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Buk 1/20 Leben in interessanten Zeiten

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Bukumatula 1/2020

Leben in interessanten Zeiten

Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
Robert Federhofer:

Eine gute Bekannte von mir meinte vor wenigen Monaten beiläufig, wir lebten in einer Endzeit. Vermutlich war Sie beeindruckt von lokalen oder internationalen üblen Nachrichten. Konnte ich verstehen, aber `Endzeit´ ist ein starkes Wort. Ende wovon? Ende einer Kultur oder einer Wirtschaftsform? Einer Machtstruktur im Wechsel zur nächsten?

Das Wort Endzeit erschien mir zu diesem Zeitpunkt übertrieben, hatten wir doch in der uns bekannten Weltgeschichte schon vieles an Auf- und Abtauchbewegungen verschiedener Völker und politischer Systeme. Wenn ich von religiös-prophetischen Endzeitszenarien einmal absehe, ist das, was ich medial im näheren oder auch weltweiteren Umfeld an Geschehnissen mit zugegeben mitunter Gruselqualität berichtet bekomme, anders als vor hundert, oder auch tausenden von Jahren?

Im letzten Jahrhundert hatten wir nicht nur Kriege hier in Europa mit ihren Gräueln und Menschenopfern, sondern auch in anderen Weltgegenden; Kriege und Völkerausrottungen, eigentlich ohne Unterlass. Sind wir Menschen wirklich solcherart?

Tatsächlich hat in dem Zeitraum von wenigen tausenden Jahren, der für uns heute Lebenden relativ gut dokumentiert hinter uns liegt, das Entstehen und wieder Vergehen von Machtzentren, Kulturabläufen und Volksballungen immer wiederkehrende Ähnlichkeiten.

Die sogenannte Kultur beginnt mit teilweisem und zunehmendem Heraustreten einer Menschengruppe aus der Symbiose mit der Natur der Erde in ein mehr räuberisches, zum Teil bereits parasitäres Verhältnis. Es wird nicht der Überschuss an Holz verfeuert, sondern der ganze Baum gefällt. Nicht die Früchte der Bäume dienen als Nahrung, sondern der ganze Wald wird brandgerodet, um dann auf diesem Feld einer künstlichen lokalen Katastrophe schnellwachsende Einheitspflanzen zu ernten.

Kurzfristig wird so ein Energieüberschuss erzeugt und die Menschen wenden ihre Aufmerksamkeit vom lebenserhaltenden Nahrungserwerb auf andere Dinge. Spezialisierungen entstehen, Techniken, Berufe und philosophische Überlegungen werden angestellt.

Ist die Menschengruppe nicht sehr groß, so zieht sie von einem Brandrodungsfleck zum nächsten und Mutter Erde bereinigt das lokale Desaster. Ist die Menschengruppe aber groß und erschafft Gruppenballungen in Städten mit bürokratischen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen, wird diese Technik der verbrannten Erde gravierender und hinterlässt Wüsten und Karstgebiete.

Die große Menschengruppe nutzt ihren Vorteil an Größe, Technik und Organisation, um andere Gruppen durch Handel und Unterwerfungskriege zu übervorteilen und zu berauben, bis schließlich die Struktur des Machtzentrums auch wieder zerfällt und die eine oder andere Gruppe rabiat genug ist, die anderen zu dominieren. Das hervorstechende menschliche Element in allen Phasen – von der Brandrodung bis zu den Verteilungskämpfen, scheint Gewalttätigkeit zu sein. Gegen die Erde, gegen andere Lebewesen und gegeneinander.

Die einzelnen Menschen werden wohl zu allen Zeiten immer wieder das Gefühl gehabt haben in einer Zeit vor dem Ende ihrer Welt zu leben. In den Urreichen des Zweistromlandes und in Ägypten, unter der Dominanz der Hethiter und der Perser ebenso, wie der Griechen unter Alexander und den Folgestaaten, und natürlich den Römern, die die räuberische Unterwerfung und Bürokratisierung einige Jahrhunderte perfektionierten, bis herauf über das Mittelalter mit “Glaubens“-Kriegen, Pestilenzen, diktatorischen Fürsten und Geistesführern, die Massenmord und Folter zur gängigen Praxis machten.

Und heute? Kriege ohne Unterlass unter fadenscheinigen Vorwänden mit jeweils hunderttausenden Toten und dabei Ruin ganzer Gesellschaften und Massenfluchtbewegungen, Stellvertreterkriege mit Söldnerheeren, Umweltverwüstung durch aufwendigen und relativ dazu ineffizienten Abbau von Ölschiefern in Amerika durch Fracking, was weite Ödlandschaften hinterlässt, die systematische Brandvernichtung des südamerikanischen Regenwaldes; ähnliche Entwicklungen in Afrika, sogar in Sibirien gab es zuletzt Waldvernichtung durch Brände, Meeresvergiftung durch Erdöl und Plastikmüll, atomare Verseuchung durch Unfälle und radioaktive Munition, Wasserverseuchung durch Düngechemikalien und Medikamente, Impfseuchen mit hunderttausenden Opfern (Polio, Indien) und Sterilisationen (Kenia).

Heute sind die möglichen planetenumspannenden Auswirkungen von Machtkämpfen und Erdausbeutung zu fürchten, ansonsten Gewalt und Tücke, wie eh und je. Vieles werden wir wohl auch gar nicht erfahren, da Propaganda heute bereits sehr ausgefeilt ist. Endzeit also? Für den kleinen Mann und die kleine Frau, die wir uns jeden Tag im Spiegel sehen, mag sich das durchaus so anfühlen, wenn sie ihre Sinne nach Außen richten.

