ich für falsch halte.

In Berlin habe ich erlebt, daß man sich damit auseinandersetzt. Mit Reichs Äthertheorien, mit dem Orgonakkumulator aus der Sicht von Medizin, Chemie und Physik. Wo etwa der Mediziner Heiko Lassek über den Reichschen Bluttest berichtete, wo man versucht hat, Reichs Krebstheorie wirklich bis in die Details zu analysieren – was ist dran, was ist nicht dran. Oder Leute, die bioenergetische Phänomäne photographisch sichtbar gemacht haben. Oder Versuche, wie man in der Natur, etwa beim Waldsterben, versucht, mit den Erkenntnissen

Wilhelm Reichs zu schauen, was bedeutet das praktisch. Ja, da stehen aber Leute, die sagen, das funktioniert, und das funktioniert nicht. Das war wirklich beeindruckend, und dann frage ich mich, warum geht das da hier bei uns nicht? Interessiert es niemanden, kennt sich keiner aus? Warum bleiben wir stehen, wo ich glaube, daß man den Reich schon abnützt, weil in dem Bereich, wo wir jetzt bei Reich sind, da gibt es schon sehr viele Weiterentwicklungen, ja, während ich glaube, daß, das, wo Reich wirklich immer noch einzigartig ist, eben alles andere ist, was er weiterentwickelt hat. Ich versteh das nicht, können Sie mir helfen?

W: Heiko Lassek, der etwa mit dem Nachvollzug der Bionexperimente die diesbezüglich wohl aufwendigste Forschung betrieb, meint, daß – neben dem finanziellen Aufwand – mit dem Fortschreiten des Versuchablaufs stets neue Fragen auftauchen, die ein immer spezielleres Fachwissen aus verschiedensten Gebieten erfordern.- In Wien hat es 1982 nach den Wilhelm Reich Tagen der AIKE Ansätze zur Bildung von Arbeitsgruppen gegeben, die aber alle entweder dort steckengeblieben, oder wieder im Sand verlaufen sind.

N: Es dürfte offensichtlich schon eine unheimliche Erleichterung sein, daß es endlich in Österreich vereinzelt Leute gibt, die sich mit Körpertherapie befassen.- Ja, und in den nächsten zwanzig Jahren kommt man vielleicht drauf, daß es da noch etwas gibt. Für Bernd Senf etwa, für den ist es völlig klar, bitte, daß man bei Wilhelm Reich einmal vorne beginnt und nicht bei Eva Reich stehenbleibt, sondern daß man schaut, was macht etwa die Physik damit. Ein anderer Referent sagte zu mir, die Physiker sind, wenn sie sich mit Reich auseinandersetzen, total verwirrt. Da gibt es den zweiten Satz der Wärmelehre oder so, ich kenne mich da nicht so genau aus, da soll es ganz hitzige Debatten geben. Da ist einer dort gestanden und hat gesagt – er ist also Professor an der … weiß ich wo -, daß etwa sein vorgesetzter Professor, ebenfalls Physiker, im Gespräch zu ihm meint: „Sie haben eh‘ recht mit dem Reich, aber ich kann es mir nicht leisten, daß ich das laut sag'“.

Ich habe den Eindruck, daß die Wiener den Reich auch wieder teilen. In den Gesprächen, die ich geführt hab mit den verschiedensten Leuten vom Reich Institut, da hat bitte keiner etwa vom „politischen“ Reich geredet. Ja, also hier erfolgt eine Reduktion, von der ich sage, daß sie Reich nicht gerecht wird; das stört mich. Ich finde, daß die Reich-Rezeption hier sehr schwach ist, und wenn, dann unheimlich punktuell, also auf Körpertherapie bezogen. Das sage ich gleich: Ich würde mir da vom Reich Institut erwarten, daß da ein bisserl mehr passiert.

W: …auch in politischer Hinsicht?

N: Man muß es ja nicht gut finden, aber man kann sich Reich nicht aufs Banner heften und sagen, wir nehmen uns dieses Stückchen, und was früher war interessiert uns nicht, uns interessiert auch nicht sein Leben, etc.- Im Grunde genommen müßte es Verbindungen geben zur „Grünen Bewegung“. Ich glaube, man sollte Kontakte versuchen und sie sehr vorsichtig beobachten.

Bei Reich gibt es eine Gefahr. Er ist so ein – ich kenne einen anderen aus der Religionsphilosophie, das ist Martin Buber – der geht mit so einem Bauchladen spazieren und jeder sucht sich sein Stückel und nimmt’s fürs Ganze und dann kommt nichts heraus dabei.

W: Welche Funktion könnte das Reich Institut in Wien, Ihrer Meinung nach, übernehmen?

N: Ich glaube, daß man zum Beispiel in der Erwachsenenbildung etwas tun könnte. Ich glaube, daß es diese Möglichkeit gäbe, und zwar in verschiedenen Bereichen, etwa in Volkshochschulen. Mit manchen Themen würde ich mich sogar trauen, in den katholischen Bereich zu gehen, in den aufgeschlossenen, da gibt es doch sehr schöne Sachen, so, was Kinder, Mutterschaft, etc. betrifft.

Ich glaube, es gehört auch zur Wiener Mentalität sich pausenlos von Feinden umgeben zu sehen. Ich glaube, daß Leute, die sich für Reich interessieren, nicht von Feinden umgeben sind, sondern von Leuten, von denen sie nicht geliebt werden. Ja, nur glaube ich, daß man das aushalten muß. Da besteht so die Tendenz: „Es mag uns eh“ keiner und folglich verkriechen wir uns noch mehr in uns und dann können wir uns wenigstens beschweren, daß uns keiner mag“. Also ich glaube, daß das gerade Reichianer nicht dürfen (lacht).

W: …also ein kämpferischer Aspekt?

N: Ja, Reich ist für mich ein Beispiel, der halt, auch wenn er zum Schluß schon große Schwierigkeiten gehabt hat, immer ein Kämpfer war. Ich glaube, das war eine ganz wesentliche Seite von ihm, daß er im Grunde gesagt hat, ja, wenn ich eine Idee für richtig halte, dann setze ich mich auch dafür ein. Daß bei dem Gerichtsverfahren Reichs Vorgangsweise schon etwas obskur war, das ist eine andere Sache, aber er hat sich von seiner Arbeit nicht abhalten lassen, auch wenn alle Leute gesagt haben, das ist ein Unsinn. Er war ein Mensch, der hat gelebt. Da hat Eva Reich sicher recht, er war immer sehr lebendig, und das heißt eben auch, daß man Niederlagen hinzunehmen hat.

W: In der Sendung wurde erwähnt, daß Reich über seine Kindheit zum Teil Falsches erzählte

N: Mir hat einmal Eva Reich erzählt, er hätte von seiner Jugend nur geschwärmt, er hätte eine so phantastische Jugend gehabt und alles war Wonne und Waschtrog. Das kann einfach nicht stimmen. Federn hat mir zum Beispiel gesagt, er weiß – ich meine sehr vieles weiß man ja nicht, weil Analysen ja nicht so offen zugänglich sind, aber „man“ wußte damals, daß da was nicht stimmen konnte. Zum Beispiel hat mir Eva Reich erzählt, die Tatsache, daß seine Mutter Selbstmord begangen hat, hat sie nicht von ihm erfahren, darüber hat er mit ihr nicht gesprochen; ich meine, das ist doch auffällig, immerhin waren sie ja auch sehr gut dann. Auch seine Frau Ilse 011endorf schreibt, daß er im Grunde genommen immer sehr von seiner Mutter geschwärmt hat, aber tatsächlich kommt nicht viel dabei heraus.

In ihrer Biographie kommt am Anfang das Kapitel über Reichs Kindheit und Jugend vor. Darüber weiß man nicht viel, und er selber hat auch nicht darüber geredet. Ich meine, das ist auffällig. Da ist mir dann die Alice Miller eingefallen»- Wenn man dann ein bißchen geschildert bekommt, wie der Vater war, dann kann das kein sehr großartiges Familienleben gewesen sein. Eva Reich hat gesagt, er hat so gut durchgehalten, weil er sich ein so phantastisches Fundament in seiner Jugend erworben hatte, aus dem hat er seine Kräfte geschöpft. Das ist eine Fehlinterpretation meiner Meinung nach. Aber, ich gebe zu, das ist in mir so der Hobbypsychologe, der sich da mit ihm auseinandersetzt.-

W: Am Schluß der Sendung, in dem Interview mit dem Vorsitzenden der Psychoanalytischen Gesellschaft, Harald Leupold-Löwenthal klang es, als ob auch Reichs psychoanalytische Arbeit nicht erstzunehmen wäre.

N: Also mir hat der Wiesenthal seinerzeit-

W: Löwenthal

N: der Leupold-Löwenthal…was hab ich jetzt gesagt…?

W: Wiesenthal

N: Um Gottes willen, also darüber muß ich dann nachdenken (lacht), das ist aber sehr schlimm, na so was, das muß ich jetzt wegschieben, also mich irritiert’s, na ja, gut Also: Der Leupold-Löwenthal hat mir damals aus seinen Notizen heraus gesagt – das hat er in dem Rundfunkinterview mit Klein nicht mehr gehabt – er hat gesagt, und das war ein positiver Aspekt für mich, er hält Reich für einen Charismatiker, ja, also er ist nicht nicht ernst zu nehmen, sondern daß er jemand war, der aufgrund seiner unglaublich starken Ausstrahlung auch tatsächlich Wirkungen in Heilungsprozessen erzielt hat. Bei Leupold-Löwenthal hatte ich nicht den Eindruck, daß er das nur negativ gemeint hat. Das ist nur in diesem Interview nicht herausgekommen, das war halt unheimlich sachlich und rational geführt. Ich mag das nicht so; ich meine, man sollte immer mischen, weil manchmal, wenn man auch unheimlich kluge Leute ein bißchen emotional anredet, dann kommt viel mehr dabei heraus.

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    Body Energetics

    Die Arbeit mit dem „Instroke“
    Will Davis:

    Der Amerikaner Will Davis ist Psychologe und lehrte auf Colleges in Washington und Kalifornien. Seine therapeutische Laufbahn begann er als Gesprächs- und Gestalttherapeut anfangs der siebziger Jahre. Nach seiner Ausbildung am RADIX-Institute, 1976, arbeitet er mit Techniken neoreichianischer Körperarbeit. Er war Mitbegründer des Chrysalis Energy Center und hat teilweise gemeinsam mit Charles Kelley an verschiedenen Instituten des amerikanischen „Alternative Health Movement“ gearbeitet.

    Seit 1983 ist er hauptsächlich in Europa tätig, wo er neue Konzepte zur Pulsation in der Körperarbeit entwickelt hat. Seine Arbeitsmethode nennt er „Body-Energetics“, deren nachfolgend diskutiertes theoretisches Konzept primär auf der „Instroke“- Arbeit basiert.

    Im Unterschied zu einer Reihe anderer neoreichianischer Techniken, die das Schwergewicht auf den „Outstroke“, auf die expansive, nach außen hin gerichtete Phase der Pulsation legen, arbeitet Will Davis mit der nach innen, zur Kontraktion hin, gerichteten Bewegung; ähnlich, wie das in Ansätzen Reich selbst in seinem späteren Arbeiten tat, und ähnlich auch einem Grundgedanken, der der „Ortho-Bionomie“ zugrunde liegt.[1]

    Davis“ Konzept beinhaltet einerseits Techniken und Übungen, andererseits bietet es eine neue Modellvorstelllung zur Differenzierung von Struktur und Charakter.

    Will Davis: Die Arbeit mit dem „Instroke“

    Die Basis aller Arbeitskonzepte von Wilhelm Reich und seinen Schülern ist der Energiefluß. Reichs Verständnis von der Pulsation der Energie, ihrer rhythmischen Expansion und Kontraktion trug viel dazu bei, die physischen Ursachen emotionaler Störungen zu erklären und bot ein Arbeitsmodell für die Behandlung dieser Störungen an.

    Dieser Artikel stellt einen Ansatz vor, bei dem die Arbeit mit dem „Instroke“ – dem nach innen gerichteten Energiefluß der Pulsation – im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Meines Erachtens wurde in der Reich’schen Arbeit dem „Outstroke“ – der expansiven, nach außen gerichteten Phase des Energieflusses – bislang mehr Beachtung geschenkt.

    Der „Outstroke“ mit all seiner dramatischen Kraft scheint auf den ersten Blick die „wichtigere“ Phase der Pulsation zu sein, wobei denn dem „Instroke“, der Kontraktion, lediglich die Rolle einer Balance-Reaktion zukommt. Zu oft wird kaum unterschieden zwischen der Kontraktion, bei der Blockieren und Festhalten die bestimmenden Faktoren sind (was gleichzusetzen ist mit „Anti-Leben“), und der Kontraktion, die durch den natürlich nach innen gerichteten Fluß mit der Einwärtsbewegung der Pulsatin eintritt.

    So wie in der expansiven Phase bedarf es auch beim nach innen gerichteten Energiefluß eines ungehinderten Fließens. „Kontraktion“ – im Sinne von Festhalten und Blockieren – kann eintreten, aber sie ist dann lediglich eine Geaenpulsation zum „Outstroke“. Allein die Tatsache, daß der Fluß nach innen geht, bedeutet nicht unbedingt, daß es sich um Blockieren und Festhalten handelt.

    „Kontraktion“ ist mit einem negativen Beigeschmack behaftet und wird bestenfalls als notwendiger Teil der Pulsation toleriert. Eine ausgewogenere Meinung dazu hat Stanley Keleman: „Atmen…. (ist) ein rhythmischer, aus sich selbst heraus entstehender Prozeß, der den ganzen Organismus miteinbezieht. Es beschränkt sich nicht auf die Bewegungen des Zwerchfells. Atmen führt zur totalen Ausdehnung und umfassenden Expansion des Organismus – wie bei einem Zylinder -, der sich rundherum öffnet und selbst ausdehnt. Der Organismus expandiert und zieht sich wieder zusammen. Er kontrahiert nicht, er verdichtet sich. Er weitet seine Grenzen aus und verdichtet sich dann wieder.“

    Die Arbeit, die hier vorgestellt wird, bietet sowohl ein Modell zur Differenzierung zwischen den verschiedenen Arten der Pulsation – in Form einer Diskussion von Struktur, Charakter und Pulsation – als auch Techniken und Übungen, die auf diesem Konzept basieren. Für bestimmte Charakterstrukturen (insbesondere zu Beginn der Arbeit) ist dieser Ansatz besonders hilfreich und wichtig. Zur besseren Differenzierung werde ich die Kategorien – weiche -und – harte – (soft/hard) Körperstrukturen benutzen. „Instroke-Work“ läßt sich bei oralen Strukturen (Terminus der Bioenergetik) oder bei Angst-Strukturen (Radix-Terminus) anwenden.

    „Instroke-Work“ eignet sich ebenfalls bei der Arbeit mit Menschen mit starken passiv/aggressiven Tendenzen und auch dann, wenn Furcht vor einer tieferen Emotion das vorherrschende Gefühl ist. Meine Ausführungen erheben nicht den Anspruch, auch eine perfekte Methode darzustellen. Wichtiger ist mir der andere Ansatz, und die Tatsache, dass diese Methode flexibel gehandhabt werden kann.

    Menschen mit weichen Körperstrukturen sind gewöhnlich eher dünn mit blasser, kalter Haut, die leblos und schlaff ist. Oft korreliert die leblose Haut mit einer allgemeinen Schlaffheit des ganzen Körpers; dies überrascht, wenn man bedenkt, aus wie wenig „Fleisch“ diese Menschen bestehen. Wenn sie viel Gewicht haben, haben sie einen abgerundeten weichen Körper, der auch wieder schlaff und spannungslos ist. Auch spiegelt sich eine bestimmte „Unreife“ in ihrem Körper wieder, so daß man den Eindruck hat, es handle sich um „Babyspeck“, eine Art Plumpheit.

    Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen diesem Typ des Übergewichtigen und jemandem, der sich normal zum Erwachsenen entwickelt hat und lediglich Übergewicht hat. Zwar benutzen beide das Gewicht als eine Form der Abwehr, aber die Quellen und qualitativen Aspekte ihrer gelebten Sexualität unterscheiden sich beträchtlich. Die erstgenannte Struktur hat in ihrer sexuellen Entwicklung die Pubertät nicht erlebt. Sie stellt die Beziehung zum anderen Geschlecht wie ein Kind oder Jugendlicher vor dem zehnten Lebensjahr oder in der frühen Teenager-Phase her. Die Sexualität der zweitgenannten, der Übergewichtigen, hat sich hingegen entwickelt, sie wird jedoch nicht sehr aktiv gelebt.

    In der Regel sind die Augen des weichen Typs blaß und ausgewaschen, mit einem distanzierten, kontaktlosen Erscheinungsbild. Sind die Augen jedoch ausdrucksstark, dann spricht aus ihnen meist Angst oder Traurigkeit und oft auch eine Art Bedürftigkeit. Diese Bedürftigkeit spiegelt sich auch im übrigen Erscheinungsbild wieder: die Menschen dieser Struktur scheinen unterernährt zu sein. Dies zeigt sich besonders im Brustbereich, wo ein meist knöchriger Brustkorb mit einer niedergedrückten oberen Brust bedeckt ist, was durch runde, hohe Schultern noch extra unterstrichen wird.

    Betrachtet man die darunterliegenden Körpersegmente, so entdeckt man, daß die Menschen dieser Struktur meist in der Solar-Plexus-Zone zusammengefallen sind, so als ob sie einen Schlag in den Bauch bekommen und

    sich nie mehr davon erholt hätten. Die Gesäßhälften sind dünn und wenig ausgebildet; der Bereich des Anus scheint ein- und zusammengezogen wie bei einem Hund mit „eingezogenem Schwanz“. Auch die Beine sind gewöhnlich dünn, gelegentlich können sie jedoch auch gut ausgebildet sein. Ist letzteres der Fall, so stehen die Beine in einem deutlichen Kontrast zur unterentwickelten oberen Körperhälfte.

    Einige Menschen dieser Struktur vermitteln einen alles einschließenden Eindruck von Rigidität, der den beschreibenden Begriff „weiche“ Körperstrukturen Lügen straft. Ich sehe diese Körper als „gefrorene Schreie“ an, sehe ein inneres Festhalten, was auf einer sehr tiefen Ebene stattfindet. Dies ist bei dünneren Menschen augenscheinlicher, doch ich glaube, daß es für die meisten Menschen dieses Typus gilt. Der Prozeß der Muskelpanzerung ist hier sehr verschieden von dem der harten Strukturen: aus diesem Grund kann ein neues Modell, das beschreibt, wer diese Menschen sind und wie sie funktionieren, von Bedeutung sein.

    Das allgemeine Verständnis der Panzerung ist angespannte und festhaltende Beschaffenheit der Muskeln, wodurch der freie Energiefluß blockiert wird. Ich denke, daß die Strukturen, die ich als den „harten“ Körpertyp bezeichnet habe, im allgemeinen diesem Modell entsprechen. In bioenergetischen Begriffen sind dies die „phallischen“ und „masochistischen“ Strukturen, in Radix-Termini die „Wut-Strukturen“. Sie blockieren, indem sie die größeren Oberflächenmuskeln benutzen: den Pectoralis, den Latissimus Dorsi, den Glutei, den Rectus abdominus; im allgemeinen handelt es sich also um die äußere Muskulatur.

    Es bestehen Parallelen zum Körper eines Insekts: hart an der Außenseite, und sofern es gelingt, durch diese durchzudringen, stößt man auf ein weiches, breiiges Inneres. Dies dient auch als charakterologische Beschreibung: Menschen dieses Typus sind schroff und hart und schützen sich in der Regel vor der Weichheit in ihrem Inneren. Die Arbeit mit ihnen zielt darauf hin, ins Innere zu gelangen, ja vielleicht dort „einzubrechen“. Sobald es gelungen ist, einzudringen, wird der Kontakt mit tiefem Gefühl erlebt.

    Menschen dieses „harten“ Körpertyps leben mehr im äußeren Bereich ihres Körpers. Ihre Orientierung ist „ganz nach Außen“ gerichtet und sie sind nicht so stark mit sich selbst und mit ihrem Inneren in Kontakt wie die „weichen“ Körperstrukturen. Sie sind weitsichtig, sehr gesellig, suchen Kontakt und sind zeitweise auch eher oberflächlich und unpersönlich.

    Ihre Bewegungen sind weniger anmutig, erscheinen oft sogar schwerfällig. Meist sind sie hyperaktiv und mit ihrem Schwerpunkt in der äußeren Muskulatur. Diese Muskeln sind diejenigen, die sich im Kleinkind- und Kindesalter entwickeln. Sie sind bei allen frühen Bewegungen wie beim Hin- und Herrollen, beim Schlagen und beim Sich-Ausstrecken beteiligt. Diese Muskeln sind ebenfalls leichter dem Bewußtsein zugänglich, sowohl dem eigenen als auch dem der Anderen.

    Sie sind leicht zu kontaktieren und direkt zu beeinflussen. Weil jene Muskeln, die hier zur Blockierung des Energieflusses eingesetzt werden, mehr an der Oberfläche sind, ist jede Art der Panzerung, die stattfindet, leichter sichtbar. Es ist einfach, einen angespannten Pectoralis zu erkennen, weil er direkt an der Oberfläche liegt. Muskeln dieser Art sind der direkten Manipulation leichter zugänglich: in der Arbeit wird nach und nach der Widerstand sowohl gesehen als auch auf einer direkten Ebene gefühlt.

    Bei einer „weichen“ Körperstruktur finden wir das Gegenteil. Hier haben wir ein inneres Festhalten und Blockieren, das eher mit dem tiefen Skelettsystem (dem Unterstützungssystem) als mit der äußeren Muskulatur verbunden ist. Die hier beteiligten Muskeln sind enger an den Knochen, insbesondere dem Rückgrat, ausgerichtet.

    Die Zwischenspinalis-Muskeln mit der Funktion des Erector Major, die tiefen Nackenmuskeln, die zum Rücken hinunterlaufen, der Quadratus Lumborum, der beim tiefen Einatmen in Aktion tritt, der Psoas und der Beckenboden, der ebenfalls an der Atmung beteiligt ist, sind die wesentlichen Muskeln, die bei dieser Struktur zum Festhalten und als Widerstand gegen den natürlichen Fluß der Energie verwendet werden.

    Weil diese Muskeln so tief liegen, sind sie weder äußerer Manipulation noch dem Bewußtsein leicht zugänglich. Das genaue Verständnis dieses tiefen Festhaltens gibt uns einen Einblick in die Rigidität, die diese Menschen sowohl strukturell als auch charakterlich haben, obwohl sie weich und geschmeidig scheinen. Ihre scheinbare Weichheit vermittelt den Eindruck, daß sie kooperativ sind, ja sogar in alles einwilligen, um sich dann aber auch zu beklagen, in einer Opferrolle zu sein.

    Tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall: Genauere Untersuchungen enthüllen eine tiefe Hartnäckigkeit, die mit einem passiv-aggressiven Zug verbunden ist. Oft ist ihre Kooperation nur ein halbherziger Versuch, der immer stecken zu bleiben scheint und dem eine Unzahl von Entschuldigungen folgt.

    Menschen mit „weicher“ Körperstruktur sind mehr in Kontakt mit sich selbst, weniger gesellig und deswegen in ihrem Verhalten weniger sozial bestimmt. Ihre Rigidität ist ihre Stärke, hier liegt ihre Kraft. Sie sind ziemlich hartnäckig und unflexibel und haben nicht die augenfällige Kraft und Wut, die den „harten“ Typus auszeichnet. Aber ihre innere Härte stattet sie mit der Stärke aus, die sie brauchen, um durchzukommen.

    Man findet hier oft einen starken passiven Anteil; sie gehen nie aus sich heraus und greifen nicht an; aber sie geben auch selten auf und erlauben es (sich) auch nicht, von anderen ‚ gepusht‘ zu werden. Es ist, als ob sie auf einem „energetischen Besenstiel“ reiten, der vom Anus an aufwärts bis zum Schädelansatz läuft.

    Wie schon erwähnt, diese Menschen sind weniger gesellig, stärker introvertiert und verinnerlicht. Sie leben mehr Innen mit ihrem Schwerpunkt, im Gegensatz zu den „harten“ Strukturen, die mehr an der Peripherie und an der Oberfläche leben. Die Arbeit mit ihnen hat weniger das Ziel, sie nach Innen zu bringen wie bei den „harten“ Strukturen -, sondern soll ihnen helfen, dahin zu kommen, daß sie „herauskommen“ und „draußen“ bleiben können.

    Es erscheint häufig so als ob diese Menschen über wenig Energie verfügen. Sie haben meist Angst vor passiv-aggressiven Gefühlen und zeigen sowohl Befremden als auch Ekel – zwei Gefühle mit stark beurteilender Qualität, die mit intellektualisierter Wut verbunden sind.

    Sie erwecken den Eindruck, bedürftig und abhängig zu sein, „spielen“ die Hilflosen, so oft es möglich ist. Im Grunde genommen sind sie sehr stark verbal, meist sehr intelligent und gebildet und zu stark intellektuell, insbesondere wenn es darum geht, mit Wut umzugehen. Sie empfinden eher Ekel und Empörung, sind sarkastisch und haben einen bissigen, höhnischen Humor.

    Indem sie ihr ‚inneres‘ Leben leben, sind sie mehr im Kontakt mit sich selbst, stärker zentriert und sensibler als die „harten“ Strukturen. Sie können geduldiger sein und zeigen ein gutes Verständnis für soziale Kontakte und zwischenmenschliche Beziehungen; doch sie fürchten sich meist sehr davor, das, was sie wissen, in die Tat umzusetzen und in ihre Beziehungen einzubringen. Sie haben ein gutes intellektuelles Verständnis, aber dabei bleibt es oft auch.

    Aufgrund ihrer Unfähigkeit, ihr theoretisches Wissen in die eigene Lebenspraxis umzusetzen, sind sie zurückgezogen. Sie tendieren dazu, alleine zu sein und verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit Aktivitäten, die keinen Kontakt mit anderen erfordern: Lesen, alleine arbeiten, Fernsehen. Sie haben einige wenige starke soziale Beziehungen, von denen sie total abhängig sind; die meisten ihrer Bindungen basieren jedoch eher auf Bedürftigkeit und Schuldgefühl als auf tatsächlich vorhandener Übereinstimmung.

