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Bukumatula 1/2019

Atme! Und: Ton! Ton! – Teil II

Fortsetzung von Bukumatula 2/18
von
Markus Hohl:

Beschrieb der erste Teil die Darstellung der Methode, den Zweifel an dieser Methode und der Rolle des Therapeuten, gleichzeitig aber auch das erste Erleben des „losgelassenen“ Körpers, so geht es im folgenden zweiten Teil vorwiegend um den sich vom Panzer befreienden Körper. Und zwar nicht als rationales Erkennen, sondern als emotionaler Ausbruch sowie die unmittelbare und konkrete Erfahrung, dass zuerst Gefühle wie Wut und Freude zugelassen werden müssen, damit das „Verstehen“ als Vater-Geschichte, also die beginnende Heilung, folgen kann.

DIE WUT

Ich sage dir, kleiner Mann: Du hast den Sinn für das Beste in dir verloren. Du hast es erstickt, und du mordest es, wo immer du es in anderen entdeckst, in deinen Kindern, deiner Frau, deinem Mann, deinem Vater und deiner Mutter. Du bist klein und willst klein bleiben, kleiner Mann. (Wilhelm Reich, Rede an den kleinen Mann)

Die Doktorpraxis ist im zweiten Stock eines Altbaus, so plage ich mich über die Stiege hinauf, in kleinen Schritten von einer Stufe zur nächsten und läute dann, bis er aufmacht und mich begrüßt, indem er mein verspanntes Gesicht nachahmt: Obwohl ich glaube, ganz locker zu sein, weil ich ihn ja kenne, hält er mir seinen angespannten Unterkiefer entgegen und wiederholt aus den zusammengebissenen Zähnen meinen Gruß, um mir meine Begrüßungspanzerung zu zeigen, meine Gesichtsverzerrung gleich bei der Begrüßung entgegenzuhalten.

Obwohl einem anderen meine Anspannung wahrscheinlich gar nicht auffallen würde, erkennt der Doktor, wie es hinter dem lächelnden Gesicht aussieht, bemerkt er auf den ersten Blick den unechten Ausdruck und die darunter liegende Verhärtung und zeigt sie mir auch noch!

Sofort sieht er die Aggression und die Unsicherheit und macht sie mir deutlich, indem er mein Patientengesicht übertrieben nachmacht; anstatt mich freundlich zu empfangen, mit ein paar verbindlichen Sätzen vielleicht, schockiert er mich bereits beim Eintreten mit meinem eigenen Gesicht und hält mir meine eigene Schädelverzerrung vor die Nase!

Dabei habe ich mir gedacht, dass es kleine Fortschritte gibt, dass der Panzer nachgibt und ich auf seine Frage, ob sich etwas verändert habe, wenigstens hätte nicken können. Ja, den Mund bringe ich weiter auf, hätte ich gesagt, im wahrsten Sinn des Wortes kann ich das Maul weiter aufreißen, weil die Kiefergelenke weniger schmerzen, weil sich der Kieferblock etwas gelockert und die Entspannung im Gesicht begonnen hat. So aber zeigt er mir gleich beim Eintreten, dass ich mich nicht täuschen soll, weil er gerade da die Verhärtungen sieht, die Kopfentspannung also mehr eine Einbildung ist.

Auf der Matte schweige ich deshalb und bringe den Mund nicht mehr auf, weil ich über die Doktorbegrüßung nachgrübeln muss, schweigend nachdenke und ihm den Ärger nicht einmal mit den Augen zeigen kann.

Er wartet noch ein wenig und lässt mich atmen und tönen, wahrscheinlich um mich zu beruhigen und die Beine zum Schwingen zu bringen, bis er mir dann auf den Leib rückt und am Schädel herumzudrücken beginnt! Wahrscheinlich hat er mich nicht umsonst gleich beim Eintreten mit meinem Gesicht konfrontiert, weil er sich jetzt damit beschäftigt, das heißt, meinen Kopfpanzer näher in Augenschein nimmt. Auch da ist angeblich alles verhärtet, alle Gesichtsmuskeln, von denen ich bisher nichts gespürt habe, verspannt, eingefroren zu einer steinharten Maske, so wieder der Doktor.
Welche Maske denn, frage ich.

Die du dir selbst aufsetzt, mit der du glaubst, am besten durchs Leben zu kommen, weil dir dein wirkliches Gesicht nicht geeignet erscheint; vielleicht die Maske des abgeklärten älteren Herrn, ein bisschen arrogant und sehr ausgeglichen, sodass dir das Gesicht vor lauter Seriosität schon eingefroren ist, sagt der Doktor und beginnt ganz sanft an der Nasenwurzel zu streicheln, was ich unbewegt geschehen lasse.

Ein seriöses Herrengesicht wird schon stimmen, weil mir das wirkliche immer viel zu jung vorgekommen ist, sage ich mir. Ein viel zu junges Gesicht, vor dem niemand Respekt hat, das niemand ernst nimmt („Du schaust so jung aus“ früher immer als Vorwurf?), vor allem nicht meine Schüler, habe ich mir gedacht und wollte immer älter aussehen und war ganz stolz, wenn mich jemand älter geschätzt hat, als ich wirklich war.

Also versucht der Doktor jetzt wieder das junge Gesicht zum Vorschein zu bringen, indem er mich streichelt? Und dann doch mehr drückt als streichelt, am Oberkiefer herumdrückt, als ob er mir die Zähne zurechtrücken wollte, was ziemlich unangenehm wird, weil er offensichtlich noch ein anderes Gesicht hervordrücken will wie schon bei der Begrüßung: das des zornigen jungen Mannes, aber diesen Gefallen mache ich ihm nicht so schnell und bleibe ziemlich ruhig bei dieser Behandlung und drehe mich nur ein bisschen weg, auch wenn er sagt: Du steckst voller Wut, da ist unendlich viel Wut versteckt im freundlichen Gesicht und im scheinbar ruhigen Körper, Wut, der du aber nicht immer nur ausweichen und dich wegdrehen kannst, der du schon viel zu lange ausgewichen bist, die du so lange nicht herausgelassen hast, bis sie dir in den Knochen steckengeblieben ist und dich krank gemacht hat. Die Wut, ruft er, ja, als hätte er plötzlich etwas Wichtiges entdeckt, voller Wut ist der Bursche!