Ganz besonders nun, da wir seit mehreren Wochen erleben, wie sich die europäischen Nicht-Diktaturen mit Sondergesetzgebungen ausstatten. Versammlungsrecht wird durch Versammlungsverbot ersetzt und das soziale Leben bis in den privaten Bereich drastisch einschränkend reglementiert. Wirtschaftliche Aktivitäten werden auf Grundversorgung gesetzt.

Als Anlass für die Maßnahmen wird das Auftreten von Lungenentzündungen in einer Stadt in China angegeben, die von den chinesischen Ärzten einem Virus der Coronafamilie angelastet wird. China hat daraufhin eine ganze Provinz mit Quarantäne und Ausgehverbot belegt und die WHO (Weltgesundheitsorganisation) hat das Stichwort „Pandemie“ ausgegeben.

Da ich mich noch an mehrere Seuchenwarnungen dieser Organisation in den letzten Jahrzehnten erinnere, deren Ausbreitungs- und Opferprophezeiungen sich dann nicht erfüllt haben – die Realität war dann doch um Größenordnungen milder, suchte ich in meiner Büchersammlung nach Lesestoff zum Thema Seuchen und der Interpretation von Realität.

Ich fand: „Viruswahn“ (Torsten Engelbrecht, Claus Köhnlein, 3. Auflage 2006 – das war damals nach der „Vogelgrippe“ – auch einem Coronavirus zugeordnet), „Reality“ (Peter Kingsley, 1. deutsche Ausgabe 2012) und „Unendliche Liebe ist die einzige Wahrheit Alles andere ist Illusion“ (David Icke, zweite Auflage 2006). Das erste Buch also genau zum sich gerade entfaltenden Thema, die anderen beiden zum Verständnis der Interpretation der Wahrnehmung.

Solcherart informiert, blicke ich nun um mich und versuche zu verstehen. Die gesetzten Maßnahmen werden als solidarische Extremmaßnahme argumentiert: „Wir befinden uns im Krieg!“, wird gesagt. Beratungsspezialisten mit Computermodellen prophezeien auch diesmal wieder rasend um sich greifende Erkrankungen und Hunderttausende oder Millionen Tote und Systemzusammenbrüche. Überzeugend ist der Versuch, weltweit ein dominantes Thema zu setzen.

Im Unterschied zu früheren Erzählungen der WHO und staatlicher Gesundheitsbehörden über Viren- und Prionenseuchen, führen dieses Mal auch sachlich nahe liegende Meinungen, die die Propagandalinie stören, zu Gegenmaßnahmen. So wurde den Mahnungen, die Aussagekraft der eingesetzten Labortests richtig einzuschätzen und die Vorerkrankungen von verstorbenen Patienten in der Bewertung der Situation nicht stillschweigend zu ignorieren, nicht sachlich begegnet, sondern die Autoren ad personam angegriffen oder technisch behindert.

In den elektronischen Medien verschwinden Berichte; Audios und Videos werden rasch gesperrt. Die großen Medienkonzerne im Internet sind diesbezüglich rege. Selbst unser analoges Land leistet sich im Bundeskanzleramt eine „Nicht-Zensur“-Verwaltungseinheit. („Digitaler Krisenstab“ im Kanzleramt will Fake-News bekämpfen. Bericht von DerStandard.at vom 20. März 2020.)

Traditionelle alltägliche Printmedien bieten kriegsberichterstattungsartige Schilderungen mit Durchhalteparolen. Allenfalls Artikel über die wirtschaftlich befürchteten Folgen des weltweiten Aktionismus mit Unterbrechung von Handelswegen, Tourismus/Gastronomie und Produktionsstillständen werden geboten.

Dieses Beharren auf einer vorgesprochenen Meinungsvariante und Bindung der Aufmerksamkeit der Menschen durch Angstthemen sind nicht zu übersehen. Willfährigkeit wird unter Strafandrohung gefordert. Das ist nicht mehr interessant, das ist bedrohlich.

Was uns alle einzeln und auch gemeinsam so außergewöhnlich und fähig machen kann, sind weit ausgreifendes individuelles Bewusstsein, mitfühlendes Begreifen der Welt und der Wesen und darauf fußende eigene Entscheidungen. Ein Kampf um unser Bewusstsein ist in vollem Gange, viele Belastungen, Ablenkungen, Gefühle und Gedanken fesseln die Aufmerksamkeit der kleinen Männer und Frauen, damit sie nicht etwa ihre größeren Möglichkeiten erkennen und leben.

Die Mäntelchen von Wissenschaft, Gesellschaftspolitik und internationaler Politik, Religionen und anderen Solidargemeinschaften zeigen lobbyistische Applikationen und werden uns so als neueste Menschenmode angepriesen. Mir schwant, die Macht, die Themen setzen und Richtung vorgeben will, geht nicht von den Menschen aus, deren Leben betroffen sind.

Prophezeiungen sind immer unsicher, da es ja Aussagen über die Zukunft sind. Zunächst erwarte ich nach einer kurzfristig politisch gesichtswahrenden Lockerung der Zwangsmaßnahmen weitere propagandistisch gestaltete Krisenwellen in den nächsten Monaten und Jahren, mit zunehmendem Konformitätsdruck unter technischer Überwachung bis in die Vitalfunktionen.