    Sie ziehen es vor, Dinge geschehen zulassen und in der reaktiven Position zu verharren, was häufig dazu führt, daß sie ihre Opferrolle fortsetzen. Ihr Leben „bricht“ in gewisser Weise „über sie herein“, und sie verbringen viel Zeit und Energie damit zu tadeln und zu klagen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Ihr wenig entwickeltes Selbstkonzept hält sie davon ab, viel zu tun, damit sich wirklich etwas ändert.

    Ein Hauptcharakteristikum dieser Struktur ist, daß neue Erfahrungen für diese Menschen nicht aufregend im positiven Sinne, sondern beängstigend sind. Sie sind nicht risikofreudig, ihnen mißfällt der Sprung ins Abenteuer. Ihrer intellektualisierten Natur entsprechend sind sie nur schwer zu neuen Erfahrungen zu bewegen. Sie wollen wissen, was passiert, bevor es passiert.

    Sie wollen nur langsam vorwärtsgehen, wollen sich immer einen Fluchtweg freihalten für den Fall, daß etwas passiert; sie sind nicht bereit, sich direkt und in voller Absicht zu verpflichten. Ihr ganzer Lebensstil, Charakter und ihre Struktur ist auf diesen Prinzipien aufgebaut. Hier besteht ein gewaltiger Unterschied zu den „harten“ Körperstrukturen.

    Ich glaube, daß an dieser Stelle ein erweitertes Pulsationsmodell in zweierlei Hinsicht nützlich ist: zum einen, um diese Menschen besser zu verstehen, und zum anderen, um effektive Arbeitsformen für diese Struktur zu entwickeln.

    Zum Zweck der Illustration und des Kontrasts will ich die ursprünglich von Reich entwickelte, von Kelley modifizierte Orgasmus-Formel darstellen:

    Ladung – Spannung – Entladung – Entspannung

    Dieses Modell gilt als allgemeinverbindlich und gültig für die Arbeit mit jeder Struktur. Es scheint ein realistisches Modell für die energetischen Abläufe in einem gesunden Organismus zu sein. Und es ist vielleicht in der langfristigen Arbeit mit Menschen ein erstrebenswertes Ideal. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß dieses Modell für bestimmte Charakterstrukturen nicht brauchbar ist, zumindest dann nicht, wenn man ihre Funktionsfähigkeit zu Beginn der Arbeit betrachtet.

    Es ist ein gutes Modell für die Arbeit mit den von mir als „hart“ bezeichneten Körperstrukuren. Ihrem strukturell und energetischen Funktionieren kommt diese Formel sehr nahe. Nehmen wir wieder Kelley’s Formulierung und vergleichen diese mit der „harten“ Körperstruktur: wir sehen eine Annäherung zwischen der grundlegenden Funktionsweise dieser Struktur und der Orgasmusformel. Der harte Körper ist geladen und gespannt.

    Aufgrund dieser Tatsache sind Menschen dieses Typs in der Lage, die Ladung zu erhöhen, wenn sie sich auf eine Entladung zubewegen. Strukturell und charakterologisch können sie ihren Energiestrom nach außen fließen lassen, sich nach außen bewegen, expandieren, denn es ist die Richtung ihres Energieflusses und zugleich ihre gesamte Orientierung. Sie sind in der Lage, das klassische Entladungsmodell in Stil und Form zumindest nachzuahmen.

    Bei „harten“ Strukturen ist ein Energiefluß vorhanden, der nach außen geht und ihnen die Fähigkeit gibt, Ladung zu entwickeln und zu halten; schon deshalb sind sie in einer besseren Position als die „weichen“ Strukturen, wenn es darum geht, zu einer Entladung zu kommen. Sie müssen lernen, loszulassen, ihre Panzerung zu durchdringen und nach innen zu kommen, um mit sich selbst in tieferen Kontakt zu kommen.

    „Weiche“ Strukturen leben auf einem niedrigeren Energieniveau und müssen lernen, sowohl zu laden als auch die Ladung aufrechtzuerhalten; dann, den Fluß ihrer Energie umzudrehen und die Energie nach Außen zu bringen. Wut blockierende Strukturen können sich bereits ausdrücken, sie müssen lernen, in ihrem Ausdruck mehr Kontakt zu halten; sie bewegen sich schon nach außen.

    Dagegen liegt es in der Natur der „weichen“ Körperstrukturen, nichts von alledem zu tun. Sie sind strukturell, charakterologisch und energetisch unfähig, das herzustellen, was von ihnen gefordert wird: zu pulsieren, sich auszudehnen und den Energiefluß nach Außen zu bringen. Sie ziehen sich zurück, ihr Energiefluß geht nach Innen anstatt nach Außen. So erleben sie oft jeden Versuch, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als Bedrohung oder gar Angriff: Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und ihr schlechtes Selbstkonzept kommen an die Oberfläche.

    Zu häufig stellt die traditionelle Arbeitsmethode ein für sie zu gewaltsames und zu direktes Vorgehen dar. Gelegentlich mag es einen Durchbruch geben, bei dem dieser Ansatz funktioniert. Aber als eine generell anzuwendende Technik eignet er sich nicht, weil ihm ein Verständnis der energetischen Funktionsweise und der Fähigkeiten dieser Struktur fehlt.

    Wenn man einen Ansatz gebraucht, den der „weiche“ Strukturtyp als sehr konfrontativ erlebt, werden Widerstände aktiviert. Das ist an sich kein Problem. Aber es ist ein großer Unterschied, mit dem Widerstand oder Widerstand zu arbeiten. Der Unterschied ist zu lernen, den Energiefluß – hier also den ‚Instroke‘ – so zu nutzen, wie er fließt: zuzulassen, daß die Energie fließt, auch wenn sie „nur“ nach innen fließt. Um dann zu helfen, einen tiefen und

    starken ‚Outstroke‘ zu entwickeln. Dies ist in energetischer Hinsicht ökonomischer als zu versuchen, die Natur des Zyklus der Pulsation umzukehren, bevor sie sich selbst vervollständigt hat. Es ist eine befriedigende Erfahrung, sowohl für den Therapeuten als auch für den Klienten, zu lernen, diesem Prozeß zu vertrauen und zu wissen, daß ein starker „Instroke“ sich ganz natürlich umdrehen und nach außen fließen wird. Dies macht das abgewandelte Pulsationsmodell aus, und natürlich auch, was es für die Arbeit mit „Soft Structures“ (weichen Körperstrukturen) bedeutet.

    In der Arbeit sind Yweiche Strukturen°, wenigstens dem Anschein nach, kooperativ. Sie tun oft das was von ihnen gewünscht und erwartet wird, aber sie kommen nicht zum gewünschten Ergebnis. Sie bewegen sich, schlagen mit den Armen und Händen, sie treten mit den Füßen und schreien, aber alles, was sie tun, scheint kraftlos und kurzlebig. Sogar das Stimmvoiumen mag da sein, aber der Ton ist dumpf.

    Die Beine können treten oder die Fäuste schlagen, aber die Bewegungen sind kraftlos. Es ist keine Ladung dabei, keine Pulsation damit verbunden, und wenn, dann sind sie unfähig, sie aufrechtzuerhalten. Sie sind strukturell nicht in der Lage aufzuladen, da ihr strukturelles Funktionieren ein physischer Zustand ist, der sich über Jahre hinweg entwickelt hat.

    Keleman drückt dies so aus: „Das tatsächliche Atemmuster ist individuell. Beobachten Sie, wie ein Mensch atmet und wie seine Struktur mit dem Atemmuster verbunden ist. Man kann nicht ein endomorphes Atemmuster bei einer ectomorphischen Struktur benutzen. Ein Mensch mit einem kurzen Hals atmet nicht gleich wie ein Mensch mit einem langen Hals.“

    Wenn man von ihnen etwas verlangt, das sie aufgrund ihrer Struktur nicht leisten können, werden ihre Abwehrmechanismen mobilisiert. Sie fühlen sich überrumpelt, hilflos und/oder angegriffen. Sie erleben die Welt, den Therapeuten als Bedrohung. Wieder wird von ihnen etwas verlangt, von dem sie spüren, daß sie es sich nicht leisten können, und so ziehen sie sich ärgerlich zurück. Sie „spielen“ die Hilflosen, und hier liegt, wie auch Perls in seiner „topdog/ underdog“-Dynamik aufzeigt, ihre Stärke. Sie haben sich wieder in ihre Burg zurückgezogen, sind abgeschlossen durch die hochgezogene Zugbrücke, und sie sind gewappnet für eine Belagerung.

    Sie fühlen sich sicher, weil sie den ihnen zur Verfügung stehenden starken Fluß der Pulsation nach Innen genutzt haben. Genauso, wie der Wutblockierer den nach Außen gerichteten „explosiven“ Fluß bei einer Bedrohung einsetzt, wissen auch die scheinbar passiven Charaktere des weichen Körpertyps, daß ihre Stärke im „Instroke“ liegt. Wenn hiermit also nicht gezielt gearbeitet wird, kann aus der Einwärtsbewegung der Pulsation leicht eine tatsächliche Kontraktion werden.

    Der Schlüssel zur Arbeit mit diesen Menschen liegt darin, zu begreifen, daß der „Instroke“ ein Sammeln, eine Selbstorganisation sein kann und daß er gerade deshalb dazu benutzt werden kann, sich wieder nach Außen zu bewegen, ohne im Inneren festgehalten zu werden. Es ist also mehr ein Arbeiten mit dem, was fälschlicherweise „Widerstand“ genannt wird, als ein Arbeiten dagegen.

    Gegen die Richtung des Flusses zu kämpfen, führt mit Sicherheit dazu, daß er zum Widerstand wird. Sich mit dem vorhandenen Energiefluß zu bewegen, bedeutet, ihn für das gewünschte Resultat zu verwenden. Für mich bedeutet dies, die Einwärtsbewegung der Pulsation zuzulassen und darauf zu vertrauen, daß sie sich mit Hilfe der richtigen Arbeit umdreht und zu einer expansiven Phase entwickelt.

    Weiche Strukturen werden, wie schon erwähnt, allgemein als Menschen mit wenig Energie angesehen, die weder fähig sind, Ladung aufzubauen noch sie zu halten. Dies zu sehen, ist ein wichtiger Bestandteil beim Beginn der Arbeit mit ihnen. Die beste Möglichkeit es zu lernen, ist, den Ladungsprozeß als ein stetiges Sammeln oder als den Aufbau eines Momentums zu sehen. Dann haben Klienten mit dieser Struktur die Gelegenheit – während der Arbeit, sowohl in einer einzelnen Sitzung als auch über einen längeren Zeitraum fortschreitend – beides zu lernen: zu laden und die Ladung auf einem langsam immer höher werdenden Niveau zu halten.

    Die grundlegende Orgasmusformel ist auch hier wirksam, obwohl der Ladungsprozeß sich anders als bei den harten Körperstrukturen entwickeln muß. Im Grunde genommen entspricht es einer etwas veränderten Darstellung der Orgasmus-Formel, wie sie von Reich in „Die Funktion des Orgasmus“ beschrieben wurde. Die Veränderung und Betonung liegt in der Übertreibung des langsamen und stufenweisen Ansteigens der Ladung während des Ladungsprozesses.

    Während ein weicher Strukturtyp zu laden beginnt, entwickelt sich mögliche-weise Widerstand. Eine Vielzahl von Reaktionen resultieren hieraus: Hyperventilation, Schwindelgefühle, Geistesabwesenheit, unkoordinierte Bewegungen, Reden oder Intellektualisieren. Wird dem Ladungsprozeß hier jedoch erlaubt abzufallen, und der Person in der Zwischenzeit Gelegenheit gegeben, sich ein wenig zu bewegen, sich zu strecken, um im Anschluß einen zweiten Ladungsprozeß zu beginnen, dann kann die Ladung meist erhöht und auf einem höheren Niveau toleriert werden.

    Ich denke, es ist falsch, die oben erwähnten Widerstände als reine Widerstände anzusehen, denn der Körper kann aufgrund seiner Struktur nicht sehr tief atmen und er kann keine Ladung halten.

    Bevor diese Menschen in der Lage sind, Ladung aufzubauen und zu halten, muß auf der Körperebene ein bestimmter Lernprozeß eingetreten sein. All die unkoordinierten Bewegungen, die zu starker Ladung folgen, Gähnen, Jucken und Strecken sind möglicherweise ein Versuch des Körpers, sich tatsächlich nach „Außen“ zu bewegen. Sie müssen nicht nur ein zwangsläufiges Zeichen von Zerstreutheit oder Abwehr sein.

    Ein kurzzeitiges Abfallen des Ladungsprozesses bedeutet nicht unbedingt den Verlust der Ladung. Im Gegenteil; das oben erwähnte stufenweise Ansteigen der Ladung ermöglicht uns ein besseres Verständnis davon, was passiert, wenn man dem Atem gestattet abzufallen, um dann nach einer Weile wieder von vorne anzufangen.

    Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man mit diesem Ansatz ein „schaukelndes“ Momentum aufbaut, das sich langsam verstärkt und bis zur Entladung aufgebaut werden kann. Der Ladungsprozeß, so wie er hier beschrieben wird, ähnelt sehr dem Bild eines Autos, das man aus Schnee oder Sumpf zu fahren versucht: man beschleunigt (atmet), dann geht man vom Gas weg (entspannt, streckt sich).

    Man läßt sich rückwärts rollen, bis der Antrieb wieder „greift“, und dann beschleunigt man wieder. Hier wird die Bewegung genutzt, die sich durch das Schaukeln auf natürliche Weise entwickelt, anstatt gegen sie anzukämpfen. Man kann also versuchen zu verhindern, daß das Auto rückwärts rollt und dagegen ankämpfen, oder man kann lernen, diese Bewegung zu seinen Gunsten auszunutzen.

    Dasselbe trifft auf die Pulsation zu: Man erlaubt die sowieso vorhandene eigenständige Ansammlung von Energie, den „Instroke“, und benutzt dann die dadurch entstandene Kraft und das Momentum, um sich wieder nach Außen zu bewegen. Man nimmt den Atem zu Hilfe und „treibt“ ihn an, wenn der Kreislauf sich verändert. Dies ist ein gutes Arbeitsmodell eines sich entwickelnden Ladungsprozesses, das während einer Sitzung sehr wirkungsvoll angewandt werden kann. Für mich entsteht hier ein Aufbauprozeß innerhalb jeder einzelnen Sitzung und in der Zeit danach.

    Lassen Sie die Ladung aufbauen und dann wieder abfallen. Lassen Sie sie wieder aufbauen und dann wieder abfallen. In Kelemans Worten: es ist ein „…Aufbau der Schwingungsweite“, der sich entwickelt. Zwischen Ladungsphasen kann es viel Gähnen und Strecken geben. Es braucht nicht als Gegenpulsation oder Widerstand angesehen zu werden; vielmehr ist es ein Versuch zur Expansion. All diese Aktivitäten helfen die Struktur zu lockern und zu expandieren.

    Wenn man auf diese Art und Weise arbeitet, befaßt man sich direkt mit einer Reihe von Charakterproblemen. Wie bereits erwähnt, haben viele Menschen dieser Struktur starke Angst-Anteile. Arbeitet man mit ihnen in der vorher beschriebenen Art und Weise, so gibt man ihnen das Gefühl von Kontrolle, und sie lernen, eine immer höhere Ladung zu entwickeln, ohne sich von ihr „überfluten“ zu lassen. Dies steigert ihr Gefühl, gut geerdet zu sein, und gibt ihnen einen stärkeren Halt, wenn Angst oder andere starke Gefühle hochkommen, und schafft eine Bereitschaft, wirklich loszulassen.

    Es gibt den Klienten auch das Gefühl, daß die Arbeit und ihre Ergebnisse von ihnen selbst, aus ihrem eigenen Innern kommen. Sie sind diejenigen, die es „tun“. Sie haben nicht das Gefühl, daß mit ihnen etwas „getan“ wird. Somit wird die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit direkt konfrontiert, und gleichzeitig wird das Gefühl von Angegriffen- und Bedrängtwerden vermieden, was diese Strukturen, so oft als von der Außenwelt auf sie zukommend, erleben.

    Die Verantwortung wird viel direkter den Klienten übertragen. Sie können ihre Eigenverantwortlichkeit erfahren und sind deshalb besser in der Lage, Entscheidungen zu treffen: durch den immer wiederkehrenden Prozeß von „Laden und Entspannen, Laden und Entspannen“ tritt ein Lernprozeß ein, bei dem sie immer wieder mit ihren persönlichen Grenzen in Kontakt kommen und gleichzeitig die Möglichkeit haben zu realisieren, daß, wenn überhaupt, sie selbst es sind, die sich im Weg stehen. In diesem Bewußtsein können sie wählen, ob sie ein Problem angehen oder nicht. Sie lernen schrittweise mehr darüber, wie sie blockieren und abwehren; und wieder liegt die Verantwortung für eine Veränderung bei ihnen selbst.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, daß sie in der Anwendung dieses Arbeitsansatzes eine bessere Gelegenheit haben, ein Erfolgserlebnis zu erlangen. Sie werden nicht gebeten, alles auf einmal zu tun. Sie werden gebeten, bis zu ihrer persönlichen Grenze zu gehen, zu wissen, wo diese ist, und zu entscheiden, ob sie über diese Grenze hinausgehen wollen oder nicht. Hiermit ist ein größeres Gefühl von Wertschätzung und Akzeptanz für sie selbst – so wie sie sind – geschaffen, und es wird ein Großteil der destruktiven Widerstände vermieden, die häufig dann zwischen Therapeut und Klient auftreten, wenn der Klient sich nicht genug respektiert, angenommen und verstanden fühlt.

    Die Arbeit sollte langsam und stetig vorangehen: besonders in der Anfangsphase, in der im behavioristischen Sinne aufeinanderfolgende, sich gleichende Arbeitseinheiten benutzt werden, bis sich die Struktur lockert und der Klient in der Lage ist zu laden und strukturell und charakterlich gelernt hat, eine erhöhte Ladung und mehr Fluß zuzulassen. Eine unterstützende und ermutigende Grundhaltung, viel Geduld und ein wirkliches Gefühl von Annahme ist hier wichtig für den Klienten. Carl Rogers Konzept von bedingungsloser positiver Achtung ist die Art von Akzeptanz, die ich hier für notwendig hafte.

    Benutzen Sie das Momentum, den Antrieb, des sich selbst sammelnden Flusses, des „Instroke“, und verstehen Sie, daß sich sein Fluß und Rhythmus generell von einem offenen oder gegen die natürliche Pulsation gerichteten Fluß unterscheidet. Er ist tiefer und langsamer. Die Ausdrucksbewegungen, die mit diesem Fluß verbunden sind, sind oft langsamer und scheinen von weit weg zu kommen, aber sie kommen aus einem tiefen Innern.

    Sie sind begleitet von einer Kraft, die noch nicht in der Lage ist, sich wirklich auszudrücken, die immer noch nicht voll nach außen fließt, aber auch nicht wirklich kontrahiert ist. Die Kraft ist vorhanden, aber noch nicht in ihrer ganzen Potenz verfügbar. Geben Sie der Bewegung Zeit, sich zu entwickeln. Werden Sie nicht ungeduldig! Der Fluß ist nicht kontrahiert, sondern nur etwas verworren.

    Augenarbeit ist sehr wichtig. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es von Vorteil ist, die Arbeit mit geschlossenen Augen zu beginnen und die Augen länger geschlossen zu halten, als dies in der Radix-Arbeit üblich ist. Dem Klienten wird dadurch die Zeit gegeben, die er benötigt, um tief in sich zu gehen und einen guten Kontakt zu dem sich nach Innen und dann nach Außen bewegenden Fluß herzustellen, bevor er selbst nach Außen geht. Werden die Augen zu früh geöffnet, beginnt ein Fluß nach Außen, bevor der Klient wirklich „Innen“ war.

    Der Fluß ist dann unterbrochen und die Entladung ist geschwächt oder zerstreut oder unvollständig. Es ist wichtig, daß dem „Instroke“ erlaubt wird, sich zu vervollständigen. Dann entsteht eine natürliche und automatische Umkehr, weil die Expansion mit einer in ihrer Menge viel stärker angesammelten Kraft beginnt.

    Der Fluß wird direkt und klar nach Außen gehen.

    Es mag einige Bedenken geben, jemanden, der schon „kontrahiert“ ist, noch zusätzlich zu ermutigen, dem „Instroke“ zu folgen, weil er dadurch ermutigt werden könnte, im Innern festzuhalten. Wäre dies richtig, dürften wir niemals Wut-Strukturen (Termini der Radix-Arbeit) ermutigen, nach „Außen“ zu gehen, weil sie bereits „draußen“ sind und dann möglicherweise „draußen“ bleiben würden.

    Anfänglich wird die Entladung als nicht ganz vollständig erscheinen; und in einem gewissen Sinne ist sie das auch noch nicht. Sie scheint vielleicht „kontraktiv“ und etwas langsamer zu sein, begleitet von einem Gefühl tiefer innerer Ausdehnung. Mit einem definitiven Gefühl nach etwas zu greifen, dem Versuch, sich beinahe an etwas festzuhalten, um es dann langsam und etwas schleppend nach „Außen“ zu bringen. Das „etwas“ ergreifen wollen, ist die Bewegung nach Innen.

    Das Schleppende, Zähe entsteht dadurch, daß die Bewegung nach Außen noch neu und ungeübt ist. Gewollt lauteres Schreien oder gewollt stärkeres Schlagen beschleunigt oder erleichtert die Entladung selten. Vielmehr führt es meist zu einem Kurzschluß und unterbricht die langsameren, um den „Outstroke“ ringenden Bewegungen. Die Kraft geht dabei verloren. Die Entladung wird leer und gehaltlos, mit nur wenig oder sogar ohne ein vegetatives Element.

    Auch ein zu frühes Öffnen der Augen würde zu einem ähnlichen Kurzschluß führen. Vielleicht ist es hilfreich, den Prozeß als eine Zeitlupen-Entladung anzusehen. Die normale Zeitabfolge ist verlangsamt, wodurch der Entladung (dem „Outstroke“) Zeit gegeben wird, sich zu entwickeln. Menschen mit dieser Körperstruktur haben dadurch Zeit, ganz nach Innen zu gehen – dahin, wo sie leben, wo ihre Kraft ist – um von ihrer Energie „Besitz“ zu ergreifen und sie dazu zu verwenden, sich nach Außen zu bewegen.

    Es ist wichtig, nicht weiterzugehen als die sich rhythmisch und selbst entwickelnde Pulsation. Genauso wie eine hysterische Struktur über die Pulsation hinweggehen will, wird man diese Menschen, wenn man sie anweist, zu früh nach Außen zu gehen, oder wenn man versucht, sie weiter zu bringen, als sie tatsächlich sind, von den sich langsam entwickelnden vegetativen Prozessen wegbringen.

    Ermutigen Sie den Klienten, einen Ton kommen zu lassen, da er hilft, den Energiefluß anzuregen und einen zusammenhängenden Fluß von den unteren zu den oberen Segmenten zu schaffen. Doch erzwingen sie ihn nicht. Es ist wichtiger, das Gefühl zu spüren, den Ton zuzulassen, als ihn bewußt zu machen. Genauso wie beim zu frühen Öffnen der Augen oder beim zu schnellen Treten mit den Beinen etc. wird das bewußte Machen oder Erzwingen eines Tones den Klienten von dem, was sich vegetativ im Körper entwickelt, abbringen.

    Ich arbeite hauptsächlich mit einer niedrigen Ladung. Ich verwende bioenergetische Übungen: nicht, um zu laden, den Körper zu ermüden oder Erschöpfung herbeizuführen, sondern zur Lockerung. Das Atmen wird nicht verstärkt, sondern der Klient atmet tief in den Bauch und übt während des Ausatmens einen leichten Druck auf die Fußsohlen aus. Dies führt zu einer leichten Neigung des Beckens, ohne daß dabei der untere Teil des Rückens angehoben wird. Der Bauch und der untere Rücken dienen hierbei als ein „Scharnier“, so daß sich beim Ein- und Ausatmen eine leicht schaukelnde Bewegung entwickelt. Gelegentlich hilft ein kleineres Kissen, das unter das Steißbein gelegt wird, daß das „Scharnier“ leichter entsteht.

    Ich glaube, daß diese Bewegung bei der niedrigen Ladung keine verfrühte Arbeit mit dem Becken in Gang setzt, sondern eher im Laufe des „Instroke-Outstroke“-Zyklus eine umfassende Körpereinheit schafft, die die Entladung ganz wesentlich erleichtert. Indem beim Ausatmen Druck auf den Fußsohlen lastet, bleibt der Körper gerader; es kommt in den unteren Körpersegmenten weniger zu seitwärts gerichteten Bewegungen, und die Energie hat einen offeneren, direkter gerichteten Weg, durch den sie fließen kann.

    Es ist meines Erachtens schwierig, einen guten Energiefluß nach oben, durch die oberen Segmente zu bekommen, wenn die unteren Körpersegmente, die Quelle des Flusses, gegenpulsiert oder ungerichtet sind. Die Entladung ist stärker zerstreut, verworren in ihrer Qualität oder unvollständig, wenn nicht eine umfassende Körpergesamtheit besteht.

    Häufig kommt es in der Körpermitte zu einem kontraktiven Zusammenfalten des Körpers, bei dem sich Kopf und Schultern von der Matte heben und die Knie sich zur Brust bewegen. Ich sehe dies aß eine sehr wichtige Bewegung nach Innen an und verstärke diese Bewegung, indem ich die Bewegung mit meinem Körper unterstütze, während sie sich entwickelt. Manchmal lasse ich den Klienten sich auf die Seite legen und zusammenrollen. Der Organismus befindet sich in einem sehr starken, nach Innen gerichteten Fluß, und wenn man diesem Prozeß erlaubt, sich zu vervollständigen, entsteht eine sanfte und gleichzeitig kräftige Entfaltung, die mit einer sehr starken Expansion und Offenheit verbunden ist.

    Die Expansion ist dann gewöhnlich langsamer und weicher als die meisten Entladungen, aber sie kann auch mit all der Kraft und Stärke, die mit dem Entladungsprozeß verbunden ist, herausbrechen. Ist sie langsamer, entsteht das klare Gefühl, daß sich der Organismus öffnet und weich wird. Bricht sie heraus, kann sie von starken Gefühlen begleitet sein.

