Kontakt | Links | Impressum | Suche

Autoren Archiv

Zurück zu Bukumatula 2021

Bukumatula 2/2020

Zukunft ohne Krieg“ – Liebe und Sexualität als archimedischer Punkt

Dieter Duhms spirituelle Öko-Philosophie und die Praxis transformatorischer Kommunen.
Elmar Klink:

DIETER Duhm, geboren 1942 in Berlin, lebt heute in der von ihm 1995 mitgegründeten öko-spirituellen Gemeinschaft TAMERA im mittleren Südwesten Portugals nahe dem Atlantik. Er ist von Haus aus Psychologe und Soziologe mit Doktorgrad. Manche nennen ihn zusätzlich „Kunsthistoriker“ und „Psychoanalytiker“, worin er aber keine Ausbildungen hat; er hat nie Kunstgeschichte studiert und Analytiker konnte man zu seiner Zeit nur mit einem Medizinstudium werden. Psychotherapeut hingegen könnte man gelten lassen.

Schon eher wäre er außerdem als Philosoph zu bezeichnen. Duhm ist Vater einer Tochter namens Mara, die erst in der von Duhm vor 30 Jahren mitinitiierten ZEGG-Gemeinschaft aufwuchs, dann in deren Jugendarbeit einstieg und später ihrem Vater nach Portugal folgte. ZEGG steht als Kürzel für Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Duhm gehörte in den 1960er Jahren zu den intellektuellen Wortführern der linken Protest- und Student*innenbewegung in Berlin und Heidelberg und war einer der Köpfe der Neuen Linken.

Als diese sich nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke 1968 bald aufzulösen und in verschiedene Ausgänge zu zersplittern begann, ist er am ehesten dem Flügel zuzurechnen, der in die Kommune- und Alternativbewegung bis hin zu „Ökos“, „Müslis“, Bunten und der Gründung der Partei „Die Grünen“ mündete. Eine Parteigründung irgendeiner sozialistischen Art gehörte nie zu Duhms Absichten und Bestrebungen.

Die Versuche, maoistisch-stalinistische K- und ML-Gruppen nach alten Strategie-Mustern und strengen organisatorischen Kaderregeln aufzubauen, waren in seinen Augen Sackgassen, die nicht weiter, sondern rückwärts führten.

Insofern ging es für ihn darum, theoretischen linken Ballast abzuwerfen, alte Argumentationshüllen abzustreifen und eine neue Sicht auf die Welt und Vision zu Handeln entstehen zu lassen: für die Belange des Menschen, der Liebe und Sexualität, für die Belange der Tiere, Pflanzen und der Erde, kurz, für Natur, Kreatur und die Schöpfung im Allgemeinen. Damit berührte er bereits ein religiös zu nennendes Thema.

ES geht dabei also um einen Wechsel der Perspektive, sozusagen um ein neues Paradigma. Die gedankliche Vorbereitung des transformatorischen Experiments ZEGG dauerte fast ein ganzes Jahrzehnt in den 70er Jahren. Ausgangspunkt sind Duhms Schriften „Angst im Kapitalismus“ (1973), „Angst-Erfahrung“ (zusammen mit anderen), „Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit“, „Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution“ (an Rosa Luxemburg anknüpfend) und als vorläufiges Resümee steht am Ende das Buch „Der Mensch ist anders“ (1975; 1979, 4. Aufl.).

Der erläuternde Untertitel gibt präzise an, wo der Autor auf seinem Denkweg ins politische „Nirwana“ inzwischen angekommen war, der da lautet: „Besinnung auf verspottete, aber notwendige Inhalte einer ganzheitlichen Theorie der Befreiung. Kritik am Marxismus. Beiträge zur Korrektur“.

Man muss diesen langen Vorlauf bedenken und rekonstruieren, sonst versteht man Duhms evolutionäre Theorie und die Brüche, über die sie sich vollzog, nicht. Das haben viele seiner damaligen Kritiker*innen kaum oder gar nicht in Betracht gezogen, sondern sich gleich voll auf seine Bruchlinien etwa mit dem Marxismus gestürzt. Es geht durchaus noch ums Alte und um das, was davon für etwas Neues noch taugt; um Brücken also, die pionierhaft neu begangen werden und auf denen andere folgen sollen – es bei ihrem Nachvollzug leichter haben sollen.

„Terra Nova“, neues Land, so hieß zum Beispiel das Expeditionsschiff des englischen Südpolforschers Robert Scott. Scott jedoch scheiterte knapp im Wettlauf 1911/12 mit dem Norweger Amundsen auf dem Rückmarsch vom Südpol und kam völlig erschöpft mit vier Begleitern vor Erreichen eines rettenden Depots in der unwirtlichen Antarktis um.

IM Vorspann eines Buches über Aktivitäten im Vorfeld der ZEGG-Gründung findet sich ein bemerkenswertes Duhm-Zitat: „Der Mensch hat unwegsame Kontinente erobert und Schlachten geschlagen, hat den Nordpol und die Antarktis durchwandert, hat die höchsten Gipfel und tiefsten Meeresgründe erreicht, hat Kulturen errichtet und Kathedralen erbaut, hat in schwierigstes Gelände Brücken, Tunnel und Staudämme hineingeschlagen, hat Atomkerne gespalten und Saturnraketen in den Weltraum geschickt.

Der Mensch, der dies alles getan hat, wird auch die Intelligenz besitzen, seinen eigenen innersten Bereich neu zu erforschen, neu zu sehen und neu aufzubauen. Dieser innerste Bereich ist so einfach, daß kaum einer an ihn dachte: Liebe, Sex, Heimat, Vertrauen, Kommunikation, Kontakt, Wärme, Wachstum ohne Angst…“ (Bumb/Möller: „Sommercamp im Wilden Westen“).

MIT der Entdeckung von Neuland ist der Ansatz von Pioniertat und Nachfolge tief verbunden. Es geht um „Charisma“ der Entdecker und „Gefolgschaft“ der Pioniere. Ein religiöser, aber auch nicht unumstrittener menschlicher Akt, stellt man ihn in einen Kontext von Führung und Geführt-werden.

Nimmt man noch die Verwendung des in Deutschland nicht unproblematischen Begriffs von „Gemeinschaft“ (etwa „Volks-Gemeinschaft“) statt „Gesellschaft“ durch Duhm hinzu, gelangt man bereits zu einem bestimmten Profil grundsätzlicher Kritik aus den Reihen der Neuen Linken an seinen Schlussfolgerungen und an seinem Weg, die durchaus in einer Art „präfaschistischem“ Vorwurf an ihn kulminierte: Menschen würden dabei manipuliert, Frauen sexuell ausgebeutet und das Schwerwiegendste, es gebe Sex mit Kindern….

Ein Höhepunkt dieser bei genauem Hinsehen haltlosen linken Anwürfe waren die Schelte und Auseinandersetzungen um das MEIGA Sommercamp im August 1990 bei Walsrode am Rand der Lüneburger Heide, dessen Motto lautete: LIEBE IST UNVERMEIDLICH – DIE ANGST MUSS VON DER ERDE VERSCHWINDEN (ein zentraler Wahlspruch von Michael Gorbatschows Perestroika-Kampagne) und WIR BRAUCHEN FÜR EINE LEBENSWERTE ZUKUNFT VOR ALLEM EIN NEUES KONZEPT DER LIEBE.

Duhm berührten diese Anfeindungen jedoch immer weniger, im Gegenteil, sie waren ihm wohl eher Ansporn. Die Kritik einer bestimmten autonomen und radikal-feministischen Linken an Duhms Gedankengebäude und vor fast 40 Jahren erstmals initiierten Gemeinschaftsprojekten wie „Bauhütte e. V.“ (ab 1982/83) und in deren Nachfolge dann „ZEGG“, ist heute freilich so gut wie verhallt. Nicht mehr von Bedeutung, die Vorbehalte und Vorurteile dagegen dürften untergründig erhalten geblieben sein.

IN der wissenschaftlichen Fachwelt gibt es mit Dieter Duhms „Theorie der globalen Heilung“, so der Untertitel eines seiner letzten Bücher „Zukunft ohne Krieg“ (2006), so gut wie keine irgendwie geartete systematische Auseinandersetzung. Seine Bücher zählen wohl zur „Weltanschauungsliteratur“, mehr noch vielleicht zur Kategorie spiritueller oder religiöser Literatur – und nicht nur, weil ihr Autor ans Ende von Vorträgen gerne das aramäische Jesus-Wort aus der Bibel stellt: Amen, so sei es! Das mag man vielleicht belächeln, denn ein gläubiger Christ ist Duhm nun weiß der Himmel nie gewesen, eher ein Häretiker, ein Ketzer und kosmologischer Agnostiker, einer wie Jan Hus oder Giordano Bruno.

Der Dinge grundsätzlich in Frage stellt und eigene Wahrheiten formuliert, die dem Mainstream zuwiderlaufen. Allenfalls müsste er noch „geistige Scheiterhaufen“ fürchten und auch die gibt es für ihn nicht – nicht mehr.Der Angst-Macher Kapitalismus, das breite seelische und materielle Elend, das er weiter global verursacht, ist noch immer Zielobjekt von Duhms Kritik, nur anders.

So zielt Duhms Reden und Wirken auch nicht primär auf Wirkungen im Rahmen von wissenschaftlichen Diskursen und Kolloquien, ob etwas wie falsch oder richtig ist. Die Dinge, die er ausdrückt und formuliert, werden von ihm und seinen „Anhängern“ für wahr und gültig erkannt und gehalten. Sie müssen im Grunde ihrer augenfälligen Evidenzen wegen nicht noch begründet und bewiesen werden.

DAS neue Paradigma hat und eröffnet auch noch eine andere Dimension, die ihm nicht wenig angekreidet und zur Last gelegt wird. Es ist der Arzt, Naturforscher und Freud-Häretiker Wilhelm Reich (1897-1957), der in Duhms Entwicklung eine ausschlaggebende Rolle spielte. Der einmal den Wahlspruch prägte: „Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Daseins, sie sollen es auch beherrschen (bestimmen)“. Eine Aussage von epochaler Tragweite.

Sie bedeutet grundsätzlich den Abschied von der reinen Ideologie des Kopfes, von nüchterner Logik, Beweis und Verifizierung, die an Grenzen stößt und ihre Erweiterung (nicht Substituierung!) um und zusätzliche Hinwendung zu Gespür, Wahrnehmung, mitfühlendem Naturerkennen in jenen Grenzbereichen, die die strenge Naturwissenschaft auf ihren Quantensprüngen des Bewusstseins heute längst selbst überschritten hat. Der ursprüngliche Theosoph Rudolf Steiner hat dies auf der Erkenntnisgrundlage Goethe’scher Weltanschauung präzisiert mit dem Wirken von Intuition, Imagination und Inspiration in seiner geisteswissenschaftlichen Anschauung, die er auf den Menschen hin ausgerichtet nun Anthroposophie nannte. Menschenweisheit. Geistes-Wissenschaft, das war die Synthese. Man kann Geist und das Geistige demnach mit bestimmten Denk-Methoden und spirituellen Denk-Übungen wissenschaftlich ergründen und erklären.

Auch wenn der Mormonen-Professor Christian Clement mit der Herausgabe ab 2011 einer inzwischen abgeschlossenen achtbändigen Steiner Kritischen Ausgabe (SKA) der schriftlichen Werke Steiners (nicht der Vorträge!) genau das in Abrede stellt und Zweifel zieht, um Steiner vom erhabenen Sockel zu stoßen. Der Geist-Seher Steiner entwickelte eine esoterische Schulung des Denkens, die der der Rosenkreuzerlehre entspricht (Goethe war Rosenkreuzer), die z. B. aus ihren eigenen geistigen Quellen eine andere Sicht auf Jesu mystische Lehre und sein mystisches Leben vertritt als der gültige neutestamentarische Kanon, der von den ersten Bischöfen der Christenheit festgelegt wurde und abweichende Quellen wie die Essener Schriften oder das Thomas-Evangelium als Apokryphen ausklammert.

DAS andere Herangehen bedeutet, der (die) Beobachtende verändert und beeinflusst den Gegenstand seiner (ihrer) Beobachtung. Es bedeutet nach dem Genius Albert Einsteins auch die Einführung der Relativität in das Naturgeschehen und Naturwahrnehmen. Es macht einen Unterschied etwa, ob man sich in oder außerhalb eines Systems befindet, das sich zudem noch bewegt. Man kommt zu anderen Bestimmungen von Raum und Zeit. Je schneller die Bewegung eines Bezugssystems, desto langsamer vergeht für jemanden, der sich darin befindet, die Zeit im Vergleich zu einem äußeren Beobachter.

Durch Geschwindigkeit werden Raum und Zeit verändert, „gekrümmt“, wie die Relativitätstheorie besagt. Wer soll das noch verstehen? Und wozu ist es gut oder schlecht? Wenn wir uns in einem System mit annähernd Lichtgeschwindigkeit (3 x 106 km/sec.), bewegen könnten (wir sind freilich weit davon entfernt, das schnellste kosmische Fluggerät des Menschen, die Voyager-Sonde, bewegt sich jenseits unseres Sonnensystems gerade mal mit ca. 17 km/sec.), desto langsamer vergeht für uns die Zeit, während für alle außerhalb Jahrhunderte vergehen, die wir bei einer Rückkehr von einer Lichtreise nicht mehr antreffen würden. Nur elektromagnetische Gedankenimpulse bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit. Das ist das Eine.

DAS andere Paradox bescherte der Welt die Quantentheorie des Nobelpreisphysikers Werner Heisenberg, theoretischer Schöpfer der deutschen Atombombe, die nie gebaut wurde. Die Deutschen wären sonst anstelle der Japaner im nuklearen Inferno bei Kriegsende untergegangen. Heisenberg war als Antikommunist, aber auch Anti-Nazi, ein Eulenspiegel und schlauer Fuchs, der sich selbst wie ein Lichtquant verhielt.

Der seine eigene Forschung übersehend diese absichtlich verzögerte, so dass die Nazis eine nukleare Bombe nicht mehr in die Hand bekamen. Heisenberg arbeitete mit Einsteins Gleichung E = mc², die die gewaltige Sprengkraft des Uran-Atomkerns erklärt, wenn man ihn mit Neutronen spaltet. Aber nicht das war sein wesentliches Verdienst. Die von ihm angewandte Quantensystematik förderte zutage, dass sich das Licht mal als Quantum (Teilchen), dann wiederum wie eine Welle verhielt. Unmöglich zu sagen, welche seiner Erscheinungen gerade wirkte, weshalb man beide Modelle analog benutzt.

Unmöglich, den Aufenthaltsort eines Teilchens im Raum durch feste Koordinaten genau zu bestimmen. Die Geburt der Heisenbergschen „Unschärfe“ oder „Unschärferelation“. Auch wenn wir diese Zusammenhänge als normal Sterbliche kaum noch begreifen, bleiben zwei Dinge davon übrig: Relativität und Unbestimmtheit. Sie führen letztlich zu der Annahme, Naturgesetze seien keine ewig gültigen Axiome, sondern veränderbar, indem wir sie als sowas wie „Gewohnheiten“ ansehen.

Die sich verändern können und lassen. Die extremen Atem- und Meditationspraktiken indischer Yogis bestätigen dies (vgl. etwa Paramahansa Yoganandas „Autobiographie eines Yogi“). Das sich daraus ergebende „neue Bewusstsein“ eines „Tao der Physik“ (Fritjof Capra) macht sich dies zunutze und gehört zum Kern der New-Age-Philosophie. Wir können Dinge beeinflussen und verändern, wenn wir diese Gewohnheiten studieren, verstehen und uns ihr transformierendes Potenzial zu eigen machen, statt unentwegt mit Gewalt und Krieg zerstörend auf es einzuwirken.

DAS ist nach sehr verkürztem Exkurs das Paradigma des neuen Quantenbewusstseins, oder auch der „Quantenheilung“, dem auch Dieter Duhm und das ZEGG verpflichtet sind. Die Dinge sind nicht ein für alle Mal feststehend, sondern relativ und unbestimmt, panta rhei, alles bewegt sich fort und nichts bleibt (Flusslehre des Heraklit). Das Universum dehnt sich permanent aus. Veränderung, Revolution (von lat. revolvere = umdrehen) – Nikolaus Kopernikus verwandte den Begriff für sein astronomisches Modell De revolutionibus orbium coelestium (Über die Umschwünge der himmlischen Kreise) – ist auf friedliche Weise möglich.

Relativitätstheorie und Quantenlehre haben im Grunde nichts Neues geschaffen, sondern altes menschliches Erkenntniswissen in die heutige Zeit der Formeln übersetzt, mit denen man zwischen Teil und Ganzem komplex rechnet, abwägt, extra- und interpoliert und misst, Differentiale und Integrale ermittelt, nicht mehr wie die Griechen das Wesenhafte eines Dinges durch Schau ergründet, um es zu verstehen. Die westliche quantifizierende Sicht der Welt wird vor allem materiell bestimmt durch die „Ratio“, die östliche mehr durch „Geist“ und „Weisheit“. Weisheit ist grundsätzlich nicht logisch, sondern „weise“ (wissend, erkennend). Und sie erkannten einander, heißt es in der Bibel. Beides verlangt wieder nach Durchdringung und Verbindung, statt einander auszuschließen in voneinander getrennten Bereichen.

Das „neue Weltbild“ ist holographisch, in jedem Teil ist das Ganze enthalten und sichtbar. Denker, die an der Nahtstelle west-östlicher Erkenntnis nach Verbindungen suchten, waren der gebürtige Pole und dann Wahlschweizer, Schriftsteller, Dichter und Philosoph Jean Gebser (Hauptwerk: „Ursprung und Gegenwart“) und der französische Theologe, Paläontologe und Kosmologe Pierre Teilhard de Chardin (Hauptwerk: „Der Mensch im Kosmos“). Beide gehören zu Duhms wichtigsten Gewährsleuten.

IN einem 45-minütigen Interview von Martin Winiecki mit Dieter Duhm (nachzuverfolgen auf Duhms Homepage oder der des Verlags Meiga) über Duhms neuestes Buch „Terra Nova. Globale Revolution und Heilung der Liebe“ (2017, 5. Aufl.), sagt Duhm einleitend über seinen Erkenntnisgang u. a.: „(…) Seit 40 Jahren arbeite ich an der Frage, gibt es einen Ausweg? Dann habe ich einen Lehrgang durchlaufen, 40 Jahre lang; durch Gemeinschaften, durch menschliche Konflikte, durch Liebesthemen aller Art.

Ich musste überall hin, wo neue Gemeinschaftsprojekte stattfanden und habe das begleitet mit bestimmten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die laufend weitergehen, aus dem Bereich der Psychoanalyse, der Geschichtsforschung, der Kybernetik, die Steuerungssysteme im Universum und im menschlichen Organismus bis hin zu Rupert Sheldrakes Büchern über die morphogenetische Feldbildung – alles, alles das zusammen, Chaosforschung. Es gab eine Inbrunst für die Wahrnehmung, diese Welt ist heilbar.“

Duhm wirkt anfangs im Video müde, fast etwas unkonzentriert, sein sonst rhetorisch geübtes Sprechen ist stellenweise stockend, er scheint krank zu sein, sein Gesicht offenbart schmerzgezeichnete, fast verzerrte Züge, er leide an einer schmerzhaften Neuralgie, heißt es. Es erschreckt etwas, wenn man ihn noch anders von früher kennt. Doch bald fährt er zur bekannten konzentrierten Form des Vortrags auf, ist wieder in seinem monologischen Element, wenn er etwa über Vertrauen und Revolution spricht, einer Revolution des Bewusstseins, des „Umdrehens“ von Kultur bis hinein „in die Ehebetten“.

DER Interviewer ist sehr bedächtig, zurückhaltend, als habe er es bei seinem Gegenüber mit einem „rohen Ei“ zu tun, lässt Duhm lange Passagen vortragen. Schade, man hätte sich mehr Intervention gewünscht, um bestimmte Dinge zuzuspitzen und präziser auf den Punkt zu bringen. Zum Beispiel wäre eine Frage der Art interessant gewesen wie: Was glaubst du, fängt ein durchschnittlicher Mensch mit deinen Gedanken an, was macht das mit Menschen? Duhms zitierte Aussage markiert das Prozesshafte seiner Theorieentwicklung im Grunde in schlüssiger Folge des Nächsten aus dem Vorhergehenden und man muss dies verteidigend ins Feld führen gegen den nicht selten geäußerten Vorhalt, sein Denken sei eine Art willkürliches Sammelsurium aus Synkretismen und Synergismen.

Sein Denkweg weist nach, dass und wie man von Karl Marx‘ Entfremdungstheorie in den Ökonomisch-Philosophischen (Pariser) Manuskripten über das Plädoyer für Rosa Luxemburgs Freiheitssozialismus folgerichtig bis zur Komprimierung und Verdichtung von Duhms Theorie gelangen kann. Niedergelegt in „Die Heilige Matrix. Von der Matrix der Gewalt zur Matrix des Lebens. Grundlagen einer neuen Zivilisation“ (2001). Das Buch bietet zweifellos die vollständigste Essenz seines Denkens und der Bestandteile, aus denen es sich nährt und zusammensetzt. Ein Schlüsselwerk. Schon da fällt die Verwendung von religiös besetzten Wörtern wie „heilig“ auf. Heilig bedeutet im übertragenen Sinn hervorgehoben, unantastbar, jenseitig, erhaben, ehrwürdig, mit göttlichem Hauch beseelt, kosmisch eingebettet und rückgekoppelt – soll das zu betonen damit beabsichtigt sein? Der gläubige Interviewer stellt Duhm eine solche Frage aber nicht.

GRUNDLEGUNGEN für das Matrix-Buch waren Duhms Studie „Synthese der Wissenschaft (1979) und das programmatische Manifest „Aufbruch zur Neuen Kultur. Von der Verweigerung zur Neugestaltung. Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative“ des Jahres 1982 sowie Duhms „Sex- und Liebe-Buch“ „Der unerlöste Eros“ (1991).

Wir wollen deshalb tatsächlich Duhms geistiges Werk und die Literatur, in welcher es sich bis heute niederschlägt, als weltanschaulich-ideologisches und nicht systematisch-wissenschaftliches bezeichnen und behandeln. Der Unterschied ist nicht unwichtig. Eine Beweisführung gegen ihn kann so unterbleiben. Bei dem es weniger um logische Gedankenführung, wohl aber um sehr Einleuchtendes und Plausibles geht. Man muss den augenfälligen Klimakollaps niemandem noch erklären und beweisen, vielleicht am ehesten noch einem wie dem Ex-Präsidenten Donald Trump.

Duhms Denken stellt eine Plattform dar von seinen weiträumigen geistigen Einsichten und erworbenen Erkenntnissen und den praktischen Erfahrungen damit. Oft pointiert ausgedrückt in sowas wie A-Priori-Sätzen (Wir müssen Vertrauen entwickeln…), Behauptungen und Feststellungen. Amen, so sei es! Man kann sie teilen oder auch nicht. Man kann auch anderer Meinung sein.

DUHM verbrachte viele Jahre in teils eremitenhafter Zurückgezogenheit an verschiedenen Orten, wie auf der Sisi-Insel Korfu im Ionischen Meer, im Küstenstädtchen Sidari an der Nordspitze. Wo er meditierte, dichtete, malte, Nietzsche studierte (O Mensch gib acht…), in sich ging, Dinge verarbeitete und klärte, die in ihm rumorten und bohrten – an freilich schönem, reizvollem Ort (siehe dazu illustrierend „Das Buch Sidari“). Ende der 70er Jahre firmiert er auch mit Postfachadresse Neusiedl/See im Burgenland, in der Nähe der Kommune Friedrichshof.

Dann findet man den rastlosen Pilger wieder im Odenwald oder in der Main-Kinzig-Region im waldreichen, siedlungsarmen Spessart. Und Anfang der 90er Jahre im Aussteiger-Ambiente der Kanareninsel Lanzarote, wo die Winde (wie die Menschen) nicht ruhen und es als Ableger die erste Liebes-Schule des ZEGG gab. Liebe und Extase als befreiendes Curriculum zwischen weißen Bungalows, südlichen Palmen, Westafrikaflair und heißer dunkler Lavaerde. Eine Exklusivität. Der rege Flugverkehr von gut zahlenden Gästen und ZEGG-Aktiven dorthin, war von der Öko-Bilanz her nicht gerade vorbildlich und glaubwürdig.

Das Projekt ZEGG-Segler im Mittelmeer, verknüpft mit Wal- und Delphin-Watching, war es schon eher, aber nicht weniger exklusiv. Das Unternehmen mit einer extra im türkischen Bodrum gebauten Holzyacht und Musik-Echolot-Sendeanlage wurde bald wieder eingestellt, weil zu kostspielig und aufwändig. Das ZEGG hat sich unter seiner damaligen Leitung damit schlicht übernommen und drohte ins pure alternative Touristenfahrwasser abzudriften. Realisiert wurden hingegen gemeinsame Wüsten-Gänge als Kollektiverfahrung, aber das Vorhaben, Ähnliches in der Arktis durchzuziehen, gab man der Unwirtlichkeit der Umwelt und ihren harten Anforderungen wegen wieder auf.

Hier soll vor allem von jener „Mitte“ weiter gesprochen werden, in welcher Duhms Gedanken entstanden, reiften und materielle Realität wurden und nach wie vor werden: den Gemeinschaften Bauhütte und ZEGG. Dies auch deshalb, weil der Verfasser zur Beurteilung aus einem eigenen Wahrnehmungs- und Beobachtungsfundus schöpfen kann. Durch einen Besuch in der Bauhütte im Winter 1982 und Teilnahme am Gemeinschaftsleben des ZEGG, an Ausbildungskursen, Seminaren, Camps und Festen von 1993-95. (Tamera gehört natürlich genauso dazu, bleibt aber ausgespart, weil ich dazu über keine persönlichen Eindrücke verfüge und mich nur auf Literatur dazu stützen könnte).

IST es vermessen, heute, angesichts der Tatsache, dass es bei der Umwelt- und Klimakatastrophe schon zehn nach Zwölf statt fünf davor ist, noch von „Heilung“ des Planeten Erde zu sprechen? Wie von einem todkranken Wesen? Heilung – das ist ein schillernder Begriff, zudem religiös besetzt. Jesus gilt als Heiler (und daneben für den kritischen Theologen Gerd Lüdemann als Exorzist).

Die Medizin spricht von Heilung bei der Genesung von einer Krankheit. Bekannte Ärzte waren früher meist auch zugleich Heilkundige und Apotheker, siehe die Geschichte „Der Medicus“. Die häufig ihre Arzneien noch selbst herstellten, oft ganz individuell zugeschnitten auf den jeweiligen Patienten.

Der Görlitzer Erforscher und Entdecker des heilpraktischen Ähnlichkeitsprinzips „simila similibus curentur“ (Ähnliches heilt Ähnliches), Samuel Hahnemann, war so ein Arzt und Alchemist. Brauchen wir heute, wie Duhm es vielleicht nennen würde, eine solche „Alchemie“ der Heilung, die auch den heilbedürftigen Zustand der „Liebe“ miteinbezieht? Wer heilen will, bewegt sich mitunter auf einem schmalen Grat zwischen Medicus und Scharlatan. Macht sich verdächtig, vielleicht der „Verführung“ durch eine Theorie oder Lehre.

Die Pestärzte waren experimentelle Alchemisten mit teils spektakulären Erfolgen (siehe Nostradamus), was blieb ihnen übrig, ihre Schulkunst mit Aderlass, Blutegeln und Wasserkuren versagte eklatant angesichts von todbringenden Epi- und Pandemien durch Mikroben, Bakterien und Viren, von denen man noch nichts wusste, nur etwas in der Art erahnte. Dieter Duhm scheint jemand zwischen modernem Sozial-Medicus und spirituellem Rektor einer Agenda gegen die Zerstörung der Erde zu sein.

HIER soll Dieter Duhm, der Geistes-Wissenschaftler und Ökopolitiker, der Maler und Lebenskünstler, der „polymorph perverse“ (ein Wort, das ihm meist nie ohne selbstironisches Lachen über die Lippen ging) Propagandist der Freien Liebe, aber nicht unter dem Aspekt von Alchemie beleuchtet und interpretiert werden, der nur schwer zu greifen ist.

Wohl aber unter dem von Spiritualität und Religion. Der seine Vorträge nicht selten wie eine Art Andacht gehalten hat. Wenn man seine Redeauftritte aus den 1990er Jahren, die er häufig als Gast im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) „zelebriert“ hat, mitverfolgte, bekam man schon den Eindruck, als wohne man einer Art Predigt in sowas wie einem weltlichen Gottesdienst bei.

Bedächtig und frei gesprochene druckreife Worte ohne Ähs oder Unterbrecher mit oft verschmitzter Miene vorgetragen und in einen magischen Bann ziehend mit seiner weichen, etwas näselnden Stimme. Die Leute hingen an seinen Lippen. Beifall brandete am Ende der so bestrittenen sonntagvormittäglichen Matineen auf. Duhms weit ausholendes „Wort zum Sonntag“ für die Gemeinschaft und ihre Gäste, Charisma versprühend und einfordernd.

Noch heute werden Duhms Reden fast feierlich elegisch von den Vorredner*innen, meist sind es Frauen, eingeleitet. Was oft etwas gespreizt und befremdlich anmutet. Es gab nie Diskussionen unmittelbar nach solchen Vorträgen, mitunter Nachfragen; sie waren Impulsbeiträge und „Worte für den Tag“, durch den sie tragen sollten und darüber hinaus. Duhm unterschied so gesehen nicht viel von einem Chandra Mohan Shree Rajneesh, auch Bhagwan oder Osho genannt und dessen Ansprachen, den sog. Lectures. Ob ihm dieser kritische Vergleich ge- oder eher missfiele?

EINEM kritischen, anticharismatisch eingestellten Menschen wie mir missfielen solche kultischen Auftritte eher. Nach dem Duhm-Forum, meist in der großen Aula der ZEGG-Universität (es sprachen natürlich auch noch andere ZEGGler oder geladene Gäste) abgehalten, zerstreuten sich die Leute nach einer Zigarettenpause (im ZEGG wurde viel geraucht und Alkohol als „Spannungslöser“ eingesetzt) in ihre Zeltgruppen und Arbeitskreise.

Dort wurde über Duhms Gedanken-Impulse und anderes dann lebhaft gesprochen und diskutiert – konstruktiv. „Destruktiv“, d. h. kritisch hinterfragend, war eher unerwünscht und irritierte die „ZEGG-Gläubigen“. Man hatte schnell ein persönliches Problem, wenn man zu viel „meckerte“. Man behielt die Dinge gerne unter „Kontrolle“, hatte es damals für mich den Anschein. D. h. grundsätzliche Kritik wurde nur spärlich geäußert. Man war schließlich zu Gast in einer weltanschaulichen Gemeinschaft, deren Praxis und Ziele man teilte, nicht verwarf oder gar ablehnte.

Duhm eine Art „Rattenfänger“, polymorph-perverser „Verführer“? Nein, das bei aller Redlichkeit gewiss nicht! Und es wäre auch keine sinnvolle Auseinandersetzungsebene gewesen. Eine so ähnliche pflegte eine „kritische Linke“ gegenüber dem ZEGG in oft unsachlicher Weise zur Genüge. Ich wollte dagegen ein Studierender des und im ZEGG und seiner Prinzipien sein, auch wenn mich das eine oder andere störte und einer „Totalidentifikation“ im Weg stand….

POSITIV gewendet heißt das: Der legitime Gedanke ist Sammlung und Konzentration der humanen Kräfte und gemeinsame bzw. gemeinschaftliche Anstrengung, nicht Divergenz und Auf- und Zerteilung, was zumeist die reale, gesellschaftliche und politische Erfahrung individualisierender Zersplitterung ist. Durch teilen lässt sich leichter be-herrschen: Divide et impera. Duhm und das ZEGG greifen, wenn man so will, den alten Solidaritätsbegriff der Arbeiterbewegung wieder neu auf, füllen ihn aber auch mit neuen, anderen Inhalten und Zielen.

Es geht nicht mehr um proletarische, sondern jetzt um eine notwendige planetarische Revolution. Da sind Duhm und ZEGG nicht allein. Da gibt es z. B. die christlich orientierte Erd-Charta, das kirchliche Kairos-Bestreben, die ökumenische Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, gibt es das Küngsche Projekt Weltethos – gibt es inzwischen die Fridays-for-Future-Bewegung einer global aufstehenden Jugend um Gestalten wie Greta Thunberg, Luisa Neubauer und andere.

Es gibt schließlich zahlreiche Pläne und Vorschläge, wie das Ruder des Kurses ins Verderben von enteisender Überflutung und Austrocknung des Globus -, von Kriegen und Vertreibung von Menschen -, von Zerstörung der Ressourcen und ökologischen Basis durch Wachstum zum Tode -, von zivilisatorischer Überentwicklung u.v.a. noch herumgeworfen werden kann. Wie, O-Ton Duhm, „Heilung möglich werden kann und Frieden entstehen könnte“. Das ist aber auch der Unterschied im Ansatz zur Politik wirkungs- und folgenloser Welt-Konferenzen wie G7- und G20-Treffen, Weltwirtschaftsforum in Davos, Weltklimakonsultationen der UNO oder Münchner Sicherheitskonferenz, um nur einige zu nennen.

Natürlich haben solche Treffen ihren informellen Nutzen für die beteiligten Nationen, der in der Folge Pro oder Contra ausfallen kann. Nationen wie die USA kehren solchen Foren inzwischen vermehrt den Rücken. In der Corona-Krise stand die Weltgesundheits-Organisation unter massivem US-amerikanischem Beschuss. Ex-US-Präsident Trump entfachte statt Massenhygiene ideologisch einen neuen Corona- krieg gegen das „China-Virus“ usw.

WENN Staaten und ihre Regierungen ihre eigenen verhandelten Ziele nicht einhalten, ihnen zuwiderhandeln und versagen, dann wird es Zeit, nicht mehr nur protestierend und demonstrierend auf die Straßen zu gehen, was das ZEGG gelegentlich auch tut, wenn es Sinn macht. Dann müssen Menschen eigenständig zu handeln beginnen und ihre eigenen Strukturen aufbauen, Foren schaffen, Betätigungsfelder einrichten, Vernetzungen bilden – kurz, es muss eine Revolution von unten stattfinden, die primär nicht mehr nur die etablierten Entscheidungsebenen meint und zu beeinflussen sucht.

Macht wirkt multipel und weit verzweigt und natürlich ebenso rückkoppelnd. Anders als es noch der deutsche Sozialphilosoph Theodor W. Adorno meinte, es gäbe nichts Richtiges im Falschen, muss im falschen Bestehenden eine richtige Alternative entstehen und sich ausbilden und ausbreiten wie ein Gewächs, sich mannigfach verzweigend wie ein Graswurzelwerk, aus dem neues keimen und wachsen kann, heilsames menschliches und gemeinschaftliches „Kraut“ und „Rhizom“. Das ist die eigentliche Grundidee von vernetzten „Heilungsbiotopen“.

KEIN geringerer als Wilhelm Reich hat dies schon erkannt, indem er von dem, was im Menschen selbst an sexualenergetischem Potenzial angelegt ist, ausging und nicht (mehr) von äußerlich auferlegter Ideologie. Das Grundsymbol seiner ergonomischen Wissenschaft drückt genau das aus: der Pfeil, der von einem energetischen Ursprungspunkt ausgeht und sich dann in zwei Pfeile teilt, die gegeneinanderstehen, was die Spaltung der menschlichen Identität meint und sich im Widerspruch von Natur und Kultur/Zivilisation ausdrückt.

Politisch noch in marxistischer Agitationssprache veranschaulicht in der Kleinschrift „Was ist Klassenbewusstsein?“ (1934) und danach in den zusätzlichen Abschnitten zur „Arbeitsdemokratie“ im Buch „Massenpsychologie des Faschismus“ (revid. englische Fassung). Einem der wichtigsten sozialpsychologischen Werke des 20. Jahrhunderts.

BEZOGEN auf Duhms holographisches Denken und soziales Projektieren heißt das Gemeinschaftsbildung und Vernetzung durch „morphische Resonanz“ und „morphische Feldbildung“. Abgeleitet vom Begriff Morphologie, die in der Natur die Kräfte der Form- und Strukturbildung bezeichnet und das in Resonanz (Rückwirkung) und als Feld (Aufladung).

Die Theorie setzt auf rückgekoppelte und (energetisch) aufgeladene Akteure und Akteurinnen, die sich dessen auch bewusst sind. Wo immer Pflanzen und Bäume mit Liebe (Zuwendung, Hingabe) behandelt und gepflegt, wo überall Tiere nicht mehr gehalten werden, um geschlachtet und gegessen zu werden, fangen diese Mechanismen an zu greifen und sich zu vervielfältigen.

Liebe und Sexualität sind dabei eine zentrale Quelle und Kraft, aus ihnen schöpfen die Vernetzer und Vernetzerinnen ihre Kreativität und Phantasie, ihre Kraft und Energie. Darum muss hier Klarheit bestehen über ihre Potenziale und Wirkungen. Über die Nutzung und den Einsatz dieser Quellen. Es ist wie mit einer Maschine, der der Dampf ausgeht und fehlt oder ein Generator ohne Strom. Der sittliche sexuelle Akt zwischen Menschen und Geschlechtern erschöpft sich nicht in der Entladung (Befriedigung), dann läuft etwas falsch, sondern lädt sich immer mehr auf, das Potenzial wird höher, kann sich noch stärker entladen.

Das rein monogame Geschlechtsleben, so die Duhm-These, nutzt hingegen nur einen geringen Teil des kreativen Potenzials menschlicher Libido. Und bindet andere Teile nutzlos in ehelichen Treuegelübden, Bis dass der Tod sie scheidet – welch eine paradiesische Überforderung! In diesem Kontext stehen Sexualität, Liebe und Veränderung. Alle drei sind virulente Felder der Hingabe, die sich wiederum aus der Resonanz darauf speisen. Eine Wechselwirkung und Feldbildung als Folge.

DER Krebs als organische Erkrankung ist nach der Auffassung seines vielleicht bedeutendsten frühen medizinischen Erforschers Wilhelm Reich letzten Endes eine „biopathische Erstarrung“ der Lebendigkeit des davon betroffenen Menschen und eben keine mikrobenbasierte Infektion. Von „Krebserreger“ zu sprechen, ist daher Unsinn, man müsste sich dann infizieren können. Ebenso wie im damit verwandten Fall von AIDS, der Immunschwäche. Es gibt auch in dem Sinn keinen „AIDS-Erreger“, es gibt Menschen, die aufgrund von Immunschwäche an bestimmten Krankheiten besonders leiden, die sich bei ihnen leichter manifestieren.

Es ist vielmehr eine tief in die menschliche conditio humana eingreifende zelluläre und genetische Feldstörung. Die mangelnde Energieversorgung eines Menschen, d. h. seiner Organe (durch Charakterpanzer und Körperblockaden), bedingt deren Funktionseinschränkung und im chronischen Fall ihren langfristigen Ausfall und Degeneration bis zum Tod. Je nach Lebens- und Krankengeschichte eines Menschen und organischer Konstitution „befällt“ der Krebs den einen da, den anderen dort und einen dritten gar nicht. Immer ist aber ungelebtes und verdrängtes Leben primär mit im Spiel.

Erst sekundär kommt es dann zu einer inneren Vergiftung und Störung von Funktionen wie auch zu unkontrolliertem Organwachstum (Wucherung) mit Sekundärwirkung durch den Zellzerfall in sog. T-Bazillen (Todes-Bazillen), die vermeintlichen „Erreger“, die man dann mikroskopisch diagnostizieren kann (siehe Wilhelm Reich: „Die Entdeckung des Orgons, Teil II: Der Krebs“ und der Roman von Fritz Zorn: „Mars“). Den einen trifft es mit Tumoren an den Augen, den anderen im Gehirn, den nächsten an inneren Organen wie Leber, Schilddrüse, Lunge, Magen, Verdauung, Unterleib; die nächsten im Blut, an Haut und Knochen usw. Die Biopathie ist in ihrem Auftreten komplex psycho-somatisch bedingt.

Und ein ganzheitlicher Ansatz einer Energie-Medizin kann sie auch nur bekämpfen. Wobei Chemo- und Strahlentherapie langfristig meist kontraproduktiv sind, die das energetische System des Menschen noch zusätzlich schwächen und außer Kraft setzen. Manchen gelingt der erfolgreiche Kampf gegen Krebs allein mit Licht + Ernährung. Immer zwingt der Krebs einen betroffenen Menschen dazu, seine Lebensweise und Lebenseinstellung zu überprüfen und zu revidieren, oft ist es dazu dann zu spät. Der Klimakollaps ist makro-medizinisch gesehen und verstanden eine Krebserkrankung des Organismus Erde, dessen Selbstheilungskräfte extrem geschwächt am Boden liegen.

DAS ZEGG, seine Vorläuferin, die Bauhütte e. V., ja Duhm selbst, waren wie schon angesprochen unter Linken und Feministinnen teils heftig umstritten. Das hatte auch mit einer Stelle aus seinem Buch „Angst im Kapitalismus“ zu tun, wo man ihm ankreidete, unter Bezug auf die Psychoanalytikerin und Freud-Schülerin Helene Deutsch von einer unbewussten „masochistischen Lust der Frau“ am sexuellen Gewaltakt (sprich Vergewaltigung) zu sprechen. Die diese obendrein noch selbst durch Verführung und Lockung (Kokettieren) provoziere. Das Klischee des verlockenden Eva-Apfels. Der Mann muss sich ja dennoch nicht wie ein „Vergewaltiger“ aufführen.