Wie wir – jeder Einzelne und wir als Menschheit uns in den nächsten Jahren entpuppen, erarbeiten wir gegenwärtig jeden Tag. Aufmerksamkeit ohne Zaudern und Urteil in der besten unserer Möglichkeiten ist notwendig, um angstfrei zu wachsen und voranzukommen. Keine Proben mehr, jeder Moment Premiere.

Sachliche, umfassende Information zu Ereignissen die stattfinden, ist wichtig. Unser Bewusstseinszustand, in dem wir diese Informationen dann weiterverarbeiten zu unserem eigenen Weltbild und unserer Entscheidungsgrundlage aber wesentlich.
Jeder ist darin selbst gefordert.
________________________________________

Ohne Vollständigkeitsanspruch einige bewährte und auch bekannte Informationsplätze im Internet:
nomorefakenews.com, von Jon Rappoport: Seit alternativen AIDS Hypothesen – also seit langem – auf meinem Radar, guter Journalismus, englischsprachig;

Stimmen speziell zur derzeitigen Viruseinschätzung:
www.wodarg.com von Dr. Wolfgang Wodarg,
KenFM am Set: Gespräch mit Prof. Dr. Sucharit Bhakdi zu Covid-19;
www.initiative-corona.info, Initiative für evidenzbasierte Corona Information

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    Bukumatula 1/2020

    Massenpsychologie des Faschismus

    Nach 87 Jahren wurde der Originaltext von 1933 erstmals wieder aufgelegt.
    von
    Andreas Peglau:

    Persönliches

    Die Veröffentlichung dieses Buches hat für mich eine besondere Bedeutung. Es ist mit Sicherheit der Höhe-, vielleicht auch der Endpunkt meiner Forschungen zur Psychoanalysegeschichte und zu Wilhelm Reich. Zugleich ist es ein Punkt, auf den ich mich – nicht etwa immer bewusst – im Grunde seit über 40 Jahren zubewegt habe.

    Ich bin 1957 geboren in Berlin, Hauptstadt der DDR. Mit Anfang 20 war ich zum einen Student der Klinischen Psychologie an der Berliner Humboldt Universität, zum anderen ein recht überzeugtes Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, kurz SED. Und ich war zutiefst enttäuscht davon zu erkennen, dass der Marxismus – also auch die marxistische Psychologie – zum Wesen und zu Motiven des Menschen nur äußerst dürftige Aussagen zu machen hatte.

    Aber wir lernten ja im Studium auch die Psychoanalyse kennen – und ich sagte mir: Genau das fehlt! Erst später erfuhr ich, dass sich das auch schon Wilhelm Reich gesagt hatte, 50 Jahre zuvor. Auf Reich stieß ich aber so richtig erst Anfang 1989. Da begannen meine Lebenshilfesendungen im DDR-Sender Jugendradio DT 64 mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz aus Halle an der Saale. Und Reich spielte dabei eine wichtige Rolle.

    Bald darauf halfen mir Reichs Bücher, insbesondere die „Massenpsychologie“, die psychosozialen Hintergründe des DDR-Zusammenbruchs sowie meine eigene Rolle in diesem Staat zu begreifen.
    Eine mehrjährige Reichianische Körpertherapie folgte.

    2007 – ich stand kurz vor Abschluss meiner Analytikerausbildung – begegnete ich in Berlin Lore Reich Rubin. Mein Interesse an Reich und an der Psychoanalysegeschichte, vor allem an Reichs Zeit in Berlin 1930 bis 1933 intensivierte sich. Nach fast sieben Jahren Recherche erschien dann 2013 mein Buch „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ (Peglau 2017a).

    Die „Massenpsychologie“ nahm darin einen wesentlichen Platz ein, wollte ich doch unter anderem zeigen, dass es 1933 eine fundierte sozialkritische Psychoanalyse gegen den Faschismus gab, an die schon die damaligen aber auch die heutigen psychoanalytischen Verbände hätten anknüpfen können.

    Nur ein Jahr später, 2014, setzte der politische Rechtsruck in Europa ein. Es lag für mich nahe, Reich Erkenntnisse zu dessen Verständnis zu nutzen. 2017 erschien mein zweites Buch: „Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz“ (Peglau 2017b). Parallel bemühte ich mich seit 2009, die „Massenpsychologie“ in ihrer 1933 vollendeten Ursprungsfassung wieder zu veröffentlichen. 2019 kam vom Reich-Infant-Trust aus den USA das OK dafür.

    Vor der naheliegenden Frage „Warum halte ich die Originalfassung dieses Buchs für so wichtig?“, will ich eine andere beantworten:

    Wer war Wilhelm Reich bzw.: Wer war er nicht?

    Er war nicht die querulatorisch-psychotische Randfigur, zu der ihn viele seiner psychoanalytischen Berufskollegen ab 1933 abzustempeln versuchten. Er war nicht – was man noch immer von manchen „Linken“ zu hören bekommt –, ein Antikommunist, der mit Psychologisierung und Sexualisierung vom Klassenkampf ablenkte.

    Er war aber ebenfalls nicht der lebenslange Lebens- oder Lebensenergieforscher, der sich in seiner Jugendzeit vorübergehend ein wenig mit dem Marxismus und der Psychoanalyse einließ, als den ihn manche Reichianer sehen möchten.