    Bisher haben die spezifischen Gefühle, die mit diesem Prozeß verbunden sind, wenig Erwähnung gefunden. Für mich ist die Arbeit mit diesem Ansatz sehr stark auf der physischen und energetischen Ebene angesiedelt. Emotionen kommen auf, aber sie sind weniger häufig, und man könnte sie fast als ein positives Nebenprodukt bezeichnen, denn sie sind nicht der zentrale Schwerpunkt dieser Arbeit. Meist haben die Entladungen Gehalt, aber wie schon zuvor erwähnt, werden weniger Gefühle an sich erlebt. Es entsteht eher ein starkes Gefühl von Pulsation und Energiefluß.

    Im Augenblick gehe ich davon aus, daß die Gefühle eher ein natürliches Endprodukt eines solchen Prozesses sind als das einzige wichtige Ergebnis, auf das wir hinarbeiten sollten. Die Arbeit mit Gefühlen kann uns in Kontakt mit dem Energiefluß bringen, denn er ist ihr Ursprung. In der hier beschriebenen Arbeit sehe ich jedoch den Energiefluß als Hauptschwerpunkt an und erachte die Gefühle, wenngleich sie von großer Bedeutung sind, eher als eines der Endprodukte des vegetativen Prozesses.

    Es gibt einige spezifische Übungen, die hilfreich für diese „weichen“ Körperstrukturen sind, Pulsation zu entwickeln, und die die Arbeit mit dem „Instroke“ unterstützen. Das Grundkonzept, das diesen Übungen unterliegt, ist das Verständnis der Annäherung an die Pulsation in einer stetig anwachsenden und tiefer werdenden Art und Weise, wobei das Konzept des Antriebs durch das Momentum als zentraler Punkt genutzt wird.

    Eine Übung ist das Schlagen mit einem Handtuch, das hier per Rückhand – wie beim Tennisspielen – ausgeführt wird. (Das Handtuch wurde vorher eng zusammengerollt). Lassen Sie den Klienten eine breitbeinige Stellung einnehmen. Mit einer schlagenden Bewegung auf Hüfthöhe dreht sich der Klient mit dem Körper nach Außen, um Schwung zu holen, dann dreht er sich wieder nach Innen und schlägt mit dem zusammengerollten Handtuch an eine hervorstehende Matte an der Wand oder einen anderen geeigneten Gegenstand; wichtig ist dabei, daß es sich um ein „Schlag-Ziel“ handelt, das in den Raum hineinragt oder freisteht.

    Der Klient macht beim Schlagen einen Ton und bewegt – wenn er will – den anderen Arm ebenfalls nach Außen, um dadurch eine Ausdehnung des Schulter- und Brustbereiches zu erreichen. Besser noch ist es, jeweils einen Schritt seitwärts zu machen und sich in die Richtung zu lehnen, in die er schlägt. In der Bewegung mit der Rückhand scheint ein Element zu liegen, welches gut zu diesen Strukturen paßt, und das im Gegensatz zu der viel direkteren Arbeit mit dem Tennisschläger steht.

    Eine weitere Übung besteht darin, den Klienten in einer langsamen, kraftvollen Art gegen die Wand stoßen zu lassen. Er stellt sich im Ausfallschritt vor die Wand, beugt das vordere Knie und legt die Hände flach an die Wand. Dann neigt er sich langsam nach vorne, winkelt die Arme an und stößt sich mit einer Auf- und Vorwärtsbewegung ab, wobei die Hände flach an der Wand liegen bleiben sollten. Dies wird immer aufs Neue wiederholt. Der Atem soll sich selbst regulieren. Der Ton kann am Anfang ruhig ein bißchen verbissen oder kämpfend sein. Wenn der Klient im Laufe der Übung immer stärker nach

    vorne stößt und diese rhythmische Stoßbewegung – vor und zurück – ausführt, sollte das hintere Bein bei ungefähr 45° eine gerade Linie zur Senkrechten bilden. Die Geschwindigkeit bei dieser Übung kann stark zunehmen, aber sie sollte nicht zu schnell ausgeführt werden; das Gefühl der sich langsam aber bestimmt aufbauenden Kraft sollte bei jedem Stoß spürbar sein.

    Eine Abänderung der Übungen „Palming“ (Bedecken der Augen mit den Handflächen) und „Sunning“ (das Aufnehmen des Sonnenlichtes in den Organismus durch den Atem und die geschlossenen Lider), auch „Shutters“ (bedeutet Fensterladen), ist ebenfalls von Nutzen. Der Klient legt die Handflächen auf die geschlossenen Augen, so lange, bis er sich an das Dunkel gewöhnt hat, und öffnet dann die Handflächen ganz langsam, so als ob er die „shutters“ (Fensterläden) öffnet und das Licht langsam hereinströmt. Sobald die Augen sich an die Helligkeit gewöhnt haben, schließen sich die Handflächen wieder, und der ganze Prozeß wird wiederholt. Die Grundprinzipien der Übungen „Palming“ und „Sunning“ aus der Augenarbeit von Bates gelten auch hier.

    Es gibt auch eine Gestaltübung, die dazu benutzt werden kann, die Augen in Kontakt mit der Pulsation zu lockern. Sie kann in Gruppen, mit Paaren oder in der Einzelarbeit verwandt werden. Es gibt natürlich auch in den Augen einen ständig pulsierenden Fluß, das subtile Gefühl einer pulsierenden Bewegung nach Innen und Außen. Der Klient stellt einen nicht-starren Augenkontakt zu seinem Gegenüber her, atmet nur wenig und spricht gleichzeitig und ständig mit seinem Partner die beiden folgenden Sätze: „Ich komme raus“ und „Ich bewege mich nach innen“. So berichtet er über eine gewisse Zeit, in welche Richtung die Pulsation sich bewegt. Auf diese Weise wird er sich seiner Pulsation mehr bewußt und bekommt eine Vorstellung und ein Gefühl dafür, wie sich sowohl das „Nach-AußenGehen“ als auch das „Nach-Innen-Gehen“ anfühlt. Das Sprechen der beiden Sätze geschieht kontinuierlich und dauernd, auch wenn es sich wiederholt.

    Andere Übungen können leicht entwickelt werden, indem man das Grundprinzip der Pulsation und der sich steigernden Schwingungsweite, der „Amplitude“ des „Outstroke“, anwendet. Bilder wie die Surfwellen oder auch das Springen auf einem Trampolin geben anschauliche Beispiele für die pulsierenden Eigenschaften. Wann immer man mit diesem Modell arbeitet, sollte man das Grundprinzip für diese Arbeit nicht aus dem Auge verlieren: die Betonung liegt darauf, mit dem Fluß der Energie zu arbeiten, welche Richtung er auch immer nehmen will. Ich hoffe verständlich gemacht zu haben, daß bestimmte Strukturen energetisch am besten zu mobilisieren sind, wenn man ihnen erlaubt und ermöglicht, sich zuerst nach Innen zu bewegen, weil dies die primäre Richtung ihrer Pulsation ist. Und ich hoffe deutlich gemacht zu haben, wie der „Instroke“, wenn er seiner Eigenschaften entsprechend genutzt wird, erfolgreich und kraftvoll zu einer offenen expansiven Phase werden kann.

    [1] Zu diesem Thema bringt „Bukumatula“ in einer der nächsten Ausgaben einen weiteren Beitrag von Will Davis.

    Literatur: Keleman, Staniey, Energy and Character, Vot. 10, No. 2
    [2] Kelley, Charles, Radix Journal, Vol. 1 und 2, Radix Institute, Ojai, California
    Reich, Wilhelm, Die Funktion des Orgasmus, Wien 1927

    Hinweis: Im November dieses Jahres wird es ein Fortbildungsseminar mit Will Davis in Wien geben (Information: Werner Pitzal, Tel.: 02233/3096).

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    Bukumatula 2/1988

    Interview mit Gunar Seitz

    Alena Skrobal und Bettina Swoboda:

    Vom 13. bis 15.Mai 1988 fand in Kassel/BRD vom „Institut für Gesundheit und Körpererfahrung“ die Tagung „Lebendigkeit und Gemeinschaftlichkeit“ statt. Anläßlich eines Wien-Aufenthalts im Vormonat, führten Alena Skrobal und Bettina Swoboda mit dem Organisator dieser Veranstaltung, Gunar Seitz, nachfolgendes Gespräch. Gunar Seitz ist Mitglied der hessischen Kommune „Riedmühle“, und als Redakteur der Zeitschrift „Contraste“ für die Bereiche Kommunikation und Kultur zuständig.

    Im Vorwort des Veranstaltungskataloges wird Wilhelm Reich zitiert:

    „Wahres Leben bewegt sich nach vorn in unbekannte Bereiche, aber es tut dies nicht gern allein. Es braucht keine Schüler, keine Anhänger, keine Ja-Sager, keine Bewunderer und keine Verehrer. Was es aber dringend braucht und nicht entbehren kann, ist Gesellschaft, Kameradschaft, Freundschaft, menschliche Nähe und das mitfühlende Verständnis einer anderen Seele. Darin liegt nichts übernatürliches oder Außergewöhnliches. Es ist ein Ausdruck echten Lebens, natürlicher Sozialität. Niemand will oder kann ganz allein leben, ohne dabei Gefahr zu laufen, verrückt zu werden.“

    B: Du organisiert in Zusammenarbeit mit dem „Institut für Gesundheit und Körpererfahrung“ eine Tagung zu den Themen „Lebendigkeit und Gemeinschaftlichkeit“. Also zu Begriffen, die auch mit Reichschem Gedankengut zu tun haben.

    G: Ja, die Tagung behandelt Aspekte einer zukünftigen Gesellschaft, die auf einem neuen Verständnis von „Leben“ basieren.- Wichtig erscheint mir in der heutigen Zeit der Zerstörung – damit meine ich sowohl soziale als auch ökologische Zerstörung – lebensfördernde Elemente zu entwickeln. Es gilt Gesellschaftsformen zu finden, in der die Menschen herrschaftsfrei mit der und für die Natur leben können.

    B: Welches Anliegen ist den Referenten gemein?

    G: Unter anderem nehmen etwa Rudolf Bahro, Annelle Keil und Rolf Schwender an dieser Tagung teil. Ihnen gemeinsam ist das Anliegen, Politik und Spiritualität aufeinander zu beziehen. Gemeint ist damit Spiritualität in umfassendem Sinne, in einem sehr realen und pragmatischen Sinne, in einem sehr diesseitigen Sinne. Spiritualität heißt für mich, Kräfte und Prozesse zu erkennen, die in uns lebendig sind, und die in der Natur sind, die wir positiv aufgreifen können, ja aufgreifen müssen, wenn wir eine neue, weniger „gepanzerte“ Gesellschaft erreichen wollen.

    Im Moment sieht es für mich so aus, daß sehr tiefe Risse zwischen politisch engagierten und spirituell ausgerichteten Menschen bestehen. Diese Risse zu verkleinern ist ein Anliegen dieser Tagung. Es soll nach Antworten auf die Frage: „Ist eine Synthese zwischen Spiritualität und Politik erreichbar?“ gesucht werden.

    B: Du selbst lebst ja in einer Kommune, die sich mit diesen Themen beschäftigt.- Kannst Du uns etwas über die „Riedmühle“ erzählen?

    G: Die Riedmühle ist für uns ein ökologisches und soziales Experiment. Wir versuchen Lebensformen zu entwickeln, wie sie eventuell in einer zukünftigen Gesellschaft praktiziert werden können. Wir versuchen, bereits unter den Bedingungen von „Staat, Kapitalismus und Patriarchat“ – sicherlich in einer sehr unvollkommenen Weise – neue Lebensformen ohne Herrschafts-, Ausbeutungs- und Zerstörungsdenken zu entwickeln.

    B: Wie sieht dieses Modell konkret aus; etwa bezüglich Privateigentum, etc.?

    G: Es gibt kein Privateigentum im herkömmlichen Sinn. Alle Einnahmen fließen in die gemeinsame Gruppenkasse und werden von dort je nach Bedürfnis des einzelnen wieder verteilt. Bei Geldknappheit entscheidet das Kollektiv über die Zuteilung im Plenum, wo grundsätzlich Entscheidungen im Konsens, also ohne Gegenstimmen, gefällt werden.

    B: Die Zahl der Kommunenmitglieder ist auf fünfzehn limitiert?

    G: Ja, fünfzehn Leute sind für unseren Rahmen eine Obergrenze, denn ab dieser Zahl wird die Gemeinschaft unüberschaubar, zerfällt in Kleingruppen und die Probleme nehmen exorbitant zu.

    B: Ihr habt auch Kontakte mit anderen, zum Teil größeren Kommunen, im deutschsprachigen Raum. Weißt Du etwas über deren Erfahrungen?

    G: Ja, es gibt da etwa fünfzehn Kommunenprojekte, die zum Großteil in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Von den ersten existieren noch die Krebsmühle in Frankfurt und Otto Mühle Friedrichshof im Burgenland. Aber gerade in den letzten beiden Jahren hat sich sehr viel getan, da sind gleich vier neue Projekte entstanden. Die traditionellen Kommunen hatten es mit etwa fünfzig bis hundert Leuten versucht. Sie waren bemüht, auf verschiedenen Arbeitsgebieten alternative Initiativen zu entwickeln, um eine möglichst weitgehende Autonomie zu erreichen. Dies geht aber nur, wenn alle Arbeitsbereiche innerhalb der Kommune vertreten sind. Dies ist einerseits wegen der sehr weitgediehenen Selbständigkeit ein Vorteil, andererseits ein Nachteil, weil dann Unterstrukturen gebildet werden müssen und Hierarchien unvermeidlich sind.- Irgendwo „oben“ gibt es dann eine Entscheidungsebene, die bürokratisiert und Kompetenzen an sich zieht. Vor allem die Entscheidungsfindung im Konsens wird bei zunehmender Gruppengröße problematischer. Dazu kommen Kommunikationsprobleme, weil auf einzelne Leute nur mehr schwer eingegangen werden kann.

    B: Du hast den Begriff „ökologisches Zusammenleben“ genannt. Was verstehst Du darunter?

    G: „Ökologisches Zusammenleben“ beziehe ich auf zwei Aspekte. Zum einen die Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen und gartenwirtschaftlichen Produkten und zum anderen den „aktiven Naturschutz“.

    B: Was meinst Du mit „aktives Naturschutz“?

    G: In unserem Fall bedeutet das etwa, daß wir innerhalb des Geländes der Riedmühle – wir haben dreieinhalb Hektar Land – Hecken anbauen, daß wir Tümpel graben, den Bach in Mäander legen etc., um eine kleinräumige Vielfalt von Lebensmöglichkeiten für Tiere und Pflanzen zu ermöglichen. Dadurch soll die Dynamik für Lebensprozesse gestärkt werden.

    B: Kannst Du die Organisationsstruktur der „Riedmühle“ beschreiben?

    G: Es gibt drei Bereiche, in denen wir tätig sind. Zum einen ist es der erwähnte land- und hauswirtschaftliche Betrieb, dann der kulturell politische Bereich – also die inhaltliche Arbeit, etwa die Organisation von Tagungen und die Herausgabe der Zeitschrift „Contraste“ – und als Drittes der ökonomische Bereich. Wir betreiben eine Computerfirma, einen Verlag und ein Graphikstudio. Diese Firmen sind nach außen hin kapitalistisch organisiert, als „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“.

    B: Betreibt Ihr Öffentlichkeitsarbeit?

    G: Wir sind eine Redaktion der Zeitschrift „Contraste“. Das ist eine Zeitschrift für Selbstverwaltung und Selbsthilfe im weitesten Sinne. Wir sind zuständig für die Bereiche Kommunen, neue Lebensformen und Zukunftsforschung. Wir versuchen, Modelle, die auch wir in der Praxis entwickeln, innerhalb der Zeitung darzustellen.

    B: Noch etwas zur politischen Arbeit. Einige von Euch sind ja in der „Friedensbewegung“ aktiv.

    G: Ja, viele von uns waren und sind in verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen aktiv. Ich zum Beispiel habe mich sehr stark für friedenspolitische Themen engagiert. Ein sehr wichtiges Anliegen war mir, mit ökologischen, lebensschützerischen Argumenten gegen den militärischen Pflichtdienst vorzugehen, so auch gegen meine eigene Einberufung. 1978, als ich von der Bundeswehr gemustert wurde, war mir eine „ökologische Begründung“ für eine Kriegs- und Wehrdienstverweigerung ein sehr wesentliches Anliegen. Ich bezog mich also nicht auf eine traditionelle friedenspolitische, individuelle, soziale oder religiöse Begründung, wobei ja ausschließlich diese anerkannt werden.

    B: Was meinst Du mit *ökologischer Begründung*?

    G: Das Militär ist für mich einer der größten Naturzerstörer, die es im Moment gibt. Etwa ein Viertel der Naturzerstörung ist militärisch bedingt. Jetzt abgesehen von der Zerstörung von Menschenleben im Kriegsfalle, sind Atombombentests, C-Waffentests, die Erprobung und der Einsatz von biologischen Waffen und Strahlenwaffensystemen, Radaranlagen, die Manöverbelastungen, wie etwa die Tieffliegerei, etc., oder auch eine großräumige und sinnlose Naturzerstörung, wie etwa die Entlaubung ganzer Dschungelgebiete im Vietnamkrieg, oder die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung im Persischen Golf, zu nennen.

    Es war mir ein Anliegen, über eine ausschließlich ökologische Begründung, eine Diskussion unter Juristen herbeizuführen, damit die Kriegsdienstverweigerung aus „ökologischen Gründen“ später einmal möglich werden kann.- Die Konsequenz war, daß ich auf allen Verwaltungsebenen als Kriegsdienstverweigerer nicht anerkannt wurde und daß ich jederzeit mit der Einberufung zu rechnen hatte.

    Die Bundeswehr hat bis vor kurzem auf meine Einberufung bestanden. Im letzten Monat wurde aber auf eine Einberufung aus „politischen Gründen“ definitiv verzichtet. Für mich heißt das jetzt, daß eine ökologische Totalverweigerung, wenn sie konsequent vorgetragen wird, vielleicht nicht juristisch, aber sehr wohl praktisch, möglich ist.

    B: Kehren wir zurück zu Eurer Gruppe. Wie sieht die Verteilung von Funktionen und Kompetenzen – auch zwischen Männern und Frauen – aus?

    G: Wesentlich erscheint mir, dass nicht irgendwelche Hierarchien von Männern gegenüber Frauen ausgeübt werden. Frauen sind bei uns etwa sehr stark im organisatorischen Bereich tätig. Sie sind es, die insbesondere Gruppenzusammenhänge organisieren. Sachkompetenz und Sachautorität stehen im Vordergrund. Dies hat aber nichts mit Hierarchien zu tun.

    B: Gibt es Bezüge zu den Ideen Wilhelm Reichs?

    G: Ich denke, daß es eine ganze Reihe von Bezugspunkten gibt, auch wenn wir uns nicht als Reichianer, als Freudianer, Marxisten oder ähnliches verstehen. Jede Dogmatisierung, jede Einengung auf eine Persönlichkeit oder eine Richtung, würde unseren Ideen widersprechen.

    Reich hat doch auf sehr unterschiedlichen Gebieten gearbeitet und dabei vielfach Ansätze für positive Weiterentwicklungen vorgestellt. Ein Schlüsselbegriff ist dabei sicherlich das Prinzip selbstregulierender Prozesse. Viele dieser Ideen entsprechen auch unseren Vorstellungen. So zum Beispiel auch, daß ein wirkliches Zusammenleben mit der Natur nur im Verstehen der ihr zugrundeliegenden dynamischen Kräfte möglich ist. Und daß ebensolche Kräfte im sozialen Bereich wirksam sind. So ist da die „Kleinfamilienstruktur“ ein Gebilde der kapitalistischen Gesellschaft, das sich innerhalb der letzten zweihundert Jahre herausgebildet hat. Wilhelm Reich hat ja aus psychoanalytischer Sicht versucht, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der kleinbürgerlichen Zwangsfamilie und individueller und gesellschaftlicher Destruktion.- Wir gehen davon aus, daß „die Gruppe“ eine praktikable Grundlage bieten müßte, die Kleinfamilienstruktur überwinden zu können»

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    Bukumatula 3/1988

    Das Leben Leben

    Fortbildungsseminar mit Psychotherapeut Al Bauman
    Beatrix Wirth und Wolfram Ratz:

    Anfang Juni dieses Jahres war auf Einladung unseres Institutes der amerikanische Psychotherapeut Al Bauman zu einem mehrtägigen Fortbildungsseminar in Wien»- Beatrix Wirth und Wolfram Ratz führten mit ihm nachfolgendes Gespräch:

    B: Wie sind Sie mit Wilhelm Reich und seiner Vegetotherapie in Verbindung gekommen?

    Al: Auf solche Fragen antworte ich im allgemeinen nicht gerne: Also – vielleicht das Unwichtige zuerst: zum ersten Mal habe ich Reich 1948 getroffen, nachdem ich sein Buch „Die Funktion des Orgasmus“ gelesen habe. Er lebte damals in New York, Forest Hills. Eines Tages, als ich ihn brauchte, habe ich ihn angerufen und ein Erstgespräch mit ihm vereinbart.- Er gab mir eine Liste von etwa zehn Ärzten, die er ausgebildet hatte, und die seine Therapie praktizierten. Er sagte, daß ich einen davon aussuchen sollte.

    Ich wählte Simeon Tropp, einen Arzt aus dem heutigen Rußland, der in Wien studierte und bis 1939 dort praktizierte. Im Laufe der Therapie wurden wir sehr gute Freunde. Ich nehme an, er war auch Reichs bester Freund. Tropp hatte ein Haus in Rangeley, Maine, wohin auch Reich später gezogen ist. Wir fuhren fast jeden Monat für ein paar Tage dorthin. Ich gab Reich Musikstunden und. vertonte einige seiner Gedichte.- Zu dieser Zeit war ich ein sehr engagierter Musiker. Ich gab Konzerte und unterrichtete Musik an der Columbia-Universität.

    B: Und dann haben Sie mit dem Therapieren begonnen?

    Al: Nein, an Therapie war ich überhaupt nicht interessiert. Ich war lediglich daran interessiert, das, was ich von Reich gelernt hatte, auch praktisch umzusetzen; in Bezug auf die Funktion meines eigenen Körpers, meines eigenen Selbst beim Musizieren und beim Malen. 1952 rief mich eine Tänzerin an und sagte, daß sie bei mir Unterricht nehmen wollte. Sie war gerade von einer Welttournee mit der Martha

    Graham-Company zurückgekehrt. Sie war eine großartige Tänzerin. Sie meinte: „Wenn Sie Klavier spielen, dann wissen Sie etwas über „Bewegung“, was Martha nicht weiß“» Das war für mich eine interessante Herausforderung. Und wir begannen zu arbeiten; sie lernte sehr viel. Daraufhin kamen andere Künstler zu mir» Sänger, Bildhauer, Maler, etc. Ich sah meine Aufgabe darin, das freie Fließen der Energie in ihrem Körper zu ermöglichen und zu fördern.

    Ich gehe immer dorthin, wohin mich meine Nase führt- Ich verließ New York 1954 und ging nach Long Island. Dort gründete ich ein größeres Zentrum für Kunst. Manche nannten es damals das „Reichsche Kunstzentrum“.

    In dieser Zeit lernte ich George Ohsawa, den Begründer der Makrobiotik kennen. Wir wurden sehr gute Freunde.- So wie Reich in seinem Denken und Arbeiten den dialektischen Prozeß im Sinne der Gegensätzlichkeit bei gleichzeitiger funktioneller Einheit verwendete, so nahm auch Ohsawa in seinem orientalischen Verständnis die Frage der Dialektik auf.

    1960 zog ich nach Kalifornien. Das stand auch in einer gewissen Weise im Zusammenhang mit dem Bau der Berliner Mauer und der Kuba-Krise. Es schien wieder Krieg zu geben. Dreißig Leute – Musiker, Schauspieler, etc. – machten sich gemeinsam auf den Weg nach Kalifornien. Das erregte einiges Aufsehen; sogar in den Zeitungen wurde darüber berichtet. Wir blieben auch später noch in engem Kontakt. Ich gründete dann dort unter anderem ein kleines Wandertheater.

    Als meine Theatertruppe einmal eine Vorstellung in einem Gefängnis in Kalifornien gab, hörte ich von Synanon. Das war in den frühen sechziger Jahren ein großes Resozialisierungsprojekt. Ich informierte mich über diese Einrichtung und zog dorthin. Es war wirklich eine trostloser Haufen von Drogenabhängigen und Kriminellen. Entweder würden sie ihr Leben ändern, zurück ins Gefängnis gehen, oder auf der Straße sterben. Mit diesen Leuten zusammen den Alltag zu verbringen, erschien mir sinnvoller, als sie nach einwöchentlichen Therapiesitzungen wieder in die gepanzerte Welt hinauszuschicken.

    Viele Leute bei uns in Amerika haben beruflich Erfolg in- ihrem Leben, großen Erfolg, und irgendwann fragen sie sich, wozu das alles gut sein soll. Sie empfinden sich in einem existentiellen Vakuum, was sich nicht selten in Depression, Aggression und Drogenabhängigkeit ausdrückt. Diese Leute rennen dann den Therapeuten die Türen ein. Diese wiederum sind aber oft selbst das, was man „burned out“ nennt, das heißt, sie sind ausgebrannt durch die ewige Konfrontation mit derartigen Problematiken.- Die höchste Selbstmordrate in den USA ist ja bekanntlich unter den Psychotherapeuten zu verzeichnen.

    1976 – ich war damals siebenundfünfzig Jahre alt – verließ ich Synanon und ging nach Los Angeles. Ich wußte noch nicht, was ich machen würde. Eines Tages erkundigte sich bei mir ein Arzt nach Wilhelm Reich und seiner Arbeit. Vor mehreren Psychiatern demonstrierte ich eine Sitzung in Vegetotherapie. Daraufhin verschafften sie mir eine kleine Praxis und schickten mir ihre Patienten. Wenn man eine Pflanze regelmäßig gießt, dann wächst sie.

    B: In seinem Buch „Charakteranalyse“ hat Reich verschiedene Persönlichkeitsstrukturen beschrieben ….

    Al: Mich interessiert lediglich, wie die Energie im menschlichen Körper funktioniert. Wenn die Einteilung in Charakterstrukturen auf einer dynamischen Grundlage beruht, finde ich es auch angebracht, sie zu verwenden. Mit einem statischen Verständnis aber werden Menschen nur in unsinnige Muster gedrängt. Therapeuten, die solche Begriffe verwenden, fordere ich auf, das sehr klar in eine Verbindung mit dem Energiefluß zu bringen. Wenn das hilft, etwas zu erkennen und zu bewegen, ist es schon gut. Diesbezüglich höre ich aber Leute meist Substantive verwenden, anstatt Verben.- Ich plädiere für Verben.