Das zu übernehmen war natürlich der Hammer. Schnell war man bei der Hand mit der Gleichsetzung ZEGG sei dasselbe wie AAO und die Kommune Friedrichshof (AAO = Aktionsanalytische Organisation). Der Name war Programm: Analyse + Aktion, AAO war eine von dem Wiener Aktionskünstler Otto Mühl (1925-2013) und seinen Anhänger*innen gegründeter Verein, zur psychologischen Austreibung von spießigem Kleingeist und verklemmter sexueller Kleinbürgermentalität in Hirnen, Herzen und Seelen der Menschen.

Einem „Exorzismus“ nicht unähnlich. (Mühl-Slogan: „Wer den Krieg abschaffen will, muss zuerst die Kleinfamilie beseitigen.“) Damit hat er bis auf die Härte des Imperativs nicht ganz Unrecht. Die AAO-Ideologie war ein eigenartiges Gebräu aus Rousseaus Zurück-zur-Natur-Theorie, Marx‘ Auffassung vom entfremdeten Menschen als verdinglichter Ware, Reichs charakter-analytischer Körpertherapie und Arthur Janovs Urschrei-Therapie mit rigoroser Zielrichtung. Ein von einem negativen Menschen- und positiven Erlösungsbild geprägtes Parabel-Konzept, darin sektenähnlich, das auch graphisch verdeutlicht vorstellbar wurde.

Der seelisch gestörte und kleinbürgerlich konditionierte Mensch muss auf dem einen absteigenden Parabelast erst bis unten fallen in den tiefsten unterbewussten, lüsternen Sumpf, um gemeinschaftlich geläutert auf dem aufsteigenden Ast zu wahrer Identität mit sich selbst (und der AAO!) zu gelangen. Sozusagen ein psychisches Brainwashing unter massiv ausgeübtem Druck, vor allem für Neulinge. Sich in niedersten Niederungen durch die Reihen „frei ficken“ sozusagen. Wobei der Päderast Mühl sich bei jungen minderjährigen Mädchen der Kommune „das Recht der ersten Nacht“ ausbedungen hatte. Eine Art Colonia dignidad auf sexuologisch.

Der Poona-Ashram von Bhagwan handhabte das ähnlich in seinen Encounter-Sex-Workshops, deren prominentes Opfer die Schauspielerin Eva Renzi wurde. Jürgen Fischer, Experte für Wilhelm Reich und Orgonenergie-Ingenieur, hat als selbst AAO-Geschädigter in seinem Buch „AAO = Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ das Nötige hierzu authentisch (und selbstredend „rachebedürftig“) geschrieben. Und die Lektüre erschüttert einen immer wieder. In Bremen lernte ich eine solche AAO-Stadtkommune kennen und machte die Bekanntschaft mit einem jungen AAO-Aussteiger.

DIE AAO mündete in den Friedrichshof, einer Gemeinschaftssiedlung in der Parndorfer Heide nahe Wien und dem Neusiedler See im äußersten Nordosten des Burgenlands. Eine schöne, gediegene Naturlandschaft. Dort existierte das Zwangsreich des Otto Mühl & Co. weiter. Zeitweilig wohl auch Europas größte Psycho-Kommune mit 600 Bewohner*innen. Wenn in einer Stadt eine AAO-Kommune öffentlich auftrat und das gab’s nicht selten, dann war immer Aggression mit im Spiel bis zu ordinärer Pöbelei, mitunter sogar Handgreiflichkeit.

AAOler*innen hatten im Einheitslook fast kahl geschorene Köpfe und trugen alle Latzhosen, denn Gürtel schnürten den Unterleib am solar plexus energetisch ein und muteten antibürgerlich an. Wie Mühl auch selbst auftrat, dessen Gesichtsausdruck für mich immer etwas Schmieriges, Ordinäres hatte. Wenn Duhm „polymorph pervers“ war, war Mühl, sein freundschaftlicher Lehrer und Anreger hyperpolymorphperversversaut. Was auf einer Bühne geboten wurde, war expressive „Selbstdarstellung“ (SD) und „Aktionsanalyse“, eine Form von extremem Psychospiel und verschärftem Psychodrama, das befreien, aber auch provozieren sollte.

Das der RAF nahestehende Sozialistische Patientenkollektiv SPK in Heidelberg, einer Rekrutierungsmaschine für „kaputte Typen“ für den RAF-Terrorismus, nannte dies „aus der Krankheit eine Waffe machen“. 1977 machte im „Deutschen Herbst“ die inhaftierte erste RAF-Generation (Ulrike Meinhof war da schon suizidiert tot) im Stammheim-Hochsicherheitsgefängnis aus ihren staatlich geduldeten und hingenommenen „Selbst-morden“ zum letzten Mal eine Waffe. Der ehemalige RAF-Anwalt Christian Ströbele zweifelt heute noch daran. Aktionsanalyse war nicht Psycho-Therapie, sondern eine Art Psycho-Terror als reinigender Jungbrunnen, aus dem man – irgendwann – geläutert entstieg. Wie bei der Massentaufe von Sekten. Psycho-„Entjungferung“.

Erst nach diesem Ritual, immer und immer wieder praktiziert, gehörte man irgendwann dazu, wenn Mühl und seine engsten Getreuen zustimmten. AAO und Friedrichshof existieren heute nicht mehr, Mühl ist inzwischen verstorben, nachdem er zuvor nach einem Prozess 1991 wegen Unzucht mit und Missbrauchs von Minderjährigen in mehreren Fällen und noch anderer strafbarer Delikte eine mehrjährige Gefängnisstrafe verbüßte und 1997 wieder freikam. Danach lebte er mit vertrauten Anhängern aus alten Zeiten in Portugal. Duhm sprach über sein enges freundschaftliches Verhältnis zu Mühl, dass er diesem viel verdanke. Von daher haftet ihm, nicht dem ZEGG, das Menetekel falscher „Gefolgschaft“ an.

BAUHÜTTE und ZEGG haben Elemente und Impulse der SD/Aktionsanalyse als Forums-Idee für Psycho-Spiele und gespieltes Psycho-Drama zunächst übernommen. Nicht wenige AAOler wechselten zur Bauhütte und zum ZEGG. Die Latzhosen und Kahlköpfe verrieten sie. Wer Therapie brauchte, war aber im ZEGG an der falschen Adresse. Das ZEGG entkleidete freilich sein eigenes entwickeltes FORUM von dem fatalen und faschistoid zu nennenden SD-Ritual- und Einweihungscharakter von AAO und Friedrichshof.

Dem ZEGG ging und geht es um eine Theorie und Praxis für eine gewaltfreie Erde und dazu bereite freie Menschen. Das war mit mittelalterlicher Mühl-Patriarchalität und Psycho-Sekten-Mentalität völlig unvereinbar. Das muss ganz klar betont werden und Duhm ist an dieser Absetzung maßgeblich beteiligt gewesen, kein wie auch immer gerechtfertigter Sex mit Kindern zum Beispiel. In jeder Forums-Präsentation eines Menschen steckt etwas Psychoprozesshaftes. Hier muss „Forum“ einmal näher beschrieben werden; im Jahresprogramm 2020, gleichzeitig auch eine Kurzeinführung ins ZEGG, steht dazu auf Seite 41: „(…) Gemeinschaft ist für uns im ZEGG ein Bewusstseinsweg, in dem wir mehr und mehr erkennen, wer wir sind – jenseits von Rollen, Gewohnheiten oder Masken.

Je näher wir unserem eigenen Wesen sind, umso mehr gewinnen wir Vertrauen in andere Menschen und ins Lebendige. Forum ist ein Werkzeug, in dem Menschen sich in diesem Bewusstseinsweg unterstützen und herausfordern, Dadurch entsteht Gemeinschaft und es wachsen die Fähigkeit zur Selbstverantwortung, Anteilnahme, das Wissen um den eigenen Beitrag und das Gefühl für Sinnhaftigkeit“.

DAMIT korrespondierend ist zum Stichwort Gemeinschaft & Organisation im Programm zu lesen: „Zukunftsfähige Methoden des Miteinanders für Wirtschaft und Zivilgesellschaft (??, d. Verfasser) setzen auf Kompetenz und Kooperation. Unsere Erfahrung zeigt: Ein soziales System ist dann lebendig, wenn es von einer gemeinsamen Absicht getragen wird, wenn es Individualität mit Bewusstsein für das Ganze verbindet“ (S. 16).

Das klingt stellenweise sehr nach Management-Ideologie und könnte ein modernes Unternehmen, das auf Mittun seiner Belegschaft setzt, nicht viel anders formulieren; statt an der Stelle, wo es „lebendig“ heißt, würde lediglich dann das Wort „effektiv“ stehen.

Und etwas weiter unten ist wieder in ZEGG-spezifischer Diktion zu lesen: „Gemeinschaft heißt für uns, offen zu kommunizieren und in Selbstverantwortung und Kontakt zu sein. Du lernst, wie das in bereichernder Art geschehen kann und machst deine ganz eigene Gemeinschaftserfahrung. Diese Erfahrung nimmst du mit – sei es in dein Team von Kollegen, in die Projekte, in denen du dich engagierst oder in deinen Prozess der Gemeinschaftsgründung.“ (ebd.)

EIN zentrales Element ist dabei heute die Gewaltfreie Kommunikation, die in Kursen angeboten und eingeübt wird. Ein viel praktiziertes Gruppenspiel (war es jedenfalls zu meiner Zeit) ist das Wer-bist-du, was-willst-du-Spiel, auch Buddha-Spiel genannt. Dabei sitzt man einander auf dem Boden in Reihe gegenüber und reihum stellt zunächst die eine Seite die Frage an das jeweilige Gegenüber Wer bist du, was willst du?

Der/die Gegenübersitzende hat dann fünf Minuten Zeit, sich gestisch und/oder verbal zu äußern oder auch zu schweigen. Die fragende Seite muss sich dabei reglos wie ein zuhörender Buddha verhalten, darf nicht agieren, lachen, das Gesicht verziehen, missbilligend werten oder kommentieren, was ihr da präsentiert wird. Pokerface wie Buster Keaton bei voller Aufmerksamkeit.

Einzige Auflage ist nicht zu lügen und einander dabei anzusehen. Nach fünf Minuten wird der Part gewechselt und eins weiter gerückt. Jetzt darf der/diejenige, die gerade gesprochen hat, einer neuen anderen Person, dieselbe Frage stellen und muss nun selbst stiller „Buddha“ sein. Das Spiel verlangt einiges an Disziplin und Ausdauer und lädt einen mit der Zeit psychisch mit Energie regelrecht auf. Wenn man zehn Leuten dieselbe Antwort auf die Wer-bist-du-Frage gibt, wird bald klar, was daran hohles Gerede oder echt gemeint ist.

Man verändert die Antworten und präzisiert und konzentriert sie. Eine Variante ist die, dass ein Paar nacheinander dem gleichen Partner antwortet und erst dann weiterrückt. Wir schafften beim Sommercamp 1993 im Restaurant einmal ein solches Buddha-Spiel über mehr als drei Stunden durchzuhalten. Das war für alle Beteiligten ein unglaubliches Erlebnis und eine bewusstseinserweiternde Selbsterfahrung. Man erfährt durch solche Orthopraxie viel über andere und sich selbst. Gemeinschaft bedeutet im ZEGG Öffentlichkeit. Das Private wird dadurch politisch, eine alte APO-Parole.

NEBEN dem nicht bei allen beliebten Buddha-Spiel ist das Forum im ZEGG eine interne öffentliche Bühne, auf der sich ein Mensch unter Anleitung in die Mitte eines präsenten Kreises anderer Menschen begibt, um etwas von sich zu berichten, zu zeigen, darzustellen, daher auch das Verständnis von „Selbstdarstellung“. Das Thema, die inhaltliche Dringlichkeit, bestimmt man selbst, oder ein/e Moderator/in macht einen Vorschlag. Die persönliche „Exhibition“ ist freiwillig, obwohl noch etwas ganz anderes, als sich in klugen Redebeiträgen intellektuell zu präsentieren, in denen sich nur der halbe Mensch und zudem ideologisch oft verstellt zeigt.

DIE Selbst-Darstellung kann Sprechen, Singen, Schweigen, Mimen, Agieren oder symbolisches Handeln sein. Konflikte in einer Gruppe oder zwischen Einzelnen können so z. B. leichter dargestellt, „thematisiert“ werden. Ebenso persönliche Schwierigkeiten – wenn der/die Betreffende das will. Die Darstellung sollte für die entsprechende Person etwas Vorwärtsweisendes haben, also kein Heulen oder Bemitleiden, persönliches Suhlen, kein passives Hängen.

Es gibt forumsgeübte Moderator*innen, die beobachten und begleiten (es wird dazu auch ausgebildet in Kursen), gegebenenfalls helfen und unterstützend eingreifen, eine festgefahrene Forums-„SD“ auch mal beenden. Forum ist die Bühne, über die man öffentlich in die Gemeinschaft eintritt und sich einbringt, zusätzlich zum alltäglichen Verhalten. Das geschieht alles im ZEGG in der Regel sehr behutsam und überlegt.

Es geht also in gewisser Hinsicht um Symbolik und Symbolismus, um „Rollenspiel“ in präsenter interaktiver Umgebung. Denn auch Intervention von außen, den Beobachtenden, ist möglich, wenn sie weiterführt oder als Stichwortgabe für die-/denjenigen in der Mitte, sollte aber möglichst zurückhaltend geschehen. Wobei man natürlich auch mit in die Mitte gehen kann, eine gesteigerte Form von Forum im Wechselspiel von dynamisch Agierenden. Ich habe selbst im ZEGG viele solcher Foren miterlebt. Für die Moderierenden gehört ein geübtes Auge, eine gewisse Erfahrung und psychologische Beobachtungsgabe sowie Empathiefähigkeit dazu. Ein zentrales Stichwort im ZEGG ist „Transparenz“ von Vorgängen, Entscheidungen und Verhaltensweisen, kein Verstellen, kein Verstecken. Lerne dich und andere kennen.

Offenheit und Aufrichtigkeit, authentisch sein, auch mit den eigenen Macken und Fehlern. Zu sich stehen, nicht täuschend so tun, als sei man wer anderes. Man kann in Konkurrenzsituationen eigene Bedrohungen anderer ablegen und muss sich durch andere nicht mehr bedroht fühlen. Kritiker meinen allerdings, darin läge auch eine Art Geständnis- und Offenbarungszwang, der für unsere heutige Welt so kennzeichnend ist. „Big Brother is watching you“ – Orwells düstere 1984-Vision. Ohne Zweifel wird der/die Einzelne für die ZEGG-Gemeinschaft zum „gläsernen“ Menschen und sollte natürlich genauso die Gemeinschaft für den einzelnen zu einer „gläsernen“ werden.

WARUM wird hier dieser ausführliche psychologische Exkurs und theoretische Vorspann gemacht? Weil man Duhms Theorie und Einstellung in der Praxis sonst nicht versteht oder vielleicht falsch versteht. Festgehalten in den beiden Teilen I (Die Theorie im Umriss) und II (Die Theorie im Detail) des 5. Kapitels „Hauptteil: Theorie der globalen Heilung“ des Duhm-Buches „Zukunft ohne Krieg“ (S. 49-78). Denn mit der Umweltkrise befinden wir uns auch in einer tiefen Seelenkrise als ihre sie abbildlich Verursachenden.

Es geht nicht nur um die Konzerne und Monopole, das auch! – es geht auch um uns selbst dabei, unsere eigene Rolle, unseren eigenen Anteil am Verkehrten und Falschen. Das ist der Ansatz wie auch die Chance der Tiefenökologie, die Duhms Denken maßgeblich begründet und leitet. Tiefenökologie ist zugleich Tiefenpsychologie, spirituelle Ökologie ist auch spirituelle Psychologie. So versteht es James Lovelock, verstehen es Dolores LaChapelle, Joanna Macy, Arne Naess oder auch der nicht unumstrittene Vertreter der Transpersonalen Psychologie, Ken Wilber. Alles Vertreter und Vertreterinnen des NEW-AGE-Denkens. Auch Duhm ist ein NEW-AGE-Denker, was seine Bedeutung keineswegs schmälert.

1978 gründete Duhm mit Freunden wie dem Physiker und Musiker Charly Rainer Ehrenpreis und seiner damaligen Partnerin Heide „Sarah“ Vollmer zusammen die Bauhütte e. V., zunächst als Idee, dann auch als kommunitäre Gemeinschaft südöstlich von Heilbronn auf einem Bauernhof im Hohenlohischen nahe Jagsthausen, die eine bestimmte Gemeinschaftsidee mit freier Sexualität und freier Liebe verfolgte. Das Buch „Aufbruch zur neuen Kultur“ war als eine (selbst)befreiende Manifestation für Aussteiger so bedeutend vielleicht wie Luthers antirömische These im frühen 16. Jahrhundert von der „Freiheit eines Christenmenschen“.

Das Buch wurde für viele wie auch mich zur Plattform, um in einen völlig neuen Gedanken- und Argumentationsraum vorzustoßen. Das war das kollektive Wagnis, die letzte Entdeckung auf einer Reise ins humanwissenschaftliche Innenland. Da war Duhms Denken schon über sein Buch „Der Mensch ist anders“ hinaus, d. h., es wurde mit dem Anderssein konkreter. Am Marxismus kritisierte Duhm vor allem dessen metaphysische Blindheit, Dogmatismus und Theorie-Schwindel.

SCHON „Synthese der Wissenschaft“ mit dem Entwurf einer „biokosmischen Resonanztheorie“ war eine Zusammenschau von wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Ansätzen, die sein Denken beeinflussten und hinfort leiteten. Östliche Lehren, mittelalterliche Mystiker, Wilhelm Reich, Aktions-Kunst, um einiges besonders hervorzuheben. 1992 erschien „Politische Texte.

Für eine gewaltfreie Erde“, eine Sammlung von Impulsen und Thesen für das ZEGG, aus dem Auszüge in AGs eifrig gelesen und besprochen wurden. Neben dem großen runden Campus mitten auf dem ZEGG-Gelände steht eine Tafel mit Zwölf Punkten (Thesen) für eine „gewaltfreie Gesamtkultur“. Sie enthalten Aussagen zu Heimat für Kinder, Liebe und Vertrauen, Sexualität, Partnerschaft, Gemeinschaft, Freiheit und Autonomie des Individuums, Denken, Religion, Natur, Tiere, Biotope der Heilung, Netzwerk des Menschen.

„Die Heilige Matrix“ deutete an und gab vor, wohin die Reise ging. Hin zu einer ökospirituellen Ganzheitsauffassung, Gaia-Theorie (James Lovelock), morphogenetische Felder (Rupert Sheldrake), Tiefenökologie, (Arne. Naess), geomantische Landschafts-Akupunktur (Marko Pogacnik) u. v. m. Es könne auf der Erde keinen Frieden geben, wenn unter den Geschlechtern Krieg herrsche, ist eine von Duhms griffigen zentralen Thesen.

IMMER wieder scheitern Gemeinschaften und Kommunen an den (sexuellen) Spannungen zwischen den Geschlechtern, an lähmendem Konkurrenzverhalten deswegen unter Männern wie unter Frauen (Zickenkrieg), an belastenden Autoritätskonflikten, an fehlender Transparenz in Konflikten und daran, dass es dafür keinen offenen Austragungsort mit bestimmten Regeln gibt, wofür das Forum da ist und natürlich die Gemeinschaft als großes offenes Forum.

Und das Konzept der offenen, promisken Beziehungen zu mehreren Partnern gleichzeitig (wer das will). Es ist kein allgemeines Muss oder Credo. Man kann Sexualität und Liebe auch geistig „transzendieren“. Offene Beziehung mit freier Liebe und freier Sexualität. Denn in einer größeren Gemeinschaft ist es nicht zu vermeiden, dass erotisch-sexuelle Attraktionen einzelner zu mehreren anderen Menschen auftreten, wie auch in der normalen Gesellschaft.

Nur kann im ZEGG überlegt und entschieden werden, das auszuprobieren und zu leben. Mit dem Unterschied freilich, dass in der Gesellschaft das Spiel nicht offen abläuft, sondern sich hinter Lügen und unter Verdrängungen abspielt. Oft zum Leidwesen auch von Kindern von Eltern-Paaren, die sich auf sexuelle „Abwege“ begeben. Frauen im und um das ZEGG hatten das Buch „Rettet den Sex“ geschrieben. In den dargestellten Lebensgeschichten von Frauen geht es um diese Themen.

WENN eine Gemeinschaft von solchen inneren Störungen und Dissonanzen durchzogen ist, bleibt meist das politische Gemeinschaftsziel auf der Strecke. Informelle Cliquen bilden sich aus, die einander bekämpfen, autoritäre Strukturen entstehen, durch die einzelne (meist Männer) die Führung an sich reißen und allein bestimmen wollen, was wiederum Palastrevolten provoziert und so weiter. Eine Gemeinschaft kann so ihre gesamte Energie nach innen verzetteln und verschleudern.

Freie Liebe und Sexualität sind kein Allheilmittel, verlangen viel Aufmerksam- und Achtsamkeit und Sensibilität, viel Geduld und Verständnis füreinander, aber sie sind eine Antwort, ein ernsthafter Versuch, Wege aus Sackgassen zu finden und das „Liebesniveau“ und den „Respektlevel“ einer Gemeinschaft deutlich anzuheben, wenn mehr Mitglieder untereinander sich auch intim kennen, achten und mögen. Wenn daraus sowas wie natürliche Solidarität und Empathie entsteht.

„Männerarbeit“ und „Frauenarbeit“ gab und gibt es deshalb im ZEGG, Arbeit an Rollenklischees, Tabus, eingefahrenen Verhaltensmustern, verkehrten Liebesbildern usw. Sexualität und Erotik sollen normal ins Gemeinschaftsleben reintegriert werden, ohne alles zu beherrschen unter Freisetzung freier humaner und kreativer Energie. Wer das einmal am eigenen Leib verspürt, begreift die Dinge „zellulär“, wie Duhm es nennen würde. Das neue geistige Paradigma wird sozusagen zellulär im genetischen Code gespeichert. Es ist in groben Linien dargestellt im Grunde das Humankonzept des ZEGG. In religiösen Kommunen scheint dieser Punkt kein Thema, nun, sie umschiffen ihn schlicht durch die Konzentration auf das transzendente Glaubensziel Gott und Christus.

Die zusammenhaltende Wirkung charismatischer Personen ist dort deshalb auch viel stärker ausgeprägt. Man sublimiert und verdrängt, solange das eben gut geht. Aber die menschliche Natur fordert ihren Tribut und kann nicht auf Dauer unterdrückt und ignoriert werden. Freie Liebe und Sexualität gelingen natürlich in einer dafür sensiblen Gruppe und Gemeinschaft besser, als wenn man sie als Einzelne in einer bürgerlichen Realität zu leben versucht, weil viele nötige Parameter dafür fehlen. Hier könnten vielleicht Netzwerke helfen.

ES ist schon erstaunlich, aber auch bezeichnend, wie kritische Linke heute über das Thema „offene Beziehung“ unter den Prämissen „Liebe, Sex, Vernunft und Glück“ reden und dazu noch deren Loblied singen. Anschaulich demonstriert in dem kleinen Büchlein „Lob der offenen Beziehung“ (2015) des Jungle World-Autors Oliver Schott (*1982). Eine der wenigen aktuellen Denkanstrengungen dazu überhaupt.

Mit dem Ziel, den Umgang mit Liebe und Sexualität neu zu überdenken. Zuzustimmen ist dem Autor in seiner Absicht zu zeigen, dass sich dabei Gefühl, Verstand, Verbindlichkeit und Freiheit nicht entgegenstehen müssen, was fast schon einer Binsenweisheit gleichkommt. Es werden zwar einschlägige Autor*innen u. a. wie Barbara Eder, Philippe Ariès. Herrad Schenk, Volkmar Sigusch und sogar der vornehme libertäre Abendland-Denker Sir Bertrand Russell herangezogen oder zitiert.

Aber Namen wie Wilhelm Reich („Die sexuelle Revolution“; „Die Entdeckung des Orgons, Bd. I: Die Funktion des Orgasmus“; „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“), Alex Comfort („Joy of Sex“/“More Joy of Sex“; „New Joy of Sex“; „Der aufgeklärte Eros“; „Natur und menschliche Natur“), Dolores LaChapelle („Heilige Erde, Heiliger Sex“), Michel Foucault („Sexualität und Wahrheit“) oder eben auch Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels fehlen völlig, werden weder einbezogen noch als Literaturhinweis genannt.

Das muss man dem Autor, ohne ihn deswegen anzugreifen, als Manko und Versäumnis auslegen. Gerade Alex Comforts Joy-of-Sex-Bücher (er war auch Anarchist, Gesellschaftskritiker und Altersforscher), werden oftmals um ihre soziale Dimension reduziert auf „Sex-Ratgeber“, was sie definitiv nicht nur sind.

DER Verdacht kommt auf, als hätte Schott da einen „blinden Fleck“ und stecke Kalkül hinter dem Ausblenden. Es findet leider auch keine genauere Auseinandersetzung mit der wichtigen politischen Frage nach geeigneten Formen des Zusammenlebens für „offene Beziehungen“ statt wie etwa WG, Kommune, Gemeinschaft, Ökodorf, Experiment, Heilungsbiotop u. a.

So greifen Schotts Reflexionen letztlich zu kurz und bleiben die hedonistische Privatsache Einzelner, die ihr Leben gegen die Monogamie einrichten wollen und allein häufig daran scheitern werden. Der Umgang mit Liebe und Sexualität und ihre Organisation im täglichen Leben stellt eine gesellschaftliche Frage ersten Ranges dar, die eng mit der individuellen Sozialisation jedes und jeder Einzelnen verknüpft ist und nach emanzipativen, befreienden Antworten verlangt.

Leider wird dies heute noch immer sträflich vernachlässigt und bleibt unthematisiert. Wie sollen etwa Menschen unterschiedlichen Geschlechts auf einem Forschungsschiff oder in einer arktischen Forschungsstation oder auf der Internationalen Raumstation ISS mit ihren sexuellen Bedürfnissen umgehen und klarkommen? Bisher gibt es noch keinen Report über Sex im Weltraum.

DAS ZEGG hat sich über vereinzelte Netzwerke hinaus nie nennenswert zusätzlich in Stadtgruppen etabliert und ausgeweitet, obwohl daran auch gedacht war. Das ist bestimmt ein Manko, überforderte aber häufig einzelne bestehende Stadtgruppen schnell. Aber die Interessierten kommen lieber zum Original und nehmen dessen Kurs- und Seminarangebote als Bildungs- und Begegnungsstätte wahr mit ZEGG-Universität (anfänglich), Tagungshaus, Wohnbungalows auf dem Gelände, Übernachtungshaus und großer Mensa mit vegetarisch/veganer Großküche und Außenveranda zum Garten hin.

Es wird versucht, möglichst autonom zu leben, sich zu organisieren und vegetarisch/vegan zu versorgen, mit von Kohle auf Holzschnitzel umgerüstetem eigenem Heizwerk, eigener Sumpfpflanzen-Kläranlage (die hart gegen die Stadt Belzig erkämpft wurde), eigenem Bio- und Permakulturgarten. Für ZEGG-Kinder gibt es wie in einem Kibbuz ein eigenes Kinderhaus mit Anschluss an einen kleinen Tiergarten, Hühner, Kaninchen, Meerschweinchen, Enten, Ziegen, um die sie sich kümmern dürfen.

Hunde und Katzen laufen sowieso frei herum und nachts im Sommer hört man draußen Nachtigallen in den Ästen singen und wenn man Glück hat in den angrenzenden Wäldern des Hohen Fläming einen Wolf heulen. Im Winter gibt es nach dem großen Silvestertreffen mit visionärem Ausblick-Charakter eine Seminar- und Besucherpause, ein „Winter-Retreat“. Man betreibt Reflexion, Reinigung (Schwitzhütten), fastet vielleicht, trifft sich zu gemeinsamem Essen, bastelt an neuen Themen usw. Gemeinschaft atmet und pulsiert, die beiden Grundlebensprinzipien.

BIS wieder zum Ostertreffen und folgenden Pfingstfestival und später dem großen mehrwöchigen Sommercamp mit mehreren hundert Teilnehmenden und interessanten Referenten von außen. Ich erlebte u. a. Barbara Rütting und den Psychoanalytiker Ernest Bornemann (beide inzwischen verstorben). Dann ist permanente Feststimmung auf dem Gelände.

Nirgendwo in einer Kommune wird so viel zusammen gesungen (Come-Together-Songs), Lieder und Gesänge aus Afrika, von Balkan und Roma, alte und neue deutsche Lieder, jiddische Lieder, Mantras, „Canto general“ von Neruda/Theodorakis und lustvoll musiziert mit eigener Band und Chor; nirgendwo wird öffentlich so miteinander geschwoft und ausgelassen paarweise getanzt (gemeint ist fließendes beschwingtes Tanzen, keine zuckenden abgebrochenen Körperverrenkungen zu Beatschlägen) auf dem Tanzboden im San Diego Café mit Cocktailbar und Bühne, dem Ort, wo man sich am Samstagabend trifft, sich dazu in Schale wirft, verabredet und einander für die Nacht „einlädt“, wie das im ZEGG dezent heißt.

Nirgendwo wird so viel gemalt und freie Körper-Kunst gemacht, Bodypainting und Tanz. Trance & Tanz, Rhythmus – Trommel – Klang; Mantras & Stille; Love & Dance Festival. Das ZEGG feiert Körper, Seele, Geist und alles, was diese in Bewegung bringt. Heilung und soziale Veränderung schafft, das „Glück“ fördert, wenn man das hier vermessen sagen kann. Mensch darf glücklich sein im ZEGG. Liebe sozusagen als „soziales Kunstwerk“.

ES gibt (oder gab) auf dem weitverzweigten Gelände einen Bücherladen, dazu als publizistische Institution den Verlag Meiga, und eine gemütliche Kneipe am Dorfplatz und dahinter zwischen Kiefern und Birken ein Waldschwimmbad mit Pflanzenklärung, das deshalb immer etwas grünlich trüb ist, dafür aber nicht nach Chlor stinkt. Programm und Konzept werden in einem jährlichen Gesamtprospekt aufgeführt und vorgestellt.

Leider hat man schon vor langem sowohl den ZEGG-Rundbrief (Nachfolger des San-Diego-Magazins) als auch jährlichen ZEGG-Reader eingestellt. Es „rechnete“ sich nicht, wie es hieß, wenn man es freilich nur rein monetär betrachtet und man folgte dem online-Wahn. Dafür sollte es Themenbroschüren geben, was aber nach meinem Eindruck nicht umgesetzt wird. Wer möchte, kann sich regelmäßig den ZEGG-newsletter zumailen lassen.

DIETER Duhm ist zwar ZEGG-Initiator, nicht zuletzt mit seiner Broschüre von 1978 und Anstoßgeber für die Gemeinschaft, sein Lebensort ist heute TAMERA oder auch Heilungsbiotop 1, das sich offiziell Zentrum für Friedensforschung und -ausbildung nennt. Einer in schönem hügeligem Gelände mit kleinem See gelegenen Öko-Siedlung am Monte Cerro, wo etwa ständig bis zu 150 Menschen leben.

Der Ort versteht sich als Teil eines globalen Eco Village Net. Duhm meinte einmal, in Ländern wie Portugal seien die Bedingungen staatlicherseits für Alternativprojekte besser und unkomplizierter als in Deutschland. Duhm fand in der Theologin, Feministin und Tamera-Mitgründerin Sabine Lichtenfels (früher Kleinhammes, *1954), eine kongeniale Partnerin und Mitarbeiterin, die mit ihm zusammen für die Heilungsbiotop-Ziele eintritt und wirkt.

Zwei ihrer Bücher dazu tragen die Titel „GRACE. Pilgerschaft für eine Zukunft ohne Krieg“ (2006) und „Tempel der Liebe. Reise in das Zeitalter der sinnlichen Erfüllung“ (2009). Grundlage ihrer politischen Arbeit ist laut Buchklappentext die Versöhnung der Geschlechter und ein neues Frauenbewusstsein. Damit bilden Yin und Yang, weibliches und männliches Prinzip, in Tamera ein starkes liebendes Feld.
© Elmar Klink, D-Bremen, 21.Mai 2020/26. Mai 2021.

Ergänzende Literatur: Birger Bumb & Beate Möller (Hg.): Sommercamp im Wilden Westen. Vorzeichen eines neuen Lebensmodells. Radolfzell a. Bodensee 1990 – David Boadella: Wilhelm Reich. Pionier des neuen Denkens. Eine Biografie. Darmstadt 2008 – Das Buch Sidari. Über Schöpfung, Kunst und sinnliche Liebe. Mit Gedanken und Gemälden von Dieter Duhm. Radolfzell 1988 – Die Erfindung der Liebe. Berühmte Zeugnisse aus drei Jahrtausenden, vorgestellt von Claudia Schmölders. München 1996 – Leila Dregger: Tamera – Ein Modell für die Zukunft (Fotobildband). Belzig 2010 – Dieter Duhm: ZEGG. Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Konzept eines ökologischen Dorfes als Forschungs- und Bildungszentrum. Lampertheim 1978 – Ludwig Ebersberger: Der Mensch und seine Zukunft. Natur- und Humanwissenschaften nähern sich dem Weltverständnis von Teilhard de Chardin. Olten (CH) 1990 – Achim Ecker: Nachhaltigkeit und Ökologie im ZEGG. Belzig o. J. Jürgen Fischer: Sexuelle Liebe im Jetzt. Tantra und die zweite sexuelle Revolution. Saarbrücken 2015 (3. überarb. Aufl.) – Paul Hawken: Der Zauber von Findhorn. Ein Bericht. Reinbek b. Hamburg 1987 – Franziska Heinisch et al: Ihr habt keinen Plan. Darum machen wir einen. 10 Bedingungen für die Rettung unserer Zukunft. (Der Jugendrat der Generationen Stiftung). München 2019 (4. Aufl.) – Elmar Klink: Wir kommen alle ins Wilhelmreich. 60 Jahre nach Wilhelm Reich. Ein Rückblick; in: Bukumatula, Zeitschrift des Wilhelm Reich Instituts (Wien); Heft 1/2018, S. 4-31 – Ders.: Die Seele ist eine Funktion des Lebendigen. Wilhelm Reich – Person und Werk. Kontext, Wirkung und Deutung. Bremen 2019 (unveröffentl. Manuskript; 23 S.) – Christoph Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Biographie 1861-1925. Stuttgart 2011 – Marco Pogacnik: Erdwandlung als persönliche Herausforderung. München 2003 – Ola Raknes: Wilhelm Reich und die Orgonomie (Nach wie vor eine der besten Einführungen ins Werk). Frankfurt/M. 1973 – Wilhelm Reich: Kinder der Zukunft. Zur Prävention sexueller Pathologien. Hrsg. von Mary Higgins und Chester M. Raphael. Gießen 2018 – Dolores Richter: Die Liebe als soziales Kunstwerk. Bad Belzig 2011 (2. Aufl.) – Christoph Rosenthal: Über die Anthropologische Kunst. Eine Auseinandersetzung mit dem Bezug zwischen Natur und Kultur. o. O. 1998 – Ders.: OMEGAerden. Ein utopischer Entwurf als Beitrag zu Utopistik und Teleologie. Witten 1998 – Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Hamburg 1993 (4. überarb. und verb. Aufl.)- Oliver Schott: Lob der offenen Beziehung. Über Liebe, Sex, Vernunft und Glück“. Berlin 2015 (8. Aufl,) – Rupert Sheldrake: Das schöpferische Universum. Die Theorie der morphogenetischen Felder. (Kompl. überarb. NA). München 2008 – So könnte Frieden entstehen. Vorträge und Texte von Dieter Duhm. Studienreihe Tamera, Band 2. Verlag Meiga 2004 – Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Bad Liebenzell 2013 Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Gemeinnütziges Bildungszentrum, Ökodorf, Gemeinschaft. (Einführung). Belzig o. J. (2016).

Zum Verfasser: *1953, freier Autor, i.R., Ausbildung zum Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler; beruflich tätig gewesen in Beratung, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit; zahlreiche Aufsätze, Kurzessays, Porträts, Buch- und Filmbesprechungen.
Kontakt: Elmar.Klink@gmx.de

Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/21 Zukunft ohne Krieg“ – Liebe und Sexualität als archimedischer Punkt
  • Kategorie: 2021
  • Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 1/2021

    Will Davis: „Funktionale Analyse“

    Grundlagen und Anwendungen in der Körperpsychotherapie
    Buchrezension von
    Matthias Wenke:

    Will Davis ist Psychologe und Körperpsychotherapeut und hat seit den 1980er Jahren ausgehend vom Werk Wilhelm Reichs, der Gestalttherapie, Rogers klientenzentrierter Psychotherapie sowie deren Nachfolger eine ganz eigene Methodik und später auch Methodologie entwickelt, die er selbst als Funktionale Analyse bezeichnet und deren integraler Bestandteil eine spezielle Art der unmittelbaren Berührung des Bindegewebes ist.

    Das Werk hat fünf große Hauptkapitel; die ersten drei behandeln wesentliche theoretische Grundlagen von Instroke, Charakterpanzer und Endoselbst, die letzten zwei befassen sich mit therapeutischen, praxeologischen und methodologischen Fragen.

    Die Einzelartikel beruhen auf bereits publizierten Texten oder Vorträgen unterschiedlichen Datums, sind folgerichtig angeordnet und ergeben insgesamt einen flüssigen Leseeindruck. Es ist die Zusammenführung eines Lebenswerkes vieler Jahrzehnte. Gelegentliche Redundanzen über verschiedene Kapitel sind eher das Verständnis unterstützend als störend.

    Davis´ Ansatz der Funktionalen Analyse ist weder Körperpsychotherapie im Sinne einer Psyche, die auch einen Körper hat, noch psychosomatische Arbeit an der Wechselwirkung zwischen psychischen und somatischen Symptomen. Der Terminus funktional zielt auf eine tiefere organische Ebene, auf die Ebene der primären vegetativen Energie, dort wo (nach dem Modell von Reich) Psyche und Soma entspringen. Davis geht wie Reich und Adler vom somatopsychischen Wesen des Menschen als einer unteilbaren Ganzheit aus.

    Davis berichtet aus seiner praktischen Erfahrung, dass sich die funktionale Körperarbeit am Bindegewebe vor allem auf früh traumatisierte Charaktere günstig auswirken kann, die sonst kaum therapeutisch ansprechbar sind, etwa schizoide, narzisstische, orale oder Borderline-Strukturen.

    Er nimmt an, dass hier noch keine muskuläre Abwehr vorhanden war, so dass es zu einer chronischen Gesamtkontraktion des frühen Bindegewebes, einer plasmatischen Abwehr – wie bei einer Amöbe – gekommen ist.

    Davis Methode hilft den Klienten in einen ruhigen, empfänglichen Zustand der tiefen Sammlung zu gelangen, wo sie sich trotz ihrer traumatischen Kontraktion der einströmenden Phase der Lebensenergie hingeben können, dem sogenannten Instroke. „Der Instroke ist eine konzentrierende, organisierende Kraft, die den Organismus reguliert“ (S. 198).

    Derartige Zustände absichtsloser Ruhe scheinen mit einer erhöhten Aktivität des sogenannten Default Mode Network (DFN) im Gehirn zu korrelieren, welche wiederum mit einer Reorganisation bestimmter psychischer Erfahrungen einher geht.

    Ein zentrales Merkmal funktionaler Arbeit ist die Betonung intrapsychischer Prozesse der Selbstbeziehung anstelle interpersoneller Beziehungsarbeit. Denn „…während des prä- und perinatalen Stadiums kennt das Kind nur sich selbst. Alle Ereignisse und Erfahrungen werden als Selbst-Erfahrungen erlebt.“. (S. 80) Davis nimmt an, dass die Selbstbeziehung allen späteren Objektbeziehungen vorausgeht und ihnen zugrunde liegt.

    Im Kern findet er ein unverletztes Selbst, welches er als Endoselbst bezeichnet, ein unversehrter und unveränderlicher Bewusstseinsraum vor jeder Fremderfahrung, eine primordiale Bewusstseinsschicht. Winnicott (1988) beschreibt sie als incommunicado core und Eigen (2008) als predependent aloneness.

    Hier erkennt man das Verständnis von Bewusstsein und Unbewusstem der Funktionalen Analyse. Das Unbewusste ist das tiefe körperliche Selbsterleben, das auftaucht, wenn Kognitionen und Emotionen zur Ruhe kommen. Davis sieht die Freud’sche Metapher vom Eisberg mit winzigem bewussten Ich über Wasser und riesigem Unbewussten unter Wasser, geradezu auf den Kopf gestellt.

    Er macht darauf aufmerksam, dass die jüngere Arbeit der Neuropsychologen Solms & Panksett (2012) – mit dem aufschlussreichen Titel The Id knows more than the Ego admits – plausibel zeigt, dass das subjektive Selbstgewahrsein unabhängig von der Großhirnrinde ist und mit den Primärprozessen des Hirnstammes korreliert, die sich auch bei Tieren finden.

    Nach Auffassung der Funktionalen Analyse sucht das Kind nicht ein Objekt, sondern eine bestimmte Selbsterfahrung mit dem Objekt, nicht einen Vater, sondern sich bevatert zu fühlen. Diese inneren Objektbeziehungen reorganisieren die Klienten ganz für sich allein. So wird es unter anderem bei der Arbeit am Bindegewebe mittels Points & Positions beobachtet.

    Die Klienten erfahren sich selbst auf ein neue Art und Weise und finden manchmal unmittelbar Zugang zu Selbstgewahrsein und implizitem Wissen. Schlüssel für alles ist in der Funktionalen Analyse die Ermöglichung einer sicheren Verbindung mit dem „Kern“, in dem alles Potential zu Reorganisation und Selbstheilung bereits vorliegt.