    Die Frage, was Leben sei, taucht in keinem einzigen der Werke auf, die Reich bis 1933 schrieb, auch nicht in der „Massenpsychologie“. Dort fragte er sich: Was ist Faschismus? Vorher wollte er zum Beispiel wissen: Wie funktioniert Heilung durch Psychoanalyse, was ist sinnvolle Psychotherapie, wie entsteht Charakterwiderstand – alles zutiefst psychoanalytische Fragen.

    Ab 1929 begriff er zunehmend, dass sich seelische Konflikte auch „physiologisch verankern“ (Reich 1987, S. 194). Daher richtete er sein Augenmerk nun zusätzlich auf körpersprachliche Mitteilungen. Seine Berliner Wohnung wurde somit um 1932 zur Geburtsstätte der Körperpsychotherapie – die zu diesem Zeitpunkt freilich noch korrekter als Psychokörpertherapie zu benennen wäre (Reich 1933a).

    Was Leben ist, das wurde frühestens 1936 für ihn zum Thema, mit seinen Bion-Forschungen. Da hatte Reich aber bereits fast 40 Lebensjahre und damit zwei Drittel seines Lebens hinter sich.

    Erstmals findet sich in einem Brief, den er am 17. März 1939 schrieb, ein „Etwas (wir wollen es vorläufig ‚Orgonität‘ nennen)“ (Reich 1997, S. 292). Die eigentliche Orgonforschung begann nach seiner Übersiedlung in die USA. Wann immer in der 1946er Massenpsychologie das Wort `Orgon´ auftaucht, ist es erst in der dritten Auflage in den Text gekommen.

    Aber wer war Reich nun tatsächlich?
    Er war einer der wichtigsten, bekanntesten, erfolgreichsten Schüler und Mitstreiter Sigmund Freuds, ein Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler, der sich ab 1935 auch der Biologie, später der Lebensenergieforschung, der Physik, der Ökologie, der Geburtskunde, der Pädagogik, der Psychiatrie zuwandte.

    Legt man Freuds Definition zugrunde, dass Psychoanalyse die Wissenschaft ist, die sich darum bemüht, Unbewusstes bewusst zu machen – in sämtlichen Lebenssphären – blieb Reich Zeit seines Lebens Psychoanalytiker.
    Antikommunist wurde er niemals, Antistalinist allerdings sehr wohl – aus nachvollziehbaren Gründen.

    Reich hat die Psychoanalyse wie auch den Marxismus in hohem Maße bereichert. Zumindest solange Psychoanalyse und Marxismus dies zuließen: nämlich nur bis 1933.

    Denn da wurde Reich – damals gerade 36 Jahre alt – zum einen aus den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen, nicht zuletzt, weil er als prominenter Antifaschist und Kommunist deren Anpassungskurs an das NS-Regime im Wege stand (Peglau 2019).

    Und er wurde nahezu gleichzeitig aus den kommunistischen Organisationen hinausgeworfen. Nicht zuletzt wegen seiner hochgradig psychoanalytisch geprägten Sichtweisen – und wegen seiner „Massenpsychologie“.

    Womit ich zu der Frage komme, was an diesem Werk von 1933 so wichtig ist.

    In keinem anderen psychoanalytischen Buch – mit Ausnahme der 1973 erschienenen „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ von Erich Fromm (Fromm 1989) – wurde die psychosoziale Basis „rechter“ Bewegungen auch nur annährend so tiefgründig erforscht und beschrieben.

    In keinem anderen Buch wurde dem Parteimarxismus so detailliert ins Stammbuch geschrieben, dass ihm ein ganzheitliches, wissenschaftliches Menschenbild, eine psychologische, vor allem tiefenpsychologische Fundierung fehlt.
    Ohne Erklärungsansätze, wie sie von niemandem genauer als von Reich beschrieben wurden, lässt sich zudem überhaupt nicht ausreichend erklären, wie es zu Krieg, Massenmord oder Holocaust kommen konnte.

    Von der Auseinandersetzung mit Reich könnten deshalb zahlreiche Forschungsarbeiten zum Faschismus profitieren, bieten sie doch in aller Regel keine befriedigenden Antworten auf zwei entscheidende Fragen: Welcher psychische Zustand versetzte Menschen in die Lage, sich aktiv an so destruktiven Bewegungen wie der nationalsozialistischen oder gar am Holocaust zu beteiligen – und wie wurde dieser Zustand herbeigeführt?

    So weist beispielsweise der Soziologe Stefan Kühl (2018, S. 54–73) zwar zu Recht darauf hin, dass Indoktrination, Sadismus, Judenhass, Fanatismus nicht genügen, um Holocaustverbrechen zu begründen. Bei Reich hätte er jedoch lesen können, dass hinter diesen Symptomen Persönlichkeitsstrukturen stehen, die in der Tat einen hohen Erklärungswert besitzen. Da Kühl dies ausblendet, ist seine Vorstellung, wie Organisationen Mordimpulse provozieren – nämlich unter anderem durch „Zwang“, „Kameradschaft“ und „Geld“ –, nicht überzeugend.

    Wie er selbst (ebd., S. 121–123, 143, 147) belegt, war niemand gezwungen, sich an diesen Gemetzeln zu beteiligen. Er bleibt auch die Antwort schuldig, wie gemeinsames Morden zu „Kameradschaft“ verdreht und die Bedeutung von Geld so überhöht werden konnte, dass sich damit das zehntausendfache Abschlachten hilfloser Frauen, Kinder und Greise motivieren ließ.