Der Bursche, sagt er, denke ich, der Bursche, als ob ich ein Achtzehnjähriger wäre, da könnte ich ihm schon eine in die Fresse hauen, so regt mich diese Anrede auf und erkenne dabei, dass der Doktor der Vater ist, wenn er sich über mich lustig machte und nicht ernst nahm, höchstens sagte: Du Milchgesicht!

Dann möchte er, dass ich mich nicht mehr nur ducke und ausweiche, sondern ihm ein wahres Gesicht zeige, nämlich das Wutgesicht. Aber so leicht ist das nicht, weil zuerst einmal der Panzer gelockert und das Beamtengesicht zum Abbröckeln gebracht werden muss, sagt er. Grimassen soll ich machen, damit ich das eigene Gesicht wieder spüre, möglichst schreckliche Grimassen.

So versuche ich ein paar Gesichter zu schneiden, auch wenn ich mir dabei blöd vorkomme und alles nur sehr schwer in Bewegung bringe, weil das Gesicht so verklemmt ist. Da knackt und kracht es in den Kiefergelenken wie bei einer lange still gestandenen Maschine, die nur langsam und zögernd wieder zu arbeiten beginnt. Offensichtlich aber sind die Grimassen nicht besonders eindrucksvoll oder erschreckend, weil der Doktor eher belustigt ist, ganz offen lacht, mich mehr auslacht als fürchtet.

Was ist denn so lustig, rufe ich, warum lachst du mich denn aus, du Idiot! traue ich mich sagen, und langsam gelingt mir auch die Augenwut, sodass er wieder ernst wird. Und ich merke dabei, dass hinter der knirschenden Gesichtsmaschine sich etwas entwickelt, aus dem ausgelüfteten Schädel und den kühlen Augenhöhlen etwas hervortritt, was mich zu einem neuen Laut bringt, Angst und Wut zum ersten Mal mit einen wahrhaftigen Ton aus dem aufgerissenen Mund hervorbringen.

Äähh! schreie ich und strecke dem Doktor die zitternde Zunge entgegen, und: äähh wie ein angstvoll zorniges Kind und merke, wie mir warm wird und gleichzeitig etwas in den Körper hineinströmt, das ihn zu einer einzigen Körpergrimasse zusammenkrampft und dann in einem langen Zittern wieder besänftigt.

Da wird der Doktor aufmerksam und gespannt, das gefällt ihm, da setzt er sofort nach und drückt mir seinen Daumen in die Rippengegend. Auch dort hat er wahrscheinlich den Panzer entdeckt und will testen, wie hart er ist. Dabei drückt er aber so fest, als ob er mich für die herausgestreckte Zunge bestrafen wollte, so weh tut das! Deshalb verstumme ich, liege nur still und versuche ihm wieder auszuweichen, jammere höchstens, anstatt loszubrüllen, stelle mich nicht dem Schmerz, sondern gebe ihm nach.

Nicht ich tu dir weh, sagt der Doktor, sondern die Panzerung schneidet dir ins Fleisch, also musst du sie beseitigen, musst dich dagegen wehren, indem du deine Gefühle zeigst, was dir aber nicht gelingen wird, wenn du nur ruhig liegen bleibst, also ein braves Kind bist.

Verdammtes Arschloch, er will mich nur erschrecken, der verdammte Idiot, denke ich und zeige ihm sofort ein ganz hässliches Gesicht und bemerke, dass sich dieses Schreckgesicht langsam in den Körper hinunterzieht und gegen den Panzer, gegen den Doktordruck anzukämpfen beginnt. Schon will ich seine Hand wegschlagen, um den Schmerz loszuwerden, aber er sagt, damit änderst du nichts, zuerst musst du die Gefühle zeigen, zuerst möchte ich einen Ausdruck sehen, nur so beseitigst du den Schmerz, also lass die Hände auf der Matte!

Aber ich kann es nicht, welches Gefühl denn, wo doch alles wie betäubt ist, rufe ich.
Spür endlich deine große Wut, die dir fast schon den Körper sprengt, antwortet er, lass sie heraus, sonst erstickst du daran! Und atme, mach endlich einen Ton beim Ausatmen!
Ton, Ton, du immer mit deinem Ton, rufe ich.
Und er: Hände auf die Matte!
Und ich: ja, ja!
Und er: Atme, Ton, Ton! Öffne die Kehle!
Und ich: öffne die Kehle, öffne die Kehle!
Und er: Ton, Ton!
Und ich: Scheiß Ton!
Und er: Ton, einen echten Ton möchte ich hören!
Und ich schreiend: Ich kann es nicht!
Und er: natürlich kannst du es, ich höre ihn ja schon!
Und dann kommt dieser wirkliche Ton tief aus dem Inneren hervor, ein anderer, noch nicht gehörter Ton, der mir fremd ist, und setzt die zähe Körpermasse aus dem Stillstand in Bewegung, dass sich nach den Beinen auch die Arme zu rühren und herumzufuchteln beginnen.

Schlag beim Ausatmen auf die Matte, ruft der Doktor, möglichst fest mit einem möglichst deutlichen Schrei!
Also beginne ich fest auf die Matte zu schlagen und zu schreien und spüre dabei, wie sich das Schreien verselbstständigt, wie es plötzlich automatisch hervorbricht, sehr laut und gefährlich und sich etwas aufschaukelt, das den Körper in eine schneller werdende Bewegung hineintreibt, bis sich auch das Becken und der Oberkörper heben und eine lange Welle in Gang setzen.

Auf die Matte, auf die Matte, ruft der Doktor, bleib auf der Matte, als ich mit den Füßen herumzutreten beginne. Lass die Füße aufgestellt, lass die Füße auf der Matte, fest auf der Matte!