    B: Und der analytische Teil in der Körperarbeit?

    Al: Ich halte nicht viel von analytischer Aufarbeitung. Ich bin hauptsächlich daran interessiert, Veränderungen herbeizuführen; daß Leute ihre Fähigkeit wiederfinden, ein volles Leben und eine erfüllte Sexualität zu leben. Ich möchte wissen, „how they change the world“. Ich beginne auch jede Therapiestunde mit dieser Frage.- Therapie in jeder Form ist ein Setting in einem Labor. Und dann müssen wir das in die Welt, in den Alltag, mithinausnehmen; die größte Schwierigkeit dabei ist sicher das Umsetzen in die Praxis.

    B: Was ist eigentlich hilfreich in der Therapie? Ist es die Methode, der Kontakt zwischen zwei Menschen, die Dauer der Therapie, etc?

    Al: Ich denke, das entscheidende ist der Kontakt zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. An erster Stelle steht für mich, daß der Therapeut auch selbst dazu fähig ist, das zu leben, wovon er spricht. Wenn er lediglich Werkzeuge verwendet, dann ist er ein Mechaniker. Als solcher kann er vielleicht Autos reparieren, aber nicht mit Menschen umgehen. Ich glaube, daß jeder Therapeut diese Art von Verantwortung trägt. Und das mag ihm selbst nicht leicht fallen.

    Wenn er seine eigene Persönlichkeit und seinen eigenen Entwicklungsprozeß nicht zu zeigen bereit ist, dann glaube ich, kommt es zu einer symptomorientierten Behandlung; wie eine Behandlung mit Medikamenten. Medikamente heilen ja auch keine Krankheiten, sondern beseitigen Symptome, und greifen noch dazu das Immunsystem an. Die Hauptaufgabe des Therapeuten sehe ich darin, daß er dem Energiefluß, der Lebendigkeit, dem Instinkt des Patienten zu folgen fähig, und diese Kräfte zu unterstützen bereit ist.

    B: Können Sie etwas über Ihr Leben sagen? Wie leben Sie?

    Al: Nun, ich glaube, daß die „Kleinfamilie“ („nuclear family“) eine sehr unnütze, destruktive Einrichtung ist.- Mutter, Vater, zwei Kinder und ein Einfamilienhaus, mit einem Zaun rundherum. Das ist das Modell der kapitalistischen Familie („we four and no more“). Das führt sehr schnell auf den Weg der Entfremdung und Isolation. Es ist an der Zeit, derartige Vorstellungen fallen zu lassen.

    Ich lebte mehr als zwanzig Jahre zusammen mit anderen Leuten in verschiedenen Kommunen. Es gibt dort zumindest die Möglichkeit – das ist aber sicher nicht immer so – zu tieferen Begegnungen, zu mehr Kontakt – was mir erlaubt, auch selbst offener zu sein. Ich bin vorsichtig Leuten gegenüber, bei denen ich spüre, daß sie gepanzert sind und keinen Kontakt zu sich selber haben. Reich nannte das „emotionale Pest“. Ich meide sie. Manchmal muß man gegen sie ankämpfen.

    Derzeit lebe ich in New Mexico, in der Nähe von Santa Fe, in einer über zweitausend Meter hochgelegenen Wüstengegend. Dort arbeite ich auch an der Revitalisierung von Land. Zur Entstehung der Wüste haben die Menschen viel beigetragen. In dieser Gegend etwa durch rücksichtslose Weidewirtschaft; der Wind konnte dann das fruchtbare Erdreich abtragen. Ich möchte mithelfen, die Wüste wieder fruchtbar zu machen.

    Sowohl das Land als auch die Leute. Ich bin sehr glücklich, daß Michael Smith dort mit mir lebt. Er ist wie ein Bruder für mich, und wir können sehr gut zusammenarbeiten. Wir versuchen ein neues Lebensmodell für unser Zusammenleben zu entwickeln. Ich weiß nicht, wie das funktionieren wird, aber das ist o. k.

    B: Wie kam es, daß Sie vom Künstler zum Therapeuten wechselten, oder haben Sie das gar nicht getan?

    Al: Ich glaube, daß wir viele Stufen, viele gewundene Pfade gehen. Nichts in der Natur ist geradlinig.- Ich glaube ganz einfach nicht, daß Therapie wirklich Arbeit ist. Ich kann Reich nicht als Therapeuten sehen. Ich sehe ihn als Wissenschaftler, der als Therapeut zu arbeiten begann, und der dann den Versuch unternahm, die Gesetze und die Funktionen des Lebens zu erforschen.

    Ich glaube nicht, daß Therapieren einen Menschen voll in Anspruch nimmt. Ich höre so oft Therapeuten sagen: „Jetzt nehme ich mir endlich einmal Zeit, nur für mich selbst“. Nun, wenn das Therapieren nicht für ihn selbst ist, dann ist es auch nicht seine Arbeit. Es ist nützlich und hilfreich, und er bekommt dafür etwas Geld, aber ich glaube nicht, daß es eine ausschließliche Arbeit ist. Es ist das Nebenprodukt einer gesamten „Lebensarbeit“.

    Wenn ich etwas gelernt habe, dann trage ich auch die Verantwortung dafür, daß ich mein Wissen weitergebe. Das gilt auch für die therapeutische Arbeit. Aber es ist die Arbeit der ganzen Persönlichkeit; mit Hingabe, mit Erfahrung, mit Erfülltsein. Ich habe in den letzten Jahren sehr viel therapeutisch gearbeitet und ich habe die Möglichkeit, das auch weiterhin zu tun. Ich glaube aber, dass meine Arbeit immer die eines Künstlers war. Jetzt ist es an der Zeit, meine Erfahrungen auch in meine Arbeit einfließen zu lassen.

    B: Glauben Sie, dass die vielen neoreichianischen Methoden wirklich unterschiedlich und etwas Neues zu dem sind, was Reich herausgefunden hat?

    Al: Mein Verständnis für diese Methoden beziehe ich hauptsächlich von meinem Zusammentreffen mit Therapeuten dieser Richtungen; Lowen, Boyesen, etc. Diese Leute waren bei mir in Therapie. Ich zögere, das zu verallgemeinern – aber mein Eindruck ist, daß sie Reichs Arbeit, die ausschließlich als etwas Dynamisches verstanden werden kann, hernehmen und sie mechanisch anwenden. Sie nehmen einen Teil seiner Arbeit heraus und entwickeln dann etwas Neues daraus.

    Leute, die verzweifelt sind, gehen zu jedem, der ihnen vielleicht helfen kann. Aber Hilfe hängt nicht wirklich von der Methode ab. Ich glaube, daß es etliche hervorragende Therapeuten gibt, die alles verwenden von Kochen und Stricken bis Bioenergetik, Rolfing und sonst alles mögliche. Der Therapieerfolg hängt meiner Meinung nach in erster Linie von der Persönlichkeit des Therapeuten ab.

    B: Warum gibt es Ihrer Meinung nach so viele unterschiedliche Therapiemethoden?

    Al: Es gibt immer wieder neue Krankheiten. Das sind ja auch alles Möglichkeiten, lebendiges Leben zu vermeiden; die Natur aber ist unbesiegbar.- Es wird also auch immer wieder neue Therapiemethoden geben.

    B: Welche Hoffnungen haben Sie?

    Al: Darüber mache ich mir nicht viele Gedanken. Emily Dickinson sagt „Hoffnung ist ein Ding mit Federn“. Ich tue einfach meine Arbeit. In meiner Jugend war ich in den verschiedensten Bewegungen aktiv. Heute weiß ich, daß Menschen am meisten durch Modelle lernen. Ich habe überall, wo ich in den letzten dreißig Jahren gewohnt habe, versucht – mit meiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung einhergehend – neue Lebensmodelle zu entwickeln, die andere, so es ihnen gefiel, übernehmen konnten.

    B: Und welche Befürchtungen?

    Al: Irgendein Wahnsinniger könnte einmal das Leben auf dieser Welt auslöschen. Das kann ich mir vorstellen.- Aber ich lebe nicht mit solchen Gedanken. Ich wuchs als Kind von Einwanderern unter ärmlichsten Bedingungen in den Straßen von New York auf. Ich habe da gelernt auf mich aufzupassen und mich durchzusetzen. Sehr vieles hat sich seit damals geändert. Ich lebe jetzt ein sehr reiches und erfülltes Leben. Mein ganzes Leben sehe ich als ein andauerndes Abenteuer. Ständig entdecke ich Neues. Natürlich verursacht das auch eine Menge Schwierigkeiten; aber ich mag es, mit Schwierigkeiten zu leben, das ist ja auch der einzige Weg. Es gibt Leute, die sich durch meine Lebensweise herausgefordert fühlen. Eines Tages könnte ich durchaus auch einmal Pech haben – wer weiß?

    B: Gibt es politische Aspekte in Ihrem Leben?

    Al: Ich fühle mich einer Gruppe, den United Farmworkers, sehr verbunden. Ich schicke ihnen Geld. Und ich unterstütze auch Umweltschutzgruppen. Ich schätze ihre Arbeit. – Als junger Mann war ich Mitglied der Kommunistischen Partei in New York. Es gab da eine Menge politischer Aktivitäten, aber das ist jetzt die Arbeit anderer.

    B: Wollen Sie noch irgendetwas über Wilhelm Reich sagen?

    Al: Reich war eigentlich ein einfacher Mann. Einmal, als wir in Orgonon zusammensaßen, fragte er mich: „Glaubst du, daß ich irgendetwas Wesentliches geschaffen habe?“- Ich war über diese Frage sehr erstaunt und meinte: „Natürlich, die Bücher, die du geschrieben hast, deine Entdeckungen, etc“. Er sagte: „Nein, in Wirklichkeit habe ich damit gar nichts ausgerichtet“. Er schaute vom Balkon auf die gegenüberliegenden Berge und sagte: „Ich habe die Fähigkeit zu sehen, was auf der Spitze des dahinterliegenden Berges ist. Aber die ganze Arbeit muß erst getan werden. Diese Arbeit besteht darin, den Weg hinunter ins Tal zu nehmen, und auf der anderen Seite wieder hinaufzugehen.“

    B: Arbeit im Sinne von Umsetzen in die Praxis, etwa in der Kindererziehung, etc?

    Al: Ja, zum Beispiel. Eva Reich, seine Tochter, reist ja in dieser Angelegenheit um die ganze Welt und hält Vorträge und Workshops. Wilhelm Reich hat auch sein ganzes Vermächtnis den Kindern, den „Kindern der Zukunft“ gewidmet. Kinder sind der am meisten unterprivilegierte Teil unserer Gesellschaft. Erst jetzt wird langsam an der Erstellung von Gesetzen, die die körperliche Züchtigung und die Zufügung psychischen Leides verhindern sollen, gearbeitet.

    Wer weiß schon, was für eine fundamentale Bedeutung der Körperkontakt eines Säuglings zur Mutter tatsächlich bedeutet? Es ist der „plastischste“ Lebensabschnitt eines jeden Menschen. Wir begehen ständig Todsünden an unseren Kindern. Jede Ohrfeige ist für ein kleines Kind eine Todesdrohung, aber wir Erwachsene haben das verdrängt, weil wir selbst in einer Atmosphäre der Gewalt aufgewachsen sind. Solange Anordungen der Eltern über Züchtigung und Zufügung psychischen Leides durchgesetzt werden, brauchen wir uns über die

    Abschaffung der Armeen dieser Welt gar kein Kopfzerbrechen machen.- Kinder, die geschlagen werden, sind triebgehemmt, sie müssen Kommunikation, also Umgang mit anderern lernen. Und was ist Sexualität anderes, als die schönste, aber auch komplizierteste Form des mitmenschlichen Umgangs? Das Problem dazu ist ein falsches Bewußtsein der Erwachsenen. Die Erziehung der Erzieher steht an. Bei einem Kind gibt es nichts zu erziehen.

    Kinder sind initiativ, begabt, schöpferisch. In den Schulen bräuchten wir den Gegenstand „Einübung menschlicher Kommunikationsformen“. Die Lehrer aber sind selbst Kinder eines falschen Bewußtseins. Sie sind selbst triebgehemmt und sich selbst entfremdet. Noch ein Wort zur „antiautoritären Erziehung“, weil es da meiner Meinung nach ganz grobe Mißverständnisse gibt: Das Prinzip davon beruht auf Freiheit und nicht auf Zügellosigkeit.

    Ich glaube, daß A.S. Neill, der ja auch mit Reich in engem Kontakt stand, vollkommen falsch verstanden wird. Wir sollen Autoritäten sein, so wie die Kinder auch Autoritäten für uns Erwachsene sein sollen. Es gibt keine „schlimmen“ Kinder, das ist eine Propagandalüge der Erwachsenen. Viele von ihnen rächen sich nur für die furchtbare Erziehung, die man ihnen angetan hat.

    B: Haben wir etwas Wesentliches vergessen?

    Al: Ich glaube, daß ich gar nichts wirklich Wesentliches gesagt habe oder zu sagen habe. Interviews sind lediglich ein Spiegel der Persönlichkeit.

    Ich habe von Wilhelm Reich sehr viel gelernt; aber auch von anderen Menschen. Nicht alle meiner Lehrer waren große Persönlichkeiten. Meine besten Lehrer waren mein russischer Onkel Sicha, der eine gute, laute Stimme hatte; oder Tante Becky, die mich in ihrem Schaukelstuhl so oft in ihren Armen gehalten hat.- Die Gelegenheiten, zu lernen und das Leben zu

    verändern sind zahllos. Ich glaube, das, was viele Menschen als großes Problem ansehen, ist einfach ihre Unfähigkeit, mit ihrer eigenen Panzerung umzugehen. Die Lösung ist aber immer einfach.

    Theoretische Diskussionen mögen unterhaltend sein, aber sie bringen keine Veränderungen. Ich glaube, daß es einfach viel zu tun gibt. Jeder macht das auf seine eigene Art. Hoffentlich läßt sich ein Weg finden, dies einmal gemeinsam zu tun. Aber das geht nicht über die Sozialistische Partei, den Amerikanischen Kongreß oder die UNO. Das sind schon alles sehr fixierte Formen der Panzerung.

    Ich möchte lediglich die Nischen zur Menschlichkeit ein wenig größer machen. Ich glaube, wenn Menschen lernen, besser miteinander auszukommen, können sie ein sehr reiches Leben führen. Sie können sehr reich sein, ohne viel Geld zu haben.- Ganz sicher können wir in gänzlich andersartigen Formen leben, als es uns die derzeitigen Ideale unserer gepanzerten Gesellschaft vorgeben.

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    Bukumatula 4/1988

    Ernst Federn über Wilhelm Reich

    Erinnerungen und Dokumente
    Interview mit Ernst Federn, dem Sohn des Psychoanalytikers und Zeitgenossen Paul Federn
    Martin Wolkerstorfer:

    Wolkerstorfer: Sie wurden in den USA zum Sozialtherapeuten ausgebildet und haben lange Jahre dort gearbeitet. Seit 1972 leben Sie wieder in Wien. Gibt es beruflich gesehen Unterschiede in den Arbeitsbedingungen in den USA und in Österreich?

    Federn: Einer der Unterschiede, der mir sofort wieder bewußt gemacht wurde, ist die mangelnde Diskretion bei den Wiener Analytikern. Kurz nachdem ich nach Wien zurückgekommen war, hat mir eine Kollegin, eine bekannte Sozialarbeiterin, gesagt: „Ich bin so froh, daß Sie da sind. Jetzt kann man zu jemandem gehen, von dem man annehmen kann, daß er nichtsweitererzählt. Man kann sich in Wien von Kollegen nicht analysieren lassen. Es bleibt nichts geheim.“

    Wolkerstorfer: Die heutige Generation von Analytikern ist also nicht so verschwiegen wie die früheren?

    Federn: Die ständigen Tratschereien kursierten in Wien von jeher unter den Analytikern. Schon Jones [3] machte Freud, glaube ich, einmal den Vorwurf, daß der nicht immer vertraulich sei. Abgesehen davon erfahren Analytiker überhaupt immer mehr als andere Leute. In Cleeveland, das etwa die Größe Wiens hat, sagten mir z.B. Patientinnen: „Der Doktor Soundso wollte oder hat mit mir geschlafen“. Ich habe das ja nie nachprüfen können, und es war vielleicht auch gar nicht wahr.

    Wolkerstorfer: Von Wilhelm Reich wurde das ja auch ziemliche behauptet, und er hat es ja auch selbst zugegeben. [4]

    Federn: Ja, man hat natürlich gewußt, wie er sich Patienten gegenüber verhält. Das sind zwar alles Dinge, die man nicht nachweisen kann; aber es hat doch immer Ärzte und Analytiker gegeben, von denen kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, das zu deklarieren, obwohl es immerfort vorkommt. Auch heute wird das ja von den meisten Psychiatern nicht gestattet – aber diskutiert wird es schon, es gibt sogar Aufsätze darüber.

    Wolkerstorfer: Wie stehen Sie zu dieser Frage?

    Federn: Es ist eigentlich indiskutabel; aber bitte, in der heutigen Zeit! Bei uns zuhause wurde über diese Dinge überhaupt nicht gesprochen, mein Vater war da außerordentlich diskret, und es war ja auch eine ganz andere Geschichte, daß man z. B. oft untereinander die Frauen ausgetauscht hat.

    Wolkerstorfer: Was meinen Sie mit: „Die Frauen ausgetauscht?“

    Federn: Naja, man ließ sich häufig scheiden und verheiratete sich dann wechselseitig. Aber mit der Frau eines Kollegen oder mit einer Kollegin zu schlafen, ist eine Sache, mit der Patientin, das ist eine andere.

    Wolkerstorfer: Reich schrieb in seinem Buch „Reich speaks of Freud“ [5], Ihr Vater wäre auf ihn eifersüchtig gewesen und hätte deshalb gegen ihn gearbeitet.

    Federn: Also, das war schon eine schizophrene Vertauschung. Meine Eltern führten eine außerordentlich gute Ehe, und noch dazu war meine Mutter sowieso um dreizehn Jahre jünger als mein Vater, also selbst die Vorstellung, daß mein Vater sich lieber eine Jüngere genommen hätte, wäre ganz unsinnig.

    Wolkerstorfer: Warum, glauben Sie, hat Reich das behauptet?

    Federn: Die Geschichte war die, daß meine Mutter ihn einfach nicht gemocht hat. Das spürte er natürlich, denn wenn meine Mutter jemanden nicht mochte, konnte sie ausgesprochen ungut sein. Wenn mein Vater ihr sagte, er habe Reich zum Essen eingeladen, hat meine Mutter geantwortet: „Aber ohne mich. Ich laß Dir servieren.“ Wir haben ja Dienstmädchen gehabt, zu denen hat sie dann einfach gesagt: „Heut‘ kommt Dr. Reich. Servieren Sie zwei Essen für die Herren“.

    Wolkerstorfer: Und Reich war darüber gekränkt?

    Federn: Ja, deshalb hat er auch diese paranoide Geschichte aufgebracht, daß mein Vater auf ihn eifersüchtig war. Meine Mutter war ja, wenn sie jemanden mochte, überaus lieb und sehr gastfreundlich – da haben eben die Kollegen alle miteinander gesprochen und davon erzählt, wie gut man bei den Ferlems ißt und wie nett die Frau Wilma ist. Meine Mutter hat sich sehr für die Psychoanalyse interessiert und es hat einige Analytiker gegeben, die sie besonders gern gehabt hat, z. B. Sterba [6], und die Bibrings[7][8], die haben dann eben von ihrer Gastfreundschaft geschwärmt, und Reich hatte nichts davon, jetzt war er auf die Frau Federn bös. Im Haus Federn hat sich ja ab 1924 das ganze soziale Leben der Psychoanalyse abgespielt. Freud war damals ja schon 67 Jahre alt und schwer krank und seine Tochter Anna war unerhört schüchtern. So gingen dann alle zu Federn. Und da, das erklärt auch Jones, wurde Reich sicherlich zum Außenseiter.

    Wolkerstorfer: Reich hat ja 1925 sein Buch „Der triebhafte Charakter“ Ihrem Vater
    gewidmet [9]. Die Beziehung zwischen ihm und Ihrem Vater war damals also noch gut?

    Federn: Ich weiß, daß mein Vater lange Zeit viel von ihm gehalten hat. Mein Vater hat 1948/49 in New York ein Seminar über Sigmund Freuds Schriften gehalten, da hat er bei einer Diskussion über Reich gesagt: „Mea culpa, mea maxima culpa; ich habe ihn zum Analytiker gemacht, und das hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Sicherlich war erein außerordentlich begabter Kliniker.“ Daß Reich als Kliniker geschätzt wurde, geht auch aus Freuds folgendem Brief hervor [10]:

    14.XII.24

    Lieber Herr Doktor!

    Kurz nach Ihrem Weggang habe ich ein Manuskript von Dr. Reich gelesen, dass er mir am Vormittag zugeschickt hatte und fand es so inhaltsreich und wertvoll, dass mich ein Bedauern erfasste, seinem Streben eine Anerkennung versagen zu müssen. In dieser Stimmung fiel mir ein, dass unser Beschluss, Dr. Jekels zum Stellvertreter vorzuschlagen, ja ungiftig ist, denn wir beide haben kein Recht, eigenmächtig einen Beschluss aufzuheben, der in der Versammlung des Vorstands gefasst worden ist. Dagegen verschwindet, was Sie mir von privaten Feindschaften gegen Dr. Reich erzählt haben. Zufrieden damit, diese formale Begründung gefunden zu haben, bitte ich Sie also, sich an den offiziellen Vorschlag, der im Ausschuss gefasst wurde, zu halten und den Ersatz durch Dr. Jekels fallen zu lassen.
    Ich bedaure, mir so bald widersprochen zu haben, aber ich hoffe, Sie werden zugeben, dass diese Entscheidung die einzig korrekte ist.

    Herzlich

    Ihr

    Freud

    Wolkerstorfer: Wissen Sie, warum Ihr Vater wollte, dass Jekels statt Reich zum stellvertretenden Sekretär [11]: gewählt würde?

    Federn: Ich habe keine Ahnung. Aber da muß es bereits im Dezember 1924 Unstimmigkeiten gegeben haben. Wie gesagt, 1925 hat er ja meinem Vater dieses Buch gewidmet. Reich hat sich damals also offenbar noch um das Wohlwollen von Federn bemüht, sonst hätte er das doch nicht geschrieben. In einem Brief vom 15.12.1924 schreibt Freud [12]:

    1 5.XII.24

    Lieber Herr Doktor!

    Es tut mir recht leid, aber ich kann Sie nicht aus den Verlegenheiten reissen, in die Sie sich selbst gebracht haben. Ihre Einwendungen gegen Dr. Reich hätten Sie in der Vorstandssitzung vorbringen sollen, nicht nachträglich. Die Einholung einer Zustimmung von Seiten der verschiedenen Vorstandsmitglieder knapp vor der Sitzung und unter dem Eindruck, dass ich irgendwelche Motive hatte, gegen Dr. Reich aufzutreten, ist offenbar unstatthaft. Was fangen Sie überhaupt an, wenn irgendjemand, z. B. Frau Dr. Deutsch, diese Zustimmung verweigert? Es kann also nur dabei bleiben, dass Sie den Beschluss vertreten, der unter Ihrer Mithilfe im Vorstand gefasst worden ist.
    Betreffs Dr. H. haben wir uns ja geeinigt, dass nichts von der Sache verlauten darf, solange die Möglichkeit besteht, dass es sich nur um einen Tratsch oder um die Vergröberung eines Eindrucks handelt.
    Sie werden es leichter haben, Jekels und Hitschmann zu beschwichtigen, als im andern Falle alle einzelnen Vorstandsmitglieder.

    Herzlichen Gruß
    Ihr
    Freud

    Federn: Diese Briefe sind sehr interessant, weil sie zeigen, wie Freud Dinge behandelt hat. Also am 14. Dezember hat er den ersten Brief abgeschickt, und einen Tag später dann diesen zweiten Brief. Da hat offenbar mein Vater ihm zurückgeschrieben oder angerufen. Nicht, die Sache ist die: Freud hat am Telefon nicht mehr gesprochen, wegen seiner Krebs-Operation „), und daher gingen so viele Briefe hin und her. Oft war es so, daß mein Vater einfach zu Freud hinüberging, das war ein Sprung von der Riemergasse in die Berggasse; aber für Freud natürlich nicht umgekehrt. Also wissen wir nicht, was sich auf der anderen Seite dieser Briefe – ich habe ja hunderte solcher Briefe von Freud – abgespielt hat. Die schwere Krankheit Freuds wurde von seinen Biographen – außer von Jones – nicht wirklich klar herausgestellt. Ich meine, der Mann hat ja eigentlich ununterbrochen damit gerechnet, es ist sein letztes Jahr, es ist sein

    letztes Buch. Und immerfort diese furchtbaren Operationen – wenn man sich nur überlegt, wie ungern einer zum Zahnarzt geht – das muß man sich vorstellen: stundenlange Operationen, die Prothese mußte immer wieder anprobiert werden. Das heißt, es konnte keine Narkose gegeben werden, damit er spüren konnte, ob sie auch paßt. Sobald das geheilt war, mußte dauernd der Sitz probiert werden, und er war doch schon hoch in den Siebzig. Das war schon eine fürchterliche Sache. Freuds Schriften sind natürlich so verfaßt, als schriebe hier ein Gelehrter einfach so vom Schreibtisch aus; man merkt beim Lesen nicht, daß er ein furchtbar leidender Mensch war – vom Psychischen ganz abgesehen.

    Wolkerstorfer: Wissen Sie, warum Freud damals eigentlich anderer Meinung über Reich war als Ihr Vater?

    Federn: Aus Freuds Briefen sieht man, daß er immer sehr lange überlegt hat. Und so auch bci Reich. Da gibt es hier einen Brief Freuds an meinen Vater vom 22. November 1929, wo er schreibt [14]:

    Wien, 22.X1.1929

    Lieber Herr Doktor!