    Aber die „Massenpsychologie“ kann auch helfen, zu verstehen, wodurch es erneut zu faschistoiden Entwicklungen kommt, was dem aktuellen politischen Rechtsruck in Europa zugrunde liegt.
    Doch weshalb ist dafür die Wiederveröffentlichung der Erstauflage nötig?

    Zwei verbundene aber verschiedene Bücher

    1933 hatte Reich noch als „linker“ Psychoanalytiker und kritischer Mitstreiter Freuds geschrieben. Sein erklärtes Ziel war es, Elemente aus Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem zu verschmelzen, das er „Sexualökonomie“ nannte.
    Da er seit 1930 in Berlin lebte, war sein Buch in unmittelbarer Konfrontation mit dem damaligen politischen „Rechtsruck“ entstanden. Als Mitglied der Kommunistischen Partei und Sexualreformer war Reich in dessen Abwehr auf vielfältige Weise involviert.

    Was er dabei erfuhr und begriff, hielt er fest für die „Massenpsychologie“. Dieses Buch ist also auch ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus.

    Als Reich sich dann 1942, seit drei Jahren in den USA lebend, der Überarbeitung der „Massenpsychologie“ zuwandte, hatte sich nicht nur seine Lebenssituation gründlich geändert, sondern auch sein wissenschaftliches und politisches Selbstverständnis.

    Er hatte seiner Tätigkeit mit der Orgonforschung einen neuen Schwerpunkt gegeben. Zu Freud und Marx hatte er nun ein distanzierteres Verhältnis, mit Parteipolitik wollte er überhaupt nichts mehr zu tun haben.

    Ende 1941 – bei Kriegseintritt der USA gegen Deutschland – wurde der zu diesem Zeitpunkt noch staatenlose Reich zudem vom FBI für mehrere Wochen als „gefährlicher feindlicher Ausländer“ arretiert und im Hinblick auf seine „linken“ Aktivitäten verhört. Reich musste befürchten, aus den USA abgeschoben zu werden, vielleicht sogar nach Deutschland.
    Sieben Monate nach seiner Freilassung nahm Reich die Arbeit an der englischsprachigen Neuausgabe der „Massenpsychologie“ auf. Am 6. August 1942 schrieb er dazu an Alexander Neill:

    „Ich habe die zweite deutsche Auflage […] durchgesehen und bin zu dem Schluß gekommen, daß es falsch wäre, sie so zu veröffentlichen, wie sie jetzt ist. Das Buch ist durch und durch voller marxistischer Schlagworte, die ihre Bedeutung inzwischen gänzlich verloren haben. […] Ich werde mit der Überarbeitung des Buches fortfahren.“ (Neill/Reich 1981, S. 121)

    Mit der Veröffentlichung wartete Reich bis 1946. Im neuen Vorwort teilte er dann mit, dass er weitreichende „Veränderungen in der Terminologie“ vorgenommen habe: „Die Begriffe ‚kommunistisch’, ‚sozialistisch’, ‚klassenbewußt’, etc. wurden durch soziologisch und psychologisch eindeutige Worte wie ‚revolutionär’ und ‚wissenschaftlich’ ersetzt“ (Reich 1986, S. 22).

    1933 sollten die „seelischen Energien einer durchschnittlichen Masse, die ein Fußballspiel erregt verfolgt oder eine kitschige Operette miterlebt“, noch zu den „rationalen Zielen der Arbeiterbewegung“ umgelenkt werden (Reich 1933b, S. 55), nun zu den Zielen „der Freiheitsbewegung“ (Reich 1986, S. 51).

    Dass die Umformulierungen auch sonst nicht immer zu größerer Klarheit führten, lassen folgende Beispiele ahnen: „Das Marxsche Wort ‚Bewußtsein’ wurde durch ‚dynamische Struktur’, die ‚Bedürfnisse’ wurden durch ‚orgonotische Triebprozesse’ ersetzt, ‚Tradition’ durch ‚biologische und charakterliche Versteifung’, etc., etc.“ (ebd., S. 24).

    Reich strebte jetzt an, noch grundsätzlichere Aussagen zu treffen: über alle autoritären, lebensfeindlichen, patriarchalischen Systeme – zu denen er inzwischen den Stalinismus rechnete. Dazu benötigte er allgemeinere Formulierungen. So traten anstelle des Wortes „Kapitalismus“ vielfach Vokabeln wie „ökonomische Ausbeutung“; statt „bürgerlich“ hieß es nun meist „reaktionär“ oder „konservativ“.

    Die spezifischen Vorgänge, die am Ende der Weimarer Republik den Faschismus vorbereitet hatten, ließen sich auf diese Weise freilich nicht mehr so exakt beschreiben wie zuvor. Auch dass er als KPD-Mitglied und Sexualreformer diese Vorgänge hautnah miterlebt, sich auf Seite der Kommunisten prominent an den Versuchen beteiligt hatte, das Abdriften Deutschlands nach „rechts“ zu verhindern, war dem Text nicht mehr zu entnehmen.

    1933 hatte Reich beispielsweise über eine „Massenversammlung“ in Berlin berichtet: „Als Hauptreferent fasste ich die kommunistische Stellung zum Abtreibungsparagraphen in einigen Fragen zusammen“ (Reich 1933b, S. 186). 1946 hieß es: „I presented the sex-economic viewpoint in the form of a few questions” (Reich 1986, S. 108). Aber auch, dass der Untertitel der ersten beiden Auflagen „Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik“, das ursprüngliche Vorwort und das 1934er Nachwort gestrichen wurden, trug zu dieser Verschleierung bei.