Ich aber beginne mit den Füßen aufzustampfen, mit den geschwollenen und angeschlagenen Füßen in die Matte hineinzustampfen und gleichzeitig immer heftiger darauf einzuschlagen und merke, dass ich nicht mehr schreie, sondern den Doktor anbrülle aus einem wahrscheinlich hassverzerrten Gesicht heraus, weil er plötzlich zurückweicht; spüre die zuckende Welle, die mich mitreißt, bedrohlich und angenehm zugleich und schreie und schlage, schreie und stampfe, brülle wie ein Vieh und fühle ein Wutchaos heiß und drückend über den Körper gehen in einer einzigen Zornexplosion, die vor dem anfeuernden Doktor in die Luft geht, als ob etwas ausgetrieben würde, eine große schwarze Masse herausgetrieben würde! Ja, ja, ja, schreit es gegen den Doktor, der sich etwas zurückzieht, als ihn aus den weit aufgerissenen Augen die Wut trifft und: ahhhhhhhhhhhhhhh brüllt es, so laut und durchdringend, wie das Kind nie brüllen durfte.

So komme ich in eine keuchende Atemlosigkeit hinein mit Blitzen und Lichtpunkten im Gesichtsfeld, heiß und verwirrend, aber doch auch leicht und angenehm. Das ist gut, das ist gut, aber auch so bedrohlich, als ob eine fremde Kreatur wie eine sich windende Riesenschlange aus ihrer Haut hervorkriechen würde und sie mit aller Gewalt abstreifen müsste. Zum ersten Mal wehrt sich der Körper mit Macht gegen die jahrelange Einengung, gegen die eigene Zerquetschung, indem er sich wie verrückt herumwirft und dem Panzer so knirschend und schreiend langsam Risse zufügt, ihn hier und dort auch schon aufzulösen beginnt.

Er platzt auf, im Gesicht zum Beispiel platzt die Panzerung auseinander und lässt den Kopf schreien wie nie zuvor, aus dem aufplatzenden Kieferpanzer schreit es gegen die Zimmerdecke, in den aufgerissenen Augen stehen die Wut- und Angsttränen. „Platzen“ bedeutet im heimischen Dialekt einerseits schreien, andererseits aber auch weinen, so platze ich also vor dem Doktor auseinander.

Heraus kommt der nackte rohe Mensch, ein fremder Mensch windet sich da also auf einmal vor dem Doktor, wundere ich mich, ein sogenanntes böses, laut platzendes Kind, das ich doch angeblich immer gewesen bin: ein Schreihals schon als Baby!

Ich darf es sein, wird mir mit einem Mal klar, ich darf ja schlagen, stampfen und brüllen wie am Spieß, ohne dass von einem Stärkeren sofort zurückgeschrien oder geschlagen und damit alles niedergehalten wird. Jetzt aber hebt sich alles, die Beine, die Arme, der Kopf, und mit halb aufgerichtetem Oberkörper dresche ich auf die Matte ein, dass es eine Freude ist, während sich der Doktor schon außer Reichweite gebracht hat.

Ja, ruft er, der zum ersten Mal sehr zufrieden schaut, endlich rührt sich was, und nach einer langen Pause, in der ich mich langsam wieder beruhige, auf die Matte zurückfalle und zu Atem komme: Was spürst du?

Etwas Fremdes, aber Angenehmes, nämlich das vor Wut explodierende Kind, wollte ich sagen; doch das ist nur ein Gedanke; das aber spüre ich wirklich: das gehende Herz im sich auf- und abbewegenden Brustkorb, den ruhigen Schwanz auf den entspannten Hoden, die nachvibrierenden Beine, warme Handflächen, den heißen, verschwitzten Kopf, elastischere Rippen, ein leichtes Ziehen im Rücken und erst zum Schluss die schmerzenden Gelenke.

Auch eine neue Ruhe, die aus dem leergebrüllten Gehirn kommt, das wenigstens momentan nichts zu sinnieren hat, das Geschehene nicht interpretieren, keine Ordnungsbegriffe finden muss, sondern sich dem Nachzittern des Ausbruchs überlässt; kein schlechtes Gewissen und keine Sorge, sondern das Erstaunen über den Mut, sich bloßgestellt zu haben.

Eine Bloßstellung ist passiert, und sie war nicht peinlich, schon gar nicht schrecklich, auch keine Schande, als ich einen Teil meiner Wut gezeigt und herausgelassen habe, und niemand war enttäuscht von mir, hat sich abgewendet oder zurückgeschrien, im Gegenteil! Für einen Moment spüre ich, was der Doktor mit seiner dauernden Atmerei wirklich meinen könnte: mit einem anderen Atemrhythmus in einen anderen Lebensrhythmus kommen, mit dem geänderten Atem zu neuen Gedanken!

Das ist ja was: Der Neurotiker spürt wieder etwas und denkt nicht nur daran, ob er etwas falsch gemacht hat, freut sich der Doktor. Du beginnst wieder zu leben, sagt er.

Beim nächsten Mal dann die zweite Austreibung. Wieder auf der Matte; die Frage des Doktors, was sich geändert hat, worauf ich ihm erzähle, wie ich voriges Mal mit einem anderen Gefühl die Praxis verlassen habe, den anderen Menschen auf dem Weg zur Garage, wo das Auto abgestellt ist, meinen gelüfteten Körper präsentieren konnte. Zum ersten Mal war es ein Weg in einem frischeren Licht, in dem Entdeckungen möglich schienen, andere Menschen als sonst auftauchten, ein Weg, auf dem mich nicht mehr nur das eigene schlechte Gehen interessierte.

Auf einem Brunnen, der eine überdimensionale Hand darstellte, saßen Kinder und waren nicht sofort eine Belästigung, weil sie den Wasserstrahl gegeneinander abzulenken versuchten und dabei vielleicht Passanten trafen, also möglicherweise auch mich. Und schon schimpfte tatsächlich jemand, der getroffen wurde, die Kinder aber waren erstaunt, dass sich einer außerhalb ihres Spiels gemeint und angegriffen fühlte. Sie meinen es nicht so, dachte ich und war doch sonst einer – als Lehrer! – der sich ganz schnell angegriffen fühlte.

Tu dir nichts an, sagte ein Vorbeigehender zu seinem Nachbarn, der gerade angespritzt wurde, was mir jetzt als guter Vorsatz erschien, sich nicht immer so viel anzutun, sich nicht immer angegriffen zu fühlen, also gelassener zu werden. Tu dir nichts an, könnte ein Lebensvorsatz werden für mich. Ich werde mir nicht mehr so viel antun, sagte ich zu mir, ja, ich werde mir nicht mehr so viel antun, wiederholte ich. Schauten mich da die Entgegenkommenden nicht gleich mit anderen Augen an, wurde mir nicht zugelächelt oder war es doch nur der abweisende Blick für den Hinkenden? Oder schauten die vor einem Cafe im Freien Sitzenden so leer und posierend durch die Gegend wie immer?