    Es hatte sich nämlich in Davis´ früheren Therapiesitzungen – zunächst ungeplant und unverstanden, immer wieder gezeigt, dass es über die Anregung des Instrokes möglich ist, auch solche Charakterstrukturen positiv anzusprechen, die unzugänglich für kathartische, konfrontative Arbeit sind, weil es ihre Abwehr mobilisiert. Nun hatte Davis einen Zugang „unterhalb“ der Abwehr gefunden, der effektive energetische Veränderungen erlaubte, jedoch ohne die Grenzen – intensives Erleben, oft aber nicht nachhaltig – und Gefahren – Dekompensation, Psychose – von kathartischen Entladungsmethoden.

    Stattdessen wird in der Funktionalen Analyse auf kathartische, expressive Arbeit ganz verzichtet, ebenso wie auf das gezielte Durcharbeiten der Vergangenheit oder von Problemen.

    Es geht in der Funktionalen Analyse bei der unmittelbaren Begegnung zweier Organismen in der Gegenwart eher um Resonanz, spontane Mitbewegung (Heisterkamp 1993) und unmittelbare Einfühlung in den Körperzustand des Klienten, als um das Verstehen einer Erzählung; um Emotion, Energie und Intention. „Don´t get lost in the content”, sagt Davis.

    Und obwohl der Fokus auf intrapsychische Prozesse gelegt wird, widmet er ein ganzes Kapitel den Fragen von Übertragung und Gegenübertragung, um die förderliche aufrichtige echte, von falscher positiver oder negativer Übertragung unterscheiden zu lernen. Auch in der Funktionalen Analyse benötigt man eine tiefe Vertrauensbeziehung zweier gleichwertiger Menschen als Fundament der Arbeit.

    Die Tatsache, dass Klienten innere Objekte ohne dialogischen Austausch tief reorganisieren – etwa die Beziehung zu den Eltern – oder spontan neue Grenzen setzen, mag dem einen oder anderen relational geprägten Leser fast unwahrscheinlich vorkommen.

    Hier mag man sich an Adlers Feststellung erinnern, dass die Änderung allein das Werk des Patienten sein kann. Davis zitiert immer wieder konkrete Aussagen seiner Patienten, in einem Fall zeigt er Fotografien von Körperhaltung und Ausdruck eines Patienten bei Beginn und nach einigen Monaten Funktionaler Analyse.

    Wegen der Identität von Psyche und Soma führt die unmittelbare Arbeit am Bindegewebe zu starken Veränderungen im psychischen Raum der Klienten. Diese reproduzierbare Erfahrung fasst Davis so zusammen: „Die Arbeit auf der plasmatischen Ebene ist die unmittelbare Arbeit am Leben selbst“ (S. 112). Er skizziert detailliert ein biologisches Modell, welches diese Veränderungen schlüssig erklärt.

    Form folgt Funktion sagt die Biologie und Davis erklärt: „Es ist schwer, sich eine Kuh vorzustellen, die sich wie eine Katze verhält und umgekehrt. Das energetische Funktionieren des jeweiligen Tieres bestimmt seine Körper- und Bewusstseinsform, die sich dann im Verhalten zeigt. Dasselbe gilt für uns Menschen.“ (S. 120). Und „Form“ ist Bindegewebe.

    Verschiedenste Arten von Bindegewebe (connective tissue, CT) umhüllen und formen menschliche und tierische Körper, es gibt ihm sein äußeres Erscheinungsbild. Ebenso schafft es alle Formen und Räume im Inneren, so dass jedes Organ, buchstäblich jede Zelle, ihren Platz hat. Zusätzlich verbindet, verkapselt und trennt das Bindegewebe verschiedene Teile und Organe des Körpers. Auch das Nervensystem besteht zu einem großen Teil aus Bindegewebe. Damit ergibt sich ein dreidimensionales, alles durchdringendes und alles verbindendes Bindegewebenetz im menschlichen und tierischen Organismus – und über das Cytoskelett bis hinein in jeden Zellkern.

    Ein wichtiger Punkt ist die schützende Reaktion des Bindegewebes auf physische und psychische Verletzungen und Belastungen und seine bedarfsabhängige Plastizität. So wie es aufgebaut werden kann, kann es sich auch abbauen, also unter bestimmten Bedingungen in seinen ursprünglich gesunden Zustand vor der Belastung zurückkehren (Thixotropie). Die Points & Positions-Berührungstechnik der Funktionalen Analyse wurde genau dazu entwickelt, diese Plastizität zu nutzen sowie die ursprüngliche bioenergetische Koordination des Organismus wiederherzustellen.

    Davis zeigt sehr überzeugend, dass Reichs ursprüngliches Konzept des Charakterpanzers nicht als Muskelapparat zu denken ist, sondern als historische Struktur des plastischen Bindegewebes, welche Adler als geronnene Bewegung erkannt hatte (Adler 1932 h). Unter normalen Bedingungen entspannen sich die Muskeln nach Ende einer Belastung und kehren in den Zustand vor dem Ereignis zurück. Falls die Anspannung aber nicht gelöst wird oder immer wieder erfolgt, kommt das Bindegewebe der gestressten Muskulatur zu Hilfe.

    Es bilden sich Bindegewebsfasern in der belasteten Region und bauen ein Stützungssystem für die Muskeln auf. Bindegewebe ist also eher historisch. Viele neurotische Mechanismen, der Charakterpanzer oder ein auf Dauer gestellter Alarmzustand des Nervensystems, sind somit chronische vegetative Bereitschaften, muskuläre und vor allem fasziale Haltemuster aus der präverbalen Zeit.

    Davis weist zusätzlich auf die Halbleiterqualität aller Arten von Bindegewebe dieser lebendigen Matrix hin, durch die ein stetiger Gleichstrom fließt und jeden beliebigen Punkt mit jedem beliebigen anderen instantan verbindet. Zusätzlich dazu besteht auch der größte Teil des Zentralnervensystems aus Bindegewebe.

    Auch das Gehirn und die Neuronen sind gefüllt mit grauer Substanz bzw. umhüllt von Myelinscheiden, die ein eigenes Netzwerk bilden, das Perineurium, welches ohne Nervenzellen auch elektrische Impulse aus Gleichstrom übermittelt. So stellt der plasmatische Körper etwa fest, ob und wo er verletzt wurde, ganz ohne Gehirn. Ein Verletzungsstrom hin zur Wunde ist messbar.

    Somit ergibt sich neben dem neuronalen, ein, den gesamten Körper durchdringendes plasmatisches Kommunikationssystem. Davis erkennt hier ein duales Nervensystem und zitiert einschlägige Untersuchungen verschiedener Biologen, die sich seit den 1990er Jahren zu diesem Modell ergänzt haben. Das plasmatische System wird von allen Lebewesen ohne Gehirn und Nervensystem genutzt (z.B. Amöben, Oktopusse).

    Außerdem spielt der Gleichstrom eine Rolle bei der Gesamtregulation von Bewusstsein, Schmerzempfinden und Schlaf. Davis vermutet hier einen Zusammenhang zum hypnagogischen oder tranceähnlichen Zustand (Instroke), den viele Menschen erleben, die mit der Points & Positions-Berührungstechnik behandelt werden.

    Zusammenfassend kann man sagen, dass in diesem Werk viele Fäden aus Psychologie, Tiefenpsychologie, Körperpsychotherapie, Energietheorie, Neurowissenschaft und Biologie schlüssig zu einem ganzheitlichen Ansatz zusammengeführt werden, der auch bislang unverstandene Phänomene von Selbstheilung und Interaktion erklären kann.

    Davis hat mit seiner Forschung über die Zusammenhänge von Charakterstruktur und Strukturen des Bindegewebes einen wichtigen Beitrag zu Adlers großer Aufgabe geleistet, den Organdialekt verstehen zu lernen.- Das Werk kann ohne Übertreibung als ein Meilenstein der Humanistischen Psychologie bezeichnet werden.
    _______________________________________

    Will Davis „Funktionale Analyse – Grundlagen und Anwendungen in der Körperpsychotherapie“ (Wissenschaft vom Lebendigen). € 39,90.
    Psychosozial-Verlag, Gießen, 2020. ISBN 978-3837929706

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/21 Will Davis: „Funktionale Analyse“
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Ein Brief an Reich

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Ein Brief an Reich

    von
    Peter Bolen:

    Lieber Wilhelm Reich!

    Zu Deiner Zeit hätte ich sicher Dr. Reich zu Dir sagen müssen – ich verwende gerne das alte, nicht mehr gebräuchliche große „D“ am Anfang des Du. Aber wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert und ein toter Guru ist ein guter Guru, weil er nicht mehr widersprechen kann. Apropos Wilhelm, ich habe sogar meinen Lieblingshund Willi nach Dir benannt. Aber beginnen wir mit dem Anfang, wie ich auf Dein Werk gekommen bin.

    Der erste Kontakt mit Dir war das Lesen eines Deiner Bücher, ich kann mich nicht mehr erinnern, welches es war. Es hat mich als achtundzwanzigjährigen, ehrgeizigen und damals sehr konservativen Assistenten an der psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik Wien fasziniert. Ich ging zu meinem damaligen Mentor, dem stationsführenden Dozenten Gustav Hoffmann und fragte ihn nach seiner Einschätzung von Reich.„Ach, der war ja verrückt!“ meinte Hofmann. Als autoritätsgläubiger junger Psychiater zu der Zeit der „heroischen Psychiatrie“, wie ich sie heute nenne, legte ich das Buch zu Seite.

    Damals, 1977, existierte an der Klinik die Psychotherapie irgendwo geheimnisvoll in der Peripherie, etwa wie das ungenaue Wissen über die Freimaurer oder über die Kabbala.

    Ein Oberarzt war Psychoanalytiker, ein gewisser Dozent Solms-Rödelheim. Die Psychoanalyse wurde vom Klinikleiter Hans Hoff geduldet. Sozusagen als Schutzschild gegen eine Kritik am Fortschritt durfte Solms ein Psychotherapieseminar für Klinikärzte (in dieser Gruppe gab es keine Frau) halten. Einmal die Woche, eine Stunde lang. Es war Magermilch, die ich schlürfte.- Wohin sollte ich mich wenden?

    Es gab damals in Wien, zum Ende der 60er Jahre nur zwei Psychotherapieformen. Die Psychoanalyse nach Freud und die Individualpsychologie nach Adler. Die eine wurde neben dem theoretischen Wissen durch eine hochfrequente Eigenanalyse – vier Stunden pro Woche – erlernt und dauerte viele Jahre. Die Individualpsychologische Analyse erforderte lediglich eine Sitzung pro Woche. Beides konnte ich mir damals nicht leisten.

    Ich hatte schon als Werkstudent geheiratet und wir hatten noch während meines Studiums zwei Kinder. Die Arbeit als Fremdenführer während meiner Studentenzeit war einträglicher gewesen als die Arbeit an der Klinik. Außerdem wusste ich damals zu wenig über die Unterschiede zwischen diesen psychotherapeutischen Verfahren. Sehr viel später, mit 50 Jahren, nachdem ich bereits zwei psychotherapeutische Ausbildungen absolviert hatte und dabei war, eine körperpsychotherapeutische Schule zu gründen, machte ich aus Neugierde eine klassische Psychoanalyse.

    Es gab an der Klinik einen einzigen Adlerianer, das war Erwin Ringel. Ich hatte das Vergnügen, während meiner Zeit an der Station für Schädel-Hirn Rehabilitation nur ein Zimmer von Ringel entfernt zu arbeiten. In der Früh nahmen wir gemeinsam das Frühstück in einer kleinen, dazwischen liegenden Teeküche ein. Für mich war es eine sehr bereichernde Begegnung, da ich so viele Anekdoten aus erster Hand erfuhr, die er später als Arzt der österreichischen Seele publiziert hat. Eine möchte ich hier bringen….

    Ringel erzählte mir über die Begegnung mit einem Schweizer Psychiater namens Blum. Der hatte noch seine Analyse direkt bei Freud gemacht. Ringel fragte Blum neugierig: Erzählen sie doch, wie war Freud persönlich in der Analyse? Blum antwortete: Freud ist erregt während der Stunde auf und ab gegangen, hat an seiner Zigarre gezogen und hat doziert. Ich bin kaum zu Wort gekommen.

    Das war für mich eine herrliche Geschichte, hat aber mein Wissen über die Psychoanalyse nicht vermehrt. Ein einziger Arzt an der Klinik, Otto Presslich, ein EEG-Fachmann, hat damals eine Psychoanalyse gemacht. Ein oder zwei Jahre später las ich ein Buch von einem gewissen George Bach aus den USA, der die sogenannte Aggressionstherapie entwickelt hatte. Ich lud ihn, damals schrieb man noch Briefe, zu einem Workshop nach Wien ein.

    Am Flughafen, wo ich ihn gemeinsam mit meiner damaligen Frau Inge abholte, schockierte er mich zweifach. Auf dem Foto, welches ich von ihm besaß, trug er keine Brille. In natura trug er eine starke Starbrille, so dick wie wir sie im Wienerischen Glas-Aschenbecher nennen. Und zur Begrüßung griff er vor meinen Augen mit beiden Händen an die Brust meiner Frau.

    Ich war zu schockiert, um zu reagieren. Im Workshop lernten wir mit Batakaschlägern auf uns einzuhauen, um unsere Aggressionen abzureagieren. Auch der Wiener Bioenergetiker Waldefried Pechtl war damals von Bach fasziniert. Der etwaige Wert dieser Therapie war schnell verblasst. Bach war wohl ein finanzielles Genie. Er hat sich in den USA einige ausrangierte Schlafwagenwagons gekauft, um dort die Teilnehmer seiner Workshops unterzubringen.

    Das nächste Hineinspüren in die Welt der Psychotherapie war der Auftrag von Hoff an mich, eine Schizophrenie-Gruppe einzurichten. Ich hatte zur damaligen Zeit zwar einige Erfahrung mit schizophrenen Patienten, aber keine Ahnung von Gruppenarbeit. So bin ich zuletzt mit dem Oberarzt Bruck in den Schizophrenie-Gruppen gesessen und jedes Mal fast eingeschlafen. Chronisch Schizophrene haben eine Antriebsstörung und äußern sich daher spärlich.

    Ich habe diese Idee der Therapie aufgegeben. Typisch für die damalige Zeit war der nächste Auftrag von Hoff, ich möge eine Psychodramagruppe an der Klink einführen. Eine Burgtheaterschauspielerin, eine Patientin von Hoff, sollte mir dabei helfen. Ich hatte keine Ahnung von Psychodrama und nach zwei Gruppensitzungen beendeten wir das Experiment.

    Dann kam Raoul Schindler vom Steinhof und bot ausschließlich für Psychiater die Teilnahme an einer Gruppentherapie an. Die Sensation war, dass es gratis war, da Schindler noch experimentierte.

    Die Gruppe lief ein Jahr und war in meinen Augen ein Fehlschlag. Schindler war sehr passiv-analytisch, später hat er allerdings gute Interventionen für Gruppen erarbeitet. Die damals teilnehmenden Ärzte waren, so wie ich, sehr zurückhaltend und keiner wollte etwas von sich preisgeben. Wir wollten vor allem andern zuhören.

    Meine erste wirkliche Ausbildung in der Psychotherapie begann in den gruppendynamischen Seminaren von Alpbach, wo Schindler die einmal jährlich stattfindenden Wochenseminare initiiert hat. So kam ich zu meiner ersten Graduierung als dynamischer Gruppenpsychotherapeut.

    In Alpbach erlebte ich unter der Leitung von Richard Picker meine erste Gestaltgruppe. Picker war in Deutschland von Hilarion Petzold, der ebenso wie Picker früher Priester war, ausgebildet worden. Kurz darauf begann in Österreich die erste Gestalt Ausbildungsgruppe, die vom IGW-Würzburg angeboten wurde. Der Begründer dieses Institutes, Hans Jürgen Walter, hatte sich im Streit mit Petzold von ihm abgespalten.

    Ein klassisches Thema in der Psychotherapiegeschichte. Dort sind Schulen entweder Biografien oder Autobiografien. Die stärksten Schüler spalten sich im ödipalen Streit von ihrem Lehrer ab und gründen eine eigene Schule. So war es auch bei Freud. Er hat sowohl

    • Wilhelm Reich (seine Arbeiten über Sexualität und den Marxismus)
    • Alfred Adler (nicht der Ödipus Konflikt steht im Zentrum des Menschen, sondern der Wille zur Macht)
    • Fritz Perls (der Begründer der Gestalttherapie, die viel dynamischer als die Analyse verlief) und letztlich
    • Otto Rank (das wichtigste Trauma des Menschen ist die Geburt) durch Zurückweisung vergrault.

    Natürlich bin ich heute froh, Dich, lieber Wilhelm Reich, nicht persönlich gekannt zu haben. Wir hätten uns bald zerstritten, weil Du, so wie auch Freud, ein patriarchalischer, autoritärer Lehrer gewesen bist – Kinder eurer Zeit – und zweitens, weil ich bis heute ein ewiger Rebell geblieben bin.

    An der Gestalt-Ausbildung wollte ich unbedingt teilnehmen. Mich faszinierte Fritz Perls, und mir schien sein Ansatz sehr interessant zu sein. In diese Gruppe hineinzukommen, die bereits ein Ausbildungswochenende hinter sich hatte, war jedoch für mich nicht so einfach. Um das zu verstehen, muss ich die Vorgeschichte erzählen….

    Ich war mittlerweile von der Klink weggegangen und leitender Chefarzt der Wiener Gebietskrankenkasse geworden. Zu meiner Verantwortung gehörten neben anderen Aufgaben die Leitung aller Ambulatorien der Kasse in Wien. Dazu gehörten vier Großambulatorien und einige kleine, wie das von Strotzka ursprünglich als Ambulanz in der Strohgasse gegründete psychotherapeutische Ambulatorium in der Myrthengasse.

    Dort waren Kämpfe gegen den neu nominierten Primarius Till Tesarek ausgebrochen.- Shaked, ein dort arbeitender Gruppenanalytiker hatte sich auch für diesen Posten beworben – und die Wahl von Tesarek war für ihn ein Affront. Tesarek war Psychiater und Neurologe, aber wie fast alle Psychiater damals, hatte er keine psychotherapeutische Ausbildung. Eine von Shaked geleitete Gruppe solidarisierte sich mit ihm und begann über die Presse ihrem Protest gegen die Fehlbesetzung Ausdruck zu geben.

    Der damalige Obmann der WGKK, der „Metaller“ Sekanina, der später als Bautenminister gehen musste, sagte zu mir: Peter, was sollen wir machen? Was ist in dem Ambulatorium los? Ist das ein Debattierklub? Wir sind ja als Kasse nicht gezwungen, so ein Ambulatorium überhaupt zu betreiben. Schließen wir es einfach.

    Das war meine Chance: Karl, lass mich das machen. Ich bin Psychiater und Psychotherapeut und ich würde neben meiner rein administrativen Tätigkeit auch gerne direkt mit Patienten arbeiten. Mach mich dort zum Primarius.- Und so kam es auch.

    Tesarek bekam zum Trost das Primariat im Jugendambulatorium und ich im Psychotherapie-Ambulatorium. Für die Kasse ein Gewinn, da ich beide Funktionen mit dem gleichen Monatsbezug erfüllte.

    Neben meinen persönlichen Ambitionen habe ich natürlich daran gedacht, dass es damals keine Psychotherapie auf Krankenschein gab und diese Einrichtung der Kasse zumindest der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein war.

    Tatsächlich gab es damals für Psychiater und Neurologen mit einem Kassenvertrag eine Abrechnungsposition für Psychotherapie, ohne dass diese Fachärzte irgendeine Ausbildung in Psychotherapie gehabt hätten. Psychologen oder andere Berufe wie Pädagogen oder Sozialarbeiter, die eine Psychotherapieausbildung vorweisen konnten, hatten keine Chance, mit der Kasse abrechnen zu dürfen.

    Die Aufgabe, um die ich mich so gerissen hatte, war aber eine gigantische. Es stellte sich heraus, dass von den angestellten Psychiatern außer Shaked, niemand eine Psychotherapieausbildung besaß. Dem Zeitgeist entsprechend nahm man an, dass die Psychiater die Fähigkeit zum psychotherapeutischen Handeln quasi mit der Muttermilch eingesogen hätten und keine Ausbildung dafür benötigten.

    So versetze ich eine Psychiaterin in ein anderes Ambulatorium und schickte eine Testpsychologin in Pension. Eine andere Psychiaterin wechselte in das psychiatrische Krankenhaus am Steinhof. Shaked ging gekränkt von selbst, wobei ich ihn persönlich gerne als Fachmann behalten hätte.- Ich wollte mit einem neuen Team beginnen.

    Das Ambulatorium in der Myrthengasse war viel zu klein, und ich suchte größere Räume. Es gelang mir das ganze oberste Stockwerk des Großambulatoriums in der Mariahilfer Straße 86 als Räumlichkeit zu bekommen. Aber ich hatte noch nicht das geeignete Personal.

    Nachdem ich die Stellen ausgeschrieben hatte, meldete sich ein junger Mann aus Salzburg, der Psychologie studiert hatte. Er kam in einem grünen Lodenmantel und stellte sich vor: Mein Name ist Dr. Pritz und ich bin Spezialist für die Therapie mit alten Menschen.

    Meine Antwort war: Lieber Alfred, ich kenne dich von Alpbach her. Du bist herzlich willkommen. Mein Plan war zunächst einen geeigneten Kandidaten zu finden und dann gemeinsam mit diesem die nächsten Kandidaten auszuwählen. Damit wollte ich eine homogene Gruppe schaffen, die gut miteinander auskommen würde.

    Das zweite Ziel war, möglichst viele Vertreter von Psychotherapieschulen in meinem Ambulatorium zu haben, da ich der Meinung war und bin, dass sich für verschiedene Patienten, verschiedene Psychotherapieansätze eignen. Die zweite Angestellte war folgerichtig die Verhaltenstherapeutin Maderthaner. Wir haben dann gemeinsam auch Vertreter der Psychoanalyse, des Psychodramas, der Gestalttherapie und zuletzt noch einen Körperpsychotherapeuten, einen ehemaligen Schüler von mir, Wolfram Ratz, angestellt. Bei meiner Pensionierung hatte das Ambulatorium sechzehn Mitarbeiter. Soweit die Vorgeschichte.

    Nun bestand die Gestalt-Ausbildungsgruppe vorwiegend aus Mitgliedern der ehemaligen Gruppe von Shaked, die dafür gekämpft hatten, dass er das Primariat bekommen sollte. Ich war sozusagen der etablierte Konservative und der politisch gut vernetzte Klassenfeind. Etwa zwanzig Jahre älter als die meisten Teilnehmer. Noch dazu war auch Alfred Pritz mit in der Ausbildung. Es war eine wahre Schlacht in der Gruppe. Ich habe es letztendlich geschafft, aufgenommen zu werden.

    Lieber Wilhelm Reich, jetzt kommen wir zu der zweiten Begegnung mit Deiner Arbeit. In der Gestaltausbildung hatten wir verschiedene Trainer. Einer, der für mich eine besondere Bedeutung bekommen sollte, war Michael, Mike Smith. Das Seminar begann mit einem Schock für die Teilnehmer. Ein Gruppenmitglied, später ein Analytiker namens Martin Hoffmann, meldete sich als erster Kandidat für die Demonstration.

    Mike sagte: Zieh dich aus! Ich spürte die Aufregung unter den Gruppenmitgliedern. We are all brothers and sisters sagte Mike. Er forderte Martin auf, sich auf die Matte zu legen und begann mit seiner Körperarbeit. Ich war fasziniert. Durch die Körperarbeit einen Zugang zu seelischem Traumen zu bekommen, war für mich sehr eindrucksvoll.

    Am Ende der Demonstration gab es einen Aufruhr in der Gruppe. Etwa die Hälfte fand den therapeutischen Ansatz von Mike als zu autoritär und Grenzen überschreitend. Die halbe Gruppe reiste unter Protest ab. Ich selbst blieb und bin seither dem Körperansatz treu geblieben. Ich folgte Mike nach Kalifornien.

    Bei einem von mehreren Aufenthalten an der Lomi School in der Bay Area von San Franzisco, wo ich Körperarbeit lernte, begann Mike einen Workshop mit den pathetischen Worten: Was ich euch jetzt zeige, ist nicht irgendeine Körperarbeit, sondern Reichianische Arbeit!

    Mike hatte von dem Pianisten und späteren Begründer des streaming theater, Al Bauman, Reich´sche Körperansätze in der Therapie gelernt. Nun war Al Bauman keineswegs ein Reich-Schüler, sondern ein ehemaliger Klient von Simeon Tropp, der seinerseits Schüler Wilhelm Reichs war. Dennoch war es für mich spannend und wohltuend wieder mit Dir, lieber Wilhelm Reich, über große Umwege in Kontakt zu kommen.

    Ich habe viele Seminare für Mike in Österreich organisiert und von ihm gelernt. Natürlich auch, wie man manches nicht machen sollte. Mike war weder Psychologe noch Psychotherapeut, hatte aber Charisma und eine glühende, aus meiner Sicht auch unkritische Verehrung für Reich.

    Doch die Begeisterung kommt als Erstes, später die Infragestellung. Nicht nur ein ödipaler Konflikt, sondern eine Verarbeitung und eine Durchleuchtung des Gelernten durch den Verstand und die eigene Erfahrung.
    Ich habe alle Deine Werke, die politischen, die vegetotherapeutischen und die orgonomischen gelesen und das Wilhelm Reich Institut in Wien gegründet.

    Die Kritik an Dir, lieber Wilhelm Reich, kam leise, aber konsequent. In den 70er Jahren nannte wir uns absichtlich Körpertherapeuten und nicht Körperpsychotherapeuten. Wir stellten uns bewusst gegen Freud und gegen die Psychoanalyse. Gegen das verstaube Alte, das Überholte. Gegen bürgerliche Zwangsmoral, die im Faschismus mündete. Wir waren für eine revolutionäre, dynamische Therapie. Dann kam es in den meisten Schulen, nicht in allen, zu einem Paradigmenwechsel.

    Als langjähriger Präsident der europäischen Vereinigung der Körperpsychotherapeuten (EABP), die in den 80er Jahren bereits sechsunddreißig Schulen umfasste, hatte ich eine gute Übersicht über die Entwicklung der Methode.

    Gerda Boyesen in England, David Boadella in der Schweiz und ich in Österreich suchten sensiblere Ansätze in der Körperarbeit. Der Patient sollte nicht in Stresssituationen gebracht werden, um zu entladen. Neuere Erkenntnisse über Charaktere, z.B. über die Borderlinestruktur zeigten, dass die Anwendung der Reich´schen Vegetotherapie aus den 40er Jahren nicht bei allen Patienten angewendet werden konnte, ohne sie zu schädigen.

    Ich habe meinen Ansatz „Emotionale Reintegration – der sanfte Weg“ genannt. Neu war die Gelenksarbeit und der Instroke, ein Begriff, der von Will Davis geprägt wurde. Es geht je nach Befinden des Patienten nicht um das Ausagieren (Outstroke), sondern es gilt ihn zu unterstützen, wenn er sich sammelt und das Bedürfnis hat nach Innen zu gehen.

    Lieber Wilhelm Reich, was wurde nicht alles unter Deinem Namen verbrochen. Du wurdest aus dem Zusammenhang zitiert, falsch ausgelegt und Deine Methoden von unqualifizierten Verkäufern vermarktet.

    Ich persönlich konnte Dir bei Deinen orgonomischen Forschungen nicht folgen. Meiner kritischen Sicht hielten Deine Forschungsergebnisse nicht stand. Ja, ich weiß, dass die wissenschaftlichen Standards Deiner und auch meiner Hochschulzeit mit der heutigen Forschung nicht mehr mithalten können. Das trifft nicht nur auf Dich, sondern auch auf Freud zu. Die erste Publikation Freuds über die Hysterie umfasste gerade 16 (!) Fälle. Auch ich habe in meinen ersten wissenschaftlichen Publikationen eine geringe Fallzahl für auseichend gehalten.

    Aber wie Freud, hast auch Du ein Gespür dafür gehabt, was „Kern der Sache“ ist. Zur Wiederkehr Deines einhundertsten Geburtstags habe ich in Wien einen Kongress veranstaltet, zu dem ich eine Rede im Rahmen der sogenannten Wiener Vorlesungen im Rathaus gehalten habe. Dort kam aus dem Publikum wieder einmal die rhetorische Keule: Er war ja verrückt!

    Dieses Verrücktsein bezieht sich historisch auf Deine paranoiden Vorstellungen am Ende Deines Lebens. Wessen Bücher zweimal verbrannt worden sind – in Deutschland und in den USA, wer von den Nazis und von McCarthy verfolgt wurde, einmal als Jude, das andere Mal als Marxist, obwohl Du Dich vom Stalinismus als roten Faschismus distanziert hast – der darf ein wenig paranoid sein.

    Natürlich kann man Shakespeare als Trunkenbold bezeichnen. Dies tut jedoch der Genialität seines Werkes nichts an. Tragisch Dein Tod im Gefängnis, wohin man Dich wegen Missachtung des Gerichtes eingesperrt hatte. Du hast Dich geweigert, Dich mit einem Richter in eine wissenschaftliche Diskussion einzulassen.

    Lieber Wilhelm Reich! Tieferes Wissen über Mathematik, welches auch ich nicht besitze, hätte Dein Lebenswerk auf festere Füße gestellt. Ilya Prigogine hat für seine Forschungen über Selbstorganisation und dissipative Strukturen zwanzig Jahre nach Deinem Tod den Nobelpreis erhalten. Eine Ironie des Schicksals. Du bist im Gefängnis gestorben.

    In diesem Sinne, weiterhin sehr begeistert,
    Dein
    Peter Bolen

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Ein Brief an Reich
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Erinnerungen an Dr. Alexander Lowen

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Meine liebsten Erinnerungen an Dr. Alexander Lowen

    von
    Stefanie Estermann-Lagally:

    Im Oktober 1997 (Dr. Lowen war damals 87) geriet ich während meines Management- und Sprachstudiums an der Pace University, NY, aufgrund des faszinierenden kulturellen Überangebots in Manhattan in eine kleine Geldnot und machte mich auf die Suche nach einem Job. Mein damaliger Freund Felipe De Campus D’Utra Vaz, der inzwischen selbst Therapeut ist, riet mir: „My teacher Dr. Lowen is looking for a cleaning woman….“, und schon hatte ich seine Adresse, Telefonnummer und kurz darauf einen Termin.

    Ich wusste, dass mein Freund bei ihm Bioenergetik studierte, wusste über Freud und Reich Bescheid, hatte aber keinen blassen Schimmer von Körperpsychotherapie, und schon gar nicht war mir klar, dass Dr. Lowen direkt von Wilhelm Reich gelernt hatte, um anschließend seine eigene therapeutische Richtung, die Bioenergetische Analyse, zu entwickeln.

    Das Vorstellungsgespräch verlief offen, unkompliziert und freundlich und so bekam ich die Stelle, sein Büro und den Therapieraum im IBA (Institute for Bioenergetic Analysis) zu putzen. Ich tat dies meist außerhalb seiner Praxiszeiten, sodass ich in Ruhe die Bücher bewundern konnte, die im Regal zu finden waren: Joy, Love and orgasm, Fear of life, Narcissism – denial of the true self, The Language of the body….. neugierig fing ich an zu schmökern.

    Einmal erwischte er mich beim Lesen, wo ich doch hätte putzen sollen – ich erschrak und er lachte sich kaputt über meine „body reaction“, signierte das Buch und erlaubte mir von jedem Titel eine deutsche und eine englische Kopie mit nach Hause zu nehmen, die ich natürlich heute noch alle in Ehren halte. Berührt von seiner Großzügigkeit und seinem Humor traute ich mich, ihm Fragen zu stellen, wenn er in der Praxis war und so kamen wir ins Gespräch. Er bemerkte meinen Wunsch nach Weiterentwicklung und schickte mich zu einem berühmten „shrink“ in Manhattan, zu Dr. Len Hochman (1934-2009), der mir anhand von Provokationstherapie wie man auf österreichisch so schön sagt „die Wadln viri richtete“.

    Eines Tages erkrankte Lowens Sekretärin für längere Zeit und er bat mich einzuspringen. Als bereits fertig ausgebildete Europa-Sekretärin fiel mir dies leicht und so durfte ich bald seine Seminare organisieren, ihn zu diesen auch begleiten, seinen Terminkalender führen und in seinem Büro die Anrufe vieler verzweifelter Menschen auf der Suche nach Wohlbefinden entgegennehmen. Neben meinem Schreibtisch saß auf einer Stange ein Papagei, der den ganzen Tag und wohl über Jahre die lauteren Sätze der PatientInnen mit anhörte.

    Da sich gewisse Aussagen doch wiederholten und Dr. Lowen seine Klienten oft bat, ihre Wut zum Ausdruck zu bringen, indem sie auf ein Kissen schlagen und dabei rufen sollten „I hate you!“ und „Leave me alone!“, waren diese beiden Rufe diejenigen, die der Papagei am besten von sich geben konnte. Es war manchmal nicht leicht, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, da ich so viel lachen musste, wenn der Papagei neben mir schrie: „I hate you! I hate you! Leave me aloooooone!!!!“ und dabei seinen Kopf ruckartig vor und zurück bewegte.

    Einmal war ein Patient bereits am Gehen und Dr. Lowen begleitete ihn noch zur Tür. Der Mann drehte sich dort noch einmal um und flüsterte mit einem schuldbewussten und leicht verzweifelten Ausdruck: „You know, my new girlfriend and me…. ehem…. we do crazy stuff…. I mean we really explore each other’s bodies!?!?” Dr. Lowen riss seine Arme in die Luft, breitete sie aus als wolle er gen Himmel beten, ließ den Kopf nach hinten fallen und rief: „But that’s wonderful!! Just keep going!!“ Der Patient kam nie wieder.

    Dr. Lowen hatte ein unglaubliches Einfühlungsvermögen – allein was er in den Augen der PatientInnen sehen und lesen konnte, faszinierte mich. Ich wünsche mir eines Tages als Körpertherapeutin, die ich inzwischen geworden bin, so viel WAHRzunehmen wie er es tat.

    Ich durfte Dr. Lowen bis zum Ende meines Visums im April 1998 assistieren und denke nach wie vor mit wohliger, warmer Freude an diesen humorvollen, interessierten, neugierigen, herzensoffenen, freundlichen und großzügigen Mann.
    ___________________
    Kontakt: Stefanie Estermann-Lagally, M.A.; www.neueschritte.at

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Erinnerungen an Dr. Alexander Lowen
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Nachruf auf Wolf Büntig

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Wolf Büntig (1937-2021)

    Erinnerungen an eine eindrucksvolle Begegnung
    von
    Günter Reissert:

    Was ist wichtiger oder höher einzuschätzen: Das Sein oder die Unversehrtheit? Diese Frage stellte Wolf Büntig einer Gruppenteilnehmerin, nachdem diese mehrfach ihre Erbschafts- und Familienprobleme in der Gruppe thematisiert hatte. Die Familienbeziehungen behinderten jeden Versuch, ihre Position zu ändern und die dahinterliegenden schmerzlichen Erfahrungen und verdrängten Sichtweisen neu zu ordnen; sie führten immer wieder zur selben Thematik.

    Es schien, als wäre ein gordischer Knoten in ihrer Seele, der mit keiner noch so geschickten Analyse, emotionaler Aktivierung und Fokussierung auf Ressourcen im „Hier und Jetzt“ zu lösen wäre.- Büntig blieb letztendlich nur mehr der Griff in die Kiste seiner eigenen Lebenserfahrung und die Konfrontation mit dem augenscheinlich nicht Vermeidbaren: der Akzeptanz einer nach wie vor schmerzhaften Situation.

    Büntig hat in den letzten Jahren seiner psychotherapeutischen Tätigkeit aus einer großen Methodenvielfalt geschöpft. Ich hatte den Eindruck, dass er alle Schulen nützte, die ihm und seiner Sichtweise vom Menschen und dem Leben sinnvoll erschienen. Seine psychotherapeutische Fachrichtung ist die in Deutschland anerkannte Tiefenpsychologie. In der Gruppenarbeit verschmolz er sie mit gestalttherapeutischen, körpertherapeutischen, systemischen und Psychodrama-Elementen.

    Ich habe im ZIST an einer dreijährigen Gruppe „Autonomie – Treue zum Wesen und Entfaltung von Eigenart“ von 2010-2012 teilgenommen und durfte ebenfalls einiges an „Konfrontation mit dem augenscheinlich nicht Vermeidbaren“ mitnehmen. In meiner Erinnerung nicht unbedingt mild, aber wirksam…. Ich glaube es war 2009, als ich im Radiokulturhaus-Programm las, dass Wolf Büntig dort den Fragen von Johannes Kaup Rede und Antwort stehen würde.

    Sofort lebte in mir eine frühe Erinnerung als „Schwarzhörer“ an der obersten Hörsaaltüre im Wiener AKH auf. Ich war im Jahr 1983 Zivildiener beim Roten Kreuz, hatte eben einen Patienten im Wiener AKH abgesetzt und durch einen Plakataushang wahrgenommen, dass in einem Hörsaal über Psychosomatik referiert werden würde. Im obersten Rang des Saales reinzuschlüpfen war mit Rotkreuzuniform leicht.

    Ich gelangte genau zu Büntings Vortrag. Es beeindruckte mich, wie er über seine Behandlungsmethoden, die nicht zuletzt auch körpertherapeutisch ausgerichtet waren, sprach. Er berichtete über Behandlungen seiner Krebspatienten und wie wichtig es sei, dem Hoffnungsaspekt und jedem Funken von Lebensbejahung nachzugehen.

    Büntigs damalige Vermutung, dass es eine Abstufung von Patientensichtweisen und -einstellungen zu ihrem Leben im jeweiligen aktuellen Kontext gibt (bspw. Aufgaben, die noch zu bewältigen wären, oder eine kämpferische Einstellung gegenüber der Krankheit oder eben die Selbstaufgabe), die eine direkte Korrelation zur Überlebenschance haben sollen, ist heute in vielen Studien falsifiziert. Dennoch entbehrt sie nicht einer gewissen Plausibilität….

    Offensichtlich hat Büntig diese Sicht mit dem Umgang des „Prinzips Hoffnung“ – immer fokussiert auf das „Hier und Jetzt“ in der Eigenleiblichkeit, dabei stets auf der Suche nach den Möglichkeiten, bis zuletzt interessiert. Ich erinnere mich an das o.e. Interview mit Johannes Kaup, der in seiner Profession gut vorbereitet, einige Fragen in Manier einer „allgemein verständlichen Psychologie“, stellte. Büntig hatte sich dabei vor dogmatischen Antworten gehütet, vielleicht sogar gedrückt, beharrlich gedrückt.

    Er erzählte über den Umgang mit Aggression und dass ein ihm bekannter Tischler einem Mann, der mehrfach übergriffig in seiner Werkstatt agierte, nach der dritten Verwarnung tätlich entgegentrat („Wer nicht hören will ….“?). Sein Verständnis lag eindeutig auf Seiten des Tischlers…. Büntigs Sichtweise war sehr von der Einfachheit klarer Regeln und des sittlichen Umgangs in gegenseitigem Respekt geprägt. Da war nichts Beschönigendes und wenig Nachsicht mit schlechtem Benehmen.

    Aber darüber hinaus war es Büntig besonders wichtig, auf die Fähigkeiten und Potentiale, die in jedem Menschen stecken – und dass sich auch die Suche danach auszahlt, hinzuweisen. Mit Kaups vorbereitetem Fragenkatalog haben Büntigs Antworten nicht immer zusammengepasst.

    Als Kaup wieder eine Frage nach der Depression als Volkskrankheit und möglichen Ursachen zurückführen wollte, antwortete Büntig: Ja, das ist ernstzunehmend mit der Depression, da gibt es doch einige Vermutungen dazu, …. aber mich interessieren vielmehr die Potentiale der Menschen – lassen Sie uns über die Potentiale reden. Ich hätte ihn küssen können! Das war der Moment, wo ich beschloss, ihn nach dem Vortrag über seine Arbeit und Angebote im ZIST – seinem Zentrum für Selbsterfahrung und Fortbildung, zu fragen. Er bot mir die o.e. Dreijahresgruppe an.

    Und es wurde eine dichte Zeit. Büntig eröffnete die Gruppe mit der Vorstellung seiner Person: Ich bin Wolf Büntig, ich bin Arzt und Unternehmer. Das hat mich anfänglich ein wenig befremdet – in Kombination mit seiner sachlich distanzierten Art, sogar sehr befremdet. Den Gruppenablauf hat er so beschrieben: Am Vormittag mischt Euch meine Frau mit ihren Impulsen auf, ich übernehme den Nachmittag und räume zusammen. Die Gruppe hatte eine deutliche Dynamik; Grüppchenbildungen und „Seilschaften“ wechselten rasch.

    Fünfundzwanzig Personen, davon zwei Drittel Frauen, der Rest Männer. Zwei Männer hatten gleich nach der ersten Woche wieder die Segel gestrichen, eine Frau ist nach einem Jahr dazu gekommen. Wir unterschrieben jedoch alle eine „Verpflichtungserklärung“, an allen drei Jahren – jeweils zwei Wochen geblockt pro Jahr, lückenlos teilzunehmen. In der Praxis ging‘s dann nicht mehr ganz so streng zu, aber immerhin: eben auch ein Unternehmer.