    Der Umfang des Buches wuchs zudem durch das Einfügen von sechs zwischen 1935 und 1945 verfassten Texten auf mehr als das Doppelte. So wertvoll diese Ergänzungen auch waren: Von einem kohärenten Inhalt konnte nicht mehr die Rede sein.

    Zweifellos stellt die dritte Auflage der „Massenpsychologie“ von 1946 eine auf ihre Art erneut bemerkenswerte Weiterführung dar. Die Lektüre des Originals ersetzt sie nicht.

    Dieses Original war allerdings bereits seit 1934 vergriffen und konnte nur noch in nach 1968 kursierenden Raubdrucken gelesen werden. Oder man konnte man es sich eventuell für viel Geld antiquarisch beschaffen. Das Buch so in Händen zu halten, wie es 1933 erschienen ist, ist natürlich sehr beeindruckend.
    Aber, in aller Bescheidenheit:

    Die jetzt erschienene Neuauflage hat einen klaren Mehrwert:

    Reich weist im Vorwort selbst darauf hin, dass die „Massenpsychologie“ unter schwierigen Bedingungen entstand. Angetrieben von dem Wunsch, zeitnah eine Einordnung der dramatischen Umbrüche in Deutschland vorzulegen, stellte er sein Buch in kürzester Zeit fertig, während er zugleich versuchen musste, sich im dänischen Exil zurechtzufinden.

    Erst am 1. Mai 1933 war er in Kopenhagen angekommen. Im August oder September erschien hier bereits die „Massenpsychologie des Faschismus“. Diese Rahmenbedingungen sowie der Verlust von Teilen seines Materials dürften die Hauptgründe dafür gewesen sein, dass sich im Text eine Reihe von Fehlern einschlichen, sowohl in der Rechtschreibung – insbesondere bei Personennamen –, wie auch in der Textgestaltung.

    Da der Text für die Neuausgabe noch einmal gesetzt wurde, war es möglich, eine in dieser Hinsicht präzisere und zugleich besser lesbare Textvariante vorzulegen. Zudem habe ich eine ganze Reihe mittlerweile wenig gebräuchlicher Begriffe, Mitteilungen, Zitate und Formulierungen mit erklärenden Zusatzinformationen verknüpft. Für fast alle Personen, die Reich erwähnte – und von denen ebenfalls viele heute völlig unbekannt sind – konnte ich biographische Informationen finden. Eine ausführliche biographische und zeitgeschichtliche Einordnung schließt den insgesamt 80-seitigen Anhang ab.

    Selbst wer das Original von 1933 schon gelesen hat, wird also in der Neuausgabe eine Vielzahl von erhellenden Zusatzinformationen und Querverbindungen entdecken. Ich halte es daher nicht für übertrieben, zu sagen: Die Originalversion von Reichs „Massenpsychologie“ ist im 21. Jahrhundert angekommen.

    Dieses Original möchte ich jetzt ein wenig genauer vorstellen.

    Reichs „Vorrede“ – die wie erwähnt, in der 1946er Auflage komplett verschwunden ist – beginnt mit der Feststellung: „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten.“ Bereits mit diesem Satz lag Reich über Kreuz mit der immer mehr von Josef Stalin dominierten Komintern, dem internationalen Zusammenschluss kommunistischer Parteien.

    Denn laut deren Direktive war die Hitler-Diktatur nur die „Vorstufe“ einer „großen Umwälzung“; dass viele Genossen die Partei verließen, sogar zur NSDAP wechselten, sei eine „Härtung“ der KPD.

    Auch sonst argumentierte Reich bereits in der Vorrede fernab irgendwelcher Kominternvorgaben:

    „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten und mit ihr alles, was es an Fortschrittlichem, Revolutionärem, Kulturgründendem, den alten Freiheitszielen der arbeitenden Menschheit Zustrebendem gibt. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Reihe durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus.

    Aber der Kampf gegen das neuerstandene Mittelalter, gegen imperialistische Raubpolitik, Brutalität, Mystik und geistige Unterjochung, für die natürlichen Rechte der arbeitenden und schaffenden, von der wirtschaftlichen Ausbeutung durch eine Handvoll Geldfürsten schwer betroffenen Menschen, für die Beseitigung dieser mörderischen gesellschaftlichen Ordnung wird weitergehen.
    (…)
    Die Formen, unter denen sich die Machtergreifung des Nationalsozialismus vollzog, erteilten dem internationalen Sozialismus eine unauslöschliche Lehre: dass die politische Reaktion sich nicht mit Phrasen, sondern nur mit wirklichem Wissen, nicht mit Appellen, sondern nur durch Weckung echter revolutionärer Begeisterung, nicht mit bürokratisierten Parteiapparaten, sondern nur mit innerlich demokratischen, jeder Initiative Raum gebenden Arbeiterorganisationen und überzeugten Kampftruppen schlagen lassen wird.

    Sie belehrten uns, dass Fälschung von Tatsachen und oberflächlich suggestive Ermutigung mit Sicherheit zur Entmutigung der Massen führt, wenn die eiserne Logik des geschichtlichen Prozesses die Wirklichkeit enthüllt.
    (…)
    Wenn heute Millionen Schaffender zu Boden gedrückt, enttäuscht, duldend sich verhalten, ja sogar, wenn auch in guter Überzeugung, dem Faschismus folgen, so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung. Gerade die subjektive Überzeugtheit der vielen Millionen Hitleranhänger von der sozialistischen Mission des Nationalsozialismus ist, so viel Grausamkeit und Not sie auch über Deutschland gebracht hat, ein mächtiger Aktivposten für die sozialistische Zukunft.