Aber war es nicht viel wichtiger, wie ICH auf die anderen schaute, die mir als Darsteller in einem Film erschienen, der mir gefiel und ein gutes Gefühl gab! Und spürte ich nicht in den letzten Wochen, dass ich, mich aufrichtend, größer geworden bin und nicht mehr so leicht übersehen wurde? Schon seit längerer Zeit habe ich niemanden mehr überrascht sagen hören: Ah, da bist du ja, ich habe dich gar nicht bemerkt!, obwohl ich schon länger im Raum gewesen war; kein Herumschleichen mehr, sondern ein sogenanntes sicheres Auftreten?

Aus dem Schaufenster eines Blumengeschäfts nahm die Verkäuferin einen Strauß roter und blauer Blumen aus einer großen Vase und ließ dabei, sich bückend, ansatzweise ihre Brüste sehen. Auch der Obdachlose mit einem Pappschild, auf dem seine Leidensgeschichte zu lesen gewesen wäre, gehörte jetzt dazu, spielte mit in diesem Film. Die Bauarbeiter hinter einer Absperrung, die um eine Mischmaschine standen, erschienen mir nicht als arme Hunde, sondern mindestens als Darsteller in einem gelungenen Werbefilm, voll Energie und Kraft.

Eine blonde Frau in einem kurzen roten Rock – die ich doch kannte! – ging vorbei und war schon die Heldin eines Liebesfilms, in dem ich eine Rolle spielen könnte. Fast hätte ich sie angesprochen, wenn sie nicht zu schnell vorbei gewesen wäre und ich ihr hätte nachhinken können. Zwei Mal schon hatte ich sie in der Doktorpraxis gesehen, doch war ich mir nun unsicher, ob sie es war, da sie mir in der Doktorumgebung auch nur als Patientin vorgekommen war, nun aber strahlend schön erschien.

Und dann war aber doch wieder nur ein anderes blöd taxierendes Menschengesicht im Lift der Tiefgarage, viel zu nahe im Aufzug, ein von oben herabgrinsender Möchtegernschauspieler, der den Platz wie selbstverständlich beanspruchte, ein Gesicht, bei dem ich mich sofort fragen musste, was es sich über mich dachte, das mich in die Ecke drängte und klein machte.

Das aber will der Doktor nicht mehr hören, sondern wissen, warum ich denn die Frau, die er auch als seine Patientin erkannte, nicht angesprochen habe: Weil ich mich nicht getraut habe, sage ich.  Da haben wir ja immerhin so etwas wie ein Gefühl, sagt er – und: Atme! Wieder beginnt es also ganz ruhig; ruhiges Liegen auf der Matte, langsam einsetzendes Zittern der Beine, sachtes Aufschaukeln aus dem Stillstand mit dem Doktor daneben als Antreiber: Atme, mach einen Ton beim Ausatmen, atme möglichst lange aus!

Und wieder beginnt er mich im Gesicht zu drücken, zu malträtieren, zeigt mir selbst sein Gesicht in beachtlichen Grimassen: so soll es sein! Beginnt mich neuerlich zu nerven mit seinem dauernden: Atme und öffne die Kehle, einen lauten Ton möchte ich hören, einen Ausdruck sehen! Drückt auf die Wangen und den Oberkiefer, versucht die erstarrte Körpermasse in Bewegung zu bringen, indem er mir wehtut. Und schneller als beim letzten Mal spüre ich etwas, weil ich mir nicht so gesperrt vorkomme, spüre über den Schmerz hinaus den aufsteigenden Zorn und merke, dass ich Lust auf die Wut bekomme, dass ich sie auch zeigen kann ohne allzu schlechtes Gewissen.

Als er den Bauch zu bearbeiten und die scharfe Eingeweideklammer noch tiefer hineinzudrücken beginnt, fühle ich plötzlich, wie ungeheuer die Wut im Bauch ist, wie tief ich sie hineingefressen habe und wie schwer sie wieder herauszubringen ist! Auf die unbewegliche, glatte, abweisende Körpertube drückt der Doktor, um die Wut herauszuquetschen; damit sie durch den Körper durchgedrückt wird und oben herauskommt als Geschrei, sich befreit aus dem Rheumagefängnis und geäußert werden kann, bevor die Körpertube explodiert und der Inhalt endgültig zu verrotten beginnt!

Hör auf so fest zu drücken, rufe ich, es tut nämlich ziemlich weh, aber er verstärkt noch seinen Druck, sagt nur weiter: Zeig, was du spürst, zeig schon, was los ist, du wehleidiger Bursche! Du jammerst nur und bringst nicht einmal einen richtigen Ton heraus!

Da schweige ich wieder und atme vorerst nur, atme dem Doktor nur ins Gesicht und zeige ihm wahrscheinlich auch mit den Augen, was er für ein Kotzbrocken ist. Und atme mich in eine Wut hinein, die zwar noch zwischen Brust und Augen feststeckt, aber schon aus den Eingeweiden nach oben gerissen worden ist, schon fast herausgelassen werden kann, wenn nicht so viel Angst dabei wäre, so viel Hass und Angst und Wut im Körper festgefressen wären seit Jahrzehnten.

Zitternd sitzt die Wutangst aufsteigend aus dem Bauch jetzt in der Lunge, atmet schwer aus dem Rachen und will endlich herausgeschrien werden! Aber noch ist es nicht so weit, noch treiben fast nur die Beine den Körper an, noch ist die Welle nicht auf den Oberkörper, der ziemlich unbeweglich liegt, übergesprungen. Langsam schiebt sich etwas zur Seite, löst sich auf in kleinen Zuckungen, die durch die Schenkel fließen. Immer deutlicher spüre ich, wie sich dieser Strom aus den Beinen hochzieht in die Bauchhöhle und sich dort gegen den Doktorgriff wehrt, gegen den Druck durch die Doktorhand in den übrigen Körper springt und die Wut nach oben schiebt, hinter das steinharte Gesicht, wo das Herz im Schädel dröhnt und das Blut in den Ohren zu rauschen beginnt.