    Ich erinnere mich noch deutlich an diese Atmosphäre von klarer, fast aufdringlicher Struktur und gleichzeitig selbstverständlichem Respekt vor der eigenen, individuellen Entscheidung. Büntig goutierte ein verspätetes Erscheinen in der Gruppe nicht, er versagte sogar die Teilnahme an der Morgenmeditation, dem „Stillsitzen“, wenn jemand zu spät eintraf (nur manchen Frauen gegenüber schien er eine größere Toleranz zu haben…).

    Aber dennoch: eine Gruppensession oder einen Tag auszulassen, am gemeinsamen Essen nicht teilzunehmen (es war mein erstes, rein vegetarisches Essen, das abwechslungsreich und köstlich war!), tat der Gruppenmitgliedschaft keinen Abbruch. Die Freizeit war ohnehin selbstbestimmt und der Abend durchaus immer wieder mit gemeinsamen Alkoholkonsum getränkt.

    Büntig hatte in seinen jungen Therapeuten-Jahren intensiv körpertherapeutisch und soviel ich weiß, auch auf der Matte gearbeitet. Er beschäftigte sich ausgiebig mit Wilhelm Reich und deutete an, vieles von ihm gelesen zu haben. Er rezitierte (ich erinnere mich nicht mehr an den Zusammenhang) einmal die Kernaussage der Massenpsychologie: Jedes System schafft sich seine Charaktere, die es zu seiner Erhaltung benötigt.

    In der Gruppe verschmolz er systemische Techniken mit „sanftem Embodyment“. Er führte immer wieder zurück zu den Phänomenen, zu dem offensichtlich Hör,- Fühl- und Sichtbaren der Teilnehmer*innen. Aus der aktuellen Position ließ er Gesten und Körperhaltungen überspitzen, aber auch darstellend zum Ausdruck bringen, um sie in der Eigenwahrnehmung wieder rückzukoppeln.

    Er setzte seine Analysen – aus der tiefenpsychologischen Profession kommend hatte er sie jederzeit parat – hauptsächlich dafür ein, andere Perspektiven und Positionen in unsere individuellen Lebensgeschichten hereinzunehmen. Es war ihm wichtig, Zusammenhänge, die erst aus der Synthese des aktuellen mit dem historischen Lebensumfeld verständlich werden, transparent zu machen.

    Deutungen verwendete er ausschließlich, um seine Vermutungen zu verifizieren, behielt sie aber zumeist für sich. Ich werde nie vergessen, wie er sich einmal so outete: Ich treffe ja den Kern eines Problems gar nicht so genau. Ich schieße immer eine Menge Pfeile ab, und einer wird dann schon treffen…! und schmunzelte dabei sichtlich belustigt.

    Auf der Suche nach individuellen Wegen zur Erweiterung des Selbstverständnisses und einer dichteren Integration der persönlichen Lebensgeschichte verwendete er intensiv die szenische Darstellung alternativer Positionen. Er lud immer wieder ein, körperlich die Position zu ändern und bot dabei jedem/r von uns immer wieder sein „bleib dabei – ich bleib auch dabei“ an.

    In seiner Routine klang dies manchmal ein wenig inflationär. Der Spruch veranlasste mich auch außerhalb der Gruppensitzungen bei den abendlichen Plaudereien mit vollem Glas in der Hand zu sagen: „Bleib dabei – ich bleib auch dabei“. Dem „Alten“ gegenüber zwar ein wenig rotzig, aber das darf auch manchmal sein! Dennoch, in der Rückschau betrachtet, ist dies ein guter Spruch, ein feines Angebot, welches er auch immer wahrgemacht hat.- Aus Sicht der modernen integrativen Therapie („IT“) würde ich Büntigs Arbeit heute als Arbeit des „Menschen als Körper-Seele-Geist-Subjekt im Kontext und Kontinuum“ bezeichnen. Büntigs Arbeit war hochintegriert.

    Büntig hat mehrere Bücher und eine Reihe von Artikeln verfasst; im Eigenverlag hat er auch Bücher zur Einführung in die Bioenergetik herausgegeben. Bereits 1992 wurden Workshops von ihm in Bukumatula angekündigt und 2012 stimmte er auch der Veröffentlichung eines seiner Artikel darin zu. Im jährlichen Programmheft des ZIST veröffentlichte er regelmäßig Aufsätze und Reflektionen zu aktuellen Themen psycho-physischer Belange im gesellschaftlichen Kontext.

    Er hat – wie viele erfahrene Therapeut*innen (und vielleicht auch analog zur Wirkungsgeschichte Wilhelm Reichs?), den Menschen immer vor dem eigenen Erfahrungshintergrund im aktuellen gesellschaftlichen Kontext gesehen. Es war ihm sehr bewusst, dass manche Änderungen persönlicher Geschichten erst durch Änderungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext möglich werden.

    Nicht zuletzt zu den aktuellen Entwicklungen der Psychotherapie, die seit einigen Jahren sehr gerne als „psychotherapeutische Wissenschaften“ bezeichnet werden, hat er Stellung bezogen. Im ZIST-Programmheft 2019 setzt er sich in einem Aufsatz zum Thema „Wissenschaft als Glaube“ auseinander. Die Gedanken dazu fasst er komprimiert folgendermaßen zusammen: Wenn Ihr Euch durch Wissenschaftlichkeit gegen die Unsicherheit des Lebens versichern und Euch dem unsicheren Leben nicht hingeben wollt, werdet bitte keine Therapeuten!

    Ich konnte es mit ihm leider nie austauschen, aber aus manchen Sätzen vermeinte ich zu entnehmen, dass er in seinen Begleitungsangeboten innerlich stets eine spirituelle Dimension hinzunahm. Er begab sich jedenfalls noch im fortgeschrittenen Alter auf den Weg von „Diamond Approach“, einer Gemeinschaft zur Förderung der persönlichen Entwicklung, jenseits aller Dogmen und festgefahrenen Halbwahrheiten.

    In mir erweckte dies den Eindruck, dass er sich nicht mit seiner Lebens- und Berufserfahrung begnügte, dass er sich vielmehr in jene Reihe von Menschen eingliedern wollte, die sich dazu bekennen, die Erfüllung des Lebens in der immerwährenden Suche zu finden. Eine lohnenswerte Richtung. Möglicherweise habe ich die Begegnung mit ihm auch deshalb gesucht…. Ich werde ich ihn trotz verbliebenen respektvoller Distanz immer als einen meiner ganz wichtigen Orientierungsgeber in Erinnerung behalten.

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Nachruf auf Wolf Büntig
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Corona – Der Impfzwang

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Corona – Der Impfzwang

    von
    Peter Bolen:

    Auf die Impfverweigerer, die den Volkszorn der Geimpften auf sich ziehen, möchte ich als Psychiater und Psychotherapeut differenziert eingehen. Gegen die Gurtenpflicht und das Handyverbot während des Autofahrens hat niemand etwas. Bis 1983 gab es die allgemein akzeptierte Impfpflicht gegen Pocken, obwohl diese Impfung mit einem Lebendimpfstoff starke Nebenwirkungen hatte. Wie kommt es dann, dass doch ein kleiner, aber lautstarker Teil der Bevölkerung so vehement auf die Impfpflicht reagiert?

    Sie als Idioten abzuqualifizieren, trifft nur zum Teil zu. Obwohl das Zitat von Ödön von Horvath „Nichts gibt einem so sehr das Gefühl der Unendlichkeit, wie die Dummheit der Menschen“ wohl immer noch Gültigkeit hat. Auf Fake News und haarsträubende Verschwörungstheorien fallen nicht nur bildungsferne Menschen hinein. Es ist zunächst überraschend, dass rationale Argumente nichts nützen. Die Wutbürger reagieren darauf mit dem Abwehrmechanismus der Deflexion – wie an einem Schild prallt die Vernunft ab.

    Die Beschreibung eines dieser Charaktere in dieser Sammelbewegung gegen Corona-Maßnahmen, ist die unreife Persönlichkeit. Aufgrund von übermächtigen Elternteilen, gegen die man nicht aufkommen konnte, hat sich keine eigene differenzierte Meinung ausbilden können. Bildlich gesprochen besitzen diese Menschen so etwas wie ein Vakuum in ihrer Mitte, es fehlt ihnen etwas. Und diese Leere drängt danach, gefüllt zu werden. Lebenskrisen befeuern dieses Bedürfnis.

    Da der dominante Elternteil als steuerndes Element im Unterbewussten weiterbesteht ohne durch einen Introspektionsprozess verarbeitet worden zu sein, fühlen sich diese Menschen magisch von starken Persönlichkeiten angezogen, die geeignete Ideen als Stoff zum Füllen des mangelhaft ausgebildeten Selbst anbieten. Der Selbstbegriff wird von mir im gestalttheoretischen Sinne verwendet. Das Selbst wird als Zentrum der Persönlichkeit angesehen.

    Dort findet sich die Summe aller Erfahrungs- und Wissensinhalte, die vom Ich, welches den Kontakt zur Umwelt herstellt, gesammelt und ins Zentrum gebracht wird. Und je bunter, je dramatischer dieser Stoff ist, desto anziehender wirkt er; endlich ist das Leben nicht mehr so langweilig und uninteressant. Der Aktionismus belebt, die Idee beseelt einen und man gehört zu einer Gemeinschaft.

    Neben dem Charakter der unreifen Persönlichkeit finden wir in der Protestsammelbewegung auch den faschistischen Typ. Dieser wird als schwacher Durchschnittsmensch vom todesmutigen Heldencharakter angezogen, der gegen einen übermächtigen Feind kämpft. Siegfried kämpft gegen den Drachen, die Gutinformierten gegen die Mächtigen, die uns manipulieren. Gegen eine Weltelite – Juden, Freimaurer, Bill Gates – die uns als Menschheit dezimieren und lenken wollen. Je größer der Feind, desto stärker der Held.

    Der Faschist ist aus seinem sinn- und glanzlosen Leben zu einem Ritter in prachtvoller Rüstung geworden, der mutig für die gute Sache kämpft und gar bereit ist, dafür zu sterben
    Nicht übersehen sollten wir aber die Menschen, die einfach Angst haben. Die internationale Klassifikation von psychischen Erkrankungen ICD 10 kennt vor allem zwei Diagnosen, die hier zu nennen sind. Es sind die Angststörung F41 und die Phobie F40, die häufig auftreten.

    Einen kleinen Prozentsatz an eigentlichen Wahnerkrankungen, also der schweren psychiatrischen Störungen, gibt es natürlich auch. Besonders erwähnenswert an dieser Stelle ist auch das Michael Kohlhaas-Syndrom.- Es handelt sich dabei um eine Person, die tatsächliches oder vermeintliches Unrecht unverhältnismäßig, nämlich mit maximalen Mitteln durchsetzen will, sogar um den Preis der eigenen Vernichtung. Das hat die historische Figur tatsächlich getan. Dieses Krankheitsbild bewegt sich fließend zwischen einer Belastungsstörung und einer Psychose.

    Ängste und Vermeidungsverhalten kommen im Alltag hingegen häufig vor. Es handelt sich um eine Bandbreite von Symptomen, die von der harmlosen Schrulle bis zu schweren psychischen Verhaltungsstörungen reicht. Jemand hat Angst vor Schmetterlingen, ein anderer hat Flugangst. Diese Ängste sind irrational und daher nicht durch sachliche Argumente auflösbar. Damit lässt es sich mehr oder weniger gut leben.

    Wenn die Ängste aber so weit gehen, dass diese Personen nicht mehr auf die Straße gehen können, oder die Angst zu dick zu sein, zu Essstörungen führt, besteht bereits eine massive Einschränkung der Lebensqualität. Häufig hat die Angst keinen Inhalt; sie ist frei flottierend. Dann sucht sie sich ein Thema, an dem sie andocken kann.

    Die Impfpflicht ist mit einer Bestrafung verbunden. Folge ich nicht der Aufforderung mich impfen zu lassen, muss ich Strafe zahlen oder ersatzweise ins Gefängnis gehen. Diese Maßnahmen haben aber bei Menschen mit Ängsten keine Wirkung. Eine Patientin, nach einem Unfall ans Bett gefesselt, sagte zu mir: „Ich möchte lieber sterben als geimpft werden.“ Solche Menschen sind nicht blöd oder böse, sie leiden und brauchen unsere Unterstützung.

    Ein diffuses Verfolgungsgefühl ohne den Schweregrad einer Geisteskrankheit zu haben entsteht in der heutigen Gesellschaft aus dem Gefühl heraus, überwacht zu werden. Dieses Gefühl hat aber keinen konkreten Inhalt.- Tatsächlich werden wir aber als Internetuser ständig überwacht und gelenkt. Wir hinterlassen auf Plattformen wie Google und Co unseren Abdruck mit allen Daten, die Verkaufsportale brauchen.

    Treffend hat das Soshanna Zuboff in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungs-kapitalismus“ beschrieben. Wir liefern den großen Konzernen „ich hab´ ja nichts zu verstecken“ freiwillig durch den Klick auf „I agree“ bei den Nutzungsbedingungen alle unsere Daten. Das führt dazu, dass die Konzerne uns nicht nur kennen, sondern uns auch lenken.- Alle diese Vorgänge sind dem Durchschnittsbürger nicht so bekannt.- Aber er fühlt es. Und wenn er auf eine Verschwörungstheorie stößt, passt diese oft genau zu seinem Gefühl.

    Es gibt einen weiteren Aspekt, wieso diese Gruppe von Menschen wie Lemminge einem Führer in den Abgrund folgen: Es sind verinnerlichte Narrative, Kerne von über Generationen unreflektiert weitergegebenen Geschichten, die uns lenken. Gut beschrieben haben dieses Thema Samira El Quassil und Friedemann Karig in ihrem Buch „Erzählende Affen“. Am Beginn unserer Kultur hat diejenige Gruppe besser überlebt, die gute Narrative hatte. Sie förderten den Altruismus, und dadurch bekam die Gemeinschaft Vorrang vor dem einzelnen Individuum. Es ist notwendig sich unserer Narrative bewusst zu werden, um nicht unbewusst durch sie gelenkt zu werden.

    Da ich kein Politiker bin, habe ich keine Lösung für das Problem der Impfpflicht. Der schwedische Weg? Was machen wir, wenn ein benötigtes Intensivbett nicht frei ist? Für ein Kind, welches auf eine Herzoperation wartet und keine Luft mehr bekommt und für den Tumorpatienten, dessen Leben von einer raschen Operation abhängt?
    Mit einer Grenzlinienziehung einerseits und einem Verständnis andererseits – und sicher auch durch die Schöpfung neuer Narrative, könnten wir es doch schaffen, mit dieser Situation fertig zu werden.
    ____________________________________

    Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie.
    Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen.
    Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen:
    So groß wie heute war die Zeit noch nie.

    Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen.
    Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
    Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut.
    Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.

    Der Optimistfink schlägt im Blätterwald.
    Die guten Leute, die ihm Futter gaben,
    sind glücklich, dass sie einen Vogel haben.
    Der Zukunft werden sacht die Füße kalt.

    Wer warnen will, den straft man mit Verachtung.
    Die Dummheit wurde zur Epidemie.
    So groß wie heute war die Zeit noch nie.
    Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung. (Erich Kästner)

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Corona – Der Impfzwang
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Es ist doch nur, ….

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Es ist doch nur, weil Sie uns aufgefallen sind….

    (frei nach Hans-Jörg Karrenbrock)
    von
    Günter Hebenstreit:

    Kognitive Dissonanz beschreibt den Prozess im Entscheidungsverhalten, der dazu führt, dass widersprüchliche Wahrnehmungen und Gedanken nach einer Entscheidung viel seltener – und schwieriger – hinterfragt werden als davor. Handlungen und Entscheidungen, einmal getroffen und umgesetzt, werden dann mit Vehemenz verteidigt, auch wenn klar ist, dass diese Entscheidungen ungünstig, schädlich oder falsch waren.

    Der Raucher findet eine Reihe von Argumenten sein Rauchen zu rechtfertigen. Der Süchtige präsentiert Argumente und Gründe, die seine Abhängigkeit von der Substanz kaschieren, mildern, verharmlosen soll. Der Räuber fühlt, denkt, in seiner Kindheit keine Liebe bekommen zu haben; hätte jetzt also das Recht auf seiner Seite, sich stattdessen zu nehmen, was er möchte. Es beklagt der Mörder, dass das Opfer ihn ja auf unmenschliche Art provoziert hätte. Das Ziel ist immer dasselbe: Die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes, egal welche schädlichen, schädigenden oder asozialen Verhaltensweisen der Mensch zeigt.

    Die in den Mainstreammedien pausenlos vermittelten Nachrichten über Tod, Verderben, Gefahr, Untergang, Gefährdung, sei es nun ein Virus oder das Klima oder seien es meinetwegen Außerirdische, Unwetter, Erdbeben oder religiös motivierte Mörder, ruft in den meisten Menschen eine tiefe, sehr tiefe Angst hervor. Die Angst ist an sich auch etwas Nützliches und hilft uns beim Bewältigen von bedrohlichen Ereignissen.

    Nun, da wir jetzt auf die 500 Tage weltweitem Seuchenbedrohungsszenario mit Dauerangst-Artillerietrommelfeuer zusteuern, mag der eine oder die andere nicht mehr so recht all das glauben, was so über die Bildschirme flimmert oder im Blätterwald raschelt (oder es glaubt eh schon keiner mehr). Um die akute, eigene Angst zu reduzieren, beschlossen die Regierungen viele Schritte der Veränderung, alle mit der Begründung, gegen diese tödliche Bedrohung anzukämpfen.

    Der brave Bürger, die brave Bürgerin hält sich an die gesetzlichen Erlässe, Einschränkungen, Verordnungen und Empfehlungen der immer und immer wieder Angst einhämmernden sogenannten Wissenschaftler, Politiker, Experten und Erklärer. Diesen Weg einmal beschritten, verliert der verängstigte Mensch mehr und mehr die Kontrolle über seine Selbstbestimmung, seine Freiheit im eigenen Leben, sogar seinen freien Willen; alles, ohne es zu bemerken.
    Hier findet sich der Prozess der kognitiven Dissonanz: zu erkennen, dass die Dinge vielleicht doch anders waren als sie dargestellt wurden, als sie einem selbst erschienen.

    Wenn die getroffenen Entscheidungen sich mehr und mehr als falsch und langfristig ungünstig und schädlich herausstellen, führt das zu sehr unangenehmen, das positive Selbstbild destabilisierenden Gefühlen und Gedanken: Einem Irrglauben aufgesessen zu sein? Wie konnte ich nur das alles glauben? Wie konnte ich nur das alles ungefragt mitmachen? Warum konnte ich nicht klar sehen, was da in Wirklichkeit hinter der „Theaterbühne“ – wie dies Reich in „Cosmic Superimposition“ beschreibt – vor sich ging?

    Am folgenden, von mir veränderten Text von Hans-Jörg Karrenbrock möchte ich die schrittweise Wirkungsweise von kognitiver Dissonanz aufzeigen. Sich im Laufe der Zeit einzugestehen, falsch gelegen zu haben, in die Irre gegangen zu sein, gelingt nur mit viel Trauer, Wut, Verzagtheit und viel Scham und Schuldgefühlen.

    „Ich hatte Besuch. Er sagte:
    Hören Sie doch auf mit Ihrem Freiheits-Scheiß! Hören Sie doch auf mit Ihrem Beharren auf den alten Reich und Ihre Freiheit. Je schneller wir die Vorgaben der Regierung, der WHO und der Gesundheitsbehörden erfüllen, desto schneller sind wir raus aus der Sache. Machen wir‘s so, wie die das sagen.

    3G, Tests, Impfung, Pass, alles fein, aber fix, jetzt muss es sein. Dann können wir auf Urlaub fahren, einkaufen gehen, unsere Arbeit behalten und haben unsere Ruhe. Dann wird schon irgendwann die alte Normalität wieder kommen und wir bekommen unsere Rechte zurück. Hören Sie doch auf mit ihrem Misstrauen und ihren kruden Theorien.

    Es ist ja nur eine Maske.
    Es sind doch nur drei Wochen.
    Es ist ja nur, bis der R-Wert unter eins geht.
    Es ist ja nur wegen der Krankenhäuser.
    Es ist ja nur kurz zu … und dann macht alles wieder auf.
    Es sind ja nur die nächsten zwei Monate.
    Es ist ja nur ein Test.
    Es ist ja nur, weil die Kinder ihre Großeltern und alle Erwachsenen gefährden.
    Es ist ja nur eine App.
    Es ist ja nur eine vorübergehende Überwachung.
    Es ist ja nur, weil sonst alle Angst bekommen.
    Es ist ja nur, weil Sie sonst andere gefährden.
    Es ist doch nur, dass wir wissen, mit wem Sie Kontakt hatten.
    Es ist ja nur um nachzuverfolgen, wo sie wann waren, und wen Sie getroffen haben.
    Es ist doch nur wegen der hohen Inzidenzen.
    Es ist doch nur sich einmal noch die kommenden beiden Monate am Riemen zu reißen.
    Es ist doch nur bis wir eine Impfung haben.
    Es sind doch nur ein paar Reiseunterlagen mehr.
    Es ist doch nur eine digitale Akte mit all ihren medizinischen Informationen.
    Es ist doch nur, weil wir uns nicht sicher sind, ob Sie eine Gefahr für die anderen sind.
    Es sind doch nur ein paar Monate mehr.
    Es ist doch nur bis alle geimpft sind.
    Es ist doch nur bis zum nächsten Sommer.
    Es sind doch nur ganz zufällige Nebenwirkungen und es überwiegt das Positive für die Gemeinschaft.
    Es ist doch nur ein grüner Pass.
    Es ist doch nur, bis Sie die dritte Spritze bekommen.
    Es ist doch nur, weil sich nicht alle impfen lassen.
    Es ist doch nur ein Armband für die, die sich querstellen.
    Es ist doch nur fürs Reisen.
    Es ist doch nur für die Arbeit.
    Es ist doch nur, weil Sie sich so anstellen.
    Es ist doch nur für den Einkauf.
    Es ist doch nur, weil wir uns sonst von ihnen trennen müssen.
    Es ist doch nur, bis Sie die vierte Spritze bekommen.
    Es ist doch nur, weil wir Sie sonst von den anderen isolieren müssen.
    Es ist doch nur ein Chip, der Ihnen weitere Spritzen erspart.
    Es ist doch nur, weil Sie uns aufgefallen sind.
    Es ist doch nur, weil Sie so unkooperativ sind.
    Es ist doch nur für eine Befragung.
    Es ist doch nur, weil uns gewisse Erkenntnisse über Sie vorliegen.
    Es ist doch nur ein Heim, das Beste für ihre Kinder.
    Es ist doch nur, weil Sie bei ihnen nicht mehr sicher sind.
    Es ist doch nur, bis Sie zur Einsicht kommen.
    Es ist doch nur, weil Sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen.
    Es ist doch nur ein Lager, wo man ihresgleichen schützen will.
    Es ist doch nur für ein paar Jahre.
    Es ist doch nur, weil das Gesetz es jetzt so vorschreibt.
    Es ist doch nur, bis sich die Klappe unter ihren Füßen öffnet.
    Es wird schon nicht weh tun.“

    Am Ende war es keiner. Niemand hat Bescheid gewusst. Jeder hat nur seine Pflicht getan, das was er eben tun musste. Jeder schiebt die Schuld auf andere – auf Politiker, Kapitalisten …. zur Reduktion der kognitiven Dissonanz.
    Können nicht unsere Eltern und Großeltern davon ein Lied singen? Alle wollen sie in ihr normales Leben zurück, zurück zu ihrer Ruhe. Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten, harmlosen kleinen Schritten, kleinen – freiwilligen – Entscheidungen. Es geht in kleinen, kleinen Schritten. Willkommen in der Hölle, pardon: In der neuen Normalität.

    ___________________________

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Es ist doch nur, ….
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Wovor habt ihr Angst?

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Wovor habt ihr Angst?

    von
    Gudrun Heininger:

    Es scheint in den letzten knapp zwei Jahren unmöglich geworden zu sein, das Thema Covid-19/Pandemie in der Öffentlichkeit auch nur anzudeuten und dabei einigermaßen wohlwollend zu bleiben. Den Boden des Rationalen haben wir schon lange verlassen. Die Emotionen kochen über. Es ist sofort Krieg.

    Was mich am meisten verblüfft: Unter jenen Gruppen, die der ganzen Corona-Erzählung und den weltweiten Maßnahmen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, finden sich kaum Gemeinsamkeiten. Und unter Menschen, von denen man verwandte Lebensanschauungen, Haltungen annehmen könnte (liberal, libertär, nonkonform, aber auch unter den Konservativen), sind die gegensätzlichsten Positionen vertreten.

    Sicher ist nur: es ist nicht so einfach, so eindimensional, wie uns die Regierungen weismachen wollen: Virus-Gefahr-Maske-Impfung-Rettung-Allesgut. Ich vermute niemand, wirklich niemand, kennt die ganze Wahrheit und weiß genau, was vor sich geht. Kein einziger der echten oder selbsternannten Experten arbeitet unvoreingenommen und strikt wissenschaftlich, geschweige denn im Rahmen einer Wissenschaft, die sich knapp an der Grenze des Altvertrauten, hundertmal Wiederholten bewegt. Einige sind darunter mit einer sehr differenzierten Denk- und Herangehensweise, aber insgesamt ist es wohl eine kleine Minderheit.

    Auf der anderen Seite die Gegenstimmen auf den unzähligen Channels und Websites, die bezüglich Qualität die gesamte Bandbreite abdecken. Von absurden, reißerischen Behauptungen ohne jede Substanz über Videobeiträge, die zwar gut gemeint, aber so ungenau und schlampig gearbeitet sind, dass sie sich selbst disqualifizieren, bis zu ernstzunehmenden Artikeln, die eine Fülle von konkreten nachprüfbaren Informationen, allesamt mit Quellenangaben versehen, systematisch aufarbeiten.

    Erstere werden natürlich genüsslich verbreitet, um die Dummheit aller Kritiker pauschal zu belegen. Dazu ein Meer an bewusster Falschinformation von allen möglichen Seiten, meist eine genau kalkulierte Mischung aus Lüge und Wahrheit. Sich hier durchzuarbeiten ist ein Vollzeitjob.

    Bleibt die Überlegung: Wem vertraue ich, wer ist für mich glaubwürdig. Regierungsverlautbarungen, TV, Gratiszeitung, Standard, Süddeutsche, Zürcher, Herr Drosten? Ein national-ländlicher Coronarebell? Ein Corona Untersuchungsausschuss? Die Anwälte für Aufklärung? Amerikanische Verschwörungstheoretiker?

    Eine wilde, zufällige und sehr unvollständige Auswahl. Genauso gut könnte ich würfeln. Alles ist beliebig geworden. Eh wurscht. Alles eine Frage des mittlerweile schon ziemlich fanatischen Glaubens. Ein religiöser Kult auf beiden Seiten.

    Ich habe gelernt, allen Regierungen, Organisationen, Institutionen, Medien ab einer bestimmten Position in der gesellschaftlichen Hierarchie und mit einem deutlichen Autoritätsanspruch zu misstrauen. MISSTRAUEN in Versalien. Es wäre naiv anzunehmen, irgendeine Regierung hätte je das Wohl der Bevölkerung im Sinn gehabt. Und wenn es doch vorkam, hat sie sich nicht lange an der Macht gehalten.

    Ich war immer misstrauisch, wenn mir jemand etwas mit Nachdruck verkaufen wollte. Warum sollte das jetzt anders sein? Kluge, wache Leute übernehmen irgendwelche Behauptungen, ohne zu prüfen. Selbst wenn sie ihre Zweifel haben, entscheiden sie sich zur Sicherheit doch, mit der Mehrheit zu gehen.

    Was bringt gerade die traditionelle Linke dazu, den Autoritäten nicht nur widerspruchslos zu folgen, sondern sie auch noch links und rechts mit Karacho zu überholen? Wer glaubt noch, dass die Gesetzgeber – einmal – tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen handeln, dass Studien – einmal – tatsächlich nicht manipuliert werden, dass die Ohn/Mächtigen in Wirtschaft, Industrie, Politik tatsächlich – einmal – empathisch agieren könnten? Wen von ihnen hätte es je gekümmert, ob Hunderttausende sterben.

    An Herzkrankheiten, Schlaganfällen, Drogen, Malaria, Alkohol am Steuer, an verseuchtem Wasser, Hunger, Krieg, durch Gewalt und Selbstmord. Plötzlich müssen kleine afrikanische und pazifische Staaten die Grenzen dichtmachen, aus Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung?

    In den 1930er Jahren bewirkte eine Liebe, Sex und Körperlichkeit massiv unterdrückende Gesellschaft und die existenzgefährdenden Folgen der Weltwirtschaftskrise, dass sich die Leute einem Führer in die Arme warfen. Jetzt ist es eine voyeuristische, pornographische Gesellschaft und die galoppierende Globalisierung, Machtzentralisierung und Überwachung, die Menschen in eine innere Panik treibt, in der das Denken aussetzt. Sie halten eine autoritäre und korrupte Bürokratie für Demokratie und verwechseln das blinde Gehorchen mit Solidarität.

    Was würde Reich tun? Was hat er getan? In ein anderes Land gehen, neu anfangen, alles wiederaufbauen. Sich auf seine Aufgaben konzentrieren. Jeden Augenblick das tun, was man als richtig erkannt hat. Er konnte damals nicht wissen, dass es mittelfristig keinen Unterschied machen würde. Dass die Nazis auch in der FDA sitzen.

    In der Tiefe sitzen die Dämonen. Angst beherrscht mittlerweile alle und alles. Es war wohl nie anders, zumindest nicht, seit Geschichte aufgezeichnet wird. Man kann sich nicht schützen vor dem Leben. Man komme mir in diesem aktuellen Zusammenhang nicht mit einem Vergleich mit Pocken und Pest.

    Wenn ich die Ursachen für all das im Reich‘schen Sinn zu Ende denke, beginnt sich alles zu drehen, mir schwindelt und der Boden gibt nach. Was für ein Potential! Das lustvolle Schwingen, Vibrieren, Pulsieren. Allein das Wort ‚lustvoll‘ ist ja verboten. Verboten oder in seiner Bedeutung pervertiert. Was für ein Druck liegt auf der Welt. Jede echte Regung, jeder klare Gedanke wird diffamiert und in sein Gegenteil verkehrt. Es gibt von allem zwei Versionen, eine ursprüngliche, natürliche, wahre Version und eine falsche, synthetische, eine Imitation: natürliche, lebendige Schönheit versus Beauty-Industrie / echte Liebe versus Pseudo-Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist / echte Kommun(ikat)ion versus leeres Gerede, Slogans / Ausdruck des Lebens in Kunst und Musik versus dunkle Ästhetik / Heilkunst versus Pharmaindustrie / Indoktrination versus freie Erziehung / lebendige Nahrung versus zu Tode verarbeiteter Müll / natürliche versus synthetische Vitamine / Naturreligion/Spiritualität versus organisierte Kirchen, Kulte / authentischer sprachlicher Ausdruck versus Neusprech etc.

    Auch in der Auseinandersetzung mit der Covid-19/Pandemie-Erzählung sind zwei Versionen verfügbar. Ich scheue mich nicht zu sagen: Eine dunkle und eine helle. Man könnte beginnen zu unterscheiden und zu sortieren. Man könnte einen Schritt hinter die täglichen Streitpunkte tun wie: gibt es überhaupt eine Pandemie, ein Virus, was ist ein Virus, wirkt eine Impfung, ist sie gefährlich, stimmen die Statistiken, muss ich meine alten Eltern schützen, sind die Maßnahmen richtig, woher kommt das Geld dafür, wie wird es überhaupt verteilt . . . endlos. Man könnte versuchen, die Fragen zu finden, die sich auf der Metaebene stellen. Schwer.

    Ein Lebensbild, in dem das Bewusstsein die Materie, die Realität erschafft, und zwar bis ins kleinste tägliche Detail, gibt einen vollkommen anderen Rahmen vor als zum Beispiel eine Weltanschauung, die auf neurologische, chemische, mikrobiologische Prozesse fokussiert und in der das Gegenspiel, der oft kriegerische Gegensatz zwischen Innen und Außen zentral ist. Dann ist ein Virus der Feind, der bekämpft werden muss, um jeden Preis.

    Es haben beide Welten und alle Spielarten dazwischen ihre Berechtigung und zwar innerhalb ihrer selbstgezogenen Grenzen. Jede Seite hat (sofern nicht böswillig und bewusst gelogen wird) nachvollziehbare Argumente. Jeder muss wählen und mit den Konsequenzen seiner Wahl leben. Wer Angst hat, muss sich zwangsläufig schützen. Ich bin mehr als bereit, das ernst zu nehmen und mich in der Begegnung entsprechend zu verhalten.

    Ich weigere mich aber, mir von einem anonymen, technokratischen Moloch und seiner Mitläuferarmee, deren Mitglieder niemals für ihre Taten geradestehen müssen, die Souveränität über meinen Körper, meine körperliche Unversehrtheit nehmen zu lassen. Niemand hat das Recht, einen anderen wozu auch immer zu zwingen. Das ist gegen jedes Lebensprinzip. Ich wünschte, das wäre in allem, was wir tun, immer eine unhintergehbare Prämisse.

    Die Welten trennen sich. Hier wird nichts mehr gut. Etwas Fundamentales geschieht gerade, das weit über den Streit um Abstandsregeln und Impfstoffe hinausgeht. Die Zukunftsmöglichkeiten spalten sich auf. Es müssen aber Wege zwischen ihnen offenbleiben und seien es nur Schleichpfade.

    Diese letzten knapp zwei Jahre haben mich geschwächt wie kaum etwas bisher. Die offene Manipulation und die Lügen, die subtile Dauerdrohung, die ständige Aufforderung zum blinden Gehorchen. Verhöhnen und Verächtlichmachen bei Widerspruch, vereinzelt schon brutale Machtdemonstrationen.

    Aber mehr als das ist es die um sich greifende, sich rasant ausbreitende, überall zu beobachtende Hoffnungslosigkeit und Apathie, die an der inneren Substanz frisst. Das tägliche panikschürende Bombardement in allen Medien, auf jedem Quadratzentimeter öffentlicher Fläche verfehlt seine erschreckende Wirkung nicht. Ich will weg hier. Mit jedem Monat, den ich die Abreise hinausschiebe, wird der Aufbruch schwerer.

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Wovor habt ihr Angst?
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Manifest der Geimpften

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/21

    Manifest der Geimpften

    ein Beitrag zur Solidarität
    „Im Web veröffentlicht unter:
    https://keinzustand.at/beatrix-teichmann-wirth/manifest-der-geimpften/


    Wir sind geimpft.

    Wir haben dies aus den unterschiedlichsten Gründen getan: Weil wir uns durch eine Impfung vor der Erkrankung schützen wollen, oder weil wir uns erhoffen, bei einer Infektion einen schweren Verlauf zu verhindern. Wir haben uns impfen lassen, um am Arbeitsplatz nicht der/die einzig Ungeimpfte zu sein, kenntlich durch eine FFP2 Maske, die wir 8 Stunden am Tag zu tragen haben, oder weil wir uns das Leben einfacher gestalten, die Mühe des Testens nicht in Kauf nehmen, verreisen oder spontan ein Kaffeehaus besuchen wollen.

    Wir haben die Entscheidung bewusst und letztlich auch frei-willig getroffen. In letzter Zeit nehmen wir mit Besorgnis wahr, dass der Druck auf Ungeimpfte steigt und die Frei-Willigkeit einer Impfung zunehmend schwindet. Deshalb ist es uns ein Anliegen, Folgendes zu betonen:

    1. Es ist für uns unzulässig, jemanden durch steigenden Druck und zunehmende Einschränkungen faktisch zu einer Impfung zu verpflichten.
    2. Der Ausschluss von Ungeimpften aus Bereichen des Lebens und darüber hinaus ein von der österreichischen Regierung angedachter Lockdown ist ein schwerer Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte des Menschen, weshalb wir diesen (angedachten) Maßnahmen aufgrund unserer demokratischen Gesinnung dezidiert entgegentreten.
    3. Wir respektieren das grundsätzliche Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und achten die zutiefst persönliche Wahl des Einzelnen in Bezug auf medizinische Eingriffe jedweder Art. Vielmehr bemühen wir uns um ein Verständnis für die Bedenken im Hinblick auf die zur Anwendung gelangenden neuen Technologien, deren bedingte Zulassung und mangelhaften evidenzbasierten unabhängigen Studien der mRNA und Vektorimpfstoffen.
    4. In diesem Sinne treten wir, die Geimpften, gegen jegliche Diskriminierung von Ungeimpften und für eine Rückkehr zu demokratischen Grundrechten ein.
    5. Wir wissen, dass nur ein Vorgehen, das von Respekt vor der Eigenverantwortung und einem Vertrauen auf die Vernunft von Menschen getragen ist, eine nachhaltige Wirkung im Hinblick auf die Bewältigung einer derartigen Krise ermöglicht.
    6. Wir befürchten, dass der Druck letztendlich auch vor uns nicht Halt machen wird und wollen unsere Entscheidungsfreiheit in Bezug auf weitere Schritte (z.B. eine 3. Impfung) bewahrt wissen.
    7. Wir treten für einen offenen wissenschaftlichen Diskurs ein und für eine Berichterstattung, die die Vielfalt der wissenschaftlichen Expertisen abbildet.
    8. Wir sind gegen jegliche Diskreditierung von Menschen, die sich in Bezug auf die Vorgangsweisen und Maßnahmen kritisch äußern.
    9. Wir widerstehen den Spaltungsversuchen und lassen uns nicht gegen unsere Mitmenschen aufhetzen.
      Wir werden Menschen mit einer anderen Meinung nicht verurteilen. Vielmehr interessieren wir uns für deren Motive, weil sie auch unser Wissen bereichern können.

      Weil wir über die Macht von Begriffen wissen, schließen wir abschätzige Begriffe wie Impfverweigerer, Coronaleugner, Covidioten… aus unserem Wortschatz aus und bemühen uns, respektvolle, besänftigende und friedensstiftende Worte zu wählen.

    10. Zuletzt und am allerwichtigsten ist es uns zu betonen, dass Freiheit unteilbar ist und ein wahrhaft gutes Leben nur auf der Basis der Freiheit aller Menschen möglich ist.

    _____________________________

    (Quelle: https://keinzustand.at)

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Manifest der Geimpften
  • Kategorie: 2021
  • Buk 2/21 Darüber reden wir nicht!

    Zurück zu Bukumatula 2021

    Bukumatula 2/2021

    Darüber reden wir nicht!

    von
    Susanne Doppler:

    Darüber reden wir nicht!

    Die Welt ist nicht mehr das, wofür wir sie gehalten haben. Ich bin in Sorge und melde mich mit persönlichen Gedanken zu Wort. Mit großem Unbehagen beobachte ich die rasante und massive Entwicklung hin zur manipulativen Steuerung der Gesellschaft, mit dem Ziel der totalen Kontrolle des Individuums, des Ausmerzens des Lebendigen bis hin zum Transhumanismus.

    Aus Rede an den kleinen Mann
    Du willst Sicherheit, ehe Du Wahrheit willst.

    Die jahrhundertelange Indoktrination zusammen mit persönlichen, sozialen und Karriererücksichten machen einen umfassenden Blick fast unmöglich. Dazu Gewohnheit und Bequemlichkeit, die Bereitwilligkeit angebotene Feindbilder widerspruchslos zu übernehmen, die zwischenmenschliche Verrohung zu akzeptieren . . . die emotionale Pest par excellence!- Eigentlich läuft das Ganze ja auf das Verhältnis des Einzelnen zu Sicherheit und Autorität hinaus.

    Auf die Angst, alleine zu stehen und die Konsequenzen für die eigenen Entscheidungen zu tragen? Die Angst vor der Freiheit? Die Angst, sichtbar zu werden, eventuell falsch zu liegen, zu irren, zu FALLEN? Diese Fragen sind im Kontext schon anderweitig gestellt worden, doch diesmal geht es wahrlich um unsere Freiheit, unsere Lebendigkeit. Gilt es im Hinblick dieser Tatsachen nicht auch nachzuspüren, wieviel an gelebter Reich‘scher Weltsicht wir in uns noch finden können, wollen, dürfen?

    Aus Rede an den kleinen Mann
    Ich wiegle nicht das Volk auf, sondern dein Selbstbewusstsein, deine Menschlichkeit – und das verträgst du nicht.

    Immer wieder einen Schritt beiseitetreten, innehalten, auf die mahnende Stimme in sich hören, sich selbst schonungslos reflektieren und mit Liebe und Hingabe der Dynamik des Lebens vertrauen.- Ich möchte allen Danke sagen, die in der Wissensbewahrung und Verbreitung der Arbeit Wilhelm Reichs ihr Herzblut geben und wünsche uns allen alles Gute und viel Mut und Kraft für das, was noch kommen mag.

    Susanne Doppler, WRI-Obfrau

    Zurück zu Bukumatula 2021

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/21 Darüber reden wir nicht!
  • Kategorie: 2021
  • Buk 1/20 Leben in interessanten Zeiten

    Zurück zu Bukumatula 2020

    Bukumatula 1/2020

    Leben in interessanten Zeiten

    Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
    Robert Federhofer:

    Eine gute Bekannte von mir meinte vor wenigen Monaten beiläufig, wir lebten in einer Endzeit. Vermutlich war Sie beeindruckt von lokalen oder internationalen üblen Nachrichten. Konnte ich verstehen, aber `Endzeit´ ist ein starkes Wort. Ende wovon? Ende einer Kultur oder einer Wirtschaftsform? Einer Machtstruktur im Wechsel zur nächsten?