    Als Sie vorgestern davon sprachen, Dr. Reich von der Leitung des Seminars zu entheben, meinte ich, es werde ihm wahrscheinlich erwünscht sein, da er eine andersartige zeitraubende Tätigkeit in Aussicht genommen habe. So hoffte ich sowohl Ihren als auch seinen Wunsch zu erfüllen. Es scheint aber, daß ich mich hierin geirrt habe und dann müssen Sie wohl auf Ihren Wunsch verzichten, denn eine gewissermaßen strafweise Enthebung Reichs ohne seine Einwilligung durch einen „Ukas[15], das habe ich gewiß nicht gewollt und dazu liegt mir auch kein Motiv vor. Der Kritik, die Sie und andere Kollegen an ihm üben, stehen doch große Verdienste um das geistige Leben im Verein entgegen und er ist auch sonst nicht der Schlechteste. Ich muß Sie also bitten, sich mit ihm allein und persönlich in ein kollegiales Einvernehmen zu setzen. Will er die Leitung des Seminars beibehalten, so muß man wohl nachgeben.
    Mit herzlichen Grüßen

    Ihr Freud

    Wolkerstorfer: Wissen Sie, auf welche „zeitraubende Tätigkeit“ sich Freud im Brief bezieht?

    Federn: Es wird wohl Reichs politische Tätigkeit in der Kommunistischen Partei Österreichs gemeint gewesen sein, denn er hat sich 1929 als ihr Kandidat beim Wiener Landtag aufstellen lassen. 1929 habe ich ihn auch kennengelernt, in meiner Mittelschulzeit, ich war damals 15 Jahre und selber politisch schon engagiert. In dieser Zeit war er äußerst aggressiv, er hat einen roten Kopf bekommen und hat gebrüllt, wenn er bei uns auf Besuch war. Das hat mich damals sehr beeindruckt.

    Wolkerstorfer: Bei der Seminarleitung, von der im Brief die Rede ist, geht es wohl um das Technische Seminar?

    Federn: Darum geht es offenbar, aber ich meine, das ist also ein Brief, der diese blödsinnigen Vorstellungen, daß man ihn ausgeschlossen hat, weil er Kommunist war, ad absurdum führt. Im Brief ist erwähnt, daß er für die Kommunisten arbeiten möchte, aber Freud schreibt ganz klar: behalten Sie ihn. Das sind ja völlig klare Evidenzen hier, daß es nicht um politische Voreingenommenheit geht. Reich ist ja erst 1934 aus der Psychoanalyse ausgetreten[16] hier ist noch ein Brief Freuds an meinen Vater, der auch zeigt, daß Freud Reich auch noch nach seiner Kandidatur bei den Kommunisten zu stützen versuchte[17]:

    Wien, 10.X.1930

    Lieber Herr Doktor!
    Bald nach Ihrem erhielt ich den Brief von Reich, in dem er sich über die Art seiner zeitweiligen Enthebung beklagt. Ich habe ihm geantwortet, daß wir ihm wohl die Erhaltung seiner Funktionen zugesagt haben und das auch einhalten wollen, daß aber über die Technik dieser Beurlaubung nichts abgemacht wurde.
    Ich fände an Ihrer Art, die Sache zu arrangieren, nichts einzuwenden und hielte es für keinen Anlaß zur Rekrimination. Natürlich hätten Sie es auch anders

    machen können. Ihn wählen und dann beurlauben. Da die Absicht besteht, ihn wieder einzusetzen, wenn er nicht unmöglich geworden ist, kann ich in Ihrem Vorgehen kein Unrecht finden.

    Mit herzlichem Gruß

    Ihr Freud

    Wolkerstorfer: In dem Briefwechsel, den Reich mit Anna Freud 1934 nach dem
    Ausschluß geführt hat, finden sich schon auch andeutungsweise politische Argumente.

    Federn: Ja wissen Sie, die Anna Freud war, glaube ich, beträchtlich konservativer als ihr Vater. Politisch bezog sie überhaupt keine Stellung, ich würde mich nicht wundern, wenn sie nicht einmal Zeitung gelesen hätte, während Freud sich doch immer mit Politik auseinandergesetzt hat – er hatte ja in jungen Jahren selber Politiker werden wollen. Wir wissen ja auch, daß er viele politische Freunde gehabt hat, die auch einmal einen Aufruf für die Sozialistische Partei unterschrieben haben. Natürlich hat es politisch sehr engagierte Leute gegeben, wie zum Beispiel Siegfried Bernfeld [18] und Wälder [19], der, ich würde sagen, ein rabiater Antimarxist war. Wälder wurde oft ausfällig, wenn es zu Gesprächen über Marxismus kam; da konnte man nicht vernünftig mit ihm reden. Auch Jones war eher auf der konservativen Seite. Aber bei Freud und meinem Vater hat es überhaupt keinen Antimarxismus gegeben; und das waren entscheidende Leute, damals, beim Ausschluß.

    Wolkerstorfer: Reich hat ja bei Ihrem Vater 1922/23 eine Lehranalyse begonnen. Könnte es sein, daß Ihr Vater gekränkt war dadurch, daß Reich die Analyse bei ihm abgebrochen hat?

    Federn: Ich glaube, das war schon 1921.

    Wolkerstorfer: Ja, das ist nicht ganz klar. Jedenfalls hat er sie nach ungefähr einem halben Jahr abgebrochen.

    Federn: Daß mein Vater ihm deswegen böse war, halte ich für ausgeschlossen. In dieser Zeit hat man keine so langen Analysen gemacht; sechs Monate waren gar nicht ungewöhnlich. Es war nicht die Art meines Vaters, gekränkt zu sein.

    Wolkerstorfer: Haben Sie irgendeinmal etwas über diese Analyse gehört, hat Ihr Vater darüber gesprochen?

    Federn: Ja, ich hörte, wie mein Vater sagte: „Ich hätte ihn damals nicht …“ entweder hat er damit gemeint: ‚ich hätte nicht einwilligen sollen, daß er aus der Analyse weggeht‘ oder er meinte: ‚ich hätte ihn überhaupt nicht analysieren sollen‘ – das weiß ich nicht. Die Einstellung, die man Reich gegenüber hatte, entstand aufgrund der Bücher, die er geschrieben hatte, also als erstes die „Charakteranalyse“. Damals hielt man ihn für einen hervorragenden Kliniker. Diese Bezeichnung „hervorragender Kliniker“ hat aber unausgesprochen auch beinhaltet: „aber kein Analytiker“. Man hat von ihm nicht gesagt, er sei ein großer Analytiker. Es gab doch Leute, von denen man sagte, das sind großartige Analytiker, also Wälder, Nunberg [20], Ferenczi [21], Abraham[22], das waren große Psychoanalytiker. Über Reich hat man gesagt: „Er ist ein großartiger Kliniker“; das heißt, er hat Krankheiten sehr schnell erkannt und hat mit diesen Krankheiten sehr gut umgehen können. Aber er hat ja auch mit diesen sehr schwer kranken Menschen gearbeitet…

    Wolkerstorfer: … im Ambulatorium …

    Federn: Im Ambulatorium, ja. Freud hat sehr viel von Reich gehalten. Reich hatte -was wir heute wissen – Einsicht in seine eigene Pathologie. Das beeindruckte natürlich Leute wie Freud, die von dieser Pathologie selbst nichts gefühlt haben. Reich sah dadurch eine Unmenge von Krankheitsbildern. Das Erkennen des Charakterpanzers und dessen Interpretation waren ja wirklich hervorragende Leistungen.

    Wolkerstorfer: Wenn weder Reichs politische Einstellung noch das Abbrechen der Therapie der Grund war, warum Ihr Vater auf den Ausschluß Reichs drang, was war dann der Grund?

    Federn: Ich erinnere mich, daß mein Vater sagte, das hätte Freud doch wissen müssen, daß diese inzipiente Schizophrenie Reichs immer schlechter werden würde. Aber es gibt ja diesen Brief Freuds an Holosh, den Schur mit veröffentlichte, in dem Freud sagt:

    „Ich bin kein Psychiater. Diese Leute sind mir unheimlich, ich will sie nicht behandeln“. Ich meine, mehr kann man doch nicht von Freud verlangen, als daß er das zugibt… so hat er eben auch den Zustand Reichs nicht erkannt. Mein Vater hat so etwas schon immer sehr frühzeitig erkannt [24], aber die immer weiter fortschreitende Paranoia, die ja dann ausgebrochen ist, hat auch er am Anfang nicht geahnt. Die Einstellung zur Geisteskrankheit ist etwas, was den heutigen, vor allem den jungen Historikern, die heute darüber schreiben, schwer klarzumachen ist. Heute gibt es ja kaum einen Psychoanalytiker, der vor Schizophrenie Angst hat. Aber zu Freuds Zeiten und bis eigentlich in die fünfziger Jahre hinein hatten Analytiker vor dem Nichterkennen einer Geisteskrankheit panische Angst. Dafür gab es eine Reihe von Gründen: Es war in den Köpfen der Leute, daß die Analytikerin Hug-Hellmuth [25] von ihrem geisteskranken Neffen umgebracht worden sei. Es hieß also, einen der Kollegen habe ein schizophrener Patient umgebracht. Das wurde dann ja von Huber[26] widerlegt – aber erst 1980. Es gibt ein Zitat von Federn aus den Isakower-Papieren [27], wo er sagt: „Zuerst einmal muß sich ein Psychoanalytiker versichern, daß ihn der Patient nicht umbringt.“ Denn Sie müssen sich ja vorstellen: man war allein mit einem Menschen in einem Raum. Man hat ja damals nicht in einem Spital behandelt oder in Büroräumen, wo man klingeln kann. Man war zuhause und manche waren alleine oder mit der Frau, und da hatte man natürlich Angst vor Schizophrenie. Mein Vater war der erste und für lange Zeit der einzige, der den Mut hatte, diese Leute in Therapie zu nehmen. Und das war gar nicht so einfach: man hat einen zurückhalten müssen davor, beim Fenster hinauszuspringen, das war alles unerhört, die Risiken, die man auf sich genommen hat. Das ist heute sehr schwer verständlich. Heute bekommt ein Geisteskranker, wenn er zu toben beginnt, eine Injektion oder Medikamente; und dann ist es erledigt. Aber das gab es ja damals alles nicht. Das einzige Mittel war die Zwangsjacke und dann das heiße Bad. Dann kam noch dazu, daß Dr. Harnik[28] auf einem Kopenhagener Kongreß[29] plötzlich geisteskrank wurde und abgeführt werden mußte; er wurde plötzlich psychotisch. Dazu kam Groß [30], ein schwer Drogenabhängiger, den mein Vater damals in eine Anstalt einlieferte. Das war 1919 oder 1920; das war nicht besonders günstig für die Psychoanalyse, von der ohnehin alle gesagt haben, daß sie verboten gehört. Der Selbstmord von Tausk [31] hat die Leute auch sehr geängstigt. Wenn man Geschichte schreibt, muß man das berücksichtigen – die Leute hatten davor Angst, das ist ja auch sehr verständlich. Inzwischen hat sich das völlig gewandelt. Heutzutage sagt man: Nur ein Schizophrener kann Schizophrene behandeln. Der Begriff der Schizophrenie ist ein anderer geworden. Man ist heute eben viel toleranter und man macht auch die verrücktesten Psychiater ohne weiteres zu Ordinarien. Aber das ist erst eine Errungenschaft der zweiten Generation nach Freud.

    Wolkerstorfer: Wie sehen Sie Reich vom Charakter her?

    Federn: Das kann ich nicht sagen. Das ist eine Frage, wie man einen Charakter beurteilt. Er war sicher der Sache sehr ergeben, er war politisch unerhört engagiert; er hat sich eingebildet, daß er ein Marxist wäre – aber bitte, das taten ja viele. Er hat versucht, den Faschismus zu verstehen, zu einer Zeit, wo andere das Problem noch gar nicht erfaßt haben. Seine Rolle als Sexualreformer wird heute meiner Meinung nach maßlos überschätzt.

    Die Herrschaft der Nationalsozialisten hat viele Sexualreformen, die es vor dem Krieg bereits gab, zunichte gemacht, man weiß heute kaum mehr etwas von den großen Bewegungen zur Sexualreform, etwa von Hodann [32] und Hirschfeld“, vor allem, was die Homosexualität betrifft. Und viele Analytiker waren dabei, ich denke da an Willi Hofer [34] und auch an meinen Vater, der damals mehrere Sexualreform-Kongresse organisierte. Und Van de Velde [35] oder Fritz Wittels [36].

    Es ist also nicht so, daß Wilhelm Reich der einzige war. Das Auftreten gegen die Heuchelei, dazu hat man Reich nicht gebraucht, das hat’s also überall gegeben. Es war nur damals viel schwerer als heute, es durchzusetzen. Wir leben heute in einer relativ toleranten Zeit, in der selbst Reich nicht mehr der große Revolutionär ist [37], aber damals hätte er für einige der Sachen, die er mit den Patienten machte, eingesperrt werden können.

    Wolkerstorfer: Wann haben Sie das letzte Mal von Reich gehört?

    Federn: Über Reich höre ich gerade jetzt sehr viel, weil ja eine Menge über ihn publiziert wird; manche der Autoren haben sich auch an mich gewandt. In New York rief mich einmal meine Direktorin und Supervisorin an und fragte: „Sagen Sie mir, wissen Sie etwas über Dr. Reich? Ist das derselbe wie Reik?“ Sie hatte Grethe Hoff“), die in Norwegen von Reich analysiert worden war, in ihrer Organisation als Analytikerin angestellt.

    Und die Grethe Hoff sagte, sie sei eine Schülerin von „Reik“, sie hat „Reich“ also „Reik“ ausgesprochen, ich weiß nicht warum, denn im Englischen spricht man Reich entweder „Reich“ oder „Reech“, aber niemals „Reik“ aus. Man nahm also an, sie sei eine Schülerin Theodor Reiks „). Als ich der Direktorin erklärt hatte, wer Reich ist, sagte sie: „Ah, da haben wir abereinen schrecklichen Fehlergemacht“. Denn diese junge Dame – übrigens die erste Frau von Dr. Sharaf – hat einer Klientin geraten, sie soll ein Verhältnis eingehen, da sie mit ihrem Mann nicht konnte.

    Das war also damals in York – das war Anfang der fünfziger Jahre – beinahe eine Aufforderung zu einem kriminellen Akt, dafür konnte man eingesperrt werden. Diese Klientin hatte sich also beschwert, und da gab‘ s ein Riesentheater, das war also untragbar. Reich hat dann ja in Maine das Orgon-Institut gegründet. Durch Zufall lernte ich den Mann kennen, der diese Orgon-Boxes für die Leute in Maine gebaut hat. Das waren wirklich

    Weder die bürgerliche noch die linke Reichrezeption haben diesen Standpunkt Reichs bis heute erfaßt. Vorn ‚Vorbeter der repressiven Entsublimierung“ über Menitalfetischisr bis hin zum ‚bürgerlichen Moralisten“ wurde Reich etikettiert. ‚Es passiert wieder und wieder, daß biopathische Individuen … ’sexuelle Gesundheit‘ mit sexuellem LlbertinIsmus verwechseln.‘ W. Reich, „Warning against the Misinterpretation of Sexual Health.“ Int. Journ. of Sex-Economy and Orgonomy No. 2, p. 197, 1943 (überseUung Martin Wolkerstorfer).

    nichts anderes als zusammengestoppelte Kästen, die mit Metall ausgeschlagen waren. Das hat sich natürlich auch mit der Zeit herumgesprochen. „Sweatening-Box“, Schwitzkasten, hat man das genannt.

    Wolkerstorfer: Was wissen Sie von Annie Reich‘), seiner ersten Frau?

    Federn: Die Annie habe ich sehr gut gekannt, sie war mit meiner Schwester befreundet. Sie war ein ganz besonders netter, warmer, sehr für ihre Patienten sich einsetzender Mensch. Man hat Reich diese Ehegeschichte damals sehr übelgenommen.

    Wolkerstorfer: Sie meinen die Trennung der beiden…?

    Federn: Ja, es ist viel getratscht worden, alles habe ich nicht mitbekommen. Wilhelm und Annie Reich waren ja beide Analytiker, beide waren politisch sehr links orientiert. Da gab es sicher keine Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten müssen anderer Art gewesen sein. Sie ist ja dann nach Prag gezogen, glaube ich. Sie hat später in Amerika den ehemaligen Schatzmeister. der „Dritten Internationale“, Thomas Rubinstein [42] geheiratet. Ich habe ’sie später wieder in New York gesehen; sie ist jetzt schon gestorben.

    Wolkerstorfer: Reichs dritte Frau, Ilse 011endorf, behauptet, daß der Konflikt zwischen Reich und Annie der gewesen sein soll, daß Annie meinte, daß ihre Kinder nicht in einen kommunistischen Kindergarten kommen sollten.

    Federn: Ja, das kann sein. Nun, die Kinder [43], [44] Reichs waren im Kindergarten, in dem auch meine Frau gearbeitet hat.

    Wolkerstorfer: Das war in Wien.

    Federn: Ja, in der Köstlergasse [45]. Und meine Frau erinnert sich daran, wie die kleine

    Lorli einen Brief vom Vater bekommen hat, wo er auf einem Foto nackt mit seiner Freundin zu sehen war. Und das hat natürlich meine Frau damals sehr aufgeregt. Das war 1934, das muß er schon aus Berlin geschickt haben. Die Lorli war damals, glaube ich, fünf oder sechs Jahre alt. Meine Frau hat das dann ganz empört meinem Vater erzählt. Und denken Sie sich, naja Gott, Patienten erzählen viel, das muß nicht stimmen, aber auf einmal hört mein Vater von seiner Schwiegertochter solche Geschichten. Daraufhin sagt er: „Aha, na, mehr brauch ma nicht!“

    Wolkerstorfer: Nach Aussagen von Eva Reich, seiner ersten Tochter, soll es schon in W ien Probleme gegeben haben, weil sie – vom Vater vorgeschrieben – schon als Kind Analyse machen mußte – bei Berta Bornstein[46].

    Federn: Ja, das kann sein.

    Wolkerstorfer: War das damals üblich, Kinder in Analyse zu nehmen?

    Federn: Die Kinder der Analytiker haben damals wirklich viel mitgemacht. Man hat – möchte ich sagen – wild darauflos therapiert. Man war lange Zeit davon überzeugt, daß man die Kinder ganz frei erziehen soll, ganz ohne Einschränkungen. Aber die Kinder der Generation Freuds und meines Vaters haben davon überhaupt noch nichts bemerkt, die Freud-Kinder sind ganz konservativ erzogen worden. Freud war damals, als seine Kinder heranwuchsen, noch gar kein Analytiker. Anna war, als er die „Traumdeutung“ schrieb, fünf Jahre alt. Und Martha Freud [47]hat ja gar nicht gewußt, was der Professor da alles schreibt, die hatte ja keine Ahnung von der Psychoanalyse. Sie führte einen ganz viktorianischen, puritanischen Haushalt. Bei uns zuhause war’s genau dasselbe; ein unanständiger Witz wurde da überhaupt nie erzählt.

    Wolkerstorfer: War das sehr streng?

    Federn: Das war nicht streng, mein Vater war überhaupt nicht streng. In diesem Sinn aber auch nicht analytisch. Analytisch war nur, daß Sexualität nicht etwas Verbotenes war, ich meine, es hatte niemand sehr darauf abgesehen, kindliche Sexualität zu unterdrücken. Das war wahrscheinlich auch im Hause Freud so. Aber die nächste Generation hat dann schon viel mehr experimentiert und vor allem dann sehr schnell Kinder in Analyse geschickt. Es ist sehr schwer, da einen gültigen Schluß zu ziehen.

    Denn es gibt Kinder von Analytikern, die ein völlig normales Leben geführt haben, und andere, die es ziemlich schwer gehabt haben. Aber das Leben eines Analytikerkindes war im allgemeinen schwer. Ich meine, das Leben eines Kindes in einer analytischen Ordination, das muß man sich vorstellen: also jede Stunde ist ein anderer Patient zur Sitzung gekommen. Da durfte also überhaupt kein Ton laut werden, da mußte völlige Ruhe herrschen, man durfte nie die Familie sehen. Damals waren die Wohnungen doch noch sehr klein, man hat ja noch nicht sein eigenes Büro gehabt, man hat auch noch nicht so viel verdient wie heute. Und dabei war es bei uns wahrscheinlich noch leichter als in anderen Familien, aber ich kann das nicht beurteilen, ich war mit keinem der Kinder von Kollegen meines Vaters befreundet.

    Wolkerstorfer: Sie wurden als Kind nicht analytisch behandelt?

    Federn: Mein Vater war ein Gegner der Kinderanalyse. Anna Freud war ihm zu konservativ; er hat einfach nicht geglaubt, daß man Kinder analysieren könne. Und ich glaube, so dachte auch Freud. Melanie Klein [48] hat man überhaupt abgelehnt … man war skeptisch, ob man Kinder überhaupt analysieren soll.

    Aber bitte, das war alles vor 1938. Es hat ein paar große Kinderanalytikerinnen gegeben wie die Bertl Bomstein, die Skerwa, etc. Aber mein Vater war von Anfang an skeptisch, er hat ja versucht – das habe ich auch einmal irgendwo geschrieben – eine psychoanalytische Pädagogik für Lehrer zu schreiben, aber nicht für Kinder. Er war der Meinung, daß die Psychoanalyse auf die Kindererziehung nur durch die präventive Anwendung ihrer Erkenntnisse einen Erfolg hat, und daß man die Lehrer analysieren muß, die Erwachsenen, die Erzieher. Kinderanalyse gegenüber war also diese Generation skeptisch. Plötzlich entstand dann ein unerhörter Optimismus, man begann Kinder immer mehr zu analysieren; das hat sich dann polarisiert.

    Wolkerstorfer: Es war also üblich, daß die Kinder analysiert wurden, zumindest manche?

    Federn: Ja, wenn das möglich war. Manchmal hat man auch gegenseitig analysiert.

    Wolkerstorfer: War da die Abstinenzregel nicht …

    Federn: Naja, was hat man denn machen können?

    Wolkerstorfer: Aber Freud hat doch abgelehnt, Schüler von ihm zu analysieren.

    Federn: Ja, aber er hat auch seine eigene Tochter analysiert. Er hat doch – nach Eduardo Weiss [49], – diesen klassischen Ausspruch getan: „Ich weiß nicht, ob es richtig war, daß ich Anna analysiert habe. Bei einem Sohn hätte ich es bestimmt nicht getan.“ Das steht in einem Brief; kennen Sie den nicht?

    Wolkerstorfer: Nein, den kenne ich nicht.

    Federn: Diese Aussage ist doch sehr interessant: „Bei einem Sohn hätte ich es bestimmt nicht getan“. Er hat nicht gesagt, daß man nicht analysieren darf unter Freunden, er hat nicht gesagt, unter Kollegen. Wenn man unter Freunden analysiert, muß man gefaßt sein, daß die Freundschaft auseinandergeht. Aber was sollte man machen. Um jemanden zu analysieren, konnte man ihn ja nur zu einem Kollegen schicken; und damals gab es nur etwa dreißig Mitglieder.

    Wolkerstorfer: Es sind ja auch etliche als Patienten zu ihm gekommen und dann Analytiker geworden.

    Federn: Ja, wahrscheinlich, das weiß ich nicht. Man weiß es von Jekels [50], das war der erste Analytiker, der von Freud analysiert worden ist. Nicht gut analysiert. Jekels war ein außerordentlich interessanter Mensch, aber nicht jemand, den man für „analysiert“ halten würde. Das war etwa 1908. Freud hat so viel weniger gewußt als wir heute. Einer der größten Fehler in dieser Zeit war, daß Freud von der „Gegenübertragung“ sehr wenig gewußt hat. Das hat ganz sicher auch zu seinem problematischen Verhältnis zu C. G. Jung geführt. Den hat er ja überhaupt nichtbegriffen. Alfred Adler vielleicht eher. Aberdiese Entwicklung hat er dann ja nicht mehr kontrollieren können. Er hat das nicht mehr ganz mitbekommen. In ganz hohem Alter hat er dann Marie Bonaparte, Ruth Mack-Brunswick und Helene Deutsch [51] analysiert.

    Wolkerstorfer: Reich hat er ja abgelehnt für eine Lehranalyse.

    Federn: Das hat Freud mit anderen Schülern auch gemacht. Die meisten hat er abgelehnt. Viele waren gekränkt, daß sie von ihm nicht analysiert wurden.

    Wolkerstorfer: Reich soll ja später noch bei Rado [52] in Analyse gewesen sein, wissen Sie darüber Genaueres?

    Federn: Sharaf und Eissler haben mich auch gefragt, wer der zweite Analytiker nach meinem Vater war. Wenn es wirklich Rado war, dann muß das schon schlimm gewesen sein: zuerst vom Federn und dann vom Rado analysiert zu werden – furchtbar! Der Rado war doch ein schlechter Mensch!

    Wolkerstorfer: Wie meinen Sie das?

    Federn: Ein charakterloser Mensch, dabei sehr begabt.

    Wolkerstorfer: In welcher Hinsicht?

    Federn: Er machte doch seine eigene Columbia-School für Psychoanalyse, das war alles sehr angepaßt und sozial, aber bei den Kollegen war er eigentlich nicht beliebt. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich war in Analyse bei Nunberg – damals lebte mein Vater noch – und ich sagte zu Nunberg: „Wissen Sie, mein Vater hat sich mit Rado ausgesöhnt.“ Daraufhin meinte Nunberg: „Was! Da muß er aber sehr krank sein!“. Jeder wußte, Rado und mein Vater waren spinnefeind. Rado ist aus der New Yorker Psychoanalytischen Vereinigung weggegangen, nachdem ihn mein Vater also buchstäblich hinausgedrängt hat, und hat sich dann so schäbig benommen, er hat sich in der Columbia über den Freud lustig gemacht – er muß ein gräßlicher Mensch gewesen sein.

    Einmal hielt er einen Vortrag in der New Yorker Vereinigung. Nach dem Vortrag stand mein Vater auf und sagte, der Vortrag des Kollegen Rado erinnere ihn daran, daß es in Italien Leute gäbe, die Skulpturen mühevoll herstellen und verkaufen und andere, die Skulpturen ausgraben und sie als eigene verkaufen. „Sie können sich selber aussuchen, zu welchen Dr. Rado gehört!“. Daraufhin applaudierte die ganze Versammlung, Rado stand auf und ging weg. Mein Vater hat ja auch den Reich so hinausgedrängt – er war da furchtbar brutal, im Moment war er sehr nett und wenn Schluß war, war er sehr scharf, sehr bös.