Einen Ton fordert der Doktor und erkennt vielleicht, dass nicht mehr viel bis zum Ausbruch fehlt und drückt deshalb jetzt auf den Schädel, als ob er die letzte Sperre beseitigen wollte, die Kopfsperre, die aber die stärkste ist. Alles bleibt im Kopf stecken und füllt ihn so mit dem Wut- und Angstgemisch, dass er ganz verstopft ist. Nach dem Körper muss endlich auch aus dem Kopf der Abfall heraus, dazu muss offensichtlich fest gedrückt werden an der Körpertube, so fest, vor allem am Hinterkopf, am Kleinhirn, dass mir der Schweiß ausbricht und wahrscheinlich zu dem hinter mir stehenden Doktor hinaufstinkt. Der Kopf so voll mit Angst – und Wutscheiße, dass es zum Himmel stinkt, sagt er nämlich plötzlich, du stinkst vor lauter Wut und Angst, mein Freund! Lass doch endlich los, zeig endlich deine beschissne Wut, lass sie endlich heraus!

Du Drecksau, rufe ich, was machst du denn, du zerdrückst mir ja den Kopf, und spüre plötzlich, wie sich alles verengt und ich wie festgenagelt bin auf der viel zu schmalen Matte, die sich um mich fest zu schließen beginnt wie die Last von mehreren schweren Tuchenten bei den Schwitzkuren in der Kinderzeit; oder wie sich bei den todernsten kindlichen Raufereien der Arm des stärkeren Gegners im sogenannten Schwitzkasten über mein Gesicht legte und die Panik, ersticken zu müssen, im Gehirn zu toben begann wie jetzt im Schwitzkasten des Doktors!

Das ungeheure Bedürfnis, sich zu befreien und Luft zu verschaffen (atme!) mit aller Gewalt, ist der einzige Gedanke im Aufschrei: Das lasse ich mir nicht mehr gefallen! Und merke in diesem Moment, wie der Atem mit einem Gebrüll aus dem Schädel hinausfährt und die Körperwelle den Oberkörper endgültig mitreißt, der Doktor gleichzeitig zu drücken aufhört und ruft: Endlich, ja gut, weiter so, während ich zu schlagen beginne, auf die Matte, auf die Matte, so der Doktor, und es mich in Zuckungen herumwirft.

Kindergebrüll, kein Erwachsenenschreien, sondern ein durchdringendes Kinderbrüllen entfährt mir, die Augen fast aus den Höhlen treibend, während nun auch der Schädel auf- und abzuhüpfen beginnt und die Füße auf die Matte trommeln. Dann drehe ich mich ein wenig zur Seite und schreie dem Doktor mitten ins Gesicht; während ich bisher immer nur knapp daneben auf den Plafond hinaufgeschrien habe, fixiere ich ihn jetzt und brülle ihm meine Wut in die Augen und merke, dass ich auch nicht mehr den Boden bearbeite, sondern in die Luft zu schlagen beginne, Richtung Doktor schlage und ihn auch schon mit einem rechten Schwinger am Körper treffe, bevor er sich außer Reichweite bringen kann (deshalb immer sein Ruf: auf die Matte, auf die Matte?!).

Nichts hält mich mehr in der Position des Liegenden, des Erduldenden, des Opfers und so flink wie nie mehr seit Jahren komme ich auf die Knie, immer noch um mich schlagend, da legt mir der Doktor einen großen Polster her, in den ich hineinschlagen soll, aber daran denke ich gar nicht, weil ich nicht den Polster, sondern den Doktor meine, der jetzt ohne Bedenken angegriffen wird. Da bricht etwas entzwei, da birst der Panzer auseinander, unter dem die nackte Wut herausschießt: Aufspringend schlage ich schreiend auf den zurückweichenden Doktor ein wie das außer sich geratende Kind ohne Zurückhaltung blind um sich schlägt, aber mit plötzlich aufbrechender Schnelligkeit und Kraft, die ich mir nicht zugetraut hätte; bis es mich zurückwirft auf die Matte.

Das zieht etwas durch den Raum, während ich keuchend liege, kaltes Erschrecken zieht über mich hinweg, vor dem ich mich unwillkürlich ducke, wie ich es immer gemacht habe in Erwartung der Schläge, denn wenn ein Unglück passiert, muss auch die Bestrafung stattfinden, wenn man sich wehgetan hat, muss auch noch eine Ohrfeige dazugegeben werden, so war es jedenfalls öfter.

Denn plötzlich ist eine Hand im Raum, über mir, die Vaterhand, die ich im Moment des Schlagens wirklich auf meinem Kopf spüre und ich mit allen Sinnen wieder das böse, schreiende, hilflos ausgelieferte geschlagene Kind bin. Die Tränen schießen mir in die Augen, seit Jahren zum ersten Mal, aber mit dem Gefühl der Verzweiflung ist auch jenes der Erleichterung mit der jetzt sanften Doktorstimme da: Das war gut, jetzt ist es vorbei.

Und schon drückt er wieder im Gesicht herum, bearbeitet die glatte Oberfläche, um das wahre Ehegesicht hervorzudrücken, das enttäuschte Ehegesicht, du bist ein Ehekrüppel, sagt er, und drückt mir fast die Kiefergelenke aus den Scharnieren. Versperrt ist der Sprechapparat noch immer, meint er, du verbietest dir selbst das Sprechen, weil du den Mund nicht aufbringst zu Hause, weil du schon seit Jahren unfähig bist, deinen Gefühlsnotstand zum Ausdruck zu bringen. Ein Schwächling bist du, ein Professor nach außen hin, in Wahrheit aber ein Bub, kein Mann! Du musst endlich das angstvolle Kind herauslassen, um ein Mann zu werden!