    Das Wort Endzeit erschien mir zu diesem Zeitpunkt übertrieben, hatten wir doch in der uns bekannten Weltgeschichte schon vieles an Auf- und Abtauchbewegungen verschiedener Völker und politischer Systeme. Wenn ich von religiös-prophetischen Endzeitszenarien einmal absehe, ist das, was ich medial im näheren oder auch weltweiteren Umfeld an Geschehnissen mit zugegeben mitunter Gruselqualität berichtet bekomme, anders als vor hundert, oder auch tausenden von Jahren?

    Im letzten Jahrhundert hatten wir nicht nur Kriege hier in Europa mit ihren Gräueln und Menschenopfern, sondern auch in anderen Weltgegenden; Kriege und Völkerausrottungen, eigentlich ohne Unterlass. Sind wir Menschen wirklich solcherart?

    Tatsächlich hat in dem Zeitraum von wenigen tausenden Jahren, der für uns heute Lebenden relativ gut dokumentiert hinter uns liegt, das Entstehen und wieder Vergehen von Machtzentren, Kulturabläufen und Volksballungen immer wiederkehrende Ähnlichkeiten.

    Die sogenannte Kultur beginnt mit teilweisem und zunehmendem Heraustreten einer Menschengruppe aus der Symbiose mit der Natur der Erde in ein mehr räuberisches, zum Teil bereits parasitäres Verhältnis. Es wird nicht der Überschuss an Holz verfeuert, sondern der ganze Baum gefällt. Nicht die Früchte der Bäume dienen als Nahrung, sondern der ganze Wald wird brandgerodet, um dann auf diesem Feld einer künstlichen lokalen Katastrophe schnellwachsende Einheitspflanzen zu ernten.

    Kurzfristig wird so ein Energieüberschuss erzeugt und die Menschen wenden ihre Aufmerksamkeit vom lebenserhaltenden Nahrungserwerb auf andere Dinge. Spezialisierungen entstehen, Techniken, Berufe und philosophische Überlegungen werden angestellt.

    Ist die Menschengruppe nicht sehr groß, so zieht sie von einem Brandrodungsfleck zum nächsten und Mutter Erde bereinigt das lokale Desaster. Ist die Menschengruppe aber groß und erschafft Gruppenballungen in Städten mit bürokratischen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen, wird diese Technik der verbrannten Erde gravierender und hinterlässt Wüsten und Karstgebiete.

    Die große Menschengruppe nutzt ihren Vorteil an Größe, Technik und Organisation, um andere Gruppen durch Handel und Unterwerfungskriege zu übervorteilen und zu berauben, bis schließlich die Struktur des Machtzentrums auch wieder zerfällt und die eine oder andere Gruppe rabiat genug ist, die anderen zu dominieren. Das hervorstechende menschliche Element in allen Phasen – von der Brandrodung bis zu den Verteilungskämpfen, scheint Gewalttätigkeit zu sein. Gegen die Erde, gegen andere Lebewesen und gegeneinander.

    Die einzelnen Menschen werden wohl zu allen Zeiten immer wieder das Gefühl gehabt haben in einer Zeit vor dem Ende ihrer Welt zu leben. In den Urreichen des Zweistromlandes und in Ägypten, unter der Dominanz der Hethiter und der Perser ebenso, wie der Griechen unter Alexander und den Folgestaaten, und natürlich den Römern, die die räuberische Unterwerfung und Bürokratisierung einige Jahrhunderte perfektionierten, bis herauf über das Mittelalter mit “Glaubens“-Kriegen, Pestilenzen, diktatorischen Fürsten und Geistesführern, die Massenmord und Folter zur gängigen Praxis machten.

    Und heute? Kriege ohne Unterlass unter fadenscheinigen Vorwänden mit jeweils hunderttausenden Toten und dabei Ruin ganzer Gesellschaften und Massenfluchtbewegungen, Stellvertreterkriege mit Söldnerheeren, Umweltverwüstung durch aufwendigen und relativ dazu ineffizienten Abbau von Ölschiefern in Amerika durch Fracking, was weite Ödlandschaften hinterlässt, die systematische Brandvernichtung des südamerikanischen Regenwaldes; ähnliche Entwicklungen in Afrika, sogar in Sibirien gab es zuletzt Waldvernichtung durch Brände, Meeresvergiftung durch Erdöl und Plastikmüll, atomare Verseuchung durch Unfälle und radioaktive Munition, Wasserverseuchung durch Düngechemikalien und Medikamente, Impfseuchen mit hunderttausenden Opfern (Polio, Indien) und Sterilisationen (Kenia).

    Heute sind die möglichen planetenumspannenden Auswirkungen von Machtkämpfen und Erdausbeutung zu fürchten, ansonsten Gewalt und Tücke, wie eh und je. Vieles werden wir wohl auch gar nicht erfahren, da Propaganda heute bereits sehr ausgefeilt ist. Endzeit also? Für den kleinen Mann und die kleine Frau, die wir uns jeden Tag im Spiegel sehen, mag sich das durchaus so anfühlen, wenn sie ihre Sinne nach Außen richten.

    Ganz besonders nun, da wir seit mehreren Wochen erleben, wie sich die europäischen Nicht-Diktaturen mit Sondergesetzgebungen ausstatten. Versammlungsrecht wird durch Versammlungsverbot ersetzt und das soziale Leben bis in den privaten Bereich drastisch einschränkend reglementiert. Wirtschaftliche Aktivitäten werden auf Grundversorgung gesetzt.

    Als Anlass für die Maßnahmen wird das Auftreten von Lungenentzündungen in einer Stadt in China angegeben, die von den chinesischen Ärzten einem Virus der Coronafamilie angelastet wird. China hat daraufhin eine ganze Provinz mit Quarantäne und Ausgehverbot belegt und die WHO (Weltgesundheitsorganisation) hat das Stichwort „Pandemie“ ausgegeben.

    Da ich mich noch an mehrere Seuchenwarnungen dieser Organisation in den letzten Jahrzehnten erinnere, deren Ausbreitungs- und Opferprophezeiungen sich dann nicht erfüllt haben – die Realität war dann doch um Größenordnungen milder, suchte ich in meiner Büchersammlung nach Lesestoff zum Thema Seuchen und der Interpretation von Realität.

    Ich fand: „Viruswahn“ (Torsten Engelbrecht, Claus Köhnlein, 3. Auflage 2006 – das war damals nach der „Vogelgrippe“ – auch einem Coronavirus zugeordnet), „Reality“ (Peter Kingsley, 1. deutsche Ausgabe 2012) und „Unendliche Liebe ist die einzige Wahrheit Alles andere ist Illusion“ (David Icke, zweite Auflage 2006). Das erste Buch also genau zum sich gerade entfaltenden Thema, die anderen beiden zum Verständnis der Interpretation der Wahrnehmung.

    Solcherart informiert, blicke ich nun um mich und versuche zu verstehen. Die gesetzten Maßnahmen werden als solidarische Extremmaßnahme argumentiert: „Wir befinden uns im Krieg!“, wird gesagt. Beratungsspezialisten mit Computermodellen prophezeien auch diesmal wieder rasend um sich greifende Erkrankungen und Hunderttausende oder Millionen Tote und Systemzusammenbrüche. Überzeugend ist der Versuch, weltweit ein dominantes Thema zu setzen.

    Im Unterschied zu früheren Erzählungen der WHO und staatlicher Gesundheitsbehörden über Viren- und Prionenseuchen, führen dieses Mal auch sachlich nahe liegende Meinungen, die die Propagandalinie stören, zu Gegenmaßnahmen. So wurde den Mahnungen, die Aussagekraft der eingesetzten Labortests richtig einzuschätzen und die Vorerkrankungen von verstorbenen Patienten in der Bewertung der Situation nicht stillschweigend zu ignorieren, nicht sachlich begegnet, sondern die Autoren ad personam angegriffen oder technisch behindert.

    In den elektronischen Medien verschwinden Berichte; Audios und Videos werden rasch gesperrt. Die großen Medienkonzerne im Internet sind diesbezüglich rege. Selbst unser analoges Land leistet sich im Bundeskanzleramt eine „Nicht-Zensur“-Verwaltungseinheit. („Digitaler Krisenstab“ im Kanzleramt will Fake-News bekämpfen. Bericht von DerStandard.at vom 20. März 2020.)

    Traditionelle alltägliche Printmedien bieten kriegsberichterstattungsartige Schilderungen mit Durchhalteparolen. Allenfalls Artikel über die wirtschaftlich befürchteten Folgen des weltweiten Aktionismus mit Unterbrechung von Handelswegen, Tourismus/Gastronomie und Produktionsstillständen werden geboten.

    Dieses Beharren auf einer vorgesprochenen Meinungsvariante und Bindung der Aufmerksamkeit der Menschen durch Angstthemen sind nicht zu übersehen. Willfährigkeit wird unter Strafandrohung gefordert. Das ist nicht mehr interessant, das ist bedrohlich.

    Was uns alle einzeln und auch gemeinsam so außergewöhnlich und fähig machen kann, sind weit ausgreifendes individuelles Bewusstsein, mitfühlendes Begreifen der Welt und der Wesen und darauf fußende eigene Entscheidungen. Ein Kampf um unser Bewusstsein ist in vollem Gange, viele Belastungen, Ablenkungen, Gefühle und Gedanken fesseln die Aufmerksamkeit der kleinen Männer und Frauen, damit sie nicht etwa ihre größeren Möglichkeiten erkennen und leben.

    Die Mäntelchen von Wissenschaft, Gesellschaftspolitik und internationaler Politik, Religionen und anderen Solidargemeinschaften zeigen lobbyistische Applikationen und werden uns so als neueste Menschenmode angepriesen. Mir schwant, die Macht, die Themen setzen und Richtung vorgeben will, geht nicht von den Menschen aus, deren Leben betroffen sind.

    Prophezeiungen sind immer unsicher, da es ja Aussagen über die Zukunft sind. Zunächst erwarte ich nach einer kurzfristig politisch gesichtswahrenden Lockerung der Zwangsmaßnahmen weitere propagandistisch gestaltete Krisenwellen in den nächsten Monaten und Jahren, mit zunehmendem Konformitätsdruck unter technischer Überwachung bis in die Vitalfunktionen.

    Wie wir – jeder Einzelne und wir als Menschheit uns in den nächsten Jahren entpuppen, erarbeiten wir gegenwärtig jeden Tag. Aufmerksamkeit ohne Zaudern und Urteil in der besten unserer Möglichkeiten ist notwendig, um angstfrei zu wachsen und voranzukommen. Keine Proben mehr, jeder Moment Premiere.

    Sachliche, umfassende Information zu Ereignissen die stattfinden, ist wichtig. Unser Bewusstseinszustand, in dem wir diese Informationen dann weiterverarbeiten zu unserem eigenen Weltbild und unserer Entscheidungsgrundlage aber wesentlich.
    Jeder ist darin selbst gefordert.
    ________________________________________

    Ohne Vollständigkeitsanspruch einige bewährte und auch bekannte Informationsplätze im Internet:
    nomorefakenews.com, von Jon Rappoport: Seit alternativen AIDS Hypothesen – also seit langem – auf meinem Radar, guter Journalismus, englischsprachig;

    Stimmen speziell zur derzeitigen Viruseinschätzung:
    www.wodarg.com von Dr. Wolfgang Wodarg,
    KenFM am Set: Gespräch mit Prof. Dr. Sucharit Bhakdi zu Covid-19;
    www.initiative-corona.info, Initiative für evidenzbasierte Corona Information

    Zurück zu Bukumatula 2020

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/20 Leben in interessanten Zeiten
  • Kategorie: 2020
  • Buk 1/20 Massenpsychologie des Faschismus

    Zurück zu Bukumatula 2020

    Bukumatula 1/2020

    Massenpsychologie des Faschismus

    Nach 87 Jahren wurde der Originaltext von 1933 erstmals wieder aufgelegt.
    von
    Andreas Peglau:

    Persönliches

    Die Veröffentlichung dieses Buches hat für mich eine besondere Bedeutung. Es ist mit Sicherheit der Höhe-, vielleicht auch der Endpunkt meiner Forschungen zur Psychoanalysegeschichte und zu Wilhelm Reich. Zugleich ist es ein Punkt, auf den ich mich – nicht etwa immer bewusst – im Grunde seit über 40 Jahren zubewegt habe.

    Ich bin 1957 geboren in Berlin, Hauptstadt der DDR. Mit Anfang 20 war ich zum einen Student der Klinischen Psychologie an der Berliner Humboldt Universität, zum anderen ein recht überzeugtes Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, kurz SED. Und ich war zutiefst enttäuscht davon zu erkennen, dass der Marxismus – also auch die marxistische Psychologie – zum Wesen und zu Motiven des Menschen nur äußerst dürftige Aussagen zu machen hatte.

    Aber wir lernten ja im Studium auch die Psychoanalyse kennen – und ich sagte mir: Genau das fehlt! Erst später erfuhr ich, dass sich das auch schon Wilhelm Reich gesagt hatte, 50 Jahre zuvor. Auf Reich stieß ich aber so richtig erst Anfang 1989. Da begannen meine Lebenshilfesendungen im DDR-Sender Jugendradio DT 64 mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz aus Halle an der Saale. Und Reich spielte dabei eine wichtige Rolle.

    Bald darauf halfen mir Reichs Bücher, insbesondere die „Massenpsychologie“, die psychosozialen Hintergründe des DDR-Zusammenbruchs sowie meine eigene Rolle in diesem Staat zu begreifen.
    Eine mehrjährige Reichianische Körpertherapie folgte.

    2007 – ich stand kurz vor Abschluss meiner Analytikerausbildung – begegnete ich in Berlin Lore Reich Rubin. Mein Interesse an Reich und an der Psychoanalysegeschichte, vor allem an Reichs Zeit in Berlin 1930 bis 1933 intensivierte sich. Nach fast sieben Jahren Recherche erschien dann 2013 mein Buch „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ (Peglau 2017a).

    Die „Massenpsychologie“ nahm darin einen wesentlichen Platz ein, wollte ich doch unter anderem zeigen, dass es 1933 eine fundierte sozialkritische Psychoanalyse gegen den Faschismus gab, an die schon die damaligen aber auch die heutigen psychoanalytischen Verbände hätten anknüpfen können.

    Nur ein Jahr später, 2014, setzte der politische Rechtsruck in Europa ein. Es lag für mich nahe, Reich Erkenntnisse zu dessen Verständnis zu nutzen. 2017 erschien mein zweites Buch: „Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz“ (Peglau 2017b). Parallel bemühte ich mich seit 2009, die „Massenpsychologie“ in ihrer 1933 vollendeten Ursprungsfassung wieder zu veröffentlichen. 2019 kam vom Reich-Infant-Trust aus den USA das OK dafür.

    Vor der naheliegenden Frage „Warum halte ich die Originalfassung dieses Buchs für so wichtig?“, will ich eine andere beantworten:

    Wer war Wilhelm Reich bzw.: Wer war er nicht?

    Er war nicht die querulatorisch-psychotische Randfigur, zu der ihn viele seiner psychoanalytischen Berufskollegen ab 1933 abzustempeln versuchten. Er war nicht – was man noch immer von manchen „Linken“ zu hören bekommt –, ein Antikommunist, der mit Psychologisierung und Sexualisierung vom Klassenkampf ablenkte.

    Er war aber ebenfalls nicht der lebenslange Lebens- oder Lebensenergieforscher, der sich in seiner Jugendzeit vorübergehend ein wenig mit dem Marxismus und der Psychoanalyse einließ, als den ihn manche Reichianer sehen möchten.

    Die Frage, was Leben sei, taucht in keinem einzigen der Werke auf, die Reich bis 1933 schrieb, auch nicht in der „Massenpsychologie“. Dort fragte er sich: Was ist Faschismus? Vorher wollte er zum Beispiel wissen: Wie funktioniert Heilung durch Psychoanalyse, was ist sinnvolle Psychotherapie, wie entsteht Charakterwiderstand – alles zutiefst psychoanalytische Fragen.

    Ab 1929 begriff er zunehmend, dass sich seelische Konflikte auch „physiologisch verankern“ (Reich 1987, S. 194). Daher richtete er sein Augenmerk nun zusätzlich auf körpersprachliche Mitteilungen. Seine Berliner Wohnung wurde somit um 1932 zur Geburtsstätte der Körperpsychotherapie – die zu diesem Zeitpunkt freilich noch korrekter als Psychokörpertherapie zu benennen wäre (Reich 1933a).

    Was Leben ist, das wurde frühestens 1936 für ihn zum Thema, mit seinen Bion-Forschungen. Da hatte Reich aber bereits fast 40 Lebensjahre und damit zwei Drittel seines Lebens hinter sich.

    Erstmals findet sich in einem Brief, den er am 17. März 1939 schrieb, ein „Etwas (wir wollen es vorläufig ‚Orgonität‘ nennen)“ (Reich 1997, S. 292). Die eigentliche Orgonforschung begann nach seiner Übersiedlung in die USA. Wann immer in der 1946er Massenpsychologie das Wort `Orgon´ auftaucht, ist es erst in der dritten Auflage in den Text gekommen.

    Aber wer war Reich nun tatsächlich?
    Er war einer der wichtigsten, bekanntesten, erfolgreichsten Schüler und Mitstreiter Sigmund Freuds, ein Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler, der sich ab 1935 auch der Biologie, später der Lebensenergieforschung, der Physik, der Ökologie, der Geburtskunde, der Pädagogik, der Psychiatrie zuwandte.

    Legt man Freuds Definition zugrunde, dass Psychoanalyse die Wissenschaft ist, die sich darum bemüht, Unbewusstes bewusst zu machen – in sämtlichen Lebenssphären – blieb Reich Zeit seines Lebens Psychoanalytiker.
    Antikommunist wurde er niemals, Antistalinist allerdings sehr wohl – aus nachvollziehbaren Gründen.

    Reich hat die Psychoanalyse wie auch den Marxismus in hohem Maße bereichert. Zumindest solange Psychoanalyse und Marxismus dies zuließen: nämlich nur bis 1933.

    Denn da wurde Reich – damals gerade 36 Jahre alt – zum einen aus den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen, nicht zuletzt, weil er als prominenter Antifaschist und Kommunist deren Anpassungskurs an das NS-Regime im Wege stand (Peglau 2019).

    Und er wurde nahezu gleichzeitig aus den kommunistischen Organisationen hinausgeworfen. Nicht zuletzt wegen seiner hochgradig psychoanalytisch geprägten Sichtweisen – und wegen seiner „Massenpsychologie“.

    Womit ich zu der Frage komme, was an diesem Werk von 1933 so wichtig ist.

    In keinem anderen psychoanalytischen Buch – mit Ausnahme der 1973 erschienenen „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ von Erich Fromm (Fromm 1989) – wurde die psychosoziale Basis „rechter“ Bewegungen auch nur annährend so tiefgründig erforscht und beschrieben.

    In keinem anderen Buch wurde dem Parteimarxismus so detailliert ins Stammbuch geschrieben, dass ihm ein ganzheitliches, wissenschaftliches Menschenbild, eine psychologische, vor allem tiefenpsychologische Fundierung fehlt.
    Ohne Erklärungsansätze, wie sie von niemandem genauer als von Reich beschrieben wurden, lässt sich zudem überhaupt nicht ausreichend erklären, wie es zu Krieg, Massenmord oder Holocaust kommen konnte.

    Von der Auseinandersetzung mit Reich könnten deshalb zahlreiche Forschungsarbeiten zum Faschismus profitieren, bieten sie doch in aller Regel keine befriedigenden Antworten auf zwei entscheidende Fragen: Welcher psychische Zustand versetzte Menschen in die Lage, sich aktiv an so destruktiven Bewegungen wie der nationalsozialistischen oder gar am Holocaust zu beteiligen – und wie wurde dieser Zustand herbeigeführt?

    So weist beispielsweise der Soziologe Stefan Kühl (2018, S. 54–73) zwar zu Recht darauf hin, dass Indoktrination, Sadismus, Judenhass, Fanatismus nicht genügen, um Holocaustverbrechen zu begründen. Bei Reich hätte er jedoch lesen können, dass hinter diesen Symptomen Persönlichkeitsstrukturen stehen, die in der Tat einen hohen Erklärungswert besitzen. Da Kühl dies ausblendet, ist seine Vorstellung, wie Organisationen Mordimpulse provozieren – nämlich unter anderem durch „Zwang“, „Kameradschaft“ und „Geld“ –, nicht überzeugend.

    Wie er selbst (ebd., S. 121–123, 143, 147) belegt, war niemand gezwungen, sich an diesen Gemetzeln zu beteiligen. Er bleibt auch die Antwort schuldig, wie gemeinsames Morden zu „Kameradschaft“ verdreht und die Bedeutung von Geld so überhöht werden konnte, dass sich damit das zehntausendfache Abschlachten hilfloser Frauen, Kinder und Greise motivieren ließ.

    Aber die „Massenpsychologie“ kann auch helfen, zu verstehen, wodurch es erneut zu faschistoiden Entwicklungen kommt, was dem aktuellen politischen Rechtsruck in Europa zugrunde liegt.
    Doch weshalb ist dafür die Wiederveröffentlichung der Erstauflage nötig?

    Zwei verbundene aber verschiedene Bücher

    1933 hatte Reich noch als „linker“ Psychoanalytiker und kritischer Mitstreiter Freuds geschrieben. Sein erklärtes Ziel war es, Elemente aus Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem zu verschmelzen, das er „Sexualökonomie“ nannte.
    Da er seit 1930 in Berlin lebte, war sein Buch in unmittelbarer Konfrontation mit dem damaligen politischen „Rechtsruck“ entstanden. Als Mitglied der Kommunistischen Partei und Sexualreformer war Reich in dessen Abwehr auf vielfältige Weise involviert.

    Was er dabei erfuhr und begriff, hielt er fest für die „Massenpsychologie“. Dieses Buch ist also auch ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus.

    Als Reich sich dann 1942, seit drei Jahren in den USA lebend, der Überarbeitung der „Massenpsychologie“ zuwandte, hatte sich nicht nur seine Lebenssituation gründlich geändert, sondern auch sein wissenschaftliches und politisches Selbstverständnis.

    Er hatte seiner Tätigkeit mit der Orgonforschung einen neuen Schwerpunkt gegeben. Zu Freud und Marx hatte er nun ein distanzierteres Verhältnis, mit Parteipolitik wollte er überhaupt nichts mehr zu tun haben.

    Ende 1941 – bei Kriegseintritt der USA gegen Deutschland – wurde der zu diesem Zeitpunkt noch staatenlose Reich zudem vom FBI für mehrere Wochen als „gefährlicher feindlicher Ausländer“ arretiert und im Hinblick auf seine „linken“ Aktivitäten verhört. Reich musste befürchten, aus den USA abgeschoben zu werden, vielleicht sogar nach Deutschland.
    Sieben Monate nach seiner Freilassung nahm Reich die Arbeit an der englischsprachigen Neuausgabe der „Massenpsychologie“ auf. Am 6. August 1942 schrieb er dazu an Alexander Neill:

    „Ich habe die zweite deutsche Auflage […] durchgesehen und bin zu dem Schluß gekommen, daß es falsch wäre, sie so zu veröffentlichen, wie sie jetzt ist. Das Buch ist durch und durch voller marxistischer Schlagworte, die ihre Bedeutung inzwischen gänzlich verloren haben. […] Ich werde mit der Überarbeitung des Buches fortfahren.“ (Neill/Reich 1981, S. 121)

    Mit der Veröffentlichung wartete Reich bis 1946. Im neuen Vorwort teilte er dann mit, dass er weitreichende „Veränderungen in der Terminologie“ vorgenommen habe: „Die Begriffe ‚kommunistisch’, ‚sozialistisch’, ‚klassenbewußt’, etc. wurden durch soziologisch und psychologisch eindeutige Worte wie ‚revolutionär’ und ‚wissenschaftlich’ ersetzt“ (Reich 1986, S. 22).

    1933 sollten die „seelischen Energien einer durchschnittlichen Masse, die ein Fußballspiel erregt verfolgt oder eine kitschige Operette miterlebt“, noch zu den „rationalen Zielen der Arbeiterbewegung“ umgelenkt werden (Reich 1933b, S. 55), nun zu den Zielen „der Freiheitsbewegung“ (Reich 1986, S. 51).

    Dass die Umformulierungen auch sonst nicht immer zu größerer Klarheit führten, lassen folgende Beispiele ahnen: „Das Marxsche Wort ‚Bewußtsein’ wurde durch ‚dynamische Struktur’, die ‚Bedürfnisse’ wurden durch ‚orgonotische Triebprozesse’ ersetzt, ‚Tradition’ durch ‚biologische und charakterliche Versteifung’, etc., etc.“ (ebd., S. 24).

    Reich strebte jetzt an, noch grundsätzlichere Aussagen zu treffen: über alle autoritären, lebensfeindlichen, patriarchalischen Systeme – zu denen er inzwischen den Stalinismus rechnete. Dazu benötigte er allgemeinere Formulierungen. So traten anstelle des Wortes „Kapitalismus“ vielfach Vokabeln wie „ökonomische Ausbeutung“; statt „bürgerlich“ hieß es nun meist „reaktionär“ oder „konservativ“.

    Die spezifischen Vorgänge, die am Ende der Weimarer Republik den Faschismus vorbereitet hatten, ließen sich auf diese Weise freilich nicht mehr so exakt beschreiben wie zuvor. Auch dass er als KPD-Mitglied und Sexualreformer diese Vorgänge hautnah miterlebt, sich auf Seite der Kommunisten prominent an den Versuchen beteiligt hatte, das Abdriften Deutschlands nach „rechts“ zu verhindern, war dem Text nicht mehr zu entnehmen.

    1933 hatte Reich beispielsweise über eine „Massenversammlung“ in Berlin berichtet: „Als Hauptreferent fasste ich die kommunistische Stellung zum Abtreibungsparagraphen in einigen Fragen zusammen“ (Reich 1933b, S. 186). 1946 hieß es: „I presented the sex-economic viewpoint in the form of a few questions” (Reich 1986, S. 108). Aber auch, dass der Untertitel der ersten beiden Auflagen „Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik“, das ursprüngliche Vorwort und das 1934er Nachwort gestrichen wurden, trug zu dieser Verschleierung bei.

    Der Umfang des Buches wuchs zudem durch das Einfügen von sechs zwischen 1935 und 1945 verfassten Texten auf mehr als das Doppelte. So wertvoll diese Ergänzungen auch waren: Von einem kohärenten Inhalt konnte nicht mehr die Rede sein.

    Zweifellos stellt die dritte Auflage der „Massenpsychologie“ von 1946 eine auf ihre Art erneut bemerkenswerte Weiterführung dar. Die Lektüre des Originals ersetzt sie nicht.

    Dieses Original war allerdings bereits seit 1934 vergriffen und konnte nur noch in nach 1968 kursierenden Raubdrucken gelesen werden. Oder man konnte man es sich eventuell für viel Geld antiquarisch beschaffen. Das Buch so in Händen zu halten, wie es 1933 erschienen ist, ist natürlich sehr beeindruckend.
    Aber, in aller Bescheidenheit:

    Die jetzt erschienene Neuauflage hat einen klaren Mehrwert:

    Reich weist im Vorwort selbst darauf hin, dass die „Massenpsychologie“ unter schwierigen Bedingungen entstand. Angetrieben von dem Wunsch, zeitnah eine Einordnung der dramatischen Umbrüche in Deutschland vorzulegen, stellte er sein Buch in kürzester Zeit fertig, während er zugleich versuchen musste, sich im dänischen Exil zurechtzufinden.

    Erst am 1. Mai 1933 war er in Kopenhagen angekommen. Im August oder September erschien hier bereits die „Massenpsychologie des Faschismus“. Diese Rahmenbedingungen sowie der Verlust von Teilen seines Materials dürften die Hauptgründe dafür gewesen sein, dass sich im Text eine Reihe von Fehlern einschlichen, sowohl in der Rechtschreibung – insbesondere bei Personennamen –, wie auch in der Textgestaltung.

    Da der Text für die Neuausgabe noch einmal gesetzt wurde, war es möglich, eine in dieser Hinsicht präzisere und zugleich besser lesbare Textvariante vorzulegen. Zudem habe ich eine ganze Reihe mittlerweile wenig gebräuchlicher Begriffe, Mitteilungen, Zitate und Formulierungen mit erklärenden Zusatzinformationen verknüpft. Für fast alle Personen, die Reich erwähnte – und von denen ebenfalls viele heute völlig unbekannt sind – konnte ich biographische Informationen finden. Eine ausführliche biographische und zeitgeschichtliche Einordnung schließt den insgesamt 80-seitigen Anhang ab.

    Selbst wer das Original von 1933 schon gelesen hat, wird also in der Neuausgabe eine Vielzahl von erhellenden Zusatzinformationen und Querverbindungen entdecken. Ich halte es daher nicht für übertrieben, zu sagen: Die Originalversion von Reichs „Massenpsychologie“ ist im 21. Jahrhundert angekommen.

    Dieses Original möchte ich jetzt ein wenig genauer vorstellen.

    Reichs „Vorrede“ – die wie erwähnt, in der 1946er Auflage komplett verschwunden ist – beginnt mit der Feststellung: „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten.“ Bereits mit diesem Satz lag Reich über Kreuz mit der immer mehr von Josef Stalin dominierten Komintern, dem internationalen Zusammenschluss kommunistischer Parteien.

    Denn laut deren Direktive war die Hitler-Diktatur nur die „Vorstufe“ einer „großen Umwälzung“; dass viele Genossen die Partei verließen, sogar zur NSDAP wechselten, sei eine „Härtung“ der KPD.

    Auch sonst argumentierte Reich bereits in der Vorrede fernab irgendwelcher Kominternvorgaben:

    „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgründendem, den alten Freiheitszielen der arbeitenden Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus.

    Aber der Kampf gegen das neuerstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, für die natürlichen Rechte der arbeitenden und schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeutung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer betroffenen Menschen, für die Beseitigung dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung wird weitergehen.
    (…)
    Die Formen, unter denen sich die Machtergreifung des Nationalsozialismus vollzog, erteilten dem internationalen Sozialismus eine unauslöschliche Lehre: dass die politische Reaktion sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirklichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern nur durch Weckung echter revolutionärer Begeisterung, nicht mit bürokratisierten Parteiapparaten, sondern nur mit innerlich demokratischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbeiterorganisationen und überzeugten Kampftruppen schlagen lassen wird.

    Sie belehrten uns, dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Entmutigung der Massen führt, wenn die eiserne Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirklichkeit enthüllt.
    (…)
    Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden gedrückt, enttäuscht, duldend sich verhalten, ja sogar, wenn auch in guter Überzeugung, dem Faschismus folgen, so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhänger von der sozialistischen Mission des Nationalsozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie auch über Deutschland gebracht hat, ein mächtiger Aktivposten für die sozialistische Zukunft.

    Man behindert die Entfaltung dieser geschichtlichen Kraft, wenn man die nationalsozialistische Bewegung als ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Großkapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt.

    Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und mit grossem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen.
    (…)
    Wer die Überzeugung von der wirklichen sozialistischen Schlagkraft der werktätigen Massen nicht hat und wer die positiv revolutionären Kräfte, die im Nationalsozialismus gebunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird auch keine neue Praxis der Revolution entwickeln können.“ (Reich 2020, S. 11-13)

    Vulgärmarxismus

    Im Weiteren machte Reich deutlich, dass zu den erwähnten Stärken der Nationalsozialisten insbesondere gehöre, die Menschen in ihren durch autoritäre, gefühlsunterdrückende Sozialisierung erzeugten Charakterdeformierungen abzuholen.

    Doch genau das war eben die Dimension, die der – in den kommunistischen Parteien vorherrschende – „Vulgärmarxismus“ ausblendete. Vulgärmarxismus ist, so lässt sich der „Massenpsychologie“ entnehmen, nicht zuletzt Psychologiefeindlichkeit.

    Dazu eine zweiter, etwas längerer Ausschnitt:

    „Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenannten ‚subjektiven Faktor‘ der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte, noch erfasste; sie unterließ es vor allem, die Methode des dialektischen Materialismus immer neu anzuwenden, immer lebendig zu erhalten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung mit dieser Methode neu zu erfassen.
    (…)
    Radikal sein, heißt ‚die Dinge an der Wurzel fassen‘, sagte Karl Marx; fasst man die Dinge an der Wurzel, begreift man ihren widerspruchsvollen Prozess, dann ist die revolutionäre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so landet man, ob man will oder nicht, ob man sich dialektischer Materialist nennt oder nicht, im Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise eine falsche Praxis.

    Wenn die Arbeiterbewegung versagte, so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärtsentwicklung aufhalten, nicht restlos, wahrscheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht erkannt sein.
    (…)
    Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlichstes Kennzeichen ist, die dialektisch-materialistische Methode praktisch durch Nichtanwendung zu negieren, musste daher zur Auffassung gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen Ausmaßes wie die 1929–1933 notwendigerweise zu einer ideologischen Linksentwicklung der betroffenen Massen führen müsse.

    Während sogar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von einem „revolutionären Aufschwung“ in Deutschland gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwartung nach eine Linksentwicklung der Ideologie der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu ei¬ner extremen Rechtsentwicklung in der Ideologie der proletarisierten Schichten und derjenigen, die in tieferes Elend als bisher versanken, geführt hatte.

    Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage nicht gestellt werden, wie ein Nationalistisch-Werden der breiten Masse in der Pauperisierung möglich ist.

    Mit Worten wie ‚Chauvinismus‘, ‚Psychose‘, ‚Folgen von Versailles‘, lässt sich etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Verelendung rechtsradikal zu werden nicht praktisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht wirklich erfasst. Zudem waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten.
    (…)
    Der Vulgärmarxismus trennt schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet, dass die Ideologie und das ‚Bewusstsein‘ der Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt werden.

    So gelangt er zu einer mechanischen Gegenüberstellung von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und Überbau; er macht die Ideologie schematisch und einseitig abhängig von der Wirtschaft und übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem Grunde ist ihm das Problem der sogenannten ‚Rückwirkung der Ideologie‘ verschlossen.
    (…)
    In der Tat sträubt er sich gegen die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie, indem er sie als ‚Psychologie‘, die unmarxistisch sei, abtut, und überlässt die Hand¬habung des subjektiven Faktors, des sogenannten ‚Seelenlebens‘ in der Geschichte, dem metaphysischen Idealismus der politischen Reaktion. Dem Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein von vornherein metaphysisches System und er denkt nicht daran, den metaphysischen Charakter der bürgerlichen Psychologie von ihren materialistischen Grundelementen, die die bürgerliche psychologische Forschung erbringt und die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen.

    Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben, und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsachen wie ‚Trieb‘, ‚Bedürfnis‘ oder ‚seelischer Prozess‘ als ‚idealistisch‘ verwirft. Er gerät dadurch in größte Schwierigkeiten und erntet nur Misserfolge, weil er gezwungen ist, in der politischen Praxis unausgesetzt praktische Psychologie zu betreiben, von den Bedürfnissen der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, vom Streikwillen etc. zu sprechen.

    Je mehr er nun die Psychologie leugnet, desto mehr betreibt er selbst metaphysischen Psychologismus und Schlimmeres, etwa indem er eine historische Situation aus der ‚Hitlerpsychose‘ erklärt oder die Massen tröstet, sie sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht niederringen und so fort.“ (ebd., S. 15-25)

    „Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in Bewusstsein)“ umsetze, lasse, so Reich, zwei Fragen offen:

    „Erstens, wie das geschieht, was dabei ‚im Menschenkopfe‘ vorgeht, zweitens wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst.

    Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe. Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klassengesellschaft oder die kapitalistische Produktionsweise erklären (sofern sie solches versucht, kommt regelmäßig reaktionärer Unsinn heraus, z. B. der Kapitalismus sei eine Erscheinung der Habgier der Menschen), wohl aber ist allein sie befähigt – und nicht die Sozialökonomie – zu erforschen, wie der Mensch einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit diesem Dasein fertig zu werden versucht etc.

    Sie untersucht zwar nur den einzelnen Menschen, wenn sie sich aber zur Erforschung der einer Schichte, Klasse, Berufsgruppe etc. gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse spezialisiert und das Unterschiedliche ausschaltet, wird sie zur Massenpsychologie.“ (ebd., S. 25-26).

    Sexualökonomie

    Über die Psychoanalyse urteilte Reich anschließend, sie sei

    „in ihrem klinischen Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch-materialistischen Psychologie. Durch Einbeziehung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie auf ein höheres Niveau, vermag sie die Wirklichkeit viel besser zu bewältigen, weil endlich der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist.

    Dass sie nicht sofort billige praktische Ratschläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissenschaft anzuhängen pflegt, behaftet ist, wird nur ein politischer Schreier zum Anlass nehmen, sie als Ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexualität erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrechnen.“ (ebd., S. 36)

    Die eigene Wissenschaftsrichtung, die Reich inzwischen kreiert hatte, die „Sexualökonomie“, basiere daher „auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud“.

    Sie beginne dort, „wo, nach Ablehnung der idealistischen Soziologie und Kulturphilosophie Freuds, die klinisch-psychologische Fragestellung der Psychoanalyse endet.“

    Die Psychoanalyse enthülle „die Wirkungen und Mechanismen der Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen“. Doch die Sexualökonomie frage weiter:

    „Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zur Verdrängung gebracht? Die Kirche sagt, um des Seelenheils im Jenseits willen, die mystische Moralphilosophie sagt, aus der ewigen ethisch-sittlichen Natur des Menschen heraus; die Freud’sche Kulturphilosophie behauptet, dies geschehe um der ‚Kultur‘ willen; man wird skeptisch und fragt sich, warum denn die Onanie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr der Puberilen die Errichtung von Tankstellen und die Erzeugung von Flugschiffen stören sollte.

    Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätigkeit an sich, sondern nur die gegenwärtigen Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist gern bereit die Formen zu opfern, wenn dadurch das maßlose Kinder- und Jugendelend beseitigt werden könnte.

    Die Frage ist dann nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der Gesellschaftsordnung.“ (ebd., S. 37)

    Die anerzogene moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, so Reich weiter, mache

    „ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Staatsbürgers. Als Vorstufe dazu durchläuft das Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst anpassen muss, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein.“ (ebd., S. 38)

    Sexualfeindlichkeit, Rassismus, Faschismus

    Die Sexualverdrängung stärke die politische Reaktion aber nicht nur durch diesen Vorgang. Sie schaffe zugleich

    „in der Struktur des bürgerlichen Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die herrschende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen inszeniert wird.“ (ebd., S. 40)

    Und sie werde zur Grundlage des Rassismus.
    „Die theoretische Achse des deutschen Faschismus“, schreibt Reich dazu, ist „seine Rassetheorie“. Diese Theorie werde

    „gegenwärtig in Deutschland in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis umgesetzt und wirkt sich solcherweise geschichtlich aus.

    Die Rassetheoretiker, die so alt sind wie der Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen bei Völkerschaften, wo die Vermischung infolge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung gewinnt.

    Wir werden auch keinem Faschisten, der von der überragenden Wertigkeit seines Germanentums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumenten beikommen, schon deshalb nicht, weil er nicht mit Argumenten sondern mit gefühlsmäßigen Wertungen operiert. Es ist also für die politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu wollen, dass die Neger und Italiener nicht weniger ‚rassisch‘ sind als die Germanen. Er fühlt sich als der ‚Höhere‘, und damit ist Schluss.

    Es ist nur möglich, die Rassetheorie dadurch zu entkräften, dass man über die sachliche Widerlegung hinaus ihre verschleierten Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im We¬sentlichen zwei: die objektive Funktion, den imperialistischen Tendenzen einen biologischen Mantel umzuhängen, und die subjektive Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver, unbewusster Strömungen im Fühlen des nationalistischen Menschen zu sein und bestimmte psychische Haltungen zu verdecken.“ (ebd., S. 81-84)

    Die faschistische Ideologie sei eine

    „Weltanschauung der Asexualität, der »sexuellen Reinheit«, also im Grunde eine Erscheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu.
    (…)
    Die faschistische Ideologie trennt (…) die erotisch-sinnlichen Bedürfnisse von den abwehrenden moralischen Gefühlen der im Patriarchat erzeugten menschlichen Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiedenen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend mit licht, hehr, himmelhaft, rein; dagegen ‚vorderasiatisch‘ gleich triebhaft, dämonisch, geschlechtlich, extatisch.
    (…)
    Leugnet die Religion das sexualökonomische Prinzip überhaupt, verurteilt sie das Sexuelle als eine internationale Erscheinung des Menschentums, von dem nur das Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationalistische Faschismus das Sexuellsinnliche in die ‚fremde Rasse‘, sie so gleichzeitig erniedrigend.“ (ebd., S.89-92)

    Der Nationalsozialist bekämpfe also im Feindbild des Juden auch seine eigene verleugnete Sexualität. Nicht nur die ebenso von Judenhass wie von pervertierter Geilheit gekennzeichneten Karikaturen im von Julius Streicher herausgegebenen Wochenblatt „Der Stürmer“ belegten, dass Reich hier richtig lag.

    Da sich diese Sexualitätsverleugnung wiederum nicht auf NSDAP-Mitglieder beschränke, sei Faschismus
    „das Aufbäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich todkranken Gesellschaft gegen die […] Tendenzen des Bolschewismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen Freiheit, einer Freiheit, bei deren bloßen Vorstellung den bürgerlichen Menschen Todesangst überkommt.“ (ebd., S. 67)

    Reich beschrieb damit den Faschismus als psychisches, soziales, ökonomisches sowie politisches Phänomen und ordnete ihn zugleich in umfassendere geschichtliche Zusammenhänge ein.