    Man behindert die Entfaltung dieser geschichtlichen Kraft, wenn man die nationalsozialistische Bewegung als ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Großkapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt.

    Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und mit grossem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen.
    (…)
    Wer die Überzeugung von der wirklichen sozialistischen Schlagkraft der werktätigen Massen nicht hat und wer die positiv revolutionären Kräfte, die im Nationalsozialismus gebunden sind, nicht zu sehen vermag, der wird auch keine neue Praxis der Revolution entwickeln können.“ (Reich 2020, S. 11-13)

    Vulgärmarxismus

    Im Weiteren machte Reich deutlich, dass zu den erwähnten Stärken der Nationalsozialisten insbesondere gehöre, die Menschen in ihren durch autoritäre, gefühlsunterdrückende Sozialisierung erzeugten Charakterdeformierungen abzuholen.

    Doch genau das war eben die Dimension, die der – in den kommunistischen Parteien vorherrschende – „Vulgärmarxismus“ ausblendete. Vulgärmarxismus ist, so lässt sich der „Massenpsychologie“ entnehmen, nicht zuletzt Psychologiefeindlichkeit.

    Dazu eine zweiter, etwas längerer Ausschnitt:

    „Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf das Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den sogenannten ‚subjektiven Faktor‘ der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte, noch erfasste; sie unterließ es vor allem, die Methode des dialektischen Materialismus immer neu anzuwenden, immer lebendig zu erhalten, jede neue gesellschaftliche Erscheinung mit dieser Methode neu zu erfassen.
    (…)
    Radikal sein, heißt ‚die Dinge an der Wurzel fassen‘, sagte Karl Marx; fasst man die Dinge an der Wurzel, begreift man ihren widerspruchsvollen Prozess, dann ist die revolutionäre Praxis gesichert. Erfasst man sie nicht, so landet man, ob man will oder nicht, ob man sich dialektischer Materialist nennt oder nicht, im Mechanismus, Ökonomismus oder auch in der Metaphysik, und entwickelt notwendigerweise eine falsche Praxis.

    Wenn die Arbeiterbewegung versagte, so müssen diejenigen Kräfte, die die Vorwärtsentwicklung aufhalten, nicht restlos, wahrscheinlich in manchen Hauptstücken noch nicht erkannt sein.
    (…)
    Der vulgäre Marxismus, dessen wesentlichstes Kennzeichen ist, die dialektisch-materialistische Methode praktisch durch Nichtanwendung zu negieren, musste daher zur Auffassung gelangen, dass eine wirtschaftliche Krise solchen Ausmaßes wie die 1929–1933 notwendigerweise zu einer ideologischen Linksentwicklung der betroffenen Massen führen müsse.

    Während sogar noch nach der Niederlage im Januar 1933 von einem „revolutionären Aufschwung“ in Deutschland gesprochen wurde, zeigte die Wirklichkeit, dass die wirtschaftliche Krise, die der Erwartung nach eine Linksentwicklung der Ideologie der Massen hätte mit sich bringen müssen, zu ei¬ner extremen Rechtsentwicklung in der Ideologie der proletarisierten Schichten und derjenigen, die in tieferes Elend als bisher versanken, geführt hatte.

    Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch die Frage nicht gestellt werden, wie ein Nationalistisch-Werden der breiten Masse in der Pauperisierung möglich ist.

    Mit Worten wie ‚Chauvinismus‘, ‚Psychose‘, ‚Folgen von Versailles‘, lässt sich etwa die Neigung des Kleinbürgers in der Verelendung rechtsradikal zu werden nicht praktisch bewältigen, weil sie den Prozess nicht wirklich erfasst. Zudem waren es ja nicht nur Kleinbürger, sondern breite und nicht immer die schlechtesten Teile des Proletariats, die nach rechts abschwenkten.
    (…)
    Der Vulgärmarxismus trennt schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab und behauptet, dass die Ideologie und das ‚Bewusstsein‘ der Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt werden.

    So gelangt er zu einer mechanischen Gegenüberstellung von Wirtschaft und Ideologie, von Basis und Überbau; er macht die Ideologie schematisch und einseitig abhängig von der Wirtschaft und übersieht die Abhängigkeit der Entwicklung der Wirtschaft von der der Ideologie. Aus diesem Grunde ist ihm das Problem der sogenannten ‚Rückwirkung der Ideologie‘ verschlossen.
    (…)
    In der Tat sträubt er sich gegen die Erfassung der Struktur und Dynamik der Ideologie, indem er sie als ‚Psychologie‘, die unmarxistisch sei, abtut, und überlässt die Hand¬habung des subjektiven Faktors, des sogenannten ‚Seelenlebens‘ in der Geschichte, dem metaphysischen Idealismus der politischen Reaktion. Dem Vulgärmarxisten ist die Psychologie an sich ein von vornherein metaphysisches System und er denkt nicht daran, den metaphysischen Charakter der bürgerlichen Psychologie von ihren materialistischen Grundelementen, die die bürgerliche psychologische Forschung erbringt und die wir weiterentwickeln müssen, zu trennen.