    Über Theodor Reik war mein Vater auch einmal sehr erbost, weil der ihn in seinem Buch über Masochismus nicht zitiert hat, obwohl bekannt war, daß mein Vater die ersten großen Arbeiten über Masochismus verfaßt hat. Obwohl Reik doch ein alter Freund von ihm war, sagte mein Vater: „Reik ist ein Lügner“, was Reik natürlich prompt erfahren hat. Reik hat daraufhin verlangt, mein Vater müsse das zurücknehmen, sondern würde er nicht mehr mit ihm sprechen. Als man meinem Vater das ausrichtete, hat er gesagt: „Warum war denn der Reik bös, ich hab doch recht!“ Sehen Sie, solche Sachen hat mein Vater gemacht.

    Wolkerstorfer: Die Psychoanalyse hat ja in Amerika recht rasch Fuß gefaßt. War das eigentlich zu erwarten?

    Federn: Freud hat nie daran geglaubt, daß die Analyse jemals einen so großen Erfolg haben wird. Vor allem hätte er es niemals für möglich gehalten, daß die Analyse in den Vereinigten Staaten eine derart große Rolle spielen würde; die Vereinigten Staaten hatte er ja völlig abgeschrieben. Amerikaner hat er nur analysiert, weil er deren Geld gebraucht hat. Insgeheim war es ihm völlig gleichgültig, wie so ein Amerikaner analysiert wurde.

    Er war überzeugt, daß das, was man einem Amerikaner mitgibt, etwas Verlorenes ist. Abraham Kardiner, Simley Blanton und eine Reihe anderer Amerikaner sind von ihm analysiert worden. Diese Analysen sind deswegen so interessant, weil Freud zu dieser Zeit technisch ja ganz unklassisch gearbeitet hat. Das waren eigentlich, meiner Meinung nach, niemals wirkliche Analysen.Freud hat mit denen lediglich psychoanalytische Aufklärung betrieben; er hat sehr viel gedeutet. Wirkliche Analysen hat er nur bei ganz wenigen seiner Schüler gemacht.

    Wolkerstorfer: Also Analysen in der streng klassischen Form machte Freud selten?

    Federn: Na ja, die Analyse in der streng klassischen Form stammt nicht von Freud, die stammt im wesentlichen von Abraham, von Nunberg, von Wälder, von Eissler [53]. Später haben noch viele andere auch zur Theorie und Technik beigetragen, so etwa auch Sterba. Sie haben alle in Kleinarbeit mehr und mehr zusammengetragen. Aber Freud war das alles noch nicht vertraut. Er hat diese Entwicklung auch nicht sehr hoch eingeschätzt. In der „Zeit“ war unlängst ein Dossier über die Gegner Freuds, in dem man Freud vorwirft, daß er selbst sehr bald erkannt habe, wie wenig therapeutische Wirkung die Psychoanalyse habe.

    Schon 1919 hat er ja am Budapester Kongreß gesagt: „Wir werden das Gold der Analyse mit dem Kupfer der Suggestion …“ [54]. Es war ihm klar, daß die Adlerianer in vielen Dingen wesentlich erfolgreicher waren. Und die Therapie – es gibt ja einen Brief von Freud, in dem er sagt: Die besten Patienten für die Analyse sind diejenigen, die gesund sind, das heißt, er war zuletzt der Überzeugung, daß die Analyse eine Methode für sehr intelligente, gesunde Menschen ist – soweit es überhaupt so etwas gibt. Das heißt, eine Lösung der allgemein menschlichen Neurose für eine kleine Elite besonderer, wissenschaftlich orientierter Menschen.

    Alles andere ist eben psychoanalytische Therapie, und da gibt es ja eine ganze Menge. Das hat Freud aber seinen Schülern überlassen. Und da gehört natürlich auch Reich dazu, weil Reich ja einer der ersten war, die aus diesem klassischen Modell heraus neue Wege gegangen sind. Die psychoanalytische Therapie ausgearbeitet und weiterentwickelt haben damals im wesentlichen Ferenczi und Federn. Freud hat beide in ihrem Experimentieren mit Therapie nicht begriffen, wobei ihm besonders Ferenczis Aktivitäten unheimlich waren; der hat sehr kühne Experimente gemacht und war noch dazu sozusagen „außer Reichweite“.

    Freud hatte Angst, Ferenczi würde Dinge machen, die Schwierigkeiten bringen. Bei meinem Vater hat er gewußt, bei dem Federn kann überhaupt nichts passieren, das war klar, der macht nichts, was gefährlich ist_ Aber die Arbeiten meines Vaters über die Psychosen hat Freud auch nicht verstanden und wollte sie offenbar auch gar nicht verstehen. Aufmunternd hat er lediglich gemeint: „Machen Sie nur weiter…“.

    Wolkerstorfer: Reich ist ungefähr im Mai 1933, nachdem er wegen der Nationalsozialisten von Berlin wegmußte, ganz kurz noch einmal nach Wien gekommen. Ilse 011endorf und David Badella schreiben, er sei damals sehr ungnädig aufgenommen woden; wissen Sie etwas aus dieser Zeit?

    Federn: Da war ja schon halb Faschismus, die Auflösung des Parlaments.

    Wolkerstorfer: Das war dann ein halbes Jahr später. Jedenfalls wurde Reich damals abgelehnt.

    Federn: Ja, man hat sich sehr gestritten. Der Wälder konnte ihn überhaupt nicht leiden.

    Wolkerstorfer: Gab es auch Mitglieder in der Vereinigung, die ihn unterstützten?

    Federn: Ja, Gustav Heckte und Fenichel [55] sollen immer auf seiner Seite gestanden sein, also natürlich nicht, als er ausgeschlossen wurde, aber Fenichel war ja auch Kommunist. Naja, Reich ist ja dann weggezogen, er war ja kurze Zeit bei den Trotzkisten, da gibt es ja diese Korrespondenz, die Herr Safranek vom Widerstands-Institut in Harvard ausgegraben hat. Das sind Briefe von Reich an Trotzki und von Trotzki an Reich. Herr Safranek hat mir die Kopien hinterlassen.

    Oktober 1933

    Werter Genosse Trotzki!

    Ich wende mich an Sie in der Annahme, dass die folgenden Mitteilungen für die gesamte revolutionäre Bewegung von heute nicht abschätzbaren Nutzen sein könnten. Ich bin Psychoanalytiker (Arzt und Freudschüler) und organisierte in Deutschland die kommunistische sexualpolitische Bewegung seit 1931. Es gab in Deutschland etwa 80 Sexualorganisationen verschiedenster Art, meist reformistisch und auch sexualpolitisch falsch, unklar geführt, mit zusammen etwa 300.000 Mitgliedern, die überwiegend parteilos, sehr oft christlich oder national waren. Im Westen Deutschlands gelang die revolutionäre Zusammenfassung im ersten Anlauf zu einer Einheitsorganisation von ca. 40.000 Mitgliedern. Ich kämpfte gegen die Parteibürokratie zwei Jahre lang einen aufreibenden Kampf darum, aus der elenden Sexuallage der Massen eine eigene dem allgemeinen Klassenkampf eingegliederte politische Linie zu entwickeln, wogegen die Bürokratie die sexuelle Frage der sozialen entgegenstellte, statt sie einzugliedern, und mit wirtschaftlichen Parolen unter Ausschluß der sexualpolitischen „die Massen mobilisieren“ wollte, wodurch die Bewegung ins Stocken kam. Ich wurde der Reichsleitung enthoben und die Bewegung ging zurück. Wie ich vor kurzem hörte, wurde jetzt die Bürokratie geschlagen und der Kampf geht auf meiner Plattform weiter. Ich versuche gegenwärtig, die Kräfte im internationalen Masstabe zusammenzufassen und vor allem theoretische Klärung zu schaffen. Es gibt dabei viele Fehlerquellen, die bei einiger Selbstkritik zu vermeiden sind, doch läßt die praktische Erfahrung keinen Zweifel darüber, dass die Massenmobilisierung insbesondere an der kulturpolitischen Front in der Sexualpolitik einen mächtigen Hebel hat, was in erster Linie die unpolitischen oder passiven Massen betrifft.

    Die kommunistische Partei kann als wirtschaftspolitische Organisation die sexualpolitische Arbeit nicht leisten, hierzu ist eine eigene Massenorganisation notwendig, doch kann diese ohne Anlehnung an eine politische Partei eben so wenig zur vollen Entwicklung kommen. Ich bitte Sie nun, mir mitzuteilen, wie Sie zu einer Zusammenarbeit stehen. Dazu wäre natürlich notwendig, dass sich die Führung der politischen Organisation ausreichend über die Grundprobleme der Sexualpolitik orientiert und im Falle des grundsätzlichen Einverständnisses die Organisation unterstützt. Ich glaube bei Ihnen für die Bedeutung der Sexualpolitik für den Klassenkampf mehr Verständnis, als sonst der Fall ist, zu finden, und gründe diese Ansicht auf den Schluss Ihrer Kopenhagener Rede, sowie auf Ihre Schrift „Fragen des Alltagslebens“, ich glaube aus dem Jahre 1924, in der Sie im Anhang mit vollem Verständnis die Fragen der Funktionäre dieses Gebiet betreffend abdruckten. Ich darf, ohne es hier zu beweisen, anfügen, dass der

    Rückgang der Kulturrevolution in der SU zentral mit der Tatsache innigst zusammenhängt, dass die sexuelle Revolution im Jahre 1923 abgestoppt und nicht ins Klare weiterentwickelt wurde. Ich hoffe diese wichtige Frage demnächst ausführlich darlegen zu können, und verweise jetzt nur noch auf die in der „Neuen Weltbühne“ geschilderten Verhältnisse, die auf eine Rebellion der Literaturkonsumenten in der SU hinweisen, allerdings vorläufig noch eine rückläufige (Zurückgreifen auf Klassiker).
    Ich veröffentliche jetzt eine Schrift über die Sexualökonomie der politischen Reaktion und die Grundaufgaben der proletarischen Sexualpolitik, die ich Ihnen sofort zukommen lassen werde. Ich bitte Sie um Ihre Meinung und im Falle grundsätzlicher Zustimmung um politische und organisatorische Hilfe sowie Aufrechterhaltung des Kontaktes in der Arbeit. Ich übergab vor kurzem einem Funktionär zwei Schriften für Sie, eine die Frage der Jugend und eine die Geschichte der Sexualökonomie betreffend.
    Rein politisch habe ich mich von der grundsätzlichen Richtigkeit Ihrer Auffassungen überzeugt und verfolge aufmerksam die Arbeit der LO. Obwohl ich selbst immer weniger an die Möglichkeit einer Wiederherstellung der kommunistischen Partei glaube, konnte ich mich noch nicht restlos mit der Frage der Gründung einer neuen Partei ins klare bringen. Ich bin noch Mitglied der KPD, stehe jedoch in schwerster Opposition und bin nur deshalb noch nicht ausgeschlossen worden, weil erstens sich kein Kompetenter findet, der meine sexualpolitische Theorie kritisieren kann, und zweitens, weil mein Einfluss zu gross ist. Die Sache soll sich demnächst entscheiden. Sollte ich ausgeschlossen werden oder aber die Politik der Komintern, wie etwa die Aussenpolitik der SU, nicht mehr durch Mitgliedschaft mitverantworten können und selbst austreten, dann bleibe zunächst nur die Möglichkeit, eine Zeitlang parteilos weiterzuarbeiten und die neue parteiliche Bindung abzuwarten. Da meine Arbeit sowohl in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht ein neues, bisher brachliegendes Gebiet der revolutionären Front betrifft, muss ich mir einige Selbständigkeit bewahren, ohne Partisan sein zu wollen, solange, bis entweder die revolutionäre Partei grundsätzlich einverstanden ist. Die weiteren Fragen brauchen nicht schon jetzt entschieden zu werden, ausser der einen, ob ein enger Kontakt erwünscht und möglich ist.

    Mit bestem revolutionärem Gruss

    Wilh. Reich

    7. November 1933

    Werter Genosse Reich!

    Ich beantworte Ihren Brief vom Oktober 1933 mit so großer Verspätung, weil ich einen Monat lang aus Gesundheitsrücksichten „auf Urlaub“ war. Auch hatte ich bis jetzt nicht die Möglichkeit, das mir von Ihnen zugeschickte Buch „Massenpsychologie des Faschismus“ durchzunehmen. Die zwei Schriften über die Frage der Jugend und über die Geschichte der Sexualökonomie habe ich jedenfalls nie bekommen.
    Ich muß offen gestehen, daß ich überhaupt auf Ihrem Sachgebiet ziemlich ignorant bin und mit dem Standpunkt, den Sie in den Vordergrund stellen, mich nie beschäftigt habe. Damit will ich … (?) keineswegs … (?) das von Ihnen bearbeitete Gebiet charakterisieren. Die allgemeine Bedeutung der Sexualprobleme für die Erziehung der Arbeiterjugend verkenne ich nämlich nicht und würde gerne mich über Ihre Ansichten, Erfahrungen und Pläne auf diesem Gebiet des Näheren informieren.
    Ich brauche damit nicht zu sagen, dass der von Ihnen vorgeschlagene enge Kontakt höchst erwünscht erscheint, und ich will dabei hoffen, dass er nicht nur unpersönlicher Art sein wird.

    Mit bestem Dank und Gruß

    (Unterschrift fehlt auf der Fotokopie)

    Federn: Dann habe ich noch die Fotokopien von zwei Briefen aus dem Jahre 1935:

    Kopenhagen 10. September 1935

    Werter Genosse Trotzki!

    Sowohl unter unsern Spezialisten wie auch Genossen wird jetzt, wie begreiflich, sehr eifrig die so komplizierte Frage der Kulturentwicklung in der Sowjetunion diskutiert. Die Sexualpolitische Organisation (Sexpol) hat die betreffenden Probleme in einer kurzen Arbeit zusammenzufassen versucht. Es sprechen viele Gründe für und ebensoviele gegen die momentane Publikation. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns Ihre Meinung zu einigen dieser Fragen und Stellungnahmen sagen wollten. Ich meine, dass es vorteilhaft wäre, wenn man die Dinge mündlich besprechen könnte.
    Ich bitte Sie, mir mitzuteilen, ob es Ihnen interessant und wichtig genug
    erscheint, sich darüber zu unterhalten. Wenn ja, dann bitte ich Sie, die Zeit zu

    bestimmen. Für mich käme am besten ein Sonntagspätnachmittag in Betracht, da die Wochentage meist stark besetzt sind. Doch würde ich selbstverständlich, wenn ein Sonntag nicht in Frage kommt, mich auch an einem Wochentage vorabends oder abends freimachen.

    Mit revolutionärem Gruss

    Wilhelm Reich

    18. 9. 1935

    Werter Genosse Reich,

    Ich begebe mich eben in ärztliche Behandlung, deren Dauer nicht vorauszusehen ist. Ich werde mich aber sehr freuen, mit Ihnen zusammenzukommen, obwohl das muss ich im Voraus sagen – meine Kompetenz auf dem Sie interessierenden Gebiet höchst gering ist. Sobald ich selber Bescheid weiss, werde ich Ihnen eine Mitteilung zukommen lassen.

    Mit besten Grüßen

    Wolkerstorfer: War Reich Trotzkist?

    Federn: Er war irgendeinmal bei den Trotzkisten, ’35, aber nicht lange, das weiß ich,
    und dann ist er weg, und dann hat er die Sexpol in Dänemark begonnen und dann ist
    er nach Norwegen, da hat er das Buch über das Homunculus-Problem geschrieben.

    Wolkerstorfer: Über die Bione, über Biogenese.

    Federn: Ja, und dann ist er nach Amerika, und dann ist er eingesperrt worden und ist gestorben.

    Wolkerstorfer: Da gab es doch dieses lange Interview über die oral history von ihm…

    Homunculus = ‚Menschlein“, auf künstliche Weise hergestellter Mensch. Demgegenüber legte Reich auf die Feststellung wert, daß die von ihm entdeckten ‚Bione“ genannten Formen eine Zwischenstufe zwischen belebter und unbelebter Materie darstellten, nicht mit ‚künstlicher Schöpfung“ zu verwechseln seien.
    Federn: Ja, da haben ja alle gesprochen, und er sagte natürlich, es dürfe nicht veröffentlicht werden, es wurde aber doch veröffentlicht. Ich habe mich damals furchtbar geärgert über diese Blödheiten, die er über meinen Vater geschrieben hat. Es ist ja auch zu blöd, meinen Vater einen „Modju“[56] zu nennen. Jeder, der meinen Vater gekannt hat, weiß, daß er die freundlichste Seele der Welt war, er hat sich gern aufgeregt, aber keinem Menschen was zuleide getan. Ihn eine Mischung aus Stalin und weiß was ich was zu nennen, ist wirklich ein Paradox, er war eben paranoisch. Und dann ist er doch so tragisch gestorben. Herzversagen.

    ANHANG: Kopien der Originalbriefe Sigmund Freuds

    PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19

    14.XII.24.

    Lieber Herr Doktor!
    Kurz nach Ihrem Weggang habe ich ein Manuskript von Dr. Reich gelesen, dass er mir am Vormittag zugeschickt hatte und fand es so inhaltsreich und wertvoll, dass mich ein Bedauern erfasste, seinem Streben eine Anerkennung vorsagen zu müssen. In dieser Stimmung fiel mir ein, dass unser Beschluss, Dr. Jekels zum Stellvertreter vorzuschlagen, ja eigenmächtig ist, denn wir beide haben kein
    Recht, eigenmächtig einen Beschluss aufzuheben, der in der Versammlung des Vorstands gefasst worden ist.
    Dagegen verschwindet, was Sie mir von privaten Feindschaften gegen Dr. Reich ezählt haben. Zufrieden damit, diese formale Begründung gefunden zu laben,. bitte ich Sie also, sich an den offiziellen Vorschlag, der im Ausschuss gefasst wurde, zu halten und den Ersatz durch Dr. Jekels fallen zu lassen.
    Ich bedaure, mir sobald widersprochen zu haben, aber. Ich hoffe Sie werden zugeben, dass diese Entscheidung die einzig korrekte ist.

    Herzlich.

    Ihr

    [1] Federn, Paul (1871 – 1950) Dr. med., Vizepräsident der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (und damit offizieller Stellvertreter Freuds) von 1924 bis zur Auflösung der WPV durch die Nationalsozialisten 1938. Der Stimme Federns kam also nach der von Freud das größte Gewicht zu.

    [2] Martin Wolkerstorfer ist klinischer Psychologe in Salzburg und schrieb 1984 eine Dissertation Über Wilhelm Reich: „Das Erkenntnismodell Wilhelm Reichs“.

    [3] Jones, Ernest (1897-1958) Dr. med., Psychoanalytiker und offizieller Biograph Freuds: ‚Das Leben und Werk von Sigmund Freud“. 3 Bde., Bern 1974.

    [4] You see, it happened onceor twice that I feil in love with a patent. Then I was frank about it. I stopped the treatment and I let the thing cool off. Then we decided either yes or no to go to bed.‘ [‚Sehen Sie, es kam ein- oder zweimal vor, daß ich mich in eine Patientin verliebte. Dann war ich ehrlich. Ich brach die Behandlung ab und ließ die Sache sich abkühlen. Dann entschieden wir, ob wir miteinander ins Bett gehen wollten oder nIcht.‘] Reich speaks of Freud, New York 1967, S. 95.


    [5] Reich speaks of Freud, New York 1967.

    [6] Sterba, Richard lebt in den USA. “Reminesces of a Viennese Psychoanalyst”, Wayne State University Press, 1983.

    [7] Bibring, Eduard Dr. med., ab 1925 Mitglied der WPV, ab 1929 Leiter der Abteilung für Psychosentherapie am Ambulatorium.

    [8] Bibring, Grete, geb. Lehner, Dr. med., ab 1925 Mitglied der WPV, gestorben 1977.

    [9] Die Widmung lautet: „Herrn Doktor Paul Federn in Dankbarkeit überreicht vom Verfasser und findet sich in «Der triebhafte Charakter, Internationaler psychoanalytischer Verlag, Wien 1925.

    [10] Fotokopie des Brieforiginals im Anhang. By permission Sigmund Freud Copyrights.


    [11] Die Tatsachen legen nahe, daß Reich nicht paranoid war, wenn er meinte, daß Federn seinen Aufstieg in das Exekutivkomitee verhinderte. 1924 wurde Reich zuerst von einem Votum des Komitees zum zweiten Sekretär gewählt. Dann aber überredete offensichtlich Federn In einem persönlichen Gespräch Freud, sich gegen die Wahl des
    Komitees zu stellen und stattdessen Jokl zum zweiten Sekretär zu ernennen.“ Myron R. Sharaf: Fury on Earth. A Biography of Wilhelm Reich. St. Martin’s, New York, 1983, S. 83. (Übersetzung: Martin Wolkerstorfer)

    [12] Fotokopie des Brieforiginals Im Anhang. By permission Sigmund Freud Copyrights.

    [13] Freud litt seit 1923 (Diagnose und erste Operation) an Kieferkrebs. Darüber äußert sich Reich mehrfach in „Reich Speaks of Freud‘, New York 1967.

    [14] Transkription einer Abschrift von Ernst Federn, orthografisch korrigiert.

    [15] Ukas, m. (russ.), Erlaß, Befehl, Vorschrift.

    [16] Demgegenüber heißt es in einem Brief, den Reich vor dem Kongreß in Luzern erhielt: ‚Der Verlag will zum Kongress (sic) einen Kalender mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung herausbringen. Die Situation läßt es nun dringend geboten erscheinen, daß Ihr Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht enthalten ist.‘ (Hervorhebung von Martin Wolkerstorfer). Eine andere Begründung wurde nie gegeben. „Der Ausschluß Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“. In: Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie, Band 2, 1935, S. 56.

    [17] Transkription einer Abschrift von Ernst Federn, orthografisch korrigiert

    [18] Bernfeld, Siegfried (1892 – 1953) Dr. phil., Pädagoge.

    [19] Waelder, Robert (1900 – 1967) Dr. phil., studierte physik. Chemie, ab 1922 Mitglied der WPV.

    [20] Nunberg, Herman (1884 – 1970) Dr. med., bedeutender Psychoanalytiker.

    [21] Ferenczi, Sandor (1873 – 1933) Dr. med., Gründer der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung.

    [22] Abraham Karl. (1877 – 1925) Dr. med., erster Psychoanalytiker in Deutschland.


    [23] Schur, Max Dr. med., Arzt Freuds, Verfasser der Freud-Biografie: ‚Sigmund Freud.
    Leben und Sterben.“ Frankfurt, 1973.

    [24] Paul Federn verfaßte bedeutende Arbeiten zur Psychoanalyse von Psychosen.

    [25] Hug-Hellmuth, Hermine von (1871 – 1924), Lehrerin und Laienanalytikerin.

    [26] Wolfgang Huber: Psychoanalyse In Österreich seit 1933. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts, Salzburg, 1977

    [27] lsakower, Otto (1900 – 1972), Dr. med., Psychoanalytiker. In seinem Nachlaß wurden Aufzeichnungen über das Seminar für Psychoanalytische Technik gefunden.

    [28] Die Rede ist von Jenö Harnik, Dr. med., der 1926 als Dozent an der Lehranstalt des Berliner Psychoanalytischen Institutes arbeitete.

    [29] IX. Internationaler Ärztekongreß für Psychotherapie, 2. – 4.10. 1937 in Kopenhagen.

    [30] Groß Otto (1877 – 1919) Dr. med., Psychoanalytiker, Assistent bei Kraepelin.

    [31] Tausk, Viktor (1875 – 1919) Dr. jur., Rechtsanwalt und Journalist, Psychoanalytiker. Beging Selbstmord.

    [32] Hodann. Max (1894 – 1946) Dr. med., Sexualpädagoge, bedeutender Sexualwissenschafter. „A History of Modern Morals“, London, 1937.

    [33] Hirschfeld, Magnus (1868 – 1935) Dr. med., Sexualforscher, Gründer des ersten sexualpsychologischen Instituts der Welt in Berlin 1918.

    [34] Hoffer, Willi (1897 – 1967) Dr. med. et phil.

    [35] Mit Van de Velde setzt sich Reich kritisch auseinander: Rezension von Van de Velde, Th.: „Die Abneigung in der Ehe“, ‚Die Erotik in der Ehe“. Int. Ztschr. Psa. XIV, S. 534 ff., 1928. ‚Van de Veldes Vollkommene Ehe‘ … Belspiel(e), wie die Probleme sexueller und seelischer Hygiene nicht angefaßt werden sollten.“ Die Funktion des Orgasmus. Die Entdeckung des Orgon. 1942. Fischer 1972, S. 299. Vgl. auch die Rezension von Karen Hornay in Int. Ztschr. Psa. XIV, S. 333f., 1928.

    [36] Wittels, Fritz (1880 – 1950) Psychoanalytiker, Neffe von Isidor Sadger. 1910 – 1925 als Anhänger Stekels aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausgetreten.

    [37] „Das Lebendige äußert sich zentral in der genitalen Sexualitätsfunktion. Dem verdankt das Leben seine Existenz und Fortpflanzung. Eine Gesellschaft von Lebewesen, die die wesentlichste Äußerung dieser Funktion geächtet und unbewußt gemacht hat, ist außerstande, die Lebensfunktionen rational zu lenken; denn sie kommen als verzerrte Äußerungen der Pornographie zum Ausdruck.“ W. Reich, Die Entdeckung des Orgons II. Der Krebs. Fischer, Frankfurt, 1976, S. 35.

    [38] Grethe Hott. Vgl. Sharaf, Myron: Fury on Earth, 1983, S. 23f.

    [39] Reik, Theodor (1888 – 1966), Psychologe und bedeutender Psychoanalytiker.

    [40] Sharaf, Myron R. Dr. phil., Schüler und Biograf Reichs. Furyon Earth. A Biography of Wilhelm Reich. St. Martin’s, New York, 1983 und Andre Deutsch, London, 1983.

    [41] Annie Reich (geb. 1903), geb. Pink, erste Ehefrau Reichs, Psychoanalytikerin. Heiratete später Thomas Rubinstein.

    [42]Rubinstein, Thomas, Mitglied der kurzlebigen Kernsky-Regierung, Russland 1917. – Reich hatte persönlich Kontakt mit Trotzki In Oslo. Vgl. Sharaf, S. 232.

    [43] Eva Reich (geb. 1924) Dr. med., erste Tochter Reichs.

    [44] Lore Reich (geb. 1928), zweite Tochter Reichs.

    [45] Montessori-Kindergarten

    [46] Bornstein, Berta, Psychoanalytikerin. Eva Reich wurde von ihr als Kind analysiert. Vgl. Sharaf, S. 248 – 252.