Ja, ja, schreie ich, wie denn, du Idiot, so ein Unsinn, wie soll ich denn das angstvolle Kind herauslassen, so vielleicht: Und brülle los wie der bitzelnde Schreihals, der ich einmal war, dass mir die Sinne vergehen und schneide ihm die hässlichste Grimasse, die ich mir vorstellen kann, strecke dem Doktor die Zunge heraus, beginne gleichzeitig zu weinen und auf ihn schreiend hinzuschlagen, zuerst mehr verzweifelt und ohne Nachdruck, mit der Zeit aber immer bestimmter und deutlicher, stehe dabei auch auf, während der Doktor sagt, ja genauso, gut, gut, es genügt aber, ins Leere zu schlagen, worauf ich unter seinen Anfeuerungsrufen durch den Raum galoppiere und das Selbstmitleid des geschlagenen Kindes hinausbrülle, grunzend gegen die Wand schlage und mich vor nichts schämen muss in diesem Veits- und Kriegstanz, der gleichzeitig ein Tanz der Besänftigung ist, und merke, dass ich ja auch auf den Boden stampfen kann, ohne vor Schmerzen aufzuschreien und zum ersten Mal nach Jahren wieder in die Luft springen kann, wenn auch nur unmerklich!

Die Wut kommt heraus, die Wut auf dieses ängstliche Kind in mir, das mir so viel vermiest hat, das jetzt endlich zum Verstummen gebracht werden wird. Sei still, sage ich zu ihm, während es mir immer noch einreden will, dass ich mich vor dem Doktor zum Narren mache, wenn ich so herumhüpfe; lächerlich machst du dich, und schämst du dich gar nicht! sagt das Kind. Wie du ausschaust, sagt es, wie krank und schwach du bist, da wird dich der Herr Doktor auslachen!

Hau ab, rufe ich, verschwinde endlich, lass mich in Ruhe, und boxe es langsam aus mir heraus, indem ich in die Luft haue, auch wenn es immer noch nicht ganz geschlagen ist. Ich bin nervös, sagt es, spür doch, wie kalt die Füße sind, kalte Füße bekommst du, weil du Angst hast, auch wenn du noch so viel herauskotzt!

Aber ich merke, dass sich das ängstliche Kind langsam einschüchtern, mit dem beweglicher werdenden Körper abschütteln lässt. Wenn man es nur bestimmt und deutlich genug anredet, verstummt es von selbst, rührt sich zum Schluss kaum mehr, probiert es nur noch einmal:

Vielleicht schadet dir die Behandlung in Wahrheit, sagt es, vielleicht wirst du noch verrückter, als du schon bist! Und: Vielleicht bist du in Wirklichkeit schwul, weil du so vor dem Doktor herumtanzt, denk einmal darüber nach! Da muss ich im Lauf der Behandlung zum ersten Mal lachen, muss das ängstliche Kind auslachen, was es offensichtlich nicht erwartet, weil es ganz klein wird bei meinem Lachen.

Nein, darüber denke ich nicht mehr nach, rufe ich, schau doch, ich kann den Doktor ja sogar umarmen – und umarme ihn dann auch wirklich – ohne dass es mir peinlich ist, ohne dass ich an ein mögliches Schwulsein denken muss. Du kannst mir nichts mehr antun, du stirbst, merkst du es nicht, ängstliches Kind, dass du in mir abstirbst wie ein abheilendes Geschwür!

Da bewegt sich was, wunderbar, ruft der Doktor, der wie ein Tierbändiger in der Mitte stehengeblieben ist, als ich mit den Armen herumrudere und undefinierbare Laute von mir gebe. Langsam wird alles leichter, klarer und bestimmter, die Körpersperre und das verkrallte Gehirn lösen sich, sodass ich auf einmal lachen und vor Verwunderung über mich selbst den Kopf schütteln muss.

Ein anderes Mal erzähle ich dem Doktor die Vatergeschichte: Zum ersten Mal nach Jahrzehnten ist mir der eigene Vater zum Menschen geworden, von der ständig gereizten Herrscherfigur der Kindheit über einen die ganze Welt beschimpfenden und vor sich hinstierenden Alkoholiker zum armen ausgelieferten Menschen wie ich auf der Matte. Er aber dagegen im Krankenhaus nach einem halben Schlaganfall, jedenfalls vorübergehend sprechbehindert und dadurch erst für mich wieder verständlich geworden.

Als ich ihn besuche, liegt er allein im trostlosen Zimmer hilflos im Krankenbett, der ehemalige Schuldirektor und Lokalpolitiker als Häufchen Elend. Habe ich ihn bisher fast nur in Posen und Rollen gesehen, zum Beispiel als strengen Lehrer, talentiert, aber vor allem stolz darauf, alles im Griff zu haben, die Schüler in Schach gehalten zu haben: Wieder einmal so laut in der Klasse geschrien, dass man es noch draußen auf der Straße gehört hat! So ist er jetzt auf einmal sehr still und hat gar nichts mehr im Griff, nicht einmal die eigenen Ausscheidungen. Immer war er vor allem der Erzieher, der anderen (mir) gesagt hat, was sie zu tun haben. Immer laut, streng und starr, oft ungerecht: die Vaterpose.

Meistens eine gereizte Stimmung im Haus, ein ständig aggressiver Umgangston von seiner Seite, jeden Tag mehrmals geschimpft. Als gereizte Figur ist er in Erinnerung, deren Überlegenheitsgetue ich ab einem bestimmten Alter ohnehin nur mehr belächelt habe. Scheinbar immer stark und allwissend nach außen hin, aber als Neurotiker ohne wahrhaftige Gefühle, einzige Zuflucht zunehmend im Alkohol, dann sentimental und wehleidig. Völlig unfähig zur alltäglichen Versorgung in den wenigen Tagen der Mutter-Abwesenheit.

Die Wut auf den Vater müsste schon lange herausgeschrien worden sein, denke ich, als ich ihn vor mir liegen sehe, schon lange müsste er zu spüren bekommen haben, was er seinen Kindern angetan hat: die Schläge mit dem Kochlöffel, die Schläge auf den Hinterkopf, die Demütigungen. Was in den Doktorstunden alles herausgeschrien wurde, müsste doch jetzt ihm hineingeschrien werden? Vor allem Angst hast du mir gemacht, du Angstmacher, könnte ich sagen, vom ersten Tag an Angst gemacht.