    Er verwirft, statt produktive Kritik zu üben, und fühlt sich als Materialist, wenn er Tatsachen wie ‚Trieb‘, ‚Bedürfnis‘ oder ‚seelischer Prozess‘ als ‚idealistisch‘ verwirft. Er gerät dadurch in größte Schwierigkeiten und erntet nur Misserfolge, weil er gezwungen ist, in der politischen Praxis unausgesetzt praktische Psychologie zu betreiben, von den Bedürfnissen der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, vom Streikwillen etc. zu sprechen.

    Je mehr er nun die Psychologie leugnet, desto mehr betreibt er selbst metaphysischen Psychologismus und Schlimmeres, etwa indem er eine historische Situation aus der ‚Hitlerpsychose‘ erklärt oder die Massen tröstet, sie sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht niederringen und so fort.“ (ebd., S. 15-25)

    „Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopfe in Ideelles (in Bewusstsein)“ umsetze, lasse, so Reich, zwei Fragen offen:

    „Erstens, wie das geschieht, was dabei ‚im Menschenkopfe‘ vorgeht, zweitens wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist, und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst.

    Sie hat also eine streng umschriebene Aufgabe. Sie kann nicht etwa die Entstehung der Klassengesellschaft oder die kapitalistische Produktionsweise erklären (sofern sie solches versucht, kommt regelmäßig reaktionärer Unsinn heraus, z. B. der Kapitalismus sei eine Erscheinung der Habgier der Menschen), wohl aber ist allein sie befähigt – und nicht die Sozialökonomie – zu erforschen, wie der Mensch einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit diesem Dasein fertig zu werden versucht etc.

    Sie untersucht zwar nur den einzelnen Menschen, wenn sie sich aber zur Erforschung der einer Schichte, Klasse, Berufsgruppe etc. gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse spezialisiert und das Unterschiedliche ausschaltet, wird sie zur Massenpsychologie.“ (ebd., S. 25-26).

    Sexualökonomie

    Über die Psychoanalyse urteilte Reich anschließend, sie sei

    „in ihrem klinischen Kern die Grundlage einer künftigen dialektisch-materialistischen Psychologie. Durch Einbeziehung ihrer Erkenntnisse gelangt die Soziologie auf ein höheres Niveau, vermag sie die Wirklichkeit viel besser zu bewältigen, weil endlich der Mensch in seiner Beschaffenheit erfasst ist.

    Dass sie nicht sofort billige praktische Ratschläge erteilen kann, wird ihr nur der bornierte Politiker zum Vorwurf machen. Dass sie mit allen Verzerrungen, die bürgerlicher Wissenschaft anzuhängen pflegt, behaftet ist, wird nur ein politischer Schreier zum Anlass nehmen, sie als Ganze zu verwerfen. Dass sie die Sexualität erfasst hat, wird ihr der echte Marxist als wissenschaftlich-revolutionäre Tat hoch anrechnen.“ (ebd., S. 36)

    Die eigene Wissenschaftsrichtung, die Reich inzwischen kreiert hatte, die „Sexualökonomie“, basiere daher „auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud“.

    Sie beginne dort, „wo, nach Ablehnung der idealistischen Soziologie und Kulturphilosophie Freuds, die klinisch-psychologische Fragestellung der Psychoanalyse endet.“

    Die Psychoanalyse enthülle „die Wirkungen und Mechanismen der Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen“. Doch die Sexualökonomie frage weiter:

    „Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zur Verdrängung gebracht? Die Kirche sagt, um des Seelenheils im Jenseits willen, die mystische Moralphilosophie sagt, aus der ewigen ethisch-sittlichen Natur des Menschen heraus; die Freud’sche Kulturphilosophie behauptet, dies geschehe um der ‚Kultur‘ willen; man wird skeptisch und fragt sich, warum denn die Onanie der Kleinkinder und der Geschlechtsverkehr der Puberilen die Errichtung von Tankstellen und die Erzeugung von Flugschiffen stören sollte.

    Man ahnt, dass nicht die kulturelle Tätigkeit an sich, sondern nur die gegenwärtigen Formen dieser Tätigkeit dies erfordern, und ist gern bereit die Formen zu opfern, wenn dadurch das maßlose Kinder- und Jugendelend beseitigt werden könnte.

    Die Frage ist dann nicht mehr eine der Kultur, sondern eine der Gesellschaftsordnung.“ (ebd., S. 37)

    Die anerzogene moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, so Reich weiter, mache

    „ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Staatsbürgers. Als Vorstufe dazu durchläuft das Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst anpassen muss, um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein.“ (ebd., S. 38)

    Sexualfeindlichkeit, Rassismus, Faschismus

    Die Sexualverdrängung stärke die politische Reaktion aber nicht nur durch diesen Vorgang. Sie schaffe zugleich

    „in der Struktur des bürgerlichen Menschen eine sekundäre Kraft, ein künstliches Interesse, das die herrschende Ordnung auch aktiv unterstützt. Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen inszeniert wird.“ (ebd., S. 40)

    Und sie werde zur Grundlage des Rassismus.
    „Die theoretische Achse des deutschen Faschismus“, schreibt Reich dazu, ist „seine Rassetheorie“. Diese Theorie werde

    „gegenwärtig in Deutschland in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis umgesetzt und wirkt sich solcherweise geschichtlich aus.

    Die Rassetheoretiker, die so alt sind wie der Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen bei Völkerschaften, wo die Vermischung infolge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung gewinnt.

    Wir werden auch keinem Faschisten, der von der überragenden Wertigkeit seines Germanentums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumenten beikommen, schon deshalb nicht, weil er nicht mit Argumenten