    Auswege

    Ein dauerhafter Schutz vor faschistoiden Entgleisungen war für ihn deshalb ohne psychologisch-psychoanalytisches Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, ohne gravierende Veränderungen in Erziehung, Bildung, Sexualität, ohne Überwindung patriarchaler Normen, nicht mehr denkbar.
    Daraus zog er im März 1934 im Nachwort zur zweiten Auflage der „Massenpsychologie“ den Schluss:

    „Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“ (ebd., S.195)

    Politische und ökonomische Umwälzungen sind dringend nötig, um jeder Art von „Rechtsruck“, Autoritarismus oder Staatsterror die Grundlage zu entziehen, genügen aber nicht: Eine psychosoziale Revolution muss hinzukommen.
    Als wesentliche Punkte, von denen aus die „Struktur der Menschen“ konstruktiv beeinflusst werden kann, arbeitete Reich die Lebensumstände von Schwangeren heraus, die Art des Geborenwerdens (natürlichere statt medizinalisierter Geburt), nichtautoritäre Erziehung und Bildung, erfüllende Sexualität und Partnerschaft, Psycho- bzw. Körperpsychotherapie.

    In den 1980er Jahren entwickelte Hans-Joachim Maaz diese Ansätze zum Konzept einer „therapeutischen Kultur“ weiter, das er in DDR-„Wende“ und „Wiedervereinigung“ einbrachte. Erwachsene sollten, so die die dahinterstehende Idee, an ihren seelischen Störungen arbeiten und dafür sorgen, dass ihren Kindern und Enkeln diese Störungen erspart bleiben.

    Zwar genügt es in Zeiten der Globalisierung einerseits nicht einmal, auf die Verhältnisse im eigenen Staat einzuwirken. Wesentliche Veränderungen beginnen jedoch andererseits nicht erst, wo „Massen“ beeinflusst werden. Sie fangen an bei ganz individuellen Bemühungen, sich eigene autoritäre Prägungen, eigene aufgestaute Gefühle bewusst zu machen und daran zu arbeiten. Der „gute Kern“, von dem Reich sprach, wird durch Sozialisation nur verschüttet. Vernichtet werden kann er nicht. Deshalb ist es lebenslang möglich, ihn wieder „freizulegen“.

    Bereits wenn wir anfangen, uns bewusster mit der uns umgebenden Realität auseinanderzusetzen, wenn wir Zusammenhänge, wie die von Wilhelm Reich benannten, in diese Auseinandersetzung einbeziehen – obwohl das zunächst Verunsicherung, Angst und Zorn auslösen dürfte – sind wir ein Stück weiter. Es mag kitschig klingen, aber es ist auch rein rational betrachtet zutreffend: Da wir Bestandteil der Welt sind, wird auch diese ein wenig besser, wenn wir besser werden.

    Und das strahlt aus auf unsere Kinder oder Enkel, eröffnet Partnerschaften und Freundschaften neue Perspektiven, lässt uns Arbeitsverhältnisse und Freizeitbetätigungen kritisch hinterfragen, schärft unser politisches Denken, erleichtert konstruktives soziales Handeln, wirkt in vielleicht homöopathischer Weise auf die Gesellschaft ein. Dass dies kein Wunschdenken ist, bestätigt mir jeden Tag meine Arbeit als Psychotherapeut.

    Kinder liebevoll ins Leben zu begleiten, aktiv nach guten und gleichberechtigten Partnerschaften, erfüllter Sexualität und psychischer Gesundheit zu streben, privat und öffentlich autoritär-lebensfeindliche Normen in Familie, Schule, Beruf, Medien, Kirche, Politik und Staat anzuprangern und nach Gleichgesinnten zu suchen, mit denen sich dagegen Widerstand leisten lässt – auch das sind wirksame Mittel, zerstörerischer Gewalt und Krieg die psychosoziale Basis zu entziehen. Nicht von heute auf morgen, doch immerhin: spätestens innerhalb der nächsten Generation.- Und das heißt ja: sehr bald.

    ________________________________________________________________________

    Quellen:

    Fromm, Erich (1989): Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, München: dtv.
    Kühl, Stefan (2018) [2014]: Ganz normale Organisationen: Zur Soziologie des Holocaust, Berlin: Suhrkamp.
    Neill, Alexander S./ Reich, Wilhelm (1989) [1986]: Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und A.S. Neill 1936–1957, hg. von Plazek, B. R., Frankfurt a. M.: Fischer.
    Peglau, Andreas (2017a) [2013]: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich u. die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial.
    Peglau, Andreas (2017b): Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ als Erklärungsansatz, Berlin: NORA.
    Peglau, Andreas (2019): Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Eine Kurzfassung, https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2019/06/Andreas-Peglau-Psychoanalyse-im-Nationalsozialismus.-Eine-Kurzfassung-2019.pdf.
    Reich, Wilhelm (1933a): Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, o.O.: Selbstverlag des Verfassers.
    Reich, Wilhelm (1933b): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, 1. Auflage, Kopenhagen/ Prag/ Zürich: Verlag für Sexualpolitik.
    Reich, Wilhelm (1934): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, 2. Auflage, Kopenhagen/ Prag/ Zürich: Verlag für Sexualpolitik.
    Reich, W. (1946). The mass psychology of fascism (3rd ed.), (Übersetzung T. P. Wolfe), New York: Orgone Institute Press.
    Reich, W. (1970). The mass psychology of fascism (3rd ed.) (Übersetzung V. R. Carfagno), New York: Farrar, Straus & Giroux.
    Reich, Wilhelm (1986) [1971]: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer und Witsch
    Reich, Wilhelm (1987) [1969]: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus, Köln: Kiepenheuer und Witsch.
    Reich, Wilhelm (1997) [1996]: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934–1939, Köln: Kiepenheuer u. Witsch.
    Reich, Wilhelm (2020): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, Der Originaltext von 1933, Gießen: Psychosozial-Verlag.
    _______________________

    Zum Buch:
    Reich, Wilhelm (2020): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik. Der Originaltext von 1933. Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau.
    Gießen: Psychosozial-Verlag, 280 Seiten, Broschur, 32,90 Euro.
    Erschienen im Januar 2020
    ISBN-13: 978-3-8379-2940-9, Bestell-Nr. 2940 DOI: https://doi.org/10.30820/9783837929409
    Auch als e-book erhältlich.

    Zum Autor:
    Andreas Peglau, Jahrgang 1957, Dr. rer. medic., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin. Von 1985 bis 1991 war er als Redakteur im DDR-Rundfunksender DT 64 unter anderem für Lebenshilfesendungen zuständig. 1990 gründete er mit anderen die Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e.V. Diverse Publikationen zur Psychoanalysegeschichte, insbesondere zu Wilhelm Reich. Weitere Informationen unter http://andreas-peglau-psychoanalyse.de

    Zurück zu Bukumatula 2020

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/20 Massenpsychologie des Faschismus
  • Kategorie: 2020
  • Buk 2/20 Dobzauer Erinnerungen

    Zurück zu Bukumatula 2020

    Bukumatula 1/2020

     

    Dobzauer Erinnerungen

    Eine (Zeit-)Reise zum Geburtsort von Wilhelm Reich Stefan Hampl, Sigmund Freud PrivatUniversität
    von
    Stefan Hampl:


    Vorwort und Danksagung

    Ich danke Wolfram Ratz für die Möglichkeit diesen Text in der Zeitschrift des Wilhelm Reich Instituts Wien veröffentlichen zu können. Mit Wolfram verbindet mich die besondere Erfahrung, dass wir im September 2017 gemeinsam das Grab von Wilhelm Reichs Vater Leon am Wiener Zentralfriedhof aufsuchten.

    Ich hatte die Grabstätte im Zuge meiner biografischen Recherchen über Wilhelm Reich entdeckt, nachdem ich sie zuvor vergeblich im ehemaligen Galizien gesucht hatte. Wolfram beruhigte mich begeistert: „Immer wieder kommt etwas Neues über Wilhelm Reich zutage!“ Da wartet dieser Erinnerungsort 100 Jahre auf seine Wiederentdeckung und erscheint plötzlich in unmittelbarer Umgebung des Reichinstituts!

    Von meinen Erzählungen über Reichs Wurzeln in Altösterreich, Galizien bzw. der Bukowina angestoßen, machte mich Wolfram auch auf Walter Kogler aufmerksam. Schon 30 Jahre vor mir war dieser in die Ukraine auf Spurensuche nach Wilhelm Reich aufgebrochen. In dem damals noch sowjetisch kontrollierten Land war Walter Kogler mit unzähligen Schikanen konfrontiert. Der dabei entstandene Reisebericht liest sich heute noch wie ein fantastischer Abenteuerroman (erschienen in Bukumatula 2/1992; abrufbar unter: https://www.wilhelmrei.ch/back-in-the-ussr).

    1987 begleitete Kogler sogar die renommierte Fotojournalistin Digne Meller Marcovicz für eine Reich-Dokumentation nach Lemberg. Der Weg zu Reichs Geburtsort blieb ihnen verwehrt. Dafür wurde Walter Kogler (gemeinsam mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt, Myron Sharaf, Elsa Lindenberg etc.) im Film „Viva Kleiner Mann!“ verewigt.

    Es würde mich freuen, wenn mein Reisebericht ebenso Ansporn für andere wäre, Wilhelm Reichs Wurzeln im damals östlichsten Teil der Donaumonarchie nachzuspüren. Jede wiederentdeckte Erinnerung bringt auch wieder eine neue Seite in uns selbst hervor.

    Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version für die Zeitschrift Bukumatula des Wilhelm Reich Instituts Wien. Quellenangabe des Originalbeitrags: Hampl, S. (2017). Dobzauer Erinnerungen. Eine (Zeit-)Reise zum Geburtsort von Wilhelm Reich. In T. Slunecko, M. Wieser, & A. Przyborski (Hrsg.), Kulturpsychologie in Wien (S. 90–127). Facultas Verlag. Nähere Informationen über meine aktuelle Reichforschung unter: www.wilhelmrei.ch oder fb.me/unchartedreich


    „Manchmal fängt etwas Neues mit einem Gespräch darüber an, was sich allzu lange wie von selbst verstanden hat, oder auch nur mit der Erinnerung an etwas, was in Vergessenheit geraten ist.“ (Schlögel 2006)

    Einleitung

    Wer hätte gedacht, dass Wilhelm Reich aus der heutigen Ukraine stammt? Dabei ist er kein Einzelfall. Auch bekannte Schauspieler wie Dustin Hoffmann, Walther Matthau oder Silvester Stallone haben ukrainische Wurzeln. Die Vorfahren bedeutender Künstler wie Andy Warhol, Lenny Kravitz und Bob Dylan, und auch die des Nobelpreisträgers für Ökonomie, Milton Friedman, stammen von dort. Die Eltern Sigmund Freuds kommen aus Brody, einem der ehemals östlichsten Außenposten der Donaumonarchie.

    Für manche Berühmtheit waren ihre Erfahrungen im Kindes- oder Jugendalter im ukrainischen (vorm. ruthenischen) Kulturumfeld für den Rest des Lebens bestimmend. So wurde etwa Kasimir Malewitschs Suprematismus von der ornamentalen bäuerlichen Malerei und Stickkunst in der Ukraine beeinflusst, dem Komponist George Gershwin diente ein ukrainisches Schlaflied als Vorlage für seinen Welterfolg „Summertime“, der Psychoanalytiker und Naturforscher Wilhelm Reich entwickelte seine Theorie der Sexualität und Charakterpanzerung aufgrund seiner jugendlichen Erfahrungen am väterlichen Gutshof (W. Reich 1994).

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte die galizische Hauptstadt Lemberg besonders viele Persönlichkeiten hervor, die bis heute für Wissenschaft und Kultur bedeutsam sind. So etwa die bekannten Schriftsteller Joseph Roth (1894-1939 Paris), Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895 Linheim), den Immunologen und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck (1896-1961 Nes Ziona, Israel), den Psychologen und Brentano-Schüler Alexius Meinong (1853-1920 Graz), den Reformpädagogen und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892-1953 San Francisco), den Ökonomen Ludwig von Mises (1881-1973 New York), zu dessen Schülern u.a. der phänomenologische Soziologe Alfred Schütz (1899 Wien-1959 New York) zählt, sowie dessen Bruder, den Mathematiker Richard von Mises (1883-1953 Boston), die Psychologin und Psychoanalytikerin Else Frenkel- Brunswik (1908-1958 Berkeley; Mitarbeiterin von Charlotte und Karl Bühler sowie Frau von Egon Brunswick).

    Der Religionsphilosoph Martin Buber wuchs bei seinen Großeltern in Lemberg auf. Auch ein prominenter Offizier stammt von dort: Oberst Alfred Redl (1864-1913 Wien), der am Vorabend des Ersten Weltkriegs österreichische Militärgeheimnisse an die Russen verriet und damit in den Augen vieler für das Ende Galiziens und damit der Habsburger-Monarchie mitverantwortlich ist.

    Wilhelm Reichs galizische Wurzeln

    In Wilhelm Reichs Autobiografie stellt der Name seines Geburtsorts eine überraschende Leerstelle dar. Wilhelm Reich wurde nach eigenen Angaben 1897 „als erstes Kind nicht unvermögender Eltern auf einem kleinen Dorf geboren“ (W. Reich 1994, S. 13). Danach übersiedelte er mit seinen Eltern auf ein größeres Landgut in der Bukowina, ging in Czernowitz aufs deutsche Gymnasium, kämpfte im Ersten Weltkrieg, bevor er 1918 zum Studium nach Wien kam, wo er Sigmund Freud kennenlernte. Dieser war von Reich offensichtlich so beeindruckt, dass er ihn mit gerade 22 Jahren noch als Student in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufnahm.

     „Wilhelm Reich im Alter von 3 Jahren, 1900“ in Dobzau? (W. Reich 1994, zw. S. 110 und S. 111.).
    Abb. 1: „Wilhelm Reich im Alter von 3 Jahren, 1900“ in Dobzau? (W. Reich 1994, zw. S. 110 und S. 111.).

    Während meines eigenen Psychologiestudiums habe ich mich nie näher mit Wilhelm Reich beschäftigt. Zwar war mir der Name geläufig, aber mein Wissen über ihn beschränkte sich auf Schlagworte sowie die Kommentare anderer: Psychoanalytiker, Kommunist, Charakteranalytiker, Sexualtherapeut, Regenmacher. Offensichtlich ein Mensch mit Ecken und Kanten. Meine nähere Bekanntschaft mit Wilhelm Reichs Lebensgeschichte beruhte schließlich auf einer folgenreichen Verwechslung.

    Eines Tages sah ich das Buch Der ‚Fall’ Wilhelm Reich (Fallend & Nitzschke 2002) am Schreibtisch eines Kollegen liegen. Es geht dabei um Wilhelm Reichs Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934. Was für ein dramatisches Schicksal für Freuds angeblich begabtesten Schüler (1) Am Abend desselben Tages lief der Fernsehfilm Der Fall Wilhelm Reich von Regisseur Antonin Svoboda (2013).

    Nach einigen Filmminuten wurde mir klar, dass es sich dabei offensichtlich um einen gänzlich anderen „Fall“ Reich handelte, der jedoch nicht minder faszinierend war: Im Zentrum des Films standen Reichs umstrittene Experimente mit Regenkanonen und Orgon-Akkumulatoren im nordamerikanischen Exil. Die dortigen Behörden ordneten die Vernichtung seiner Forschung und Verbrennung seiner Bücher an. Im Anschluss wurde Reich sogar inhaftiert.

    Er starb während der Verbüßung einer zweijährigen Haftstrafe am 3. November 1957 im United States Penitentiary, Lewisburg (Pennsylvania)(2). Wie uns der Film zu verstehen gibt, waren die USA der 1950er Jahre für jemanden wie Reich, den man als Kommunist und Quacksalber verdächtigte, alles andere als ein Ort der Freiheit. Sein Los erinnert an die Tragik eines griechischen Mythos: Dem Holocaust in Europa entkommen, wurde er ausgerechnet im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bis zum Tode verfolgt.

    Doch wo hatte dieses bemerkenswerte Leben seinen Anfang genommen? Laut Eintrag 93 aus dem Trauungsbuch des israelitischen Matrikelbezirkes Lemberg (Abb. 2) haben Reichs Eltern 1895 geheiratet. Die Mutter Cecylia stammte aus Brody nahe der ehemals österreichisch-russischen Grenze, der Vater Leon war wohnhaft in Dobrzanicy bzw. Dobrzanica (poln.; dt. Dobzau, ukr. Dorbrjanytschi), wo er eine Landwirtschaft betrieb. Laut Ratz (1994) wurde auch Wilhelm Reich dort geboren. Ob an diesem Ort wohl heute noch etwas an diesen berühmten Sohn der Gemeinde erinnern würde?

    Abb 2: Eintrag der Ehe von Leon und Cecylia Reich am 4. Juni 1895; Auszug aus dem Trauungsbuch. Quelle: Archiwum Główne Akt Dawnych (Zentrales historisches Archiv Warschau)
    Abb 2: Eintrag der Ehe von Leon und Cecylia Reich am 4. Juni 1895; Auszug aus dem Trauungsbuch. Quelle: Archiwum Główne Akt Dawnych (Zentrales historisches Archiv Warschau)

    Erhebung: Die Reise zum Geburtsort von Wilhelm Reich

    Jewish heritage travel is an odd phenomenon. We travel to these distant locations, where we usually do not speak the language, and often with very little concrete information, in search of some sort of connection. If it was knowledge about the places we wanted, an internet search would likely yield more facts than an on-site visit. We are looking for the sort of emotional knowledge that articles and photographs cannot provide. But do we find it? And perhaps more importantly, is it sufficient to satisfy our own curiosity or do we have a greater responsibility? (Adler 2017)

    Wilhelm Reich ist in Dobzau geboren, das auf Polnisch Dobrzanica und auf Ukrainisch Dobrjanytschi heißt. Als ich am 23. Juli 2015 den Namen der knapp 300-Seelen-Gemeinde Dobrjanytschi in das Navigationsgerät meines Autos eintippe, stelle ich voller Verblüffung fest, dass er prompt gefunden wird. Der Tank ist voll, das Wetter gut, also spricht nichts gegen eine kleine Landpartie mit meiner Familie.

    Die einzige Maßnahme, um sich bei aller Spontaneität ein wenig abzusichern, ist es, kurz vor Abfahrt noch beim Bürgermeister des Dorfes anzurufen. Seinen Namen und seine Telefonnummer hatte ich über eine ukrainische Internetseite recherchiert. Vielleicht konnte er uns ja bei der Suche nach dem Geburtshaus von Wilhelm Reich vor Ort behilflich sein. Von Lemberg aus dauert die Fahrt wie geplant ca. eineinhalb Stunden. Anfangs haben wir noch mit Verkehr und Baustellen zu tun, doch nach der Abzweigung in Bibrka sind wir fast die einzigen auf der Straße.

    Abb. 3: Ortsschild von Dobrjanytschi, von Osten kommend
    Abb. 3: Ortsschild von Dobrjanytschi, von Osten kommend

    „Dobrjan“: Das Ortsschild von Dobrjanytschi ist nur noch teilweise lesbar. Noch ahne ich nicht, wie bezeichnend dieser erste Hinweis für den weiteren Verlauf meiner Forschung sein wird. Wir fahren in den Ort hinein und fragen einen jungen Mann am Straßenrand nach dem Bürgermeister. Er empfiehlt uns, weitere 200 Meter geradeaus zu fahren. Die Dorfstraße ist in sehr schlechtem Zustand; der Asphalt hat sich zu den Rändern hin aufgelöst.

    Wir holpern mit unserem Auto langsam den Hügel hinauf. Vor einem zweistöckigen, dunkelroten Haus auf der linken Seite bleiben wir stehen. Nachdem es das einzige mehrgeschossige Haus in der Straße ist, vermuten wir, dass es sich wohl um das Gemeindeamt handeln dürfte. Ein älterer Herr in für ländliche Verhältnisse gepflegtem Äußeren steht vor dem Tor und winkt uns zu. Es handelt sich um den Bürgermeister Senowyj Wynnyzkyj.

    Er hat uns schon erwartet. Wir steigen aus und begrüßen ihn mit Handschlag. Er ist sichtlich erfreut über unseren Besuch. Fremde Leute kommen nicht oft in diese Gegend. Das letzte Mal seien vor etwa fünf Jahren ein paar Ausländer hier gewesen. Diese hätten ebenso nach Wilhelm Reich gesucht; vermutlich Verwandte von ihm, sagt der Bürgermeister. Mit der Frage nach Reichs Geburtshaus bringen wir ihn in Verlegenheit. Vor einigen Jahren hätte ein Historiker aus Lemberg, Vasil Laba, die Geschichte der Gegend untersucht. Mitunter könne dieser uns mehr erzählen. Er selbst sei zwar schon einige Zeit Bürgermeister, aber leider zu jung (ca. Mitte 60), um uns nähere Auskünfte zu geben.

    Er sieht jedoch eine Chance darin, eine der ältesten Dorfbewohnerinnen, Frau Kateryna bzw. Pani Kateryna, wie man in der Ukraine sagt, zu fragen. Sie könnte sich vielleicht erinnern. Zwar sei sie nicht die allerälteste, verfüge jedoch über ein hervorragendes Gedächtnis und kenne jeden, der in diesem Dorf lebe und einmal gelebt habe. Sogleich macht sich der Bürgermeister auf, Pani Kateryna zu suchen und kehrt mit ihr drei Minuten später zurück.

    Pani Kateryna

    Abb. 4: Pani Kateryna (rechts im Bild) im Gespräch mit der ältesten Dorfbewohnerin
    Abb. 4: Pani Kateryna (rechts im Bild) im Gespräch mit der ältesten Dorfbewohnerin

    Pani Kateryna, eine rüstige 82-jährige, setzt sich in den Schatten eines Baumes und übernimmt gleich die weitere Gesprächsführung. „Um wen handelt es sich bei dem Gesuchten? (…) Hatte dieser eine Frau oder Verwandte? (…) Wenn er berühmt war, müsste er doch am oberen Ende der Straße gewohnt haben…“. „Nein, berühmt war er damals nicht“, entgegnet der Bürgermeister. „Naja, aber an die Deutschen erinnern wir uns und auch an die Juden“, sagt Pani Kateryna. „Da gab es zum Beispiel die Kortschmi (3), dort waren Juden.“ (…) „Hanna hatte doch einen Jungen mit roten Haaren, wie hieß der nochmal?“ (…) „Wie hat man Wilhelm Reich denn als Kind gerufen“, werde ich gefragt.

    Auf die Frage fällt mir auf die Schnelle und wenig geistreich nur „Willy“ ein. In dem Moment scheint es mir absurd, dass Reich ausgerechnet hier in der heutigen Ukraine so gerufen worden sein könnte. Es überrascht mich daher wenig, dass die Versammelten mit dem Spitznamen sichtlich wenig anfangen können. Erst meine späteren Recherchen bestätigen meine damalige Intuition. „Willy“ dürfte tatsächlich Reichs Spitzname gewesen sein, zumindest während seiner Studienzeit in Wien (Sharaf 1994, S. 44).

    Pani Kateryna fährt fort, ihr Gedächtnis nach weiteren Personen zu durchforsten, die aus ihrer Sicht einen Beitrag zur Suche nach Wilhelm Reich leisten könnten. Jeden Namen, der ihr einfällt, spricht sie laut und deutlich aus; jeden Menschen ihrer Erinnerung charakterisiert sie anhand von Merkmalen, die für ihn bzw. sie typisch gewesen sind. Es kommt einem so vor, als würde sie auf diese Weise versuchen, sich selbst, aber auch den anderen so etwas wie „Erinnerungsbälle“ zuzuwerfen, um die bestehende Gedächtnislücke der Gruppe möglichst rasch zu schließen. „An Scheiko kann ich mich etwa erinnern, der ist hier bei Mamas Haus begraben“.

    Mit meinem bruchstückhaften Ukrainisch versuche ich den Erzählungen einigermaßen zu folgen. Wie mir auffällt, scheinen sie sich zunehmend im Kreis zu drehen. Keine anfangs noch so vielversprechende Familienspur führt letztlich zu Wilhelm Reich; für die Gruppe Grund genug, auch meine Beziehung zu ihm zu thematisieren. „Warum sucht dieser Herr eigentlich nach diesem Reich“, fragt Pani Kateryna den Bürgermeister.

    Dass ich mich einfach für den Geburtsort eines bekannten Menschen interessiere, scheint den Beteiligten nicht unmittelbar einzuleuchten. Reich müsse sicher ein Vorfahre von mir sein, vielleicht mein Großvater oder Urgroßvater. Warum sollte schließlich ein Fremder hier einen anderen Fremden suchen? Ich werfe einen kurzen Blick auf meinen kleinen Sohn, der neben uns gerade versucht ein Huhn zu fangen. Er wäre dann wohl Reichs Ururenkel.

    Im kindlichen Treiben fallen Vergangenheit und Gegenwart in eins. Fast ist es, als ob der kleine Wilhelm Reich (Abb. 1) hier zu unseren Füßen spielen würde. Die frühesten Erinnerungen der Dorfbewohner sind ihre eigenen Kindheitserinnerungen und diese setzen erst mit Mitte der 1930er-Jahre ein. Eine zentrale Zäsur für das Dorf – darin sind sich alle Beteiligten einig – stellt der Einmarsch der Sowjettruppen 1939 ins damals polnische Dobrzanica (ukr. Dobrjanytschi) dar. Bis zum heutigen Tag sei die Ukraine von den „Ruskis“ (umgs. für ‚Russen’) bedroht, sagt Pani Kataryna.

    Damit spitzt sich das Gespräch in weiterer Folge auf eine einzige Schlüsselfrage zu, nämlich ob Reich vor oder nach den „Moskali“ (ebenso umgs. für ‚Russen’) in Dobrjanytschi war. „Wenn Reich früher da gewesen ist, dann ist eine Erinnerung an ihn grundsätzlich unmöglich“, deklariert Frau Kateryna mit Nachdruck. Nähere Auskunft hätte höchstens ihr verstorbener Vater geben können, oder der Lehrer der deutschen Schule, auf die sie im Ort als Kind gegangen sei. „Dieser Lehrer habe aber leider weder Frau noch Kinder gehabt“, ergänzt der Bürgermeister. Entmutigt seufzt er, weil in Ermangelung von Nachkommen auch diese Spur im Sand verläuft.

    An dieser Stelle fällt mir wieder ein, warum wir ursprünglich hergekommen waren: um das Geburtshaus von Wilhelm Reich zu finden. Frau Kateryna erinnert sich, dass einer der Juden oben am Hügel gewohnt hätte und ein zweiter … – an dieser Stelle fällt ihr der Bürgermeister jäh ins Wort. Diese Idee könne sie gleich verwerfen, denn der Gesuchte sei schließlich Österreicher oder Deutscher und kein Jude gewesen.

    Mein Kommentar, dass das eine das andere nicht ausschließe, stimmt ihn sichtlich nachdenklich. Zögerlich bestätigt er meine Aussage und wendet sich dann verlegen ab. Mir kommt vor, dass ihm die Situation peinlich ist. Im Nachhinein kann es für den Bürgermeister tröstlich sein, dass auch mir im Zuge der weiteren Forschung ähnliche Denkfehler aus Selbstverständlichkeit unterlaufen werden.

    Abschließend empfiehlt uns Pani Kateryna, im alten Teil des Friedhofs weiterzusuchen. Dort gäbe es noch „deutsche“ Gräber, die uns vielleicht weiterhelfen könnten. Wir verabschieden uns von ihr und den übrigen Dorfbewohnern und Dorfbewohnerinnen (zwischenzeitlich sind insgesamt zirka sechs bis sieben Nachbarn um uns versammelt) und steigen mit dem Bürgermeister ins Auto. „Über Stock und über Stein…“ – diese deutsche Redensart gibt uns Pani Kateryna noch auf den Weg mit. Sie war ihr ganz zuletzt noch aus ihrer Kindheit eingefallen. Ich denke daran, während wir die holprige Straße zum Friedhof hinauffahren. Die Straße wird von den Dorfbewohnern heute noch „Koloniya“ genannt, weil dort einmal die „deutsche Kolonie“ des Ortes gewesen sei.

    Deutsche Kolonie, deutscher Überfall, deutscher Lebensraum

    Beim Gedanken an die „deutsche Kolonie“ kommt mir unmittelbar der „deutsche Überfall“ auf Polen vom 1. September 1939 in den Sinn. Zwar hatten wir in Dobrjanytschi noch nicht das Geburtshaus von Wilhelm Reich gefunden, jedoch standen wir zweifelsohne an einem jener scheinbar unspektakulären, aber geschichtsträchtigen Orte, an dem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte.

    Genau aus westlicher Richtung, in die wir gerade fuhren, dürfte die Deutsche Wehrmacht damals angerückt sein. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl der Beklemmung. Was würde ich tun, wenn dies in eben diesem Moment passieren würde? Ich versuche mir vorzustellen, wie die Dorfbevölkerung reagiert und wie anschließend das Dorfleben unter deutscher NS-Verwaltung ausgesehen haben mag.

    Gut, dass Wilhelm Reich damals schon weg war, denke ich mir. Die Juden wurden sicher alle auf grausame Weise ermordet, so wie in der nächsten größeren Stadt Rohatyn (s.u.). Die „Deutsche Kolonie“ in Dobrjanytschi: Welch ein Euphemismus für eine der Keimzellen nazideutscher Lebensraumpolitik im Osten! Doch noch war ich zu sehr in meiner eigenen Vorstellungswelt und kannte nicht die ganze Geschichte.

    Pan Ivan

    Bürgermeister Wynnyzkyj reißt mich jäh aus meinen Gedanken. Er bittet mich anzuhalten. Wir könnten es noch bei Herrn Ivan bzw. Pan Ivan versuchen, der in einem der Häuser an der rechten Straßenseite der Koloniya wohne. Dieser sei zwar nicht mehr so gut bei Gesundheit, gehöre aber wie Pani Kateryna zu den Dorfältesten. Vielleicht habe er noch eine Erinnerung an Wilhelm Reich. Wieder lassen wir das Auto auf der Straße stehen und gehen zu Fuß den Weg zum Haus hinunter.

    Der Eingang zum Haus liegt auf der rückwärtigen Seite. Über der Eingangstür befindet sich eine mehrfach übermalte Plakette. Laut Bürgermeister sei diese noch von den Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg hier gewesen seien. Angeblich war dies das Haus eines der Kommandanten. Die Türe steht offen, der Bürgermeister tritt ohne Umschweife ein. Über einen kleinen Vorraum gelangen wir direkt in die Küche. Dort sitzt Pan Ivan auf einem Stuhl. Der Bürgermeister fragt ihn nach Wilhelm Reich. Ob Pan Ivan wisse, wo dieser gewohnt habe.

    Pan Ivan erhebt sich schwerfällig, gestützt auf einen Krückstock, um besser zu sehen, wer gekommen war. Der Bürgermeister wiederholt die Frage: „Wissen Sie, wo Wilhelm Reich gewohnt hat?“. Jawohl das wisse er, sagt Pan Ivan: „Unten beim Dorfbrunnen!“ Wir sind völlig verdattert; auch der Bürgermeister. Pan Ivan geht auf uns zu. „Und diesen Brunnen gibt es doch noch heute!“, setzt er fort. Der Bürgermeister kennt den Brunnen, aber fragt nach, ob er die Antwort auch richtig verstanden hat: „Und dieser Reich hat wirklich dort unten gelebt?“. „Jawohl, dort hat er gelebt!“, bekräftigt Pan Ivan. „Dort hat er gelebt!“ Jetzt sind wir gänzlich aufgescheucht.

    Damit hatten wir nicht gerechnet. Ausgerechnet im ehemaligen Haus eines deutschen NS-Kommandanten erfahren wir etwas über den österreichischen Juden Wilhelm Reich! Der Bürgermeister drängt uns ins Freie. Da Pan Ivan nicht mehr gut sehe, sollen wir besser draußen weiterreden.

    Abb. 5: Deutsche Beschriftung über dem Türstock; rechts: Pan Ivan in der Küche sitzend
    Abb. 5: Deutsche Beschriftung über dem Türstock; rechts: Pan Ivan in der Küche sitzend

    Unter dem Türstock des Hauses bleibt Pan Ivan stehen und beginnt uns von Wilhelm Reich zu erzählen. Er selbst sei jetzt 86 Jahre alt, 1930 geboren. „Entschuldigen Sie, aber ein wenig hab’ ich schon gelebt. An die Deutschen – da erinnere ich mich an alle! Schließlich bin ich mit ihnen aufgewachsen!“.

    Im anschließenden Gespräch amüsieren sich der Bürgermeister und Pan Ivan über Pani Kateryna: Die „Kozlyka“ könne sich an „gar nichts mehr erinnern“, so der Bürgermeister. Ich selbst bin voller Aufregung, dass wir mit Pan Ivan jemanden gefunden haben, der uns weiterhelfen kann – endlich ein Zeitzeuge, der den Namen der Familie Reich kannte und sogar wusste, wo diese einmal gelebt hatte.

    Nachdem sich unsere erste Euphorie gelegt hat, beginnen sich jedoch auch Zweifel an Pan Ivans Ausführungen zu regen. Wenn Ivan 1930 geboren sei, was genau könne er dann von Wilhelm Reich erinnern, fragt der Bürgermeister.

    „Was war er für ein Mensch? Wer war er?“ Pan Ivan blickt zu Boden und atmet tief aus. „Er war Deutscher, er war Jude, er war Österreicher“, sagt der Bürgermeister. Pan Ivans Blick wandert, er wirkt in Gedanken versunken und nach Worten ringend. „Das … weiß ich schon … nicht mehr …“. Mehrmals setzt er an, um fortzusetzen: „Ich bin schon lange … lange, lange ist es her … vor langer Zeit bin ich mit diesen Deutschen hier aufgewachsen!“. Sein Ton wird plötzlich weinerlich; Pan Ivan kommen die Tränen. Mit einem karierten Stofftaschentuch setzt er vergeblich an, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Denn die Präsenz der Vergangenheit scheint nun seine Hand zu führen.

    Gestikulierend bringt er zum Ausdruck: „Sie haben mir zu Essen gegeben!“. „Ich war erst 2 Monate alt, als mein Vater starb. Ich war so unsagbar arm, dass ich fast verhungert wäre!“. Erst jetzt gelingt es ihm die Hand zum Gesicht zu führen und sich mit dem Taschentuch die Augen zu trocknen. „Diese Deutschen haben mich aufgefangen.

    Heinrich hieß einer. Ich ging zu dessen Haus. Der deutsche Dorfvorsteher Karl fragte dort seine Frau: „Lisa hast du dem Jungen schon zu essen gegeben? … Gib ihm zu essen!“. Pan Ivan schnäuzt sich und lächelt zufrieden. Die Deutschen waren anständige Leute und haben ihm als Kind das Leben gerettet.

    Die Anschlussfrage des Bürgermeisters „könnte es sein, dass Sie diesen Heinrich vielleicht mit Wilhelm Reich verwechseln?“, wird von Pan Ivan nur am Rande zur Kenntnis genommen. „Ach wissen Sie“, sagt er, „die Menschen wechseln eben. Der eine heiratet, der andere stirbt, …“. „Und haben Sie vielleicht das Buch über die Geschichte Dobrjanytschis?“, will der Bürgermeister abschließend wissen. „Ja, das habe ich!“, sagt Pan Ivan.

    „Aber wissen Sie, bei mir ist momentan ein Umbau im Gange …“. Bürgermeister Wynnyzkyj senkt den Blick. Laut seiner Auskunft würde uns dieses Buch von Vasil Laba die Antworten auf all unsere Fragen bieten. Doch wie es den Anschein hat, bleibt es ebenso verschollen, wie das Geburtshaus von Wilhelm Reich. Je mehr wir danach suchen, umso mehr entzieht es sich uns.

    Reichs Geburtshaus?

    „Viele Dorfhäuser waren hellblau gestrichen. Früher bedeutete das, dass hier ein heiratsfähiges Mädchen wohnte“ (Pollack 2014, S. 90).

    Abb. 6: Verfallenes Haus entlang der Koloniya-Straße
    Abb. 6: Verfallenes Haus entlang der Koloniya-Straße

    Pan Ivan hatte uns den Hinweis gegeben, dass die Familie von Wilhelm Reich am unteren Ende der Koloniya-Straße gewohnt haben könnte. Wir steigen also ins Auto und fahren abermals in die Richtung zurück, aus der wir ursprünglich gekommen waren. Während wir im Schritttempo langsam die Dorfstraße hügelabwärts rollen, mustern wir jedes einzelne Haus entlang des Weges auf Hinweise, die auf eine ehemalige Nutzung durch die Familie Reich hindeuten könnten: vielleicht die Bauform, vielleicht das Alter, vielleicht der Zustand? Irgendwie sehen die Häuser alle gleich aus.

    Ich meine die typischen ukrainischen Lehmhäuser zu erkennen, die ich auch schon in anderen galizischen Dörfern gesehen habe: längliche, eingeschossige Bauten mit Satteldach. Ein besonders verfallenes Haus mit klaffenden Rissen in den Wänden springt mir auf der linken Straßenseite ins Auge. Könnte das das Geburtshaus von Wilhelm Reich sein? Der Bürgermeister winkt ab.

    Dieses Haus sei baufällig geworden, weil es einfach schon zu lange leer stehe. Ein großes Problem des Ortes sei, dass die Jungen weggingen und die Alten sterben. Dann sei niemand mehr da, um die alten Gemäuer in Stand zu halten. Erst letzte Woche sei wieder eine ältere Frau verstorben – gleich da unten in dem hellblauen Haus. Vielleicht handle es sich dabei ja sogar um das gesuchte Objekt, gibt sich der Bürgermeister plötzlich überraschend zuversichtlich.

    Wir halten an und steigen aus. Der Bürgermeister eilt voraus, um uns das Gatter zum Grundstück zu öffnen. Hier habe die verstorbene Dame gewohnt. Wir schauen durch die Fenster ins Haus hinein und schaudern ein wenig. Viel ist aufgrund der Vorhänge nicht erkennbar, aber auf dem Sims stehen noch Blumen und ein paar lila Rosen, von denen manche noch blühen, während von den anderen schon die Köpfe hängen.

    Es ist spürbar, dass hier vor Kurzem noch jemand gelebt hat. Wir mustern auch die Eingangstüre, aber diese ist durch ein Vorhängeschloss versperrt. Der Bürgermeister hat keinen Schlüssel. Er vermutet jedoch, dass im bewaldeten hinteren Teil des Grundstücks einmal ein weiteres Haus gestanden haben könnte.

    Abb. 7: Das verlassene Haus (Koloniya-Straße Nr. 8) einer vor kurzem verstorbenen Frau; welke Blumen auf der Fensterbank
    Abb. 7: Das verlassene Haus (Koloniya-Straße Nr. 8) einer vor kurzem verstorbenen Frau; welke Blumen auf der Fensterbank

    Er beginnt sich den Weg durch zum Teil knie- bis hüfthohes Gestrüpp zu bahnen. Der Waldboden ist mit dichten Doldengewächsen bedeckt, die den Blick auf den Boden behindern. Überwucherte Fundamente wären hier mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Außerdem wissen wir ja nicht, ob das Haus, das hier einmal gestanden haben könnte, irgendwann baufällig geworden und in sich selbst zusammengestürzt oder im Zuge ethnischer Säuberungen gewaltsam entfernt worden war.

    Während wir uns im Dickicht vorantasten und mit den Schuhspitzen den Boden nach harten Widerständen abtasten, erfasst mich auf einmal wieder ein Gefühl der Beklemmung. Ich erinnere mich an einen Besuch des ehe- maligen tschechischen Dorfes Lidice. Dieser Ort, der seit dem Mittelalter existiert hatte, wurde von den Nazis 1942 dem Erdboden gleichgemacht und samt seiner 503 Einwohner/inn/en (davon 98 Kinder) von der Landkarte getilgt.

    Zum Gedenken an diese unvorstellbare Gräueltat ist das Gelände nach Kriegsende nicht wieder besiedelt worden. An die übermächtigen Ausmaße dieser Auslöschung erinnert heute die Landschaft selbst – als ungeheure Leerstelle. Mit jedem Schritt, den man im weitläufigen Gelände von Lidice setzt, wird man von dem unfassbaren Schrecken erfasst, der hier stattgefunden hat – obwohl und gerade, weil hier außer Wiesen und Bäumen nichts mehr davon zu sehen ist!

    Nach unserer Reise nach Dobrjanytschi stoße ich auf ein Buch des österreichischen Journalisten und Galizienforschers Martin Pollack, Kontaminierte Landschaften (2014). Im dritten Kapitel beschreibt Pollack eine Begebenheit, die mich aufhorchen lässt, weil sie mich an meine eigene „Feld“-Forschung erinnert.

    Seine Geschichte hat sich nur etwa 20 km weiter südlich von Dobrjanytschi zugetragen: Vor den Augen erstaunter ukrainischer Dorfbewohner sucht ein amerikanischer Wünschelrutengänger nahe der Kleinstadt Rohatyn ein Feld nach jüdischen Massengräbern ab. Aber solange man nicht im Boden gräbt, ist nichts zu finden. Am 20. März 1942 wurden in Rohatyn(4) mehrere tausend Juden brutal ermordet, was in etwa der Hälfte der Bevölkerung entsprach.

    In Dobrjanytschi lebten (entsprechend dem galizischen Durchschnitt) vor 1939 vermutlich etwa 10% Juden; 1881 wurden sogar 103 der damals 623 Dorfbewohner/innen der „israelischer Konfession“ (Sulimierski & Walewski 1881, S. 83) zugeordnet; heute gibt es hier keinen einzigen mehr. Der bekannteste (jüdische) Sohn des Dorfes, Wilhelm Reich, war während des Massakers von Rohatyn 1942 schon weit weg in Amerika.