    [47] Martha Freud, geb. Bernays (1861 – 1950), Ehefrau Freuds.

    [48] Klein, Melanie (1882 – 1960). Bedeutende Psychoanalytikerin. Mitbegründerin der Kinderanalyse.

    [49) Weiss, Eduardo (1889 – 1970) Dr. med., Gründer der Italienischen Psychoanalytischen Vereinigung.

    [50]  Jekels, Ludwig (1867 – 1954) Dr. med., erste Psychoanalytiker Polens.

    [51] Deutsch, Helene Dr. med., 1924 – 1935 Direktorin des psychoanalytischen Instituts, Wien.

    [52] Rado Sandor, Analytiker Reichs 1931. Vgl. Sharaf, S. 193 f.

    [53] Eissler, Kurt R. Dr. med., Leiter des Sigmund Freud Archivs in den USA.

    [54] ‚Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, …“ Freud, Sigmund: Gesammelte Werke XII, S. 193

    [55] Fenichel, Otto (1897 – 1946) Dr. med., Psychoanalytiker.

    [56] Modju: Ein von Reich entwickeltes Kunstwort, bestehend aus MOcenigo und DJUgaschwili (urspr. Name von Stalin). Zuerst als Bezeichnung für sozial destruktiv agierende Charakterneurosen verwendet, die sich vorwiegend durch Intrigen, Bespitzeln, Verrat und Mord behaupten. Später von Reich als Schimpfwort verwendet.

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  • Buk 5/88 Arbeit mit Reich – Teil 1

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    Bukumatula 5/1988

    Meine Arbeit mit Wilhelm Reich, Teil 1

    Vortrag zum Vortrag
    Myron Sharaf:

    „Wie definiert man einen Intellektuellen? Wenn es zwei Türen gibt, eine mit der Aufschrift: „Himmel“, und eine mit der Ankündigung: „Vortrag über den Himmel“, wird der Intellektuelle immer den Vortrag wählen.“ (Zitat : Sharaf)

    Die Intellektuelle allerdings, die am 29.September dieses Jahres Sharafs Vortrag über seine Arbeit mit Reich besuchte, statt Reichsche Körperarbeit zu praktizieren, war etwas verwirrt von diesem „Vortrag“. Irgendwie war das kein Vortrag, wie Intellektuelle ihn normalerweise halten, mit einem eindeutig definierbaren Inhalt und einer „ordentlichen“ Struktur, vielleicht mit ein wenig rhetorischer Ausschmückung oder mit der Möglichkeit zur Diskussion, wenn der Vortragende auch die neuere Didaktik rezipiert hat.

    Nicht daß an den Inhalten etwas auszusetzen gewesen wäre. Im Gegenteil, ich fand Sharafs sehr persönlichen Bericht von seinem Zusammentreffen und seinen Erfahrungen mit Reich ebenso interessant, wie die allgemeinen Themen und Fragestellungen, die er aufgriff. Dennoch störte irgendetwas meine habituelle Hirn—Konsumhaltung, und das waren nicht nur die Fragen, mit denen Sharaf (verzweifelt) versuchte, das Publikum zu aktivieren. Irgendetwas war anders — aber was? Die Differenz erschien zunächst als ein Mangel: ein Mangel an Struktur. Daß Sharaf Persönliches mit Allgemeinem vermischte und verband, konnte ich gut annehmen, aber der ständige Wechsel von Ebenen und Themen stellte harte Anforderungen an meine rigiden Denkgewohnheiten. So verließ ich den Vortrag selbst mit ambivalenten Gefühlen, irritiert, aber viel mehr noch interessiert an der geheimnisvollen Logik Sharafscher Gedankensprünge. Im zweiten Anlauf und aus gehöriger Distanz (während der Übersetzung) fand ich sie, die Logik, und meine Ambivalenz schlug in Begeisterung und Respekt um.

    Vor allem zwei Mechanismen der Präsentation oder der Didaktik Sharafs möchte ich hervorheben und auch den Lesern dieses Vortrags vermitteln: Zum einen verknüpfte Sharaf seine Themen durch jenen Mechanismus, der einem Therapeuten als geeignetster erscheinen muß: durch Assoziation. Oft diente ihm nur ein einzelnes Wort als Anknüpfungspunkt für einen thematisch völlig andersgearteten Anschluß nach einer Sprechpause, oft griff er situative Gegebenheiten auf, um wichtige allgemeine Aussagen zu treffen. Anders formuliert: Sharaf sprach, als ob er auf der Couch läge und friedlich vor sich hin assoziiere. Er umkreiste Themen und Fragen, näherte sich ihnen immer wieder auf verschiedenen Ebenen und führte so zu Klarheiten jenseits einer abstrakten Logik.

    Die zweite Strategie ist schwer zu fassen und noch schwerer zu beschreiben. Sie hat zu tun mit dem Verhältnis von kommunikativer Interaktion und Kommunikationsinhalt, das bei einem „normalen“ Vortrag einem bestimmten — weitgehend unbewußten — sozialen Reglement folgt, und meist eine strenge Rollenverteilung in: hier Vortragender — dort Zuhörende impliziert. Die oben erwähnte moderne Didaktik hat bereits begriffen, daß eine solche Vermittlungsweise nicht sehr effektiv ist und fordert daher Fragen, Diskussion und dergleichen, d.h. sie erweitert das Spektrum der erwünschten

    Interaktionsformen auf andere (weniger einseitige) Sprechhandlungen.

    Das hat Sharaf auch versucht, er ging jedoch weit darüber hinaus. Die Dinge, über die er sprach, waren ja keine „Dinge“, sonders ihrerseits wieder Kommunikationssituationen (z.B. sein Treffen mit Reich u.a.) bzw. erfahrene und/oder postulierte Prinzipien der Kommunikation (z.B. Gruppenwahrnehmung), d.h. der Vortrag stellte eine Art Metakommunikation dar.

    Das Faszinierende an Sharafs Vorgangsweise war nur dass er nicht nur Kommunikationsphänomene und mit den Zuhörern sprach, sondern sich selbst als (nicht nur vortragender) Interaktionspartner und

    Demonstrationsobjekt für die von ihm beschriebenen Mechanismen anbot.

    Diese scheinbar komplizierte Sache läßt sich anhand eines Beispiels demonstrieren: Während Sharaf zunächst ganz allgemein über Kinderarbeit und Gruppenwahrnehmung sprach, befand sich im Publikum ein Kleinkind, das gelegentlich schrie, worauf der Vater mit ihm den Raum verließ. Sharaf wies sofort auf diese paradoxe Situation hin, daß er (abstrakt) über Kinderarbeit spricht, während ein reales Kind (mit dem man hier und jetzt konkrete Erfahrungen machen könnte) anwesend ist. Schlafen und Schreien des Kindes, Kommen und Gehen des Vaters bildeten einen kaum wahrgenommenen situativen Hintergrund, während Sharaf weiter vortrug. Als er schließlich über die Vorteile der Gruppenwahrnehmung gegenüber der subjektiven sprach und das Kind wieder zu weinen begann, probierte Sharaf genau das, worüber er redete, mit den Anwesenden aus, indem er seine subjektive Empfindung von Störung mit der der Gruppe konfrontierte und sogar Vermutungen über die Hintergründe seiner verzerrten Wahrnehmung anstellte. Er predigte nicht nur Gruppenwahrnehmung, er praktizierte sie.

    Sharaf hat damit die, vom ihm selbst in dem Intellektuellen-Witz thematisierte Kluft
    zwischen der Erfahrung und dem Reden über die Erfahrung übersprungen und im besten Sinne „Zeugnis abgelegt“ für die Ehrlichkeit und Risikobereitschaft, von der er sprach.

    MYRON SHARAF:

    MY WORK WITH WILHELM REICH

    Vortrag, gehalten am 29.Sept.1988, in Wien

    Es gibt viele verschiedene Gruppen, die ihre Aktivitäten – mehr oder weniger – von Reichs Arbeit herleiten oder eine Verbindung dazu feststellen. Wenn Sie verschiedene Aspekte von Reichs Arbeit nehmen – ich greife einen Bereich heraus, wo der Einfluß klar ist, nämlich den Bereich, den Reich Sex-Pol-Arbeit nannte, wo er eine Verbindung von Sexualität und Politik herzustellen versuchte. Es gab großes Interesse für diesen Aspekt der Arbeit Reichs in den 60er Jahren. Dieses Interesse ist jetzt geringer geworden, war aber sicher von großem Einfluß.

    Bei vielen anderen Entwicklungen ist es schwer zu sagen, ob es einen direkten Einfluß durch Reich gab oder ob es sich um unabhängige Entdeckungen handelt. Man kann ja nicht in die Köpfe der Forscher hineinschauen und herausfinden, mit wem sie gesprochen und was sie alles gelesen haben. Und da Reichs Arbeiten in den späteren Jahren nur in kleinen Journalen publiziert wurden, ist es gut möglich, daß vieles, was er tat, weitgehend unbekannt blieb.

    Ich gebe Ihnen zur Illustration zwei Beispiele, die mir wichtig erscheinen: Das eine ist die Arbeit mit Kindern, die in Amerika …

    Wir haben auch ein kleines Kind im Publikum -Wissen Sie, wie man einen Intellektuellen definiert? – Wenn es zwei Türen gibt, eine mit der Aufschrift „Himmel“ und eine mit „Vortrag über den Himmel“, dann wird der Intellektuelle den Vortrag wählen. – So haben auch Sie heute Abend die Wahl zwischen einem Vortrag über Kinder und einem Kind. Ich hoffe, Sie wählen das Kind.

    Viel von der heutigen Arbeit mit Kindern hebt Aspekte wie die frühe Empfindlichkeit (responsiveness) hervor. Kinder sehen, fühlen, sind sehr empfänglich und reaktionsfähig vom Moment der Geburt an, aber auch schon vorher. Zu Reichs Zeiten dominierte hingegen die Annahme, daß Kinder eine gewisse Zeit lang nichts fühlen, da ihre Nervenenden noch nicht entwickelt seien. – Kennen Sie diese Theorie? Sie war sehr verbreitet und viel wurde den Kindern angetan im Namen dieser Theorie.

    Zum Beispiel die Beschneidung, die teilweise mit dem Argument gerechtfertigt wurde: Wenn sie früh genug durchgeführt wird, fühlt das Kind ohnehin nichts. Möglicherweise muß eine Beschneidung zu einem späteren Zeitpunkt gemacht werden, wenn das Kind sie viel stärker spürt; das jedoch kann dann zu neurotischen Phantasien führen, die man nicht haben will. Nun gibt es aber nur eine ganz geringe Zahl von Menschen, für die eine Beschneidung überhaupt sinnvoll ist.

    Diese Überlegungen implizieren jedoch ein ganzes Denkmodell. Nach dem psychoanalytischen Konzept besteht durch eine spätere Beschneidung die Gefahr der neurotischen Phantasiebildung. Sie wissen, daß das zu Kastrationsangst und dergleichen führen kann. Vom energetischen Standpunkt her gibt es dafür keinen vernünftigeren Zeitpunkt als den der Geburt, denn das ist die grundlegende Einführung in die Welt. Wenn sie (die Beschneidung) gar nicht notwendig ist, sollte man sie überhaupt nicht durchführen. Der eine von Zehntausend, der sie vielleicht später braucht, sollte sie später bekommen und es wird kein Nachteil für ihn sein, aber für die 999 oder so, die sie weder früher noch später brauchen, wäre es besser darauf zu verzichten.

    Reich hob viele dieser Dinge bereits in den 40er Jahren hervor. Er war entschiedener Gegner der Beschneidung, er setzte sich stark für das Zusammensein (rooming-in) von Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt ein. Er selbst arbeitete ja eine zeitlang mit Müttern und Kindern. Er war sehr gegen eine exzessive Medikamentierung der Mütter während Schwangerschaft und Entbindung. Es gab also eine Entwicklung zu einem anderen Verständnis der Schwangerschaft usw., die Reich antizipierte.

    Aber die Beziehung zwischen Reichs Ideen und der heutigen Praxis der Kinderarbeit wird nicht bewußt hergestellt. Nun könnte man fragen: Ist es nicht gleichgültig, ob der Bezug hergestellt wird oder nicht? Wichtig ist, daß Mutter und Kind zusammenbleiben, wichtig ist, daß der Kontakt möglichst früh hergestellt wird. Es ist egal, wer zuerst die Idee hatte, daß Kinder z.B. nicht beschnitten werden sollten und ich stimme diesem Standpunkt zu.

    Aber ich glaube, es ist auch wichtig, diese Ideen miteinander zu verbinden und zu integrieren, denn – wie es jetzt aussieht – sind all diese neuen Erkenntnisse über die Kindheit und die jüngsten Tendenzen in der Kinderarbeit im allgemeinen nicht mit Therapie verbunden. In Reichs Arbeit hingegen waren sie es, sie wurden teilweise aus der Therapie abgeleitet, durch die Einsicht in den Zusammenhang zwischen den neurotischen Problemen der Menschen und ihren Erfahrungen in der Kindheit. Beide, Therapie und

    Kinderpflege, können in einem energetischen System verbunden werden und sind, wie ich glaube, wichtig als Teil einer Weltsicht oder – wie Thomas Kuhn sagt – eines Paradigmas, eines Modells oder Begriffsschemas.

    Es gibt eine andere Verbindung, die ich nur kurz erwähne, nämlich daß Reich in der Behandlung von Krebskranken die Rolle der Gesundheit des ganzen Organismus hervorhob, die bioenergetische Resistenz gegen Krebs und gegen viele

    andere Krankheiten. Wir wissen, wenn wir uns gut fühlen, ist es weniger wahrscheinlich, daß wir uns verkühlen. So einfach ist das.

    Wir sind weniger anfällig gegen depressive Gefühle als wenn wir uns schlecht fühlen, wir sind besser fähig, Streß zu ertragen. Wir haben eine Art Energiefeld oder — anders dargestellt — eine „Grenze“, sodaß, wenn jemand uns verletzt, das nicht direkt in uns hineinsticht und schrecklichen Streß verursacht. Ich würde es nicht Panzer nennen, aber es ist eine Grenze, von der so manches abprallen kann. Wir können schließlich nicht alles, was passiert, wie Windstöße in uns hineinlassen. Wenn wir uns „down“ fühlen, ziehen wir unsere Energie ins Körperzentrum zurück. Dieser Mangel an Pulsation im Zellgewebe, dieser Energiemangel trägt vorrangig zum Beginn des Krebsprozesses, in dem das Fleisch beginnt, sich mit sich selbst zu füttern, bei.

    Ich will das nicht weiter ausführen. Das ist ein eigenes Kapitel. Ich wollte es nur erwähnen, weil heute so viel über das immunologische System gesprochen wird. Die Tatsache, daß man, wenn dieses Abwehrsystem durch Streß geschwächt ist — etwa bei Verlust einer geliebten Person —, wesentlich krankheitsanfälliger ist als sonst, wird heute allgemein anerkannt. Beide, Reich und die Immunologie, zentrieren ihre Aufmerksamkeit auf den Organismus, auf uns, mehr als auf die Keime in der Luft, die sind sekundär. Ganz anders als bei Pasteur, der sie als primäre Verursacher sieht. Was zählt ist, wie der Organismus auf die Keime reagiert, ob wir sie abwehren können oder nicht. Wir alle tragen die ganze Zeit Keime in uns, wir alle sind ständig Grippeviren ausgesetzt — manchmal werden wir krank, manchmal nicht.

    Sowohl Reich als auch die Immunologen heben den Mechanismus der Resistenz, die Verteidigung des Organismus gegen Krankheitsattacken hervor. Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es jedoch auch Unterschiede, denn die Immunologie konzentriert sich vor allem auf das System der weißen Blutkörperchen, während Reich eher die roten Blutkörper hervorhob. Ich bin nicht kompetent genug, um die Details dieser Auseinandersetzung beurteilen zu können. Diese Frage ist von der empirischen Forschung zu klären.

    Wenn das Reichsche System für uns im Bereich der Erziehung, der Therapie und vieler anderer Dinge so nützlich wurde, nützlich wie eine Investition in eine Gesellschaft, die uns großen Gewinn brachte, dann wäre es von Interesse herauszufinden, ob und wie die immunologische Forschung und Reichs Arbeit zusammenhängen. Es kann sein, daß Reichs Ideen durch diese neue Forschung grundsätzlich revidiert werden müssen oder, daß sie mit teilweisen Modifikationen innerhalb dieses Rahmens interpretiert werden können. Ich habe keine Antwort auf diese Fragen, aber ich glaube, das ist die Art von Fragen, die wir stellen müssen. Statt zu sagen, Reich ist gut und die Immunologie ist gut, sollten wir fragen, ob und auf welche Art beide zusammenhängen. Genauso ergibt sich z.B. auch die Frage nach dem Zusammenhang von Akupunktur und Reichs Konzept der Orgonenergie. Aber im großen und ganzen wurde das nicht gemacht. Ich komme später darauf zurück …

    Ich möchte Reichs Konzept der funktionalen Identität und Antithese erwähnen, das in den späten Publikationen Reichs expliziter ausgearbeitet wurde. Was bedeutet diese Idee? Im Kern besagt sie, daß im Symbol des Penis zur gleichen Zeit Identität und Opposition repräsentiert sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Mann und Frau. Mann und Frau sind in vieler Hinsicht identisch, aber sie sind auch Antithesen.

    Inwiefern sind sie Antithesen oder Gegensätze? Nun in einer Hinsicht sind sie eindeutig gegensätzlich, nämlich in der Sexualität. Im Verkehr dringt der Mann in die Frau ein, die Frau empfängt. Die Frau bekommt Kinder und der Mann nicht; das ist ein großer Unterschied. Bei vielen anderen Unterschieden können wir nicht sagen, ob es sich nicht um kulturell determinierte Gegensätze handelt. So wissen wir z.B. nicht, inwieweit die Tatsache, daß Männer aggressiver sind als Frauen oder daß Frauen emphatischer, weicher und einfühlsamer sind als Männer, auf kulturspezifische Erziehung oder auf biologische Unterschiede zurückzuführen ist.

    Eine andere funktionale Identität und Antithese bilden Lust und Angst. Inwiefern sind sie identisch?

    Publikum: Energie fließt.

    Das Kind beginnt zu schreien. –

    Energie fließt. Beide, Lust und Angst, sind gegensätzlich zur Leere. Im Nichts oder in der Leblosigkeit scheint nichts zu fließen, obwohl – wie jemand sagte – unter der Oberfläche Bewegung sein kann. Einmal hörte ich: Wir fühlen uns nie so schlecht, als in einem Zustand, in dem wir nichts fühlen. Dann wissen wir nicht, was darunter liegt, weil wir so damit beschäftigt sind, nichts zu fühlen.

    Ganz im Gegensatz dazu fließt die Energie bei lustvoller Erregung nach außen, vom Zentrum in die Peripherie. Unsere Hände sind warm, unsere Augen funkeln, wir stehen sicher auf unseren Beinen. Wir strecken uns aus in die Welt, während sich im Zustand der Angst unsere ganze Energie im Körperzentrum kondensiert und sammelt. Dann fühlen wir uns eng und zusammengezogen und schwach in der Peripherie.

    Wir können leicht fallen, Kontakte herzustellen wird schwierig, wir ziehen uns ganz in uns selbst zurück.

    Der Kontakt mit Reichs Arbeit kann in zwei Richtungen gehen: Entweder reflektiert die Beziehung zwischen Reichs Arbeit und anderen Ansätzen eine Gemeinsamkeit, in der wir zu erforschen suchen, wie weit dieses spezifische Modell gehen kann und wo es falsch ist, was es leisten kann und was nicht. Oder wir nehmen einen mechanistischen Standpunkt ein, indem wir einzelne Wissenselemente addieren, jedoch nicht verbinden. Akupunktur macht dies, Bioenergie tut jenes. Immunologie bringt das, Reich etwas anderes. Das ist eine Aneinanderreihung von Bruchstücken, keine organische Entwicklung.

    Andererseits kann unsere Arbeit zu einer mechanistisch—mystischen Mischung werden, wenn wir uns ausschließlich und in einer reduzierten Form auf Reich beziehen, ohne Ausarbeitung, ohne Weiterentwicklung, wenn wir keinen Bezug zu anderen Entwicklungen herstellen. Das passierte etwa in der Psychoanalyse.

    Viele Bewegungen wurden sehr rigid. Diese Antithese besteht sehr oft, vor allem in Denkrichtungen, deren Postulate nicht überprüft werden können. Das Christentum z.B. entwickelte sich in eine eher rigide, von Dogmen beherrschte katholische Richtung und in einen protestantischen Zweig, der jedem Menschen erlaubt seine eigene Beziehung zu Gott zu entwickeln.

    Das sind zwei Polaritäten.

    Ein positiver Aspekt an Reichs Arbeit — anders als bei anderen körperorientierten Methoden — ist, daß seine ganze Theorie teilweise getestet werden kann. Das ist wichtig, daß wir Ideen entwickeln, die überprüft und auch widerlegt werden können. Wenn ich sage: Gott ist überall, ist das schwer zu widerlegen, da es

    nicht überprüft werden kann. Oder wenn ich behaupte: Ich war in einem früheren Leben Napoleon, gibt es für Sie keine Möglichkeit zu überprüfen, ob ich recht habe oder nicht. Vielleicht war ich es, vielleicht nicht.

    In einem Workshop sagte einmal jemand: „Ich habe eine Idee“. Und ich antwortete, es sei wichtig, sie so auszudrücken, daß sie überprüft werden könne. „Ich weiß nicht“, antwortete er, „Für mich ist das nicht notwendig, denn ich fühle es in meinem Herzen.“ So eine Einstellung führt meiner Meinung nach nirgendwohin, denn Sie wissen, ein Rassist fühlt in seinem Herzen, daß Schwarze böse sind; ein Nicht-Rassist fühlt genauso sicher, daß sie gut sind. Wenn man nur den Herz-Test anwendet, bleibt unentscheidbar, wer recht hat.

    Das ist sehr wichtig und bei Reichs Arbeit gibt es – wie ich schon sagte Überprüfungsmöglichkeiten. Mit seinem Akkumulator z.B. führte Reich eine ganze Reihe von Tests durch. Er stellte eine Temperaturdifferenz im Akkumulator fest, er konnte krebskranken Mäusen helfen und die Wundheilung beschleunigen. Das waren objektiv feststellbare Resultate. Gute Wissenschaft ist schon in Ordnung. Und wenn keiner dieser Tests sich als korrekt erweist, ist meiner Meinung nach die ganze Theorie in Frage zu stellen. Das muß nicht bedeuten, daß alles falsch ist, aber wir müßten alles radikal neu bewerten.

    Daß diese Tests nicht wirklich nachvollzogen werden, hat zwei Gründe: Der erste Grund dafür ist, daß Leute, die gegen Reich eingestellt sind, Tests nicht für notwendig erachten. Ich kann ihren Standpunkt gut verstehen, denn unsere Zeit ist begrenzt und wir können nicht jede neu auftauchende Idee verfolgen.

    Angesichts dessen hat Reichs Arbeit für viele den gleichen lächerlichen Stellenwert, den für mich z.B. die Dianetik hat. Ich weiß überhaupt nichts über Dianetik; es mag eine großartige Sache sein. Millionen von Menschen lesen darüber, aber für mich hat die Dianetik keine unmittelbare Validität, d.h. es mangelt ihr auf den ersten Blick an Gültigkeit und Richtigkeit. Genauso geht es mir — entschuldigen Sie — mit der Astrologie. Ich kann keine Spur verfolgen, keine Kontrollexperimente durchführen, weil ich keine Zeit dafür habe. Aber ich würde nicht sagen, sie ist falsch; sie ist nur für mich kein Bereich, in den ich meine Energie hineinstecken will. Ganz ähnlich denken traditionelle Wissenschaftler über Reich.

    Die Leute, die Reichs Arbeit für gut halten oder glauben, sie könnte gut sein, führen aus anderen Gründen keine Experimente durch. Viele von ihnen sind keine ausgebildeten Wissenschaftler und es scheint ein gewisser wissenschaftlicher

    Hintergrund notwendig, um solche Tests zu machen. Aber ich glaube, es gibt noch einen wichtigeren Faktor: Wenn sich Reichs Arbeit als richtig herausstellt, hätten sie eine enorme Verantwortung, etwas dafür zu tun, denn sie könnte Leben retten. Wenn sie sich als falsch erweist, hätten Sie ihren Glauben oder ihre eher mystisch—vage Annahme, daß Reich wissenschaftlich bedeutend sei, verloren. Niemand kann also gewinnen, niemand will verlieren.

    Das ist eine lange Präambel zu der Frage, warum so wenig empirische Arbeit geleistet wurde und das ist nur der Anfang. Es ist ein besonders schwieriges Thema, schwierig wie eine verlorene Liebe. Das hat zu tun mit unserer Unfähigkeit, tiefgehende Gefühle auszuhalten. Ich habe das immer wieder beobachtet und ich bin sicher, viele von Ihnen kennen das, sowohl an sich selbst als auch an anderen Menschen. Ich meine damit, daß Menschen in sehr tiefem Kontakt zu

    ihren eigenen Gefühlen sein können, am Ende einer Therapiestunde z.B., und eine halbe Stunde später ist das weg, wie Puff, the magic dragon. Der Charakter der Anspielung, dieses Kommen und Gehen des Phänomens ist in vielerlei Hinsicht sehr wichtig.

    Ich möchte jetzt über mein erstes Treffen mit Reich sprechen, denn viele Fragen, die er damals stellte, rührten gleichsam in Form eines Schocks viele Fragen auf, mit denen ich mich seither beschäftigte. Wenn Sie bedenken, daß das Treffen nur 20, 25 Minuten dauerte, ist das bemerkenswert. Nun ist es aber nicht so unverständlich, wenn Sie an Ihr erstes Zusammentreffen mit anderen Menschen denken. Da gibt es noch keine Vorurteile, keine Konflikte und wenn es eine Verbindung zwischen den zwei Personen gibt, wird das am Anfang besonders stark gefühlt.