Weil ich so ein böses Kind war, das nur geschrien hat, ist von Anfang an dagegengeschrien worden von dir, also müsste jetzt endlich wieder zurückgeschrien werden! Aber jetzt gelingt mir das nicht angesichts dieses fremden Menschen, an dem alles herunterhängt, der nichts Lautes mehr an sich hat, nichts gespielt Überlegenes, zum ersten Mal seit vielen Jahren.

Als er mich bemerkt, setzt er sich im Bett auf, im Unterhemd, ein grotesk fremdes altes Kind mit herabfallenden Schultern und stammelt eine Begrüßung, deutet mit den Händen hilflos auf den Mund, kleine Satzfetzen hervorstoßend, panisch im Bewusstsein, vielleicht für immer die Sprache zu verlieren; kleine fahrige Handbewegungen zum Mund, vor Verzweiflung mit den Schultern zuckend, tatsächlich weinend, dass ihm die Tränen herunterrinnen. Ich kann nicht, ich kann nicht richtig reden, will er mir zeigen, versucht er herauszubringen, dabei wird mit einem Mal die völlige Hilflosigkeit in seinen Augen deutlich.

Zum ersten Mal sitzt mir ein wahrhaftiger, weich gewordener Vater gegenüber, und ich spüre Mitleid, das mich diesen Menschen in den Arm nehmen und an mich drücken lässt. Zum ersten Mal seit der Kindheit will ich ihn wirklich umarmen, nicht als Formalität, die einem eher peinlich ist, sondern als ehrlicher Ausdruck. Ich spüre dich, weich gewordener Vater, und spüre mich gleichzeitig selbst in der Umarmung, erkenne mich auch selbst in dir, in deiner Schwäche, weiß aber in diesem Moment auch, dass ich dich überwunden habe, stärker bin als du und dich deshalb jetzt an mich drücken kann!

Atme, atme, sagt der Doktor wieder, und: Ton, Ton, einen Ton möchte ich hören; wie am Anfang sagt er es, als ob ich nicht schon viel erlebt hätte in den zurückliegenden Monaten, als ob ich nicht schon ein anderer geworden wäre, noch immer und immer wieder: Atme und Ton!

Du glaubst doch nicht, schon gesund zu sein, sagt er, noch immer kommst du mehr wie ein alter Mann herein, schau dir doch zu, wie du auf der Matte zusammenbrichst, kraftlos und tonlos!

Für einen Moment zucke ich da zusammen, für einige Sekunden bin ich wirklich sprachlos, ist der Zweifel wieder da, ob er nicht recht hat, ob ich mir die Veränderungen vielleicht nur einbilde!

Nein, rufe ich, du hast unrecht, hör mir zu, rufe ich, und: Schau her! Ich springe auf, hüpfe im Raum herum, hüpfe dem Doktor etwas vor und beginne auch zu schreien. Wie die Schüler nach dem Stillsitzen während der Unterrichtsstunden in den kurzen Pausen dann auf den Gängen herumrasen- und schreien, um sich abzureagieren, laufe auch ich jetzt als Schulkind schreiend um den Doktor herum. Das still sitzende Kind bin ich nicht mehr, sondern das ausgelassene, das sich seiner Freiheit aber doch noch nicht ganz sicher ist, weil es aus den Augenwinkeln immer noch den Lehrer beobachtet?

Du übertreibst, sagt der Doktor auch prompt, warum übertreibst du denn?
Da lege ich mich gleich wieder auf die Matte, da erstirbt die Bewegung in der Doktorbeobachtung.
Sofort legst du dich hin, nicht wahr, sagt er, schon gibst du wieder auf!

Idiot, sage ich, du kriegst mich nicht mehr klein, bäume mich ein bisschen auf und beginne zu lachen, über mich und den Doktor muss ich lachen, aus dem locker gewordenen Körper und Gesicht lächelt und lacht es als eine neue Kraft, die für einen Moment auch dem Doktor unbekannt ist, bei der er sich nicht ganz auskennt, weil er sich vielleicht ausgelacht vorkommt? Aus dem Schreien wird das Lachen, das ist der neue Ton, das Lachen über die Fragen, die mir früher das Gehirn zermartert haben, was sich die anderen über mich denken, was nicht in Ordnung sein könnte, ob mir nicht irgendetwas schaden könnte. Darüber muss ich jetzt nicht mehr nachgrübeln, sondern schmunzeln: von der Starrheit des Sinnierens zur Lockerheit des Lachens!

Es schüttelt den Körper, im Lachen wird er sanft durchgerüttelt und beginnt sich zum ersten Mal auf der Matte wirklich wohlzufühlen. Ja, es verändert sich etwas, ja es wird besser, ja ich beginne zu leben, sage ich zum Doktor, während ein angenehmer Schauer über den Rücken bis zu den Beinen hinuntergeht.

Aber noch einmal probiert er es: Das bildest du dir nur ein, sagt er, das Lachen kann auch die Gefühlsunfähigkeit sein, schau dir doch den allgemeinen gesellschaftlichen Lachpanzer an, unter dem die Verzweiflung nicht gezeigt werden darf! Außerdem ist da noch etwas, das du nicht zeigst, nicht herauslässt, irgendetwas ist noch versteckt im Körper, noch immer sehe ich den Panzer und nicht das Leben; und drückt dabei wieder auf den Bauch, später auch auf den Schädel, drückt dabei aber mehr die Freude heraus als irgendetwas Verstecktes.

Er weiß, wie er mich anreden muss, denke ich, er muss nur von etwas Verstecktem reden, etwas Ungutem, einem nicht näher bestimmten Defekt, schon werde ich nervös, schon bin ich verunsichert. Er sagt nur, was ich selbst früher immer gedacht und befürchtet habe, mit einem einfachen nichtssagenden Satz könnte schon wieder das Chaos im Kopf beginnen!

Aber in Wirklichkeit spüre ich doch, dass sich der Chaosgedanke in den letzten Monaten aufgelöst hat und damit auch die Körpersperre. Die Rheumablockade verschwindet in der Auflösung der Kopfsperre. Ich behaupte nicht nur die neue Bestimmtheit, sondern spüre sie! Auch die Drückerei des Doktors macht mir nichts mehr, ich lasse sie geschehen, weil ich sie leicht aushalte!

Ich kenne dich mittlerweile, sage ich zu ihm, du willst mich provozieren, aber jetzt geht die Provokation ins Leere, ab jetzt trifft sie mich nicht mehr!