    Dass er im selben Jahr sein berühmtes Forschungslabor Orgonon gründete und das ausgerechnet in den weitläufigen Feldern des ländlichen Bundesstaats Maine, hat vor diesem Hintergrund eine besondere Note. Fast wirkt es als wäre die galizische Heimat in Reichs Leben gerade in dem Moment im Westen wiederauferstanden, als sie im Osten endgültig unterging. Der Überlieferung nach habe Wilhelm Reich beim Aufbau seines 1,1 km2-Forschungsanwesens in Maine regelrecht den gutsherrenhaften Habitus seines Vaters Leon(5) angenommen: „Reich also seems to have very much taken after his father in his excellence at ‘running things’.

    Indeed, at Orgonon he took pleasure in managing all kinds of practical matters from construction to the selling of timber” (Sharaf 1994, S. 45). Bourdieu u. a. (2009, S. 118) gehen davon aus, dass „der bewohnte (bzw. angeeignete) Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert“. Aus dieser soziologischen Perspektive kann man in dem genannten Beispiel auch eine Art „Beharrungskraft der Strukturen des Sozialraums“ im physischen Raum erkennen.

    Was bedeutet das im Gegenzug für Dobrjanytschi? Wenn die Menschen sich hier nicht weiter zurück als an ihre eigene Kindheit erinnern, gibt es dann auch umgekehrt so etwas wie „Beharrungsstrukturen des physischen Raums“ im Sozialraum? Falls ja, so könnte dies es uns vielleicht ermöglichen, die Strukturen dieses Sozialraums zu rekonstruieren. Nur welche Chance auf Antworten haben wir, wenn auch die materiellen Anhaltspunkte im Raum durch die wechselnden Gewaltregimes der Nazis und der Sowjets sowie zwei zerstörerische Weltkriege ausgelöscht wurden?

    ryna kommt zurück und zerstreut jede Hoffnung; rechts: das Eingangstor zum Friedhof
    ryna kommt zurück und zerstreut jede Hoffnung; rechts: das Eingangstor zum Friedhof

    Nachdem wir auf dem Grundstück weder auf Fundamente noch auf Gräber gestoßen sind, brechen wir unsere Suche nach Reichs Geburtshaus in Dobrjanytschi nun endgültig ab. Pani Kateryna kommt gelaufen, um uns mitzuteilen, dass Pan Ivan uns vollkommen in die Irre geleitet habe. An der Stelle, an der wir gesucht hätten, habe nie ein Wilhelm Reich gelebt.

    Wie sie uns bereits gesagt habe, sei der Friedhof der einzige Ort, an dem wir unser Glück noch versuchen könnten. Wir beschließen ihrem Rat Folge zu leisten und drehen abermals um, da der Friedhof ja am oberen Ende des Hügels liegt. Damit fahren wir nun bereits das fünfte Mal über die Koloniya-Straße, diesmal bis an deren Ende, wo sich der Weg nach Süden und nach Norden teilt.

    Kurz vor der Abzweigung zum Friedhof bleiben wir auf der rechten Seite bei einem Gemischtwarengeschäft stehen, um uns ein paar Knabbereien und etwas zu trinken zu kaufen. Zugleich ist es eine gute Gelegenheit, nebenbei noch schnell eine kleine Aufmerksamkeit für den Bürgermeister zu besorgen. Die Zeit drängt ein wenig, da der Bürgermeister noch in den Nachbarort Tutschne muss, der ebenso zum Verwaltungsbereich von Dobrjanytschi gehört.

    Dort hätte er einen Streit zwischen zwei Nachbarn zu schlichten, die sich wegen gefangener Forellen in die Haare gekriegt haben. Da der Bürgermeister ohne Auto gekommen ist, bieten wir ihm an, ihn auf unserem Heimweg nach Lemberg in Tutschne abzusetzen.

    Der Friedhof: Eine Zeitreise nach Altösterreich

    Abb. 9: Bürgermeister Wynnyzkyj im dt. Teil des Friedhofs von Dobrjanytschi
    Abb. 9: Bürgermeister Wynnyzkyj im dt. Teil des Friedhofs von Dobrjanytschi

    Ruhe sanft
    Des Lebens Kummer
    Drückt nicht mehr
    Dein edles Herz
    Rosine Mathias geb. Ario 1899
    (Inschrift auf einem Grabstein am Friedhof von Dobrjanytschi, Abb. 11)

    Der Friedhof liegt an der Verbindungsstraße zwischen der ehemaligen deutschen Kolonie und dem eigentlichen Ortskern von Dobrjanytschi (Abb. 12). Wir geben uns keiner großen Hoffnung hin, hier am Ende noch eine Spur zu Wilhelm Reich zu finden. Laut seiner Autobiografie (W. Reich 1994) sind seine beiden Eltern zirka 200 Kilometer südlich in Jujinetz bei Czernowitz verstorben.

    Dass wir auf die Gräber weiterer Familienangehöriger stoßen könnten, halten wir für unwahrscheinlich. Für Juden gab es mit Sicherheit, wie auch in anderen Dörfern Galiziens, einen separaten Friedhof. Die jüdischen Friedhöfe wurden jedoch vielfach von den Sowjets zerstört, die Grabsteine entfernt und teilweise als Baumaterial verwendet. Der deutsche Fotograf Christian Herrmann dokumentiert in Form von „Galizischen Diptychons“ aktuelle Funde dieser Art und veröffentlicht sie auf Facebook.

    Abb. 10: Mit jüdischen Grabsteinen gebauter Schweinestall in Monastyryska, Quelle: Christian Herrmann (April 2017)
    Abb. 10: Mit jüdischen Grabsteinen gebauter Schweinestall in Monastyryska, Quelle: Christian Herrmann (April 2017)

    Galician Diptych II – The Jewish cemetery of the Galician town of Monastyryska in Ukraine was destroyed in the 1980s, shortly before the Soviet Union imploded. The tombstones were smashed into pieces and used to build the base of a pigsty of a collective farm in the neighbouring village of Horishnya Slobidka. There, were [sic!] the plaster is crumbling, Hebrew letters are getting visible (Herrmann 2017).

    Wäre ein Angehöriger der Familie Reich am Friedhof von Dobrjanytschi begraben, hätten der Bürgermeister oder die übrigen Dorfbewohner bzw. -bewohnerinnen uns wohl darauf hingewiesen. Die Einträge im Trauungsbuch (Abb. 2) bestätigen, dass Reichs Mutter Cäcilie Roniger-Reich offensichtlich aus dem 90 Kilometer entfernten Brody stammte. In den Biografien von Wilhelm Reich selbst (W. Reich 1994) sowie jener seiner Frau Ilse (I. O. Reich & Reich 1975) und der seines Sohns Peter (P. Reich 2015) gibt es jedoch keine Angaben zum Verbleib der Großeltern.

    Laut Sharaf (1994, S. 56) soll Reichs vermögender Onkel Josef Blum, dessen Landgut in Jujinetz Reichs Vater Leon bewirtschaftete (Sharaf 1994, S. 43), sein gesamtes Vermögen in der Wirtschaftskrise von 1929 verloren haben. Er habe dann einen Platz im B’nai Brith Altersheim ergattert. Seine Schwester und Reichs Großmutter mütterlicherseits, Josephine Roniger, wäre ohne die finanzielle Unterstützung von Reichs erster Frau Otilie auf der Straße gelandet.

    Reich versagte der eigenen Großmutter jegliche Hilfe, da sie ein Leben lang seine Mutter gegen seinen Vater aufgehetzt habe. Wo Josef Blum und Josephine Roniger genau begraben sind, ist nicht bekannt. Auch der Verbleib von Leon Reichs Bruder, dem Juristen Arnold Reich, ist ungewiss. Wilhelm Reich selbst wurde 7000 km weit von Dobrjanytschi entfernt auf seinem Anwesen Orgonon in Rangeley, Maine beigesetzt.

    Abb. 11: Grabsteine in deutscher Sprache: Rosine Matthias (1841-1899), Christian Fischer (1818-1881) und der Lehrer Franz Fischer (1856-1920)
    Abb. 11: Grabsteine in deutscher Sprache: Rosine Matthias (1841-1899), Christian Fischer (1818-1881) und der Lehrer Franz Fischer (1856-1920)

    Nichtsdestoweniger folgen wir dem Bürgermeister auf den Friedhof von Dobrjanytschi. Letztlich überwiegt die Neugierde, dort vielleicht doch noch etwas Interessantes zu entdecken. Im Zentrum des Friedhofs befindet sich ein mit Blumen geschmücktes Grabmal, das den Widerstandskämpfern des Dorfes im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist. Von dort aus gelangen wir in einen Winkel am Rande des Friedhofs, der von hohen Bäumen bewachsen und am Boden von Pflanzen überwuchert ist.

    Dort finden wir tatsächlich eine Reihe von deutschen Grabsteinen in unterschiedlich gutem Zustand: Die meisten sind überwachsen, manche sind umgekippt, viele stehen schief. Wie sich anhand der Jahreszahlen entziffern lässt, sind diese Gräber älter als viele andere am Friedhof und fallen sogar tatsächlich genau in die Zeit, in der Wilhelm Reich geboren wurde. „Franz Fischer, Lehrer, 1858-1920“ (Abb. 11): Er könnte die Familie Reich gekannt haben, insbesondere da sich Reichs Vater Leon der deutschen Kultur gegenüber sehr verbunden fühlte.

    Nicht zuletzt benannte Leon Reich seinen ersten Sohn nach dem deutschen Kaiser Wilhelm, den er als „Ideal“ verehrt haben soll (W. Reich 1994). Ach, wenn man die Verstorbenen nur fragen könnte! Ich fotografiere die Grabsteine. Auch wenn uns die Spuren vor Ort nicht weiterführen, so erhoffe ich mir, dass die Namen der Verstorbenen mir zumindest im Nachhinein bei der weiterführenden Recherche dienlich sein werden. Jedenfalls sind sie als deutlicher Hinweis zu verstehen, dass es in Dobrjanytschi schon vor dem Zweiten Weltkrieg Deutsche gab. Ich beginne zu ahnen, dass die „deutsche Kolonie“ hier älter sein könnte als ursprünglich angenommen.

    Die deutsche Kolonie in Dobzau

    Zurück in Wien führt mich die Suche nach dem Geburtsort von Wilhelm Reich in Archive. Vor allem beschäftigt mich die Frage, was man Näheres über die Kolonie von Dobzau erfahren kann. Jedenfalls war diese Gründung kein Einzelfall. Die Ansiedlung deutschsprachiger Kolonist/inn/en stellte das Ergebnis einer großangelegten, bereits 1774 von Maria Theresia eingeleiteten und von Joseph II. ausgebauten, gezielten Kolonisierungspolitik der ländlichen Regionen Galiziens dar. 1781 erließ Joseph II. sowohl ein Ansiedlungs- als auch ein Toleranzpatent zur freien Religionsausübung für orthodoxe Christen und Protestanten (Klijanienko-Birkmann 2014, S. 28).

    Auch die Leibeigenschaft wurde aufgehoben. 1782 wurde per Edikt auch den Juden die Religionsfreiheit zugestanden. Damit war es deutschen Einwanderern aus dem damaligen Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit möglich, sich in Galizien anzusiedeln. Die Siedler kamen bis aus Westphalen, der Pfalz und dem Saarland. Sie erhielten von Wien aus kostenlosen Transport.

    In Galizien wurden für sie eigene Häuser errichtet. Äcker und Wiesen, das benötigte Vieh sowie erforderliche Ackergeräte wurden zur Verfügung gestellt. Des Weiteren lockte eine zehnjährige Abgaben- und Steuerbefreiung, der älteste Sohn wurde vom Militärdienst freigestellt. Eine Grundidee dieser Politik scheint gewesen sein, den unterentwickelten und wilden Osten durch die deutsche Sprache und Kultur zu zivilisieren. Jeder Schritt wurde minutiös von staatlicher Seite geplant und finanziert.

    „Je 12 bis 20 Familien bildeten eine Kolonie, welcher von der Regierung Ackerland, Häuser, Weideplätze und Waldungen angewiesen wurden“ (Rudolf von Österreich, 1898, S. 472). Die deutsche Kolonie in Dobzau wurde 1786 errichtet (Дума, 2013). Von ihrer Anlage her entspricht die deutsche Kolonie Dobzau geradezu idealtypisch (siehe Abb. 12) der Beschreibung im Kronprinzenwerk: Die deutschen Colonien in Galizien liegen verstreut an dem Nordabhang der Karpathen, im Flußgebiet der Weichsel und des San und in der ostgalizischen Ebene.

    Sie bilden nur selten Gemeinden für sich, gewöhnlich sind sie in polnische und ruthenische Gemeinden incorporiert. Sie unterscheiden sich aber von ihren Nachbarn und Gemeindegenossen ganz bedeutend. Schon die planmäßige Anlage der Kolonie sticht von der Anlage der slavischen Dörfer ab. Zu beiden Seiten der Landstraße stehen die ganz gleich gebauten, netten, weißen – aber allzu nüchternen Häuser; an einem Ende der Colonie erhebt sich die Kirche(6) und die Schule.

    Auf den ersten Blick bemerkt man, daß dieser Menschensitz nach einem in der Amtsstube ausgearbeiteten Plan schablonenmäßig gegründet wurde, daß hier der Zirkel und Lineal ausschließlich maßgebend waren. Man findet hier nicht jenes Sichanschmiegen an die gegebenen Verhältnisse, jene scheinbare Unordnung, die durch das natürliche Wachsthum des Ursitzes bedingt ist (Rudolf von Österreich, 1898, S. 472).

    Abb. 12: Karten der deutschen Kolonie in Dobzau; die 1786 gegründete Ansiedlung hebt sich entlang einer annähernd waagrechten Linie in Norden deutlich vom organisch gewachsenen Ortskern im Süden ab, der Friedhof liegt dazwischen; oben: Josephinische Landesaufnahme 1763-1787, Mitte: Franziszeische Landesaufnahme 1806-1869, Quelle: mapire.eu (Österreichisches Staatsarchiv); unten: Satellitenaufnahme von Dobzau, Quelle: Google Maps.
    Abb. 12: Karten der deutschen Kolonie in Dobzau; die 1786 gegründete Ansiedlung hebt sich entlang einer annähernd waagrechten Linie in Norden deutlich vom organisch gewachsenen Ortskern im Süden ab, der Friedhof liegt dazwischen; oben: Josephinische Landesaufnahme 1763-1787, Mitte: Franziszeische Landesaufnahme 1806-1869, Quelle: mapire.eu (Österreichisches Staatsarchiv); unten: Satellitenaufnahme von Dobzau, Quelle: Google Maps.

    Dobzau ist damit nicht nur beispielhaft für die individuelle Ansiedlung deutscher Kolonist/inn/en, sondern repräsentativ für ‚eines der größten systematischen Aufklärungsexperimente der Neuzeit’ (Amar 2015, S. 25; Wolff 2012, S. 20). Zwar scheint das ursprüngliche Interesse Österreichs an Galizien eher gering gewesen zu sein, da mit Gebietszugewinnen immer auch Risiken, wie die Ausdünnung von Wehrfähigkeit und Ressourcen verbunden sind.

    Letztlich habe man sich aber aus politisch-militärischen Überlegungen dafür entschieden, sich 1772 gemeinsam mit Preußen und Russland an polnischen Gebieten zu beteiligen, um gegenüber diesen beiden erstarkenden Mächten nicht zu stark ins Hintertreffen zu gelangen. Aufgrund seiner geografischen Lage konnte Galizien – im Sinne einer natürlichen Pufferzone gegenüber Russland – sowohl als „Glacis Österreichs“ (Manner 2015, S. 119) dienen, als auch zu einem späteren Zeitpunkt einmal willkommenes Tausch- bzw. Kompensationsobjekt für anderweitige Gebietsansprüche der Habsburger in Europa sein.

    Für die Zwischenzeit galt es die Wirtschaftsleistung zu verbessern, die Wehrhaftigkeit zu erhöhen, die (deutsche) Kultur zu entwickeln und den polnischen Adel zu schwächen. „Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die ländliche deutsche Bevölkerung auf insgesamt 39 800, die gesamte deutsche Bevölkerung des Landes auf 93 300 Einwohner angestiegen. 50 Tochtersiedlungen waren gegründet worden, davon 4 in West- und 46 in Ostgalizien, zu denen in den späteren Jahren noch 25 hinzukamen“ (Klijanienko-Birkmann 2014, S. 28).

    Im Zuge des Ausgleichs mit Ungarn 1867 erhielten in der Habsburgermonarchie nicht nur die Ungarn, sondern auch die Polen in Galizien ein höheres Maß an Autonomie. Polnisch wurde vielerorts zur Amtssprache und war auch im Alltag weit stärker verbreitet als Deutsch. In den katholischen Kirchen war Polnisch vorherrschend. Gerade die katholischen Siedler verloren ihre Bindung zu deutscher Kultur und Sprache oft durch Heirat. Nach Auffassung der k.u.k-Chronisten gab es daher zwei Speerspitzen des Deutschtums in Galizien: die Protestanten und die deutschsprachigen Juden, zu denen auch die Familie von Wilhelm Reich gehörte.

    So paradox es aus heutiger Sicht klingen mag, wurde gerade in die jüdischen Kolonist/inn/en die Hoffnung gesetzt, das Deutschtum in Galizien zu verteidigen. Diese grenzten sich von den galizischen Juden ab, die vorwiegend Jiddisch sprachen(7). Aber auch die Protestanten wiesen aufgrund ihrer Eigenständigkeit und religiösen Überzeugung offensichtlich höchste Resistenz gegenüber der Polonisierung auf. Sie unterstützten die Verbreitung der deutschen Kultur und Sprache aus eigenen Stücken heraus auch administrativ und finanziell (insbesondere durch den „Gustav-Adolf-Verein“).

    Die evangelische Kirche errichtete etwa in Dobrjanytschi ein Bethaus mit Schule unter einem Dach (k.k. evang. Oberkirchenrathe, 1875, S. 216) und stellte wohl auch Lehrer Franz Fischer an, dessen Grabstein am Friedhof von Dobrjanytschi zu finden ist (Abb. 11). Denn Friedhöfe waren „in allen Colonien und in Lemberg gemeinschaftlich mit den Communen“ zu führen (ebd. S. 217). Die Schule hatte eine Klasse. Das Bethaus wurde 1826 eingetauft und vermutlich kurz davor errichtet. Pani Kateryna erinnert sich im Gespräch, dass dieses noch bis in die 1940er Jahre existierte und die Glocken dort geläutet haben.

    Die in diesem Beitrag elaborierte Lebensgeschichte Wilhelm Reichs könnte einen Anstoß bieten, das bis heute tiefsitzende Trennungstrauma in Ost- und Westeuropa aufzulösen und in ein neues Verständnis des gemeinsamen Kulturerbes überzuführen. Vor allem müsste es gelingen, das angesprochene gemeinsame Erbe für die Menschen wieder im Alltag erlebbar und erfahrbar zu machen und dadurch jene tiefsitzende Maskierung zu durchbrechen, die durch die unvorstellbaren Opfer von zwei Weltkriegen, Holocaust, Nazi- und Sowjetterror sowie Jahrzehnte des Kalten Kriegs gegenwärtig positiv gerahmte, grenzüberschreitende Erinnerung an die untergegangene Welt vor 1914 – jenes habsburgische „Atlantis“ (Röskau-Rydel 2002) – bis heute verhindert.

    ________________________________________________

    (1) Ein wesentlicher Grund für den Ausschluss dürfte laut Slunecko & Ruck (2008) – neben theoretischen Differenzen mit Freud – Reichs konfrontatives sexualpolitisches Engagement gewesen sein.
    (2) Damit ereilte Wilhelm Reich ein ähnlich verhängnisvolles Schicksal wie seinen Zeitgenossen, den Sozialpsychologen Gustav Ichheiser, der ebenso 1897 in Galizien, nämlich in Krakau geboren wurde. Ichheiser wurde in den USA mit der Diagnose paranoide Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und begann kurz nach seiner Entlassung Selbstmord (Benetka & Woller 2015).
    (3) Als Kortschmi bezeichnet man in Galizien Gasthäuser bzw. Brandweinschenken. Sie wurden früher oft von Juden geführt, da das Gewerbe Christen als verwerflich galt.
    (4) Während ich diesen Beitrag schreibe, wird auf den Feldern nahe Rohatyn gerade von Geologen der Boden untersucht. Im Rahmen des Projekts „Rohatyn Jewish Heritage“ (www.rohatynjewishheritage.org) soll über 70 Jahre nach der Shoah endlich geklärt werden, wo sich tatsächlich die jüdischen Massengräber dort befinden und wie viele Skelette noch im Boden liegen.
    (5) Leon Reich bewirtschaftete und verwaltete in der Bukowina von 1900-1914 ca. 8 km2 Land.
    (6) In Dobzau bzw. Dobrzanica gab es offenbar ein evangelisches Bethaus, das – wie das Bethaus in Unterwalden und die Kirche in Theodorshof – als Filiale der Pfarrgemeinde Lemberg dem Uniwer Diakonat unterstellt war.
    (7) Wilhelm Reich weist in seiner Autobiografie darauf hin, dass es ihm von seinem Vater als Kind verboten war, sich mit den einheimischen galizischen Juden abzugeben sowie Jiddisch zu sprechen.

    Literaturverzeichnis

    Adler, Elyana (2017, März 19) Migratory patterns and the birds of Probizhna. Jewish Heritage Europe. Abgerufen 16. Mai 2017, von http://www.jewish-heritage-europe.eu/have-your-say/migratory-patterns-and-the-birds-of-probizhna
    Amar, Tarik Cyril (2015) The paradox of Ukrainian Lviv: A borderland city between Stalinists, Nazis, and Nationalists. Ithaca: Cornell University Press.
    Attfield, Judith (2000). Wild things: The material culture of everyday life. Oxford: Bloomsbury Academic.
    Benetka, Gerhard & Woller, Lisa-Terese (2015) Ichheiser, Gustav. In Uwe Wolfradt (Hrsg.) Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933–1945. Ein Personenlexikon. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 207.
    Bohnsack, Ralf (2007) Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (6., durchges. und aktualisierte Aufl.). Opladen: Verlag Barbara Budrich.
    Bourdieu, Pierre (2008). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
    Bourdieu, Pierre; Balazs, Gabriele; Beaud, Stéphane; Broccolichi, Sylvain; Champagne, Patrick; Christin, Rosine; Lenoir, Remi; Œuvrard, Françoise; Pialoux, Michel; Sayad, Abdelmalek; Schultheis, Franz & Soulié, Charles (2009) Das Elend der Welt (2. bearb. u. erg.). Konstanz: UTB.
    Czoernig, Karl (1857) Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie. Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder. Abgerufen von http://ar- chive.org/details/ethnographiedero01czoe.
    Fallend, Karl & Nitzschke, Bernd (2002) Der „Fall“ Wilhelm Reich (1. Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag.
    Gehre, Moritz (1886) Die Deutschen Sprachinseln in Oesterreich. Großenhain: Plassnik & Starke. Abgerufen von http://archive.org/details/diedeutschenspra00gehr.
    Hampl, Stefan; Abrhámová, Monika; Foessleitner, Martin; Hubbe, Sophie; Koch, Lisa; Kadlecová, Jana; Semkiv, Irina; Zahrádka, Pavel & Zamfirescu, Irina (2017) Generation innovation across Europe: Participative youth research in Lviv, Magdeburg, Olomouc and Vienna. Vienna: Sigmund Freud Private University.
    Hampl, Stefan & Mihalits, Dominik Stephan (2017) Russian revival of the St. George myth and its imagery. A study based on reconstructive picture interpretation and psychoanalysis. In Brady Wagoner, Ignacio Bresco de Luna & Sarah Hassan Awad (eds.) The psychology of imagination: Social and cultural perspectives. Charlotte; Scottsdale: Information Age Publishing, S. 295-318.
    Iwaskewitsch, Viktoria (2016, August 16) Remains of executed victims found in Lviv’s Prison on Lontskoho Museum. Abgerufen 18. Juni 2017 von http://euromaidanpress.com/2016/08/16/remains-of-executed-victims-found-in-lvivs-prison-on-lontskoho-museum.
    Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul Felix & Zeisel, Hans (1975) Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit (25. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
    Kharchuk, Khrystyna (o. J.) Vul. Rappaporta – the old Jewish cemetery. In Zarechnyuk, Olha & Pavlyshyn, Yulia (eds.) Lviv Interactive. Lviv: Center for Urban History of East Central Europe. Abgerufen von http://www.lvivcenter.org/en/lia/objects/old-jewish-cemetery.
    Klijanienko-Birkmann, Ania (2014) Lemberg: Das kulturelle Zentrum der Westukraine (3., aktualis. u. erw. Aufl.). Berlin: Trescher Verlag.
    Manner, Hans-Christian (2015) Die Integration Galiziens in die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert. Politische und militärische Aspekte. In Wien Museum (Hrsg.) Mythos Galizien. Wien: Metroverlag, S. 117-121.
    Mannheim, Karl (2003) Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (original 1922-1925 als unveröffentlichte Manuskripte).
    Müller, Erich (2012) 1939/41 – Umsiedlungen der zerstreuten ostdeutschen Volksgruppen in die neu gegründeten Reichsgaue. Hilfskomitee der Galizien- deutschen e.V. Abgerufen von http://www.galizien-deutsche.de/hochgeladen/dateien/Umsiedlung-1939-Prof.E.Mueller.pdf.
    Müller, Sepp (1960) Die Umsiedlung der Galiziendeutschen 1939/1940. In Max Hildebert Boehm, Fritz Valjavec & Wilhelm Weizsäcker (Hrsg.) Ostdeutsche Wissenschaft. Jahrbuch des Ostdeutschen Kulturrates (Bd. VII). München: Oldenbourg Verlag.
    Pethes, Nicolas (2013) Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien (2. Aufl.). Hamburg: Junius.
    Pollack, Martin (2014) Kontaminierte Landschaften: Unruhe bewahren. St. Pölten: Residenz Vlg.
    Przyborski, Aglaja & Wohlrab-Sahr, Monika (2013). Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch (4. Aufl.). München: Oldenbourg.
    Ratz, Wolfram (1994) Wilhelm Reich. In Oskar Frischenschlager (Hrsg.) Wien, wo sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Schulen. Wien: Böhlau.
    Reich-Ollendorf, Ilse & Reich, Wilhelm (1975). Das Leben des großen Psychoanalytikers und Forschers, aufgezeichnet von seiner Frau und Mitarbeiterin. München: München Kindler.
    Reich, Peter (2015) A book of dreams. London: John Blake Publishing Ltd.
    Reich, Wilhelm (1994) Leidenschaft der Jugend – Eine Autobiographie 1897-1922, hrsg. von Chester M. Raphael & Mary Boyd Higgins. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
    Röskau-Rydel, Isabel (2002) Deutsche Geschichte im Osten Europas: Galizien, Bukowina, Moldau. Berlin: Siedler Verlag.
    Rudolf von Österreich (Hrsg.) (1898). Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (Kronprinzenwerk) (Bd. 19). Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder. Abgerufen von https://austria-forum.org/web- books/kpwde19de1898onb.
    Schlögel, Karl (2006) Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (5. Aufl.). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
    Schor-Tschudnowskaja, Anna (2017, Juni 8) Kerns und Leitls kuriose Botschaften. Abgerufen 17. Juni 2017, von http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/5231847/ Kerns-und-Leitls-kuriose-Botschaften.
    Sharaf, Myron (1994) Fury on Earth: A Biography of Wilhelm Reich. New York: Da Capo Press. Abgerufen von http://lesatomesdelame.narod.ru/MyronSharaf_FuryOnEarth.pdf.
    Sloterdijk, Peter (1999) Regeln für den Menschenpark: Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
    Slunecko, Thomas (2008) Von der Konstruktion zur dynamischen Konstitution: Beobachtungen auf der eigenen Spur (2., überarb. Aufl.). Wien: Facultas WUV Verlag.
    Sulimierski, Philip & Walewski, Władysław (Hrsg.) (1881): Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowiańskich., tom. II (Derenek – Gżack), Warschau: WIEKU. Abgerufen von http://dir.icm.edu.pl/pl/Slow- nik_geograficzny/Tom_II/83
    Slunecko, Thomas & Ruck, Nora (2008) Wilhelm Reich: Charakteranalyse. In Alfred Pritz (Hrsg.) Einhundert Meisterwerke der Psychotherapie. Ein Literaturführer. Wien: Springer Verlag.
    Snyder, Timothy (2013) Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin. München: dtv Verlagsgesellschaft.
    Svoboda, Antonin (2013) Der Fall Wilhelm Reich [DVD]. Wien: Hoanzl.
    Valsiner, Jaan (2017) Why developmental psychology is not developmental: Moving towards abductive psychology. In M. Raudsepp (eds.) Between self and societies. Creating psychology in a new key: Tallinn University Press, S. 91-125.
    Wolff, Larry (2012) The idea of Galicia: History and fantasy in Habsburg political culture. Stanford, California: Stanford University Press.
    Дума, Іван Михайлович (2013). Незрівнянний рідний край. Перемишлянщина запрошуе. Львів: Камула. Abgerufen von http://www.peremyshrada.gov.ua/doc/knyga%20zvedena.pdf.
    Село Добряничі. (1998). Борці за Україну. Освячення символічної могили бійцям УПА. Abgerufen 17. Juni 2017, von https://io.ua/v7b28d6b76010e5a89d57e92f02ec4527.

    Zurück zu Bukumatula 2020

  • Kommentare deaktiviert für Buk 2/20 Dobzauer Erinnerungen
  • Kategorie: 2020
  • Buk 1/19 Atme! Und: Ton! Ton! – Teil II

    Zurück zu Bukumatula 2019

    Bukumatula 1/2019

    Atme! Und: Ton! Ton! – Teil II

    Fortsetzung von Bukumatula 2/18
    von
    Markus Hohl:

    Beschrieb der erste Teil die Darstellung der Methode, den Zweifel an dieser Methode und der Rolle des Therapeuten, gleichzeitig aber auch das erste Erleben des „losgelassenen“ Körpers, so geht es im folgenden zweiten Teil vorwiegend um den sich vom Panzer befreienden Körper. Und zwar nicht als rationales Erkennen, sondern als emotionaler Ausbruch sowie die unmittelbare und konkrete Erfahrung, dass zuerst Gefühle wie Wut und Freude zugelassen werden müssen, damit das „Verstehen“ als Vater-Geschichte, also die beginnende Heilung, folgen kann.

    DIE WUT

    Ich sage dir, kleiner Mann: Du hast den Sinn für das Beste in dir verloren. Du hast es erstickt, und du mordest es, wo immer du es in anderen entdeckst, in deinen Kindern, deiner Frau, deinem Mann, deinem Vater und deiner Mutter. Du bist klein und willst klein bleiben, kleiner Mann. (Wilhelm Reich, Rede an den kleinen Mann)

    Die Doktorpraxis ist im zweiten Stock eines Altbaus, so plage ich mich über die Stiege hinauf, in kleinen Schritten von einer Stufe zur nächsten und läute dann, bis er aufmacht und mich begrüßt, indem er mein verspanntes Gesicht nachahmt: Obwohl ich glaube, ganz locker zu sein, weil ich ihn ja kenne, hält er mir seinen angespannten Unterkiefer entgegen und wiederholt aus den zusammengebissenen Zähnen meinen Gruß, um mir meine Begrüßungspanzerung zu zeigen, meine Gesichtsverzerrung gleich bei der Begrüßung entgegenzuhalten.

    Obwohl einem anderen meine Anspannung wahrscheinlich gar nicht auffallen würde, erkennt der Doktor, wie es hinter dem lächelnden Gesicht aussieht, bemerkt er auf den ersten Blick den unechten Ausdruck und die darunter liegende Verhärtung und zeigt sie mir auch noch!

    Sofort sieht er die Aggression und die Unsicherheit und macht sie mir deutlich, indem er mein Patientengesicht übertrieben nachmacht; anstatt mich freundlich zu empfangen, mit ein paar verbindlichen Sätzen vielleicht, schockiert er mich bereits beim Eintreten mit meinem eigenen Gesicht und hält mir meine eigene Schädelverzerrung vor die Nase!

    Dabei habe ich mir gedacht, dass es kleine Fortschritte gibt, dass der Panzer nachgibt und ich auf seine Frage, ob sich etwas verändert habe, wenigstens hätte nicken können. Ja, den Mund bringe ich weiter auf, hätte ich gesagt, im wahrsten Sinn des Wortes kann ich das Maul weiter aufreißen, weil die Kiefergelenke weniger schmerzen, weil sich der Kieferblock etwas gelockert und die Entspannung im Gesicht begonnen hat. So aber zeigt er mir gleich beim Eintreten, dass ich mich nicht täuschen soll, weil er gerade da die Verhärtungen sieht, die Kopfentspannung also mehr eine Einbildung ist.

    Auf der Matte schweige ich deshalb und bringe den Mund nicht mehr auf, weil ich über die Doktorbegrüßung nachgrübeln muss, schweigend nachdenke und ihm den Ärger nicht einmal mit den Augen zeigen kann.

    Er wartet noch ein wenig und lässt mich atmen und tönen, wahrscheinlich um mich zu beruhigen und die Beine zum Schwingen zu bringen, bis er mir dann auf den Leib rückt und am Schädel herumzudrücken beginnt! Wahrscheinlich hat er mich nicht umsonst gleich beim Eintreten mit meinem Gesicht konfrontiert, weil er sich jetzt damit beschäftigt, das heißt, meinen Kopfpanzer näher in Augenschein nimmt. Auch da ist angeblich alles verhärtet, alle Gesichtsmuskeln, von denen ich bisher nichts gespürt habe, verspannt, eingefroren zu einer steinharten Maske, so wieder der Doktor.
    Welche Maske denn, frage ich.

    Die du dir selbst aufsetzt, mit der du glaubst, am besten durchs Leben zu kommen, weil dir dein wirkliches Gesicht nicht geeignet erscheint; vielleicht die Maske des abgeklärten älteren Herrn, ein bisschen arrogant und sehr ausgeglichen, sodass dir das Gesicht vor lauter Seriosität schon eingefroren ist, sagt der Doktor und beginnt ganz sanft an der Nasenwurzel zu streicheln, was ich unbewegt geschehen lasse.

    Ein seriöses Herrengesicht wird schon stimmen, weil mir das wirkliche immer viel zu jung vorgekommen ist, sage ich mir. Ein viel zu junges Gesicht, vor dem niemand Respekt hat, das niemand ernst nimmt („Du schaust so jung aus“ früher immer als Vorwurf?), vor allem nicht meine Schüler, habe ich mir gedacht und wollte immer älter aussehen und war ganz stolz, wenn mich jemand älter geschätzt hat, als ich wirklich war.

    Also versucht der Doktor jetzt wieder das junge Gesicht zum Vorschein zu bringen, indem er mich streichelt? Und dann doch mehr drückt als streichelt, am Oberkiefer herumdrückt, als ob er mir die Zähne zurechtrücken wollte, was ziemlich unangenehm wird, weil er offensichtlich noch ein anderes Gesicht hervordrücken will wie schon bei der Begrüßung: das des zornigen jungen Mannes, aber diesen Gefallen mache ich ihm nicht so schnell und bleibe ziemlich ruhig bei dieser Behandlung und drehe mich nur ein bisschen weg, auch wenn er sagt: Du steckst voller Wut, da ist unendlich viel Wut versteckt im freundlichen Gesicht und im scheinbar ruhigen Körper, Wut, der du aber nicht immer nur ausweichen und dich wegdrehen kannst, der du schon viel zu lange ausgewichen bist, die du so lange nicht herausgelassen hast, bis sie dir in den Knochen steckengeblieben ist und dich krank gemacht hat. Die Wut, ruft er, ja, als hätte er plötzlich etwas Wichtiges entdeckt, voller Wut ist der Bursche!

    Der Bursche, sagt er, denke ich, der Bursche, als ob ich ein Achtzehnjähriger wäre, da könnte ich ihm schon eine in die Fresse hauen, so regt mich diese Anrede auf und erkenne dabei, dass der Doktor der Vater ist, wenn er sich über mich lustig machte und nicht ernst nahm, höchstens sagte: Du Milchgesicht!

    Dann möchte er, dass ich mich nicht mehr nur ducke und ausweiche, sondern ihm ein wahres Gesicht zeige, nämlich das Wutgesicht. Aber so leicht ist das nicht, weil zuerst einmal der Panzer gelockert und das Beamtengesicht zum Abbröckeln gebracht werden muss, sagt er. Grimassen soll ich machen, damit ich das eigene Gesicht wieder spüre, möglichst schreckliche Grimassen.

    So versuche ich ein paar Gesichter zu schneiden, auch wenn ich mir dabei blöd vorkomme und alles nur sehr schwer in Bewegung bringe, weil das Gesicht so verklemmt ist. Da knackt und kracht es in den Kiefergelenken wie bei einer lange still gestandenen Maschine, die nur langsam und zögernd wieder zu arbeiten beginnt. Offensichtlich aber sind die Grimassen nicht besonders eindrucksvoll oder erschreckend, weil der Doktor eher belustigt ist, ganz offen lacht, mich mehr auslacht als fürchtet.

    Was ist denn so lustig, rufe ich, warum lachst du mich denn aus, du Idiot! traue ich mich sagen, und langsam gelingt mir auch die Augenwut, sodass er wieder ernst wird. Und ich merke dabei, dass hinter der knirschenden Gesichtsmaschine sich etwas entwickelt, aus dem ausgelüfteten Schädel und den kühlen Augenhöhlen etwas hervortritt, was mich zu einem neuen Laut bringt, Angst und Wut zum ersten Mal mit einen wahrhaftigen Ton aus dem aufgerissenen Mund hervorbringen.

    Äähh! schreie ich und strecke dem Doktor die zitternde Zunge entgegen, und: äähh wie ein angstvoll zorniges Kind und merke, wie mir warm wird und gleichzeitig etwas in den Körper hineinströmt, das ihn zu einer einzigen Körpergrimasse zusammenkrampft und dann in einem langen Zittern wieder besänftigt.

    Da wird der Doktor aufmerksam und gespannt, das gefällt ihm, da setzt er sofort nach und drückt mir seinen Daumen in die Rippengegend. Auch dort hat er wahrscheinlich den Panzer entdeckt und will testen, wie hart er ist. Dabei drückt er aber so fest, als ob er mich für die herausgestreckte Zunge bestrafen wollte, so weh tut das! Deshalb verstumme ich, liege nur still und versuche ihm wieder auszuweichen, jammere höchstens, anstatt loszubrüllen, stelle mich nicht dem Schmerz, sondern gebe ihm nach.

    Nicht ich tu dir weh, sagt der Doktor, sondern die Panzerung schneidet dir ins Fleisch, also musst du sie beseitigen, musst dich dagegen wehren, indem du deine Gefühle zeigst, was dir aber nicht gelingen wird, wenn du nur ruhig liegen bleibst, also ein braves Kind bist.

    Verdammtes Arschloch, er will mich nur erschrecken, der verdammte Idiot, denke ich und zeige ihm sofort ein ganz hässliches Gesicht und bemerke, dass sich dieses Schreckgesicht langsam in den Körper hinunterzieht und gegen den Panzer, gegen den Doktordruck anzukämpfen beginnt. Schon will ich seine Hand wegschlagen, um den Schmerz loszuwerden, aber er sagt, damit änderst du nichts, zuerst musst du die Gefühle zeigen, zuerst möchte ich einen Ausdruck sehen, nur so beseitigst du den Schmerz, also lass die Hände auf der Matte!

    Aber ich kann es nicht, welches Gefühl denn, wo doch alles wie betäubt ist, rufe ich.
    Spür endlich deine große Wut, die dir fast schon den Körper sprengt, antwortet er, lass sie heraus, sonst erstickst du daran! Und atme, mach endlich einen Ton beim Ausatmen!
    Ton, Ton, du immer mit deinem Ton, rufe ich.
    Und er: Hände auf die Matte!
    Und ich: ja, ja!
    Und er: Atme, Ton, Ton! Öffne die Kehle!
    Und ich: öffne die Kehle, öffne die Kehle!
    Und er: Ton, Ton!
    Und ich: Scheiß Ton!
    Und er: Ton, einen echten Ton möchte ich hören!
    Und ich schreiend: Ich kann es nicht!
    Und er: natürlich kannst du es, ich höre ihn ja schon!
    Und dann kommt dieser wirkliche Ton tief aus dem Inneren hervor, ein anderer, noch nicht gehörter Ton, der mir fremd ist, und setzt die zähe Körpermasse aus dem Stillstand in Bewegung, dass sich nach den Beinen auch die Arme zu rühren und herumzufuchteln beginnen.

    Schlag beim Ausatmen auf die Matte, ruft der Doktor, möglichst fest mit einem möglichst deutlichen Schrei!
    Also beginne ich fest auf die Matte zu schlagen und zu schreien und spüre dabei, wie sich das Schreien verselbstständigt, wie es plötzlich automatisch hervorbricht, sehr laut und gefährlich und sich etwas aufschaukelt, das den Körper in eine schneller werdende Bewegung hineintreibt, bis sich auch das Becken und der Oberkörper heben und eine lange Welle in Gang setzen.

    Auf die Matte, auf die Matte, ruft der Doktor, bleib auf der Matte, als ich mit den Füßen herumzutreten beginne. Lass die Füße aufgestellt, lass die Füße auf der Matte, fest auf der Matte!