    Ich will nicht die ganze Vorgeschichte ausführen, die habe ich in meinem Buch „Fury on Earth“ beschrieben, und es ist für mich auch schmerzlich, manche dieser Dinge aufzurühren. Ich möchte nur sagen, daß ich mich mit etwa 17, 18 Jahren für Reichs Arbeit zu interessieren begann und darüber las. Irgendwie hatte ich die fixe Idee, daß ich mit Reich arbeiten, und daß dies mein Lebenswerk sein würde. Ich wußte nicht, was ich genau tun könnte, aber ich wollte – aus ideologischen Gründen sozusagen – bei dieser Arbeit dabei sein, obwohl ich damals keinerlei Ausbildung dafür hatte. Ich hatte gerade das College abgeschlossen und war an der Universität von Chikago, wenige Monate bevor ich ihn zum ersten Mal traf. Dann mußte ich zum Militär. Vorher noch – das muß im Dezember 1944 gewesen sein – rief ich Reich an, schrieb ihm und Reich akzeptierte ein Treffen.

    Das war ungewöhnlich, aber interessant. Sie müssen bedenken, ich war ein Niemand. Ich war kein Arzt, kein Wissenschaftler, nur ein Collegestudent und trotzdem war er bereit, mich zu sehen. Das reflektierte zum Teil seine große Einsamkeit. Die meisten Studenten und Professoren, die ich in Chikago traf, waren an Reich nicht sehr interessiert. Er war damals kaum bekannt, erst ein Buch von ihm, „The Function of the Orgasm“, war 1942 erschienen. Die Herausgabe seiner Zeitschriften begann in dieser Zeit.

    Ich fand die ganze Sache faszinierend. Da gab es ein System, das Mann und Frau und ihre Verbindung in Emotionen und Sexualität umfaßte. Es war wirklich in vielerlei Hinsicht eine nützliche Weltsicht, denn es betonte, was in der Jugend am stärksten erlebt wird: starke Gefühle, starke Sexualität und eine gewisse Rebellion gegen die bestehende Welt. Es schließt auch eine starke Kritik an bestehenden autoritären Institutionen mit ein; Reich war immerhin Marxist und stark politisch engagiert. Es schloß weiters eine Wissenschaft mit ein, die nichts mit der Bücherwissenschaft zu tun hatte. Die ganze Idee der Energie im Universum finden Sie bei D.H.Lawrence, die finden Sie bei vielen Schriftstellern, und die war identisch mit unserer emotionalen Energie. All das war ebenso schwierig wie aufregend.

    Reich hatte ein schwieriges Leben, aber er hatte auch eine Tendenz, es als Drama der Verfolgung zu präsentieren: Daß er als Psychoanalytiker aus der Psychoanalytischen Gesellschaft hinausgeworfen worden war, daß er als Marxist aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war, daß er vor Hitler flüchten mußte, daß er – wegen Schwierigkeiten mit der Regierung – Oslo verlassen mußte und nach Amerika kam; er war ständig auf der Flucht.

    Bei dem ersten Treffen mit Reich kam ich zu spät, denn ich war so aufgeregt, daß ich mich in der U-Bahn verirrte und ein Taxi nehmen mußte. Seine Sekretärin schickte mich in einen Keller hinunter, wo ich Doktor Reich sehen würde. Von und mit Reich sprach man immer als „Doktor Reich“, nicht mit Vornamen, selbst wenn man ihn zehn Jahre lang kannte. Das war zum Teil sein europäischer Hintergrund, der ihn Vornamen kaum benützen ließ. Ich selbst bin auch irritiert, wenn Leute, die ich noch nie getroffen habe, mich anrufen und „Hallo, Myron, hier spricht John.“ sagen. Ich finde das eher ärgerlich, aber im allgemeinen bin ich schnell bei Vornamen, während Reich das ablehnte. Außerdem hatte Reich, als er nach Amerika kam, begonnen, sich von den Menschen zurückzuziehen, er hatte viele Enttäuschungen erlebt. Das ist zum Teil durch sein eigenes Verhalten erklärbar, nicht nur durch das der anderen, obwohl er über seinen Anteil an dem Prozeß kaum sprach.

    Jedenfalls kam ich ziemlich verspätet zu diesem Treffen und entschuldigte mich. Er reagierte sehr freundlich, indem er das Problem gleichsam wegwinkte. Er war eine ungewöhnliche Erscheinung, die mich sehr berührte. Er hatte ein rotes Gesicht, starkes weißes Haar und einen weißen Mantel. Sein Körper wirkte schwer, aber beweglich, so wie stärkere Menschen manchmal gute Tänzer sein können. In seinem Gesicht sah ich einen Zug von Leiden, nicht sehr auffällig, aber erkennbar.

    Seine erste Frage war: „Wie sind Sie hierher gekommen?“ und ich nahm die Frage wörtlich und antwortete: „Mit dem Taxi“. Reich sagte: „Nein, nein, wie haben Sie von mir gehört?“ Ich denke, er war sehr interessiert an den Beziehungen seiner Arbeit mit der Außenwelt, zur Psychiatrie, zur Biologie, zur Soziologie.

    Ich glaube, er wollte sich nicht eingestehen, daß es nur sehr wenige Akademiker gab, die empfehlen würden, ihn aufzusuchen. Es gab einige, aber nur sehr wenige. So sagte ich ihm, daß ich durch meine Mutter von ihm gehört hätte, was für ihn eine sehr enttäuschende Antwort war, denn er kannte meine Mutter, die sich für seine Arbeit interessiert hatte. Reich erhoffte einen wissenschaftlicheren Zugang, während meine Mutter nicht gebildet war. Er wollte keinen Kult, in dem die Leute ihn bewundern, ohne selbst zu arbeiten. So ließ er die Frage wieder fallen.

    Seine nächste Frage war: „Sind Sie gesund?“ Ich erinnere mich, daß ich über diese Frage überrascht war, obwohl er sie in eher beiläufigem Ton äußerte, so wie man fragt: Wie geht’s?, ohne besonderes Interesse an der Antwort. Ich kannte Reichs Schriften so weit, daß ich verstand, daß er sich nicht auf meine Alltagsgesundheit bezog, sondern auf meine genitale Gesundheit, meine orgastische Potenz. Da ich zu dieser Zeit sehr unerfahren und gehemmt war, antwortete ich entsetzt: „Ich weiß nicht.“ Er ließ das Thema vorsichtig fallen.

    Meine spezielles Interesse galt den sexuellen Problemen anderer Studenten an der Universität von Chikago — Sie wissen, wenn es schwierig ist über sich selbst zu sprechen, redet man über andere. — und ich begann darüber zu sprechen, wie krank die Studenten wären. Aber Reich unterbrach erneut, indem er meinte: „Ich weiß, ich weiß, ich habe in österreich und Deutschland viel mit Jugendlichen gearbeitet. Irgendjemand sollte diese Arbeit nun fortsetzen. Ich bin jetzt zu sehr mit Wissenschaft beschäftigt.“ Es war typisch für ihn, daß er sich nicht mit langen Beschreibungen von Problemen aufhalten wollte, die er kannte oder zu kennen glaubte und Die sexuellen Probleme von College—Studenten interessierten ihn jedenfalls nicht.

    Er war jedoch an mir interessiert. So wie ich mich sehr für seine Arbeit interessierte, beschäftigte er sich sehr mit der Struktur der Person, die sich für ihn interessierte. Sie wissen, es ist schön, viele gute Ideen zu haben, aber wenn man voll von Blockaden und Gift ist, kann man keine gute Arbeit leisten, ganz egal welches intellektuelle Wissen man hat. Und diese Frage führt zu einer essentiellen Fragestellung.

    Die essentielle Frage ist: Wie können Leute wie wir, die das, wovon Reich sprach, nicht voll leben können — sie mögen es zum kleineren oder zum größeren Teil leben, im großen und ganzen jedoch nicht —, wie können diese Menschen in Reichscher Körperarbeit tätig sein?

    Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Reich selbst hatte verschiedene Positionen dazu. Eine Vorstellung, nämlich, daß man „gesund“ sein müsse, um als Therapeut arbeiten zu können, so wie er mich fragte: Bist du gesund?, mag ich nicht besonders. Reich hielt den Beobachter, die Charakterstruktur des Therapeuten, für sehr wichtig. Sie ist auch sehr wichtig.

    Es ist schwierig, tiefe Emotionen zu begleiten, wenn man selbst keine kennt. Es ist sehr schwierig, sich mit dem sexuellen Leben der Patienten auseinander zu setzen, wenn man selbst kein sexuelles Leben hat. Aber das ist eine relative Frage, denn bis zu einem gewissen Grad können wir uns auch transzendieren, obwohl wir selbst begrenzt sind. Die Probleme, mit denen wir zu tun haben, machen uns gesünder als wir selbst sind, d.h. das Bemühen, den Patienten zu begleiten und die Arbeit mit Orgonenergie kann Gefühle, Kräfte und Disziplin in uns selbst wachrufen, die die Arbeit möglich machen, obwohl sie natürlich leichter wäre, wenn wir diese Probleme nicht hätten.

    Eine große Gefahr besteht darin, daß wir, wenn wir nicht praktizieren, was wir predigen, letztlich das predigen, was wir praktizieren. Das heißt, wenn wir Selbstregulation, orgastische Potenz, genitalen Charakter, ungepanzertes, weiches und liebendes Leben nicht praktizieren, kommen wir nach einiger Zeit dahin, daß wir predigen, das alles existiere nicht, es sei nicht so wichtig, andere Dinge seien wichtiger. Es ist aber möglich, weder das eine noch das andere zu tun, nicht vollkommen zu praktizieren, was man predigt, es jedoch nicht aufzugeben als Ziel. Wir realisieren auch im politischen Bereich nicht voll, was wir anstreben. Meines Wissens gibt es keine Regierung, die demokratischen Sozialismus wirklich praktiziert. Trotzdem kann das ein Ziel sein, für das wir kämpfen. Wenn man natürlich glaubt, daß es morgen realisiert würde, kommt man in Schwierigkeiten. Aber wenn wir das Ziel ganz vergessen, verlieren wir unseren Idealismus, den zündenden Funken. Das heißt wir sind unvollkommene Menschen, die ein ziemlich vollkommenes Ziel anstreben und es gibt verschiedene Wege, sich damit auseinander zusetzen.

    Eine Möglichkeit besteht darin, Gruppenkräfte zu nützen. Ich habe in gut geleiteten Gruppen-Workshops oft beobachtet, daß man im bodyreading zu besseren Antworten kommt, wenn eine Gruppe von Menschen eine Person betrachtet, als wenn nur einer sie ansieht. Denn ich bin vielleicht blockiert für einen Blick voll Ärger, Angst oder Traurigkeit, aber ein anderer mag es nicht sein, so daß ich, wenn ich dafür offen bin, seine Wahrnehmung aufgreifen kann. Ich kann versuchen, das auch zu sehen und genauso kann er oder sie sehen, was ich sehe. Gemeinsam kommen wir zu einer volleren Wahrnehmung.

    Eine andere Möglichkeit liegt in dem Versuch, mit den eigenen Tiefen in Kontakt zu bleiben, auch wenn man gepanzert ist. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist es aber nicht. Künstler bleiben auch in Kontakt mit ihrem besten Selbst, Schriftsteller, Komponisten tun das und die sind nicht gepanzert. Es bedarf aber einer ganz speziellen Anstrengung, erkennen zu können, wo man, zu einer bestimmten Zeit wirklich ist, und achtzugeben auf die tiefen psychologischen Kräfte, die neben den körperlichen wirksam sind.

    Drei wesentliche psychologische Kräfte sind: Projektion, Verleugnung und Verzerrung. Das bedeutet, in Konfliktsituationen zu glauben: Der andere kontrolliert, der andere dominiert, ist unehrlich. Durch diese Sichtweise verleugnet man, daß man selbst diese Dinge auch tun könnte, man schiebt das zur Seite und verzerrt die Realität. Mit Verzerrung meine ich, daß man übertreibt, man sieht nur noch, wie schrecklich kontrollierend der andere ist, man übersieht all seine guten Seiten.

    – Das Kleinkind weint –

    Ich finde das ein bißchen irritierend. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber ich frage mich, ob ich unterbrechen soll oder nicht. Das ist ein gutes Beispiel für eine Überprüfung der Wahrnehmung: Stört das Kind irgendjemand sonst? Es beunruhigt mich ein wenig, aber das könnte auch meine Tendenz zu Kontrolle und Konkurrenz sein. W.C. Field sagte: „Spiele niemals eine Szene mit einem Kleinkind; es wird dir immer die Show stehlen.“… Aber es stört die anderen Leute nicht? – Gut, dann ist das mein Problem.

    Das meine ich mit Gruppenwahrnehmung. Auch die Anonymen Alkoholiker benutzen sie und nennen es Gruppengewissen. Die Gruppe kommt oft zu besseren

    Entscheidungen, wenn die Gruppenprozesse affektiv sind. Oft bedarf es einiger Anstrengung herauszufinden, ob die Gruppe einfühlsam reagiert, aber ich habe das immer wieder beobachtet und es brachte wesentlich bessere Ergebnisse als wenn die Gruppe von Machtkämpfen beherrscht wird.

    Ich habe über Gruppen gesprochen, über die Schwierigkeit, mit den eigenen Prozessen in Kontakt zu bleiben, besonders in interpersonalen Beziehungen und in der Körperarbeit, wobei Projektion, Verleugnung und Verzerrung involviert sind. Oft geht es schlimm zu im Bereich der Gruppen; eine Gruppe attackiert die andere, ich selbst habe das auch oft getan. Es beginnt mit einem scheinbar harmlosen Prozeß: Die Person X konzentriert sich auf eine Sache, die mir nicht so wichtig erscheint. Ich halte die Person außerdem für narzistisch und aggressiv, ich finde sie unmöglich und ihre Anhänger auch. Wenn diese Meinung dann zur X-Gruppe dringt, können sie das gleiche über mich oder eine Y-Gruppe sagen und damit haben wir schon jene Bedingungen, die zum Krieg führen. Ich meine, wenn in interpersonalen Konflikten beide Seiten Atombomben hätten, würden sie beginnen, sie zu werfen.

    Das passiert nicht nur in Reichschen Zirkeln, ich habe das überall gesehen. Gruppen lösen sich häufig auf, Gruppen bekämpfen einander. Das ist sogar in psychiatrischen Gruppen so, die agieren gänzlich ohne Bewußtsein für ihre bzw. unsere Prinzipien. Sie ist schlecht – heißt es da -, werft sie hinaus. Nein, sie ist wunderbar, laßt sie bleiben, man sollte besser die anderen Leute loswerden … Sie kennen das.

    Aber ich will zu meinem ersten Treffen mit Reich zurückkommen. Die Frage: Bist du gesund? ist eine Schlüsselfrage, denn sie führt zu zwei extremen Haltungen.

    Das eine Extrem wäre Gleichgültigkeit. Wenn man beginnt zu predigen, was man praktiziert, handelt man, als ob es unwichtig wäre, ob man „gesund“ ist oder nicht. Das andere Extrem besteht darin, dieser Frage schrecklich viel Bedeutung zuzumessen, sodaß man – mit dem Argument, man wäre zu „krank“ -aufhört, Reichsche Körperarbeit zu praktizieren.

    Diese beiden Extreme bilden Antithesen des In -Kontakt-Bleibens auch mit den eigenen neurotischen Strukturen, die ja oft bei allem, was wir tun, auch eine Hilfe sein können. Sie waren es für Reich. Für ihn waren sie Hilfe und Hemmnis zugleich. Wollen Sie wissen, inwiefern sie hilfreich waren? Das werde ich ihnen sagen. Später.

    Ich erwähnte die Integration anderer Wissensgebiete. Auch Reich gegenüber bemerkte ich, daß ich an der Universität Chikago Korzybski gelesen hätte. Wer von Ihnen kennt Korgypski? Er schrieb in den 40er Jahren ein Buch mit dem Titel „Science and Sanity“, das sich mit Semantik, mit der Analyse von Worten beschäftigt. Korgypski war damals sehr bekannt und ich sagte zu Reich, daß es meiner Meinung nach viele Ähnlichkeiten zwischen seiner und Korgypskis Theorie gäbe.

    Das gefiel Reich gar nicht. Er mochte es so wenig wie wir nicht gerne hören: Du siehst genauso aus wie jemand, den ich kenne. Wir alle wollen glauben, daß wir anders sind als andere und besonders Reich wollte das. Dann antwortete er: „Das (seine Arbeit) ist keine Theorie.“ Er ging nicht direkt auf Korgypski ein, er meinte, dieser könne ruhig eine Theorie entwerfen, er selbst aber beschäftige sich nicht mit Theorie (sondern mit erfahrbarer Realität). „Das Orgon brennt in der Luft und der Erde“, meinte er und illustrierte das Brennen, indem er die Finger aneinander rieb und auf seine Laborinstrumente zeigte, um die Konkretheit seiner Arbeit zu unterstreichen.

    Reich verwendete viele Worte, die ein Set von Antonymen (Worten mit gegensätzlicher Bedeutung) bilden, das man analysieren könnte. Häufig benutzte er Kontraste wie warm – kalt, weich -hart, lebendig – tot und viele andere Kombinationen dieser Art. Ein Beispiel für einen positiven Ausdruck ist das Wort brennend, brennende Neugier u.dgl.m., das benutzte er sehr oft. Die Vorstellung von einem „Brennen“ in der Luft und im Boden ist eine sehr lebendige Metapher.

    Das bringt mich zu einem Problem, mit dem wir oft konfrontiert sind, wenn wir uns vom Leben weg zu den Worten bewegen: der Jargon. Wir benützen Worte wie Panzer und Orgon oder diagnostische Begriffe wie Borderline, weil wir keine eigenen Begriffe dafür haben. Die sollten wir aber suchen, denn andernfalls langweilen wir uns zu Tode und verlieren die Verbindung zu den Phänomenen. Wenn man wirklich Kontakt hat mit einem konkreten Phänomen, benutzt man keine Abstraktion. Man tappt herum im eigenen Kopf und schaut nach, ob man das zur Empfindung oder Vorstellung passende Wort findet. Wenn ich mich mit deinen Augen (eyes) beschäftige und dabei den Begriff Augensegment (ocular segment) im Kopf habe, kann ich zu Jargon-Aussagen wie: Sie sind gepanzert, kommen. Wenn ich aber wirklich mit deinen Augen in Kontakt kommen will, werde ich meine eigenen Worte finden.

    Was geschah noch bei meinem Treffen mit Reich? Es war ziemlich gegen Ende des Treffens, denke ich, als er sagte, seine Arbeit wäre keine Theorie und das Orgon brenne in der Luft und im Boden. Dann fragte ich ihn, wie ich mich vorbereiten könne, um an seiner Arbeit teilhaben zu können. Was solle ich studieren, was könne er mir empfehlen, wollte ich wissen. Reichs Antwort werde ich nie

    vergessen. Er sagte, ich solle mich nicht in dieser Arbeit engagieren, es sei zu schwierig und zu gefährlich. Diese Antwort verstärkte natürlich meinen Wunsch nach Mitarbeit umso mehr. Ich habe mich oft gefragt, wieviel Manipulation in diesem Rat lag und ich glaube, daß es zum Teil Manipulation war, zum Teil meinte er es aber ernst. Reich hatte wirklich das Gefühl, daß seine Arbeit schwierig und gefährlich sei, und sie war es auch tatsächlich.‘

    Heute ist Reichsche Körperarbeit weniger gefährlich im Sinne einer Bedrohung durch die Außenwelt. Die Leute reden zwar viel von Angriffen, aber die sind heute weniger tragisch wie früher. Gefährlich ist diese Arbeit immer noch in dem Sinne, daß es schwierig ist, der Sache gegenüber ehrlich zu bleiben. Es ist nicht leicht im tiefsten Sinne offen zu bleiben, d.h. sie auch zu leben. Und es ist schwierig, mit einer Sache, die man nicht voll lebt, in Kontakt zu bleiben. Man könnte eher rigid reagieren oder laissez faire praktizieren, man könnte aus den eigenen Problemen heraus verzerren und das kostet viel Kraft.

    Es ist auch eine schwierige kollegiale Arbeit im Bereich der Zusammenarbeit von Gruppen, denn die Zirkel, die sich für Reichs Arbeit interessieren, sind untereinander oft sehr zerstritten. Wie Sie wissen, gibt es viele verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Begriffen, das ist wie im Turm zu Babel. Es gibt aber auch gute Seiten, es gibt gute Kontakte. Wolfram z.B. hat gute Kontakte zu einer Vielzahl von Leuten und ich greife ihn nicht heraus, weil er der einzige ist, sondern weil ich ihn als einzigen Anwesenden kenne. Man darf nicht doktrinär werden, aber man darf auch nicht zu locker werden. Das ist ein schwieriger Aspekt an dieser Arbeit.

    Ein zweites Problem besteht darin, daß Reichs Arbeit von den großen Organisationen, den Mächten dieser Welt wie der Medizin, der Psychologie und den ganzen akademischen Kräften nicht allzu gut rezipiert wurde. Das bessert sich zum Teil. Ich hörte z.B. von Heiko Lassek in Berlin, daß er ganz gute Kontakte zu einigen Mitgliedern der psychiatrischen und medizinischen Fakultät in Berlin habe; ich selbst habe gute Kontakte in Cambridge.

    Aber das sind sehr eingeschränkte Beziehungen. Ich vermittle Wissen über Körperarbeit, Charakteranalyse, viel über Literatur und den emotionalen Ausdruck des Organismus. Der Bereich der Erforschung von Konkretheit und Lebendigkeit der Sprache ist eines meiner Lieblingsthemen. Aber über Orgonenergie kann ich nicht sprechen. Wenn ich das versuche, verliere ich mein Publikum.

    Dann reagieren die Zuhörer als ob ich vorübergehend halluziniere und warten bis ich wieder zu meinen „normalen“ Themen zurückkehre. Das behindert Gedanken und Handlungen; aber es behindert nicht allzu sehr. Ich meine, wenn Sie daran denken, was die Leute unter Hitler oder Stalin tun mußten, um sich dem System zu widersetzen – die riskierten ihr Leben. Wir riskieren höchsten einen Mangel an Unterstützung. Ich glaube, daß in diesem Sinne viel zu wenig riskiert wurde und wird.

    Ich treffe bei Reich-Konferenzen viele Leute, die auf die Frage: „Was machen Sie?“ z.B. antworten: „Ich unterrichte Psychologie an der Universität von Kentucky.“ Gefragt, was die Kollegen dort von ihrem Reich-Interesse halten, erklären sie: „Die wissen nichts von unserer Beschäftigung mit Reich.“

    – Das Kind meldet sich wieder und der Vater geht mit ihm hinaus –

    Bleib, bleibt, jemand soll sie zurückholen. Es ist nicht mehr störend für mich, seit ich es ausgedrückt habe.

    In einer meiner Gruppen war eine Person, die eine wundervolle Fähigkeit hatte, auszudrücken, was ihrer Meinung nach in der Gruppe vorging. Sie konnte jedoch auch sehr abschätzend werden. Als jemand von der Gruppe sie darauf aufmerksam machte, sagte sie: „Ich spreche die Dinge aus, sobald ich sie spüre und hebe die Trümmer später auf.“ Tatsächlich ist es gut, wenn Dinge ausgesprochen werden und diese Person machte auf viele wichtige Dinge aufmerksam. Aber manchmal wird dadurch viel zerbrochen und verdammt viele Scherben müssen wieder aufgelesen werden, wenn man alles ausdrückt. So muß man z.B. Leute zurückrufen und sagen: „Es tut mir leid, dich aus dem Vortrag vertrieben zu haben usw..“

    Es ist schwierig, aber ich glaube, wenn die Leute einander mehr unterstützten, würden sich auch diese Schwierigkeiten verringern. Es gibt da ein sozialpsychologisches Experiment, das mir gut gefällt. Bei diesem Experiment gehen etwa zehn eingeweihte Leute und eine „naive“ Testperson in einen dunklen Raum. Die Aufgabe besteht darin, die Länge einer in der Dunkelheit leuchtenden Linie (die tatsächlich 6 inches lang ist) zu schätzen. Die naive Testperson sagt zunächst, es wären etwa 5, 6 inches, dann jedoch behaupten die anderen Teilnehmer, es wären mindesten 12 inches. Sie zermürben ihn gewissermaßen, bis er letztendlich nicht nur lügt, um den anderen zu gefallen, sondern auch selbst zu glauben beginnt, die Linie wäre 12 inches lang. Das Schöne an dem Experiment ist, daß wenn nur eine andere Person in dem Raum die Versuchsperson in der Meinung, es wären 6 inches unterstützt, der Betroffene sehr lange aushalten und bei seiner ursprünglichen Wahrnehmung bleiben kann.

    Wir brauchen also die Unterstützung anderer Menschen, um zu unserer Meinung stehen zu können. Die meisten werden wahrscheinlich so sehr kritisiert für ihre eigenen Wahrnehmungen, daß es ihnen schwer fällt dazu zu stehen und daß sie leicht von ihrem angeblichen Fehlurteil überzeugt werden können. Oder sie gehen ins Gegenteil und fordern jeden mit ihrer radikalen Anschauung heraus.

    Es gibt einen guten Ausspruch eines deutschsprachigen Philosophen, nämlich Lichtenberg, der sagt: „Das Gegenteil zu tun, ist auch eine Form von Imitation.“ Also entweder unterwerfen wir uns, oder wir rebellieren, aber in beiden Fällen werden wir eher von einer äußeren Instanz beeinflußt als von unseren eigenen Gefühlen.

    Das Problem ist, daß wir eine Affirmation unserer Gefühle brauchen ohne daß diese erdrückt werden. Wenn Sie sagen: Ich gehe jetzt hinaus und mache das und das, und ich antworte: Wunderbar, hervorragend, wann wirst du es tun?, so ist das zu viel. Sie wissen, auch zu viel Wasser kann eine Pflanze sterben lassen, nicht nur zu wenig. Es ist schwierig, Balance zu halten, aber ich fühle, daß wir das, was man in Amerika „affirmative action“ nennt, brauchen, brauchen, brauchen … Das bedeutet, daß wenn eine Gruppe lange Zeit unterdrückt wurde, Schwarze z.B. oder Frauen, dann ist einfache Toleranz oder Nicht-Diskriminierung nicht genug, weil sie zu schwach sind für eine Entwicklung zur Eigenständigkeit. Dann braucht man affirmative Handlungen, das heißt, während manche Strukturen gleich bleiben, bekommen einzelne einen gewissen Vorsprung, werden in höhere Positionen befördert, um für jene, die noch nicht so weit sind, Wegweiser darzustellen.

    Ich glaube, daß gerade Gefühle besonders stark unterdrückt werden; für deren Ausdruck gibt es zu wenig Toleranz. Daher brauchen wir gegenseitige Unterstützung in einer Form, die nicht besitzergreifend ist und die Gefühle der anderen Person nicht erdrückt.

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