Da muss auch der Doktor lächeln und wird damit endgültig zum Verbündeten? Ja, sagt er, jetzt kommt nach der Wut das heraus, was auch und vor allem in dir steckt, nämlich die Lebensfreude, das Lachen als Lebenslust, jetzt zeigst du ein anderes wahres Gesicht, das entspannte und sympathische, weil du in Wahrheit ein lebendiger und herzlicher Mensch bist! Wie viel Freude in dir steckt, wie viel Anziehungskraft auf andere Menschen, weil du dich endlich aus der lebenslangen gebückten Haltung aufgerichtet, aus der selbstverordneten Panzerung gelöst hast, damit man dich überhaupt einmal richtig sehen kann, ruft der Doktor, den ich so gar nicht kenne.

Bin ich nicht wirklich größer geworden in der letzten Zeit, hat sich der eingeschrumpfte Körper nicht wieder gedehnt, nachdem sich die Panzerplatten gelockert haben und nun langsam abfallen? Es fehlen mir die Worte für die neue Körperdehnung, für die Freude unter der Haut, die Knochenfreude, die Eingeweidefreude, die Herzfreude, die Freudevibrationen insgesamt: staunende pure Daseinslust!

Ich sehe sie in deinen Augen, das genügt doch, sagt der Doktor, man sieht dir die Freude an, deshalb muss sie nicht mehr besprochen werden!

Die Schultern beginnen zu rollen, dass es mir Ströme über den Rücken treibt, lange gähnende Seufzer als Ton aus der offenen Kehle, das Liegen auf der Matte – sonst nichts – als Genuss, so ändert sich alles. Ruhig und entspannt, so sagt man, liege ich da und das heißt: Nicht darüber nachdenken müssen, ob auch alles gut genug funktioniert, ob auch die Entspannung perfekt genug ist, der Zustand des beginnenden Glücks möglichst einwandfrei ist, sondern: leicht betrunken in einer Art gelassener Gleichgültigkeit, gleichzeitig aber hellwach und ganz klar im Kopf, das ist das Schönste! Keine lästigen Gedanken, nur der Doktor stellt mir auf einmal diese Frage: Was ist dir am wichtigsten im Leben?

Die Liebe, sage ich, ohne lange überlegen zu müssen, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, sage ich, ohne dass es mir kitschig erscheint.
Und warum tust du nicht, was dir am wichtigsten ist?
Weil es nicht so einfach ist!
Doch, es ist einfach, sagt der Doktor, du machst dir nur selbst das Leben schwer!
Eine Phrase!
Aber eine richtige!
Es wird ja schon besser, rufe ich und atme.

DER ANDERE BLICK

Ganz in nächster Nähe existiert das lebendige Leben um einen herum in allen Dingen, die das Auge sehen, die das Ohr hören und die die Nase riechen kann … Die Schlüssel zum Ausgang sind in unserem eigenen Charakterpanzer und der mechanischen Steifheit unserer Körper und Seelen einbetoniert. (Wilhelm Reich, Christusmord)

Beim nächsten Mal öffnet mir nicht der Doktor die Tür, sondern eine Patientin, die Patientin, und sagt, dass es ihm nicht gut gehe, dass er die Therapiestunde nicht halten könne; und gleichzeitig sehe ich ihn im Hintergrund auf der Matte liegen, die Arme weit ausgestreckt. Er ist irgendwie zusammengebrochen, sagt die Patientin, die ruhiger ist als ich, da sie offensichtlich schon eine Stunde bei ihm ist und sich an den erschöpft wirkenden Doktor, der mich heranwinkt, gewöhnt hat.

Er begrüßt mich, kann aber seinen Zustand nicht erklären, eine sogenannte Kreislaufschwäche vielleicht, die Anstrengungen des Therapierens, aber heute könne er wahrscheinlich nicht mehr arbeiten, sagt er, heute müsse die Stunde ausfallen, und: Irgendwer soll mir auf den Schädel drücken.

Ich stehe eher unbeteiligt daneben und bin auf so etwas nicht gefasst, den zusammengebrochenen und auf der Matte liegenden Doktor konnte ich mir nicht vorstellen, ein kranker Arzt neben dem hilflosen Patienten! Dachte ich nicht immer, ihm selbst konnte es nur gut gehen, weil er ein „durchgearbeiteter Mensch“ (so nennt er die Gesunden) sein muss?

Zum ersten Mal möchte ich etwas über ihn wissen, zum ersten Mal spüre ich, dass er ein Freund ist und nicht nur ein kritischer Beobachter. Ist er nicht wie ich, frage ich mich, ihm gelingt auch nicht alles, so beängstigend gesund kann er nicht sein, wie er jetzt daliegt.

Wie reagiert er denn auf der Matte, atmet er auch richtig und welchen Ton bringt er eigentlich heraus? Die Versuchung ist da, selber den Doktor zu spielen, nachdem die erste Überraschung vorbei ist. Erstaunt schaue ich auf den liegenden Menschen, der seine Erschöpfung spürt und zeigt, zum Ausdruck bringt, indem er das Gesicht verzieht und ein wenig jammert, aber vor allem meint, froh zu sein, dass wir da sind.

Tatsächlich merke ich in diesem Moment, dass mir der Doktor in den letzten Monaten zu jemandem geworden ist, der einen wichtigen Platz in meinem Leben einnimmt: nein, mit Sicherheit kein Guru, aber – ja, ein Meister-Freund, mit dem ich jetzt mitleide, nicht nur erstaunt bin, dass ihm „so etwas passiert“.

Was können wir für dich tun, frage ich ihn, in der Mehrzahl frage ich, die Patientenkollegin neben mir einschließend, die jetzt versucht, wie von ihm verlangt, seinen Schädel zu bearbeiten, insbesondere am Hinterkopf soll fest hineingedrückt werden, am Hirnansatz, um die Energie wieder zum Fließen zu bringen.

Deshalb drückt sie unter den Anweisungen des Doktors auf dessen Hinterkopf, bis es ihm genügt, bis es ihm offensichtlich besser geht. Ins Nebenzimmer will er sich noch legen, sagt er, vielleicht kann er dann später auch wieder arbeiten.

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