    Ich aber beginne mit den Füßen aufzustampfen, mit den geschwollenen und angeschlagenen Füßen in die Matte hineinzustampfen und gleichzeitig immer heftiger darauf einzuschlagen und merke, dass ich nicht mehr schreie, sondern den Doktor anbrülle aus einem wahrscheinlich hassverzerrten Gesicht heraus, weil er plötzlich zurückweicht; spüre die zuckende Welle, die mich mitreißt, bedrohlich und angenehm zugleich und schreie und schlage, schreie und stampfe, brülle wie ein Vieh und fühle ein Wutchaos heiß und drückend über den Körper gehen in einer einzigen Zornexplosion, die vor dem anfeuernden Doktor in die Luft geht, als ob etwas ausgetrieben würde, eine große schwarze Masse herausgetrieben würde! Ja, ja, ja, schreit es gegen den Doktor, der sich etwas zurückzieht, als ihn aus den weit aufgerissenen Augen die Wut trifft und: ahhhhhhhhhhhhhhh brüllt es, so laut und durchdringend, wie das Kind nie brüllen durfte.

    So komme ich in eine keuchende Atemlosigkeit hinein mit Blitzen und Lichtpunkten im Gesichtsfeld, heiß und verwirrend, aber doch auch leicht und angenehm. Das ist gut, das ist gut, aber auch so bedrohlich, als ob eine fremde Kreatur wie eine sich windende Riesenschlange aus ihrer Haut hervorkriechen würde und sie mit aller Gewalt abstreifen müsste. Zum ersten Mal wehrt sich der Körper mit Macht gegen die jahrelange Einengung, gegen die eigene Zerquetschung, indem er sich wie verrückt herumwirft und dem Panzer so knirschend und schreiend langsam Risse zufügt, ihn hier und dort auch schon aufzulösen beginnt.

    Er platzt auf, im Gesicht zum Beispiel platzt die Panzerung auseinander und lässt den Kopf schreien wie nie zuvor, aus dem aufplatzenden Kieferpanzer schreit es gegen die Zimmerdecke, in den aufgerissenen Augen stehen die Wut- und Angsttränen. „Platzen“ bedeutet im heimischen Dialekt einerseits schreien, andererseits aber auch weinen, so platze ich also vor dem Doktor auseinander.

    Heraus kommt der nackte rohe Mensch, ein fremder Mensch windet sich da also auf einmal vor dem Doktor, wundere ich mich, ein sogenanntes böses, laut platzendes Kind, das ich doch angeblich immer gewesen bin: ein Schreihals schon als Baby!

    Ich darf es sein, wird mir mit einem Mal klar, ich darf ja schlagen, stampfen und brüllen wie am Spieß, ohne dass von einem Stärkeren sofort zurückgeschrien oder geschlagen und damit alles niedergehalten wird. Jetzt aber hebt sich alles, die Beine, die Arme, der Kopf, und mit halb aufgerichtetem Oberkörper dresche ich auf die Matte ein, dass es eine Freude ist, während sich der Doktor schon außer Reichweite gebracht hat.

    Ja, ruft er, der zum ersten Mal sehr zufrieden schaut, endlich rührt sich was, und nach einer langen Pause, in der ich mich langsam wieder beruhige, auf die Matte zurückfalle und zu Atem komme: Was spürst du?

    Etwas Fremdes, aber Angenehmes, nämlich das vor Wut explodierende Kind, wollte ich sagen; doch das ist nur ein Gedanke; das aber spüre ich wirklich: das gehende Herz im sich auf- und abbewegenden Brustkorb, den ruhigen Schwanz auf den entspannten Hoden, die nachvibrierenden Beine, warme Handflächen, den heißen, verschwitzten Kopf, elastischere Rippen, ein leichtes Ziehen im Rücken und erst zum Schluss die schmerzenden Gelenke.

    Auch eine neue Ruhe, die aus dem leergebrüllten Gehirn kommt, das wenigstens momentan nichts zu sinnieren hat, das Geschehene nicht interpretieren, keine Ordnungsbegriffe finden muss, sondern sich dem Nachzittern des Ausbruchs überlässt; kein schlechtes Gewissen und keine Sorge, sondern das Erstaunen über den Mut, sich bloßgestellt zu haben.

    Eine Bloßstellung ist passiert, und sie war nicht peinlich, schon gar nicht schrecklich, auch keine Schande, als ich einen Teil meiner Wut gezeigt und herausgelassen habe, und niemand war enttäuscht von mir, hat sich abgewendet oder zurückgeschrien, im Gegenteil! Für einen Moment spüre ich, was der Doktor mit seiner dauernden Atmerei wirklich meinen könnte: mit einem anderen Atemrhythmus in einen anderen Lebensrhythmus kommen, mit dem geänderten Atem zu neuen Gedanken!

    Das ist ja was: Der Neurotiker spürt wieder etwas und denkt nicht nur daran, ob er etwas falsch gemacht hat, freut sich der Doktor. Du beginnst wieder zu leben, sagt er.

    Beim nächsten Mal dann die zweite Austreibung. Wieder auf der Matte; die Frage des Doktors, was sich geändert hat, worauf ich ihm erzähle, wie ich voriges Mal mit einem anderen Gefühl die Praxis verlassen habe, den anderen Menschen auf dem Weg zur Garage, wo das Auto abgestellt ist, meinen gelüfteten Körper präsentieren konnte. Zum ersten Mal war es ein Weg in einem frischeren Licht, in dem Entdeckungen möglich schienen, andere Menschen als sonst auftauchten, ein Weg, auf dem mich nicht mehr nur das eigene schlechte Gehen interessierte.

    Auf einem Brunnen, der eine überdimensionale Hand darstellte, saßen Kinder und waren nicht sofort eine Belästigung, weil sie den Wasserstrahl gegeneinander abzulenken versuchten und dabei vielleicht Passanten trafen, also möglicherweise auch mich. Und schon schimpfte tatsächlich jemand, der getroffen wurde, die Kinder aber waren erstaunt, dass sich einer außerhalb ihres Spiels gemeint und angegriffen fühlte. Sie meinen es nicht so, dachte ich und war doch sonst einer – als Lehrer! – der sich ganz schnell angegriffen fühlte.

    Tu dir nichts an, sagte ein Vorbeigehender zu seinem Nachbarn, der gerade angespritzt wurde, was mir jetzt als guter Vorsatz erschien, sich nicht immer so viel anzutun, sich nicht immer angegriffen zu fühlen, also gelassener zu werden. Tu dir nichts an, könnte ein Lebensvorsatz werden für mich. Ich werde mir nicht mehr so viel antun, sagte ich zu mir, ja, ich werde mir nicht mehr so viel antun, wiederholte ich. Schauten mich da die Entgegenkommenden nicht gleich mit anderen Augen an, wurde mir nicht zugelächelt oder war es doch nur der abweisende Blick für den Hinkenden? Oder schauten die vor einem Cafe im Freien Sitzenden so leer und posierend durch die Gegend wie immer?

    Aber war es nicht viel wichtiger, wie ICH auf die anderen schaute, die mir als Darsteller in einem Film erschienen, der mir gefiel und ein gutes Gefühl gab! Und spürte ich nicht in den letzten Wochen, dass ich, mich aufrichtend, größer geworden bin und nicht mehr so leicht übersehen wurde? Schon seit längerer Zeit habe ich niemanden mehr überrascht sagen hören: Ah, da bist du ja, ich habe dich gar nicht bemerkt!, obwohl ich schon länger im Raum gewesen war; kein Herumschleichen mehr, sondern ein sogenanntes sicheres Auftreten?

    Aus dem Schaufenster eines Blumengeschäfts nahm die Verkäuferin einen Strauß roter und blauer Blumen aus einer großen Vase und ließ dabei, sich bückend, ansatzweise ihre Brüste sehen. Auch der Obdachlose mit einem Pappschild, auf dem seine Leidensgeschichte zu lesen gewesen wäre, gehörte jetzt dazu, spielte mit in diesem Film. Die Bauarbeiter hinter einer Absperrung, die um eine Mischmaschine standen, erschienen mir nicht als arme Hunde, sondern mindestens als Darsteller in einem gelungenen Werbefilm, voll Energie und Kraft.

    Eine blonde Frau in einem kurzen roten Rock – die ich doch kannte! – ging vorbei und war schon die Heldin eines Liebesfilms, in dem ich eine Rolle spielen könnte. Fast hätte ich sie angesprochen, wenn sie nicht zu schnell vorbei gewesen wäre und ich ihr hätte nachhinken können. Zwei Mal schon hatte ich sie in der Doktorpraxis gesehen, doch war ich mir nun unsicher, ob sie es war, da sie mir in der Doktorumgebung auch nur als Patientin vorgekommen war, nun aber strahlend schön erschien.

    Und dann war aber doch wieder nur ein anderes blöd taxierendes Menschengesicht im Lift der Tiefgarage, viel zu nahe im Aufzug, ein von oben herabgrinsender Möchtegernschauspieler, der den Platz wie selbstverständlich beanspruchte, ein Gesicht, bei dem ich mich sofort fragen musste, was es sich über mich dachte, das mich in die Ecke drängte und klein machte.

    Das aber will der Doktor nicht mehr hören, sondern wissen, warum ich denn die Frau, die er auch als seine Patientin erkannte, nicht angesprochen habe: Weil ich mich nicht getraut habe, sage ich.  Da haben wir ja immerhin so etwas wie ein Gefühl, sagt er – und: Atme! Wieder beginnt es also ganz ruhig; ruhiges Liegen auf der Matte, langsam einsetzendes Zittern der Beine, sachtes Aufschaukeln aus dem Stillstand mit dem Doktor daneben als Antreiber: Atme, mach einen Ton beim Ausatmen, atme möglichst lange aus!

    Und wieder beginnt er mich im Gesicht zu drücken, zu malträtieren, zeigt mir selbst sein Gesicht in beachtlichen Grimassen: so soll es sein! Beginnt mich neuerlich zu nerven mit seinem dauernden: Atme und öffne die Kehle, einen lauten Ton möchte ich hören, einen Ausdruck sehen! Drückt auf die Wangen und den Oberkiefer, versucht die erstarrte Körpermasse in Bewegung zu bringen, indem er mir wehtut. Und schneller als beim letzten Mal spüre ich etwas, weil ich mir nicht so gesperrt vorkomme, spüre über den Schmerz hinaus den aufsteigenden Zorn und merke, dass ich Lust auf die Wut bekomme, dass ich sie auch zeigen kann ohne allzu schlechtes Gewissen.

    Als er den Bauch zu bearbeiten und die scharfe Eingeweideklammer noch tiefer hineinzudrücken beginnt, fühle ich plötzlich, wie ungeheuer die Wut im Bauch ist, wie tief ich sie hineingefressen habe und wie schwer sie wieder herauszubringen ist! Auf die unbewegliche, glatte, abweisende Körpertube drückt der Doktor, um die Wut herauszuquetschen; damit sie durch den Körper durchgedrückt wird und oben herauskommt als Geschrei, sich befreit aus dem Rheumagefängnis und geäußert werden kann, bevor die Körpertube explodiert und der Inhalt endgültig zu verrotten beginnt!

    Hör auf so fest zu drücken, rufe ich, es tut nämlich ziemlich weh, aber er verstärkt noch seinen Druck, sagt nur weiter: Zeig, was du spürst, zeig schon, was los ist, du wehleidiger Bursche! Du jammerst nur und bringst nicht einmal einen richtigen Ton heraus!

    Da schweige ich wieder und atme vorerst nur, atme dem Doktor nur ins Gesicht und zeige ihm wahrscheinlich auch mit den Augen, was er für ein Kotzbrocken ist. Und atme mich in eine Wut hinein, die zwar noch zwischen Brust und Augen feststeckt, aber schon aus den Eingeweiden nach oben gerissen worden ist, schon fast herausgelassen werden kann, wenn nicht so viel Angst dabei wäre, so viel Hass und Angst und Wut im Körper festgefressen wären seit Jahrzehnten.

    Zitternd sitzt die Wutangst aufsteigend aus dem Bauch jetzt in der Lunge, atmet schwer aus dem Rachen und will endlich herausgeschrien werden! Aber noch ist es nicht so weit, noch treiben fast nur die Beine den Körper an, noch ist die Welle nicht auf den Oberkörper, der ziemlich unbeweglich liegt, übergesprungen. Langsam schiebt sich etwas zur Seite, löst sich auf in kleinen Zuckungen, die durch die Schenkel fließen. Immer deutlicher spüre ich, wie sich dieser Strom aus den Beinen hochzieht in die Bauchhöhle und sich dort gegen den Doktorgriff wehrt, gegen den Druck durch die Doktorhand in den übrigen Körper springt und die Wut nach oben schiebt, hinter das steinharte Gesicht, wo das Herz im Schädel dröhnt und das Blut in den Ohren zu rauschen beginnt.

    Einen Ton fordert der Doktor und erkennt vielleicht, dass nicht mehr viel bis zum Ausbruch fehlt und drückt deshalb jetzt auf den Schädel, als ob er die letzte Sperre beseitigen wollte, die Kopfsperre, die aber die stärkste ist. Alles bleibt im Kopf stecken und füllt ihn so mit dem Wut- und Angstgemisch, dass er ganz verstopft ist. Nach dem Körper muss endlich auch aus dem Kopf der Abfall heraus, dazu muss offensichtlich fest gedrückt werden an der Körpertube, so fest, vor allem am Hinterkopf, am Kleinhirn, dass mir der Schweiß ausbricht und wahrscheinlich zu dem hinter mir stehenden Doktor hinaufstinkt. Der Kopf so voll mit Angst – und Wutscheiße, dass es zum Himmel stinkt, sagt er nämlich plötzlich, du stinkst vor lauter Wut und Angst, mein Freund! Lass doch endlich los, zeig endlich deine beschissne Wut, lass sie endlich heraus!

    Du Drecksau, rufe ich, was machst du denn, du zerdrückst mir ja den Kopf, und spüre plötzlich, wie sich alles verengt und ich wie festgenagelt bin auf der viel zu schmalen Matte, die sich um mich fest zu schließen beginnt wie die Last von mehreren schweren Tuchenten bei den Schwitzkuren in der Kinderzeit; oder wie sich bei den todernsten kindlichen Raufereien der Arm des stärkeren Gegners im sogenannten Schwitzkasten über mein Gesicht legte und die Panik, ersticken zu müssen, im Gehirn zu toben begann wie jetzt im Schwitzkasten des Doktors!

    Das ungeheure Bedürfnis, sich zu befreien und Luft zu verschaffen (atme!) mit aller Gewalt, ist der einzige Gedanke im Aufschrei: Das lasse ich mir nicht mehr gefallen! Und merke in diesem Moment, wie der Atem mit einem Gebrüll aus dem Schädel hinausfährt und die Körperwelle den Oberkörper endgültig mitreißt, der Doktor gleichzeitig zu drücken aufhört und ruft: Endlich, ja gut, weiter so, während ich zu schlagen beginne, auf die Matte, auf die Matte, so der Doktor, und es mich in Zuckungen herumwirft.

    Kindergebrüll, kein Erwachsenenschreien, sondern ein durchdringendes Kinderbrüllen entfährt mir, die Augen fast aus den Höhlen treibend, während nun auch der Schädel auf- und abzuhüpfen beginnt und die Füße auf die Matte trommeln. Dann drehe ich mich ein wenig zur Seite und schreie dem Doktor mitten ins Gesicht; während ich bisher immer nur knapp daneben auf den Plafond hinaufgeschrien habe, fixiere ich ihn jetzt und brülle ihm meine Wut in die Augen und merke, dass ich auch nicht mehr den Boden bearbeite, sondern in die Luft zu schlagen beginne, Richtung Doktor schlage und ihn auch schon mit einem rechten Schwinger am Körper treffe, bevor er sich außer Reichweite bringen kann (deshalb immer sein Ruf: auf die Matte, auf die Matte?!).

    Nichts hält mich mehr in der Position des Liegenden, des Erduldenden, des Opfers und so flink wie nie mehr seit Jahren komme ich auf die Knie, immer noch um mich schlagend, da legt mir der Doktor einen großen Polster her, in den ich hineinschlagen soll, aber daran denke ich gar nicht, weil ich nicht den Polster, sondern den Doktor meine, der jetzt ohne Bedenken angegriffen wird. Da bricht etwas entzwei, da birst der Panzer auseinander, unter dem die nackte Wut herausschießt: Aufspringend schlage ich schreiend auf den zurückweichenden Doktor ein wie das außer sich geratende Kind ohne Zurückhaltung blind um sich schlägt, aber mit plötzlich aufbrechender Schnelligkeit und Kraft, die ich mir nicht zugetraut hätte; bis es mich zurückwirft auf die Matte.

    Das zieht etwas durch den Raum, während ich keuchend liege, kaltes Erschrecken zieht über mich hinweg, vor dem ich mich unwillkürlich ducke, wie ich es immer gemacht habe in Erwartung der Schläge, denn wenn ein Unglück passiert, muss auch die Bestrafung stattfinden, wenn man sich wehgetan hat, muss auch noch eine Ohrfeige dazugegeben werden, so war es jedenfalls öfter.

    Denn plötzlich ist eine Hand im Raum, über mir, die Vaterhand, die ich im Moment des Schlagens wirklich auf meinem Kopf spüre und ich mit allen Sinnen wieder das böse, schreiende, hilflos ausgelieferte geschlagene Kind bin. Die Tränen schießen mir in die Augen, seit Jahren zum ersten Mal, aber mit dem Gefühl der Verzweiflung ist auch jenes der Erleichterung mit der jetzt sanften Doktorstimme da: Das war gut, jetzt ist es vorbei.

    Und schon drückt er wieder im Gesicht herum, bearbeitet die glatte Oberfläche, um das wahre Ehegesicht hervorzudrücken, das enttäuschte Ehegesicht, du bist ein Ehekrüppel, sagt er, und drückt mir fast die Kiefergelenke aus den Scharnieren. Versperrt ist der Sprechapparat noch immer, meint er, du verbietest dir selbst das Sprechen, weil du den Mund nicht aufbringst zu Hause, weil du schon seit Jahren unfähig bist, deinen Gefühlsnotstand zum Ausdruck zu bringen. Ein Schwächling bist du, ein Professor nach außen hin, in Wahrheit aber ein Bub, kein Mann! Du musst endlich das angstvolle Kind herauslassen, um ein Mann zu werden!

    Ja, ja, schreie ich, wie denn, du Idiot, so ein Unsinn, wie soll ich denn das angstvolle Kind herauslassen, so vielleicht: Und brülle los wie der bitzelnde Schreihals, der ich einmal war, dass mir die Sinne vergehen und schneide ihm die hässlichste Grimasse, die ich mir vorstellen kann, strecke dem Doktor die Zunge heraus, beginne gleichzeitig zu weinen und auf ihn schreiend hinzuschlagen, zuerst mehr verzweifelt und ohne Nachdruck, mit der Zeit aber immer bestimmter und deutlicher, stehe dabei auch auf, während der Doktor sagt, ja genauso, gut, gut, es genügt aber, ins Leere zu schlagen, worauf ich unter seinen Anfeuerungsrufen durch den Raum galoppiere und das Selbstmitleid des geschlagenen Kindes hinausbrülle, grunzend gegen die Wand schlage und mich vor nichts schämen muss in diesem Veits- und Kriegstanz, der gleichzeitig ein Tanz der Besänftigung ist, und merke, dass ich ja auch auf den Boden stampfen kann, ohne vor Schmerzen aufzuschreien und zum ersten Mal nach Jahren wieder in die Luft springen kann, wenn auch nur unmerklich!

    Die Wut kommt heraus, die Wut auf dieses ängstliche Kind in mir, das mir so viel vermiest hat, das jetzt endlich zum Verstummen gebracht werden wird. Sei still, sage ich zu ihm, während es mir immer noch einreden will, dass ich mich vor dem Doktor zum Narren mache, wenn ich so herumhüpfe; lächerlich machst du dich, und schämst du dich gar nicht! sagt das Kind. Wie du ausschaust, sagt es, wie krank und schwach du bist, da wird dich der Herr Doktor auslachen!

    Hau ab, rufe ich, verschwinde endlich, lass mich in Ruhe, und boxe es langsam aus mir heraus, indem ich in die Luft haue, auch wenn es immer noch nicht ganz geschlagen ist. Ich bin nervös, sagt es, spür doch, wie kalt die Füße sind, kalte Füße bekommst du, weil du Angst hast, auch wenn du noch so viel herauskotzt!

    Aber ich merke, dass sich das ängstliche Kind langsam einschüchtern, mit dem beweglicher werdenden Körper abschütteln lässt. Wenn man es nur bestimmt und deutlich genug anredet, verstummt es von selbst, rührt sich zum Schluss kaum mehr, probiert es nur noch einmal:

    Vielleicht schadet dir die Behandlung in Wahrheit, sagt es, vielleicht wirst du noch verrückter, als du schon bist! Und: Vielleicht bist du in Wirklichkeit schwul, weil du so vor dem Doktor herumtanzt, denk einmal darüber nach! Da muss ich im Lauf der Behandlung zum ersten Mal lachen, muss das ängstliche Kind auslachen, was es offensichtlich nicht erwartet, weil es ganz klein wird bei meinem Lachen.

    Nein, darüber denke ich nicht mehr nach, rufe ich, schau doch, ich kann den Doktor ja sogar umarmen – und umarme ihn dann auch wirklich – ohne dass es mir peinlich ist, ohne dass ich an ein mögliches Schwulsein denken muss. Du kannst mir nichts mehr antun, du stirbst, merkst du es nicht, ängstliches Kind, dass du in mir abstirbst wie ein abheilendes Geschwür!

    Da bewegt sich was, wunderbar, ruft der Doktor, der wie ein Tierbändiger in der Mitte stehengeblieben ist, als ich mit den Armen herumrudere und undefinierbare Laute von mir gebe. Langsam wird alles leichter, klarer und bestimmter, die Körpersperre und das verkrallte Gehirn lösen sich, sodass ich auf einmal lachen und vor Verwunderung über mich selbst den Kopf schütteln muss.

    Ein anderes Mal erzähle ich dem Doktor die Vatergeschichte: Zum ersten Mal nach Jahrzehnten ist mir der eigene Vater zum Menschen geworden, von der ständig gereizten Herrscherfigur der Kindheit über einen die ganze Welt beschimpfenden und vor sich hinstierenden Alkoholiker zum armen ausgelieferten Menschen wie ich auf der Matte. Er aber dagegen im Krankenhaus nach einem halben Schlaganfall, jedenfalls vorübergehend sprechbehindert und dadurch erst für mich wieder verständlich geworden.

    Als ich ihn besuche, liegt er allein im trostlosen Zimmer hilflos im Krankenbett, der ehemalige Schuldirektor und Lokalpolitiker als Häufchen Elend. Habe ich ihn bisher fast nur in Posen und Rollen gesehen, zum Beispiel als strengen Lehrer, talentiert, aber vor allem stolz darauf, alles im Griff zu haben, die Schüler in Schach gehalten zu haben: Wieder einmal so laut in der Klasse geschrien, dass man es noch draußen auf der Straße gehört hat! So ist er jetzt auf einmal sehr still und hat gar nichts mehr im Griff, nicht einmal die eigenen Ausscheidungen. Immer war er vor allem der Erzieher, der anderen (mir) gesagt hat, was sie zu tun haben. Immer laut, streng und starr, oft ungerecht: die Vaterpose.

    Meistens eine gereizte Stimmung im Haus, ein ständig aggressiver Umgangston von seiner Seite, jeden Tag mehrmals geschimpft. Als gereizte Figur ist er in Erinnerung, deren Überlegenheitsgetue ich ab einem bestimmten Alter ohnehin nur mehr belächelt habe. Scheinbar immer stark und allwissend nach außen hin, aber als Neurotiker ohne wahrhaftige Gefühle, einzige Zuflucht zunehmend im Alkohol, dann sentimental und wehleidig. Völlig unfähig zur alltäglichen Versorgung in den wenigen Tagen der Mutter-Abwesenheit.

    Die Wut auf den Vater müsste schon lange herausgeschrien worden sein, denke ich, als ich ihn vor mir liegen sehe, schon lange müsste er zu spüren bekommen haben, was er seinen Kindern angetan hat: die Schläge mit dem Kochlöffel, die Schläge auf den Hinterkopf, die Demütigungen. Was in den Doktorstunden alles herausgeschrien wurde, müsste doch jetzt ihm hineingeschrien werden? Vor allem Angst hast du mir gemacht, du Angstmacher, könnte ich sagen, vom ersten Tag an Angst gemacht.

    Weil ich so ein böses Kind war, das nur geschrien hat, ist von Anfang an dagegengeschrien worden von dir, also müsste jetzt endlich wieder zurückgeschrien werden! Aber jetzt gelingt mir das nicht angesichts dieses fremden Menschen, an dem alles herunterhängt, der nichts Lautes mehr an sich hat, nichts gespielt Überlegenes, zum ersten Mal seit vielen Jahren.

    Als er mich bemerkt, setzt er sich im Bett auf, im Unterhemd, ein grotesk fremdes altes Kind mit herabfallenden Schultern und stammelt eine Begrüßung, deutet mit den Händen hilflos auf den Mund, kleine Satzfetzen hervorstoßend, panisch im Bewusstsein, vielleicht für immer die Sprache zu verlieren; kleine fahrige Handbewegungen zum Mund, vor Verzweiflung mit den Schultern zuckend, tatsächlich weinend, dass ihm die Tränen herunterrinnen. Ich kann nicht, ich kann nicht richtig reden, will er mir zeigen, versucht er herauszubringen, dabei wird mit einem Mal die völlige Hilflosigkeit in seinen Augen deutlich.

    Zum ersten Mal sitzt mir ein wahrhaftiger, weich gewordener Vater gegenüber, und ich spüre Mitleid, das mich diesen Menschen in den Arm nehmen und an mich drücken lässt. Zum ersten Mal seit der Kindheit will ich ihn wirklich umarmen, nicht als Formalität, die einem eher peinlich ist, sondern als ehrlicher Ausdruck. Ich spüre dich, weich gewordener Vater, und spüre mich gleichzeitig selbst in der Umarmung, erkenne mich auch selbst in dir, in deiner Schwäche, weiß aber in diesem Moment auch, dass ich dich überwunden habe, stärker bin als du und dich deshalb jetzt an mich drücken kann!

    Atme, atme, sagt der Doktor wieder, und: Ton, Ton, einen Ton möchte ich hören; wie am Anfang sagt er es, als ob ich nicht schon viel erlebt hätte in den zurückliegenden Monaten, als ob ich nicht schon ein anderer geworden wäre, noch immer und immer wieder: Atme und Ton!

    Du glaubst doch nicht, schon gesund zu sein, sagt er, noch immer kommst du mehr wie ein alter Mann herein, schau dir doch zu, wie du auf der Matte zusammenbrichst, kraftlos und tonlos!

    Für einen Moment zucke ich da zusammen, für einige Sekunden bin ich wirklich sprachlos, ist der Zweifel wieder da, ob er nicht recht hat, ob ich mir die Veränderungen vielleicht nur einbilde!

    Nein, rufe ich, du hast unrecht, hör mir zu, rufe ich, und: Schau her! Ich springe auf, hüpfe im Raum herum, hüpfe dem Doktor etwas vor und beginne auch zu schreien. Wie die Schüler nach dem Stillsitzen während der Unterrichtsstunden in den kurzen Pausen dann auf den Gängen herumrasen- und schreien, um sich abzureagieren, laufe auch ich jetzt als Schulkind schreiend um den Doktor herum. Das still sitzende Kind bin ich nicht mehr, sondern das ausgelassene, das sich seiner Freiheit aber doch noch nicht ganz sicher ist, weil es aus den Augenwinkeln immer noch den Lehrer beobachtet?

    Du übertreibst, sagt der Doktor auch prompt, warum übertreibst du denn?
    Da lege ich mich gleich wieder auf die Matte, da erstirbt die Bewegung in der Doktorbeobachtung.
    Sofort legst du dich hin, nicht wahr, sagt er, schon gibst du wieder auf!

    Idiot, sage ich, du kriegst mich nicht mehr klein, bäume mich ein bisschen auf und beginne zu lachen, über mich und den Doktor muss ich lachen, aus dem locker gewordenen Körper und Gesicht lächelt und lacht es als eine neue Kraft, die für einen Moment auch dem Doktor unbekannt ist, bei der er sich nicht ganz auskennt, weil er sich vielleicht ausgelacht vorkommt? Aus dem Schreien wird das Lachen, das ist der neue Ton, das Lachen über die Fragen, die mir früher das Gehirn zermartert haben, was sich die anderen über mich denken, was nicht in Ordnung sein könnte, ob mir nicht irgendetwas schaden könnte. Darüber muss ich jetzt nicht mehr nachgrübeln, sondern schmunzeln: von der Starrheit des Sinnierens zur Lockerheit des Lachens!

    Es schüttelt den Körper, im Lachen wird er sanft durchgerüttelt und beginnt sich zum ersten Mal auf der Matte wirklich wohlzufühlen. Ja, es verändert sich etwas, ja es wird besser, ja ich beginne zu leben, sage ich zum Doktor, während ein angenehmer Schauer über den Rücken bis zu den Beinen hinuntergeht.

    Aber noch einmal probiert er es: Das bildest du dir nur ein, sagt er, das Lachen kann auch die Gefühlsunfähigkeit sein, schau dir doch den allgemeinen gesellschaftlichen Lachpanzer an, unter dem die Verzweiflung nicht gezeigt werden darf! Außerdem ist da noch etwas, das du nicht zeigst, nicht herauslässt, irgendetwas ist noch versteckt im Körper, noch immer sehe ich den Panzer und nicht das Leben; und drückt dabei wieder auf den Bauch, später auch auf den Schädel, drückt dabei aber mehr die Freude heraus als irgendetwas Verstecktes.

    Er weiß, wie er mich anreden muss, denke ich, er muss nur von etwas Verstecktem reden, etwas Ungutem, einem nicht näher bestimmten Defekt, schon werde ich nervös, schon bin ich verunsichert. Er sagt nur, was ich selbst früher immer gedacht und befürchtet habe, mit einem einfachen nichtssagenden Satz könnte schon wieder das Chaos im Kopf beginnen!

    Aber in Wirklichkeit spüre ich doch, dass sich der Chaosgedanke in den letzten Monaten aufgelöst hat und damit auch die Körpersperre. Die Rheumablockade verschwindet in der Auflösung der Kopfsperre. Ich behaupte nicht nur die neue Bestimmtheit, sondern spüre sie! Auch die Drückerei des Doktors macht mir nichts mehr, ich lasse sie geschehen, weil ich sie leicht aushalte!

    Ich kenne dich mittlerweile, sage ich zu ihm, du willst mich provozieren, aber jetzt geht die Provokation ins Leere, ab jetzt trifft sie mich nicht mehr!

    Da muss auch der Doktor lächeln und wird damit endgültig zum Verbündeten? Ja, sagt er, jetzt kommt nach der Wut das heraus, was auch und vor allem in dir steckt, nämlich die Lebensfreude, das Lachen als Lebenslust, jetzt zeigst du ein anderes wahres Gesicht, das entspannte und sympathische, weil du in Wahrheit ein lebendiger und herzlicher Mensch bist! Wie viel Freude in dir steckt, wie viel Anziehungskraft auf andere Menschen, weil du dich endlich aus der lebenslangen gebückten Haltung aufgerichtet, aus der selbstverordneten Panzerung gelöst hast, damit man dich überhaupt einmal richtig sehen kann, ruft der Doktor, den ich so gar nicht kenne.

    Bin ich nicht wirklich größer geworden in der letzten Zeit, hat sich der eingeschrumpfte Körper nicht wieder gedehnt, nachdem sich die Panzerplatten gelockert haben und nun langsam abfallen? Es fehlen mir die Worte für die neue Körperdehnung, für die Freude unter der Haut, die Knochenfreude, die Eingeweidefreude, die Herzfreude, die Freudevibrationen insgesamt: staunende pure Daseinslust!

    Ich sehe sie in deinen Augen, das genügt doch, sagt der Doktor, man sieht dir die Freude an, deshalb muss sie nicht mehr besprochen werden!

    Die Schultern beginnen zu rollen, dass es mir Ströme über den Rücken treibt, lange gähnende Seufzer als Ton aus der offenen Kehle, das Liegen auf der Matte – sonst nichts – als Genuss, so ändert sich alles. Ruhig und entspannt, so sagt man, liege ich da und das heißt: Nicht darüber nachdenken müssen, ob auch alles gut genug funktioniert, ob auch die Entspannung perfekt genug ist, der Zustand des beginnenden Glücks möglichst einwandfrei ist, sondern: leicht betrunken in einer Art gelassener Gleichgültigkeit, gleichzeitig aber hellwach und ganz klar im Kopf, das ist das Schönste! Keine lästigen Gedanken, nur der Doktor stellt mir auf einmal diese Frage: Was ist dir am wichtigsten im Leben?

    Die Liebe, sage ich, ohne lange überlegen zu müssen, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, sage ich, ohne dass es mir kitschig erscheint.
    Und warum tust du nicht, was dir am wichtigsten ist?
    Weil es nicht so einfach ist!
    Doch, es ist einfach, sagt der Doktor, du machst dir nur selbst das Leben schwer!
    Eine Phrase!
    Aber eine richtige!
    Es wird ja schon besser, rufe ich und atme.

    DER ANDERE BLICK

    Ganz in nächster Nähe existiert das lebendige Leben um einen herum in allen Dingen, die das Auge sehen, die das Ohr hören und die die Nase riechen kann … Die Schlüssel zum Ausgang sind in unserem eigenen Charakterpanzer und der mechanischen Steifheit unserer Körper und Seelen einbetoniert. (Wilhelm Reich, Christusmord)

    Beim nächsten Mal öffnet mir nicht der Doktor die Tür, sondern eine Patientin, die Patientin, und sagt, dass es ihm nicht gut gehe, dass er die Therapiestunde nicht halten könne; und gleichzeitig sehe ich ihn im Hintergrund auf der Matte liegen, die Arme weit ausgestreckt. Er ist irgendwie zusammengebrochen, sagt die Patientin, die ruhiger ist als ich, da sie offensichtlich schon eine Stunde bei ihm ist und sich an den erschöpft wirkenden Doktor, der mich heranwinkt, gewöhnt hat.

    Er begrüßt mich, kann aber seinen Zustand nicht erklären, eine sogenannte Kreislaufschwäche vielleicht, die Anstrengungen des Therapierens, aber heute könne er wahrscheinlich nicht mehr arbeiten, sagt er, heute müsse die Stunde ausfallen, und: Irgendwer soll mir auf den Schädel drücken.

    Ich stehe eher unbeteiligt daneben und bin auf so etwas nicht gefasst, den zusammengebrochenen und auf der Matte liegenden Doktor konnte ich mir nicht vorstellen, ein kranker Arzt neben dem hilflosen Patienten! Dachte ich nicht immer, ihm selbst konnte es nur gut gehen, weil er ein „durchgearbeiteter Mensch“ (so nennt er die Gesunden) sein muss?

    Zum ersten Mal möchte ich etwas über ihn wissen, zum ersten Mal spüre ich, dass er ein Freund ist und nicht nur ein kritischer Beobachter. Ist er nicht wie ich, frage ich mich, ihm gelingt auch nicht alles, so beängstigend gesund kann er nicht sein, wie er jetzt daliegt.

    Wie reagiert er denn auf der Matte, atmet er auch richtig und welchen Ton bringt er eigentlich heraus? Die Versuchung ist da, selber den Doktor zu spielen, nachdem die erste Überraschung vorbei ist. Erstaunt schaue ich auf den liegenden Menschen, der seine Erschöpfung spürt und zeigt, zum Ausdruck bringt, indem er das Gesicht verzieht und ein wenig jammert, aber vor allem meint, froh zu sein, dass wir da sind.

    Tatsächlich merke ich in diesem Moment, dass mir der Doktor in den letzten Monaten zu jemandem geworden ist, der einen wichtigen Platz in meinem Leben einnimmt: nein, mit Sicherheit kein Guru, aber – ja, ein Meister-Freund, mit dem ich jetzt mitleide, nicht nur erstaunt bin, dass ihm „so etwas passiert“.

    Was können wir für dich tun, frage ich ihn, in der Mehrzahl frage ich, die Patientenkollegin neben mir einschließend, die jetzt versucht, wie von ihm verlangt, seinen Schädel zu bearbeiten, insbesondere am Hinterkopf soll fest hineingedrückt werden, am Hirnansatz, um die Energie wieder zum Fließen zu bringen.

    Deshalb drückt sie unter den Anweisungen des Doktors auf dessen Hinterkopf, bis es ihm genügt, bis es ihm offensichtlich besser geht. Ins Nebenzimmer will er sich noch legen, sagt er, vielleicht kann er dann später auch wieder arbeiten.

    ___________________________

    Zurück zu Bukumatula 2019

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/19 Atme! Und: Ton! Ton! – Teil II
  • Kategorie: 2019
  • Buk 1/19 Nachruf auf Mary Boyd Higgins

    Zurück zu Bukumatula 2019

    Bukumatula 1/2019

    Nachruf auf Mary Boyd Higgins

    (13.10.1925 – 8.01.2019)
    von
    Robert Federhofer:

    Anfang dieses Jahres verstarb im Alter von 93 Jahren jene Frau, die seit beinahe 60 Jahren den Wilhelm Reich Infant Trust – die rechtliche Verwaltung des Erbes nach Wilhelm Reich – engagiert führte. Mary Boyd Higgins übernahm diese Tätigkeit 1959 von Reichs älterer Tochter Eva, die sie nach einem Jahr zurücklegte und sich einige Zeit lang niemand anderer dafür anbot.

    Die Aufgabe, das Erbe Wilhelm Reichs gemäß seinem letzten Willen zu erhalten, auch zu verteidigen, war zu keiner Zeit einfach und erforderte vor allem in den ersten Jahren einige rechtliche Auseinandersetzungen. Einerseits Rückforderungen von Archivmaterial von Aurora Karner, einer ehemaligen Mitarbeiterin Reichs, der er in der Zeit seiner Inhaftierung persönlich nahestand. Andererseits waren auch die Zensurentscheide aufgrund der FDA-Anschuldigungen gegen Reich aufrecht und es erfolgte nach der ersten Zeitschriften- und Bücherverbrennung noch zu Reichs Lebzeiten (1956), nun auch noch eine zweite in New York, da dort noch Zeitschriften und Bücher in einem Lagerhaus gefunden worden waren.

    Der Rechtsanwalt Leonard Kolleeny war über Jahrzehnte der Rechtsberater des WR-Infant-Trusts, fast ausschließlich unentgeltlich, waren doch die finanziellen Mittel chronisch beschränkt. 1960 wurde im ehemaligen Orgon-Energie-Observatorium auf dem Anwesen in Maine das Wilhelm Reich Museum eingerichtet und im selben Jahr mit dem Neudruck der Bücher Reichs durch den New Yorker Verleger Roger Straus (Farrar, Straus, Giroux) begonnen.

    Higgings entschiedenes Einstehen für Reichs Erbe über die lange Zeit hinweg ist beeindruckend. Sie kannte Reich nicht persönlich, hat aber dessen Gerichtsprozesse verfolgt und war entsetzt über das Spektakel der staatlich angeordneten Bücherverbrennung. In einem Interview mit Philip Bennett äußerte sie sich 2009 folgendermaßen: „Im Laufe meines Erwachsenwerdens wurde mir sehr und immer drohender bewusst, was mit ungewöhnlich kreativen Menschen passiert und wie diese üblicherweise zerstört werden.“ Diese Empathie des Kreativen mit dem Anderen und eine ordentliche Portion Mut und Hartnäckigkeit ließen diese Leistung über so lange Zeit entstehen.

    Mary Boyd Higgins wurde am 13. Oktober 1925 in Indianapolis in eine wohlhabende Familie hineingeboren; sie absolvierte das Vasser College mit einem Abschluss in Dramaturgie. Ab 1947 lebte sie in New York in Kontakt mit der Theater-Szene im Versuch, Schauspielerin zu werden und 1950 ein Jahr in Paris. Ihr Klavierlehrer überreichte ihr Reichs Buch „Die Funktion des Orgasmus“. Eine persönliche Therapie suchte und fand sie 1953-1956 in der Orgone Energy Clinic in NYC bei Dr. Chester Raphael, einem Schüler Reichs. Das Engagement von Higgins als Verwalterin des WR-Infant-Trusts zeigt große, aus der Ferne aber nicht immer gleich erkennbare Leistungen. Dass die gebannten und verbrannten Bücher wieder publiziert werden konnten, ist eine solche.

    Auch Übersetzungen ins Englische von ursprünglich deutschen Büchern (z.B. The Invasion of Compulsary Sex-Morality, The Bion Experiments, The Bioelectrical Investigation of Sexuality and Anxiety, Early Writings); Neuerscheinungen (z.B. Zeugnisse einer Freundschaft – Briefwechsel Reich-A.S. Neill, vier Bände Auswahl aus Tagebüchern und Briefen: Passion of Youth, Beyond Psychology, American Odyssey und Where’s the Truth), sowie ein Newsjournal, um Archivinhalte zu veröffentlichen (Orgonomic Functionalism). Ebensolche Leistungen sind die Erhaltung des Wilhelm Reich Museums in Rangeley und die Erstellung eines vollständigen Archivkatalogs.

    Anfang dieses Jahres erlitt Mary Boyd Higgins einen Schlaganfall und verstarb einige Tage darauf, begleitet von ihrem Neffen Will Higgins. Diese außergewöhnliche Frau wird fehlen.

    __________________________________

    Zurück zu Bukumatula 2019

  • Kommentare deaktiviert für Buk 1/19 Nachruf auf Mary Boyd Higgins
  • Kategorie: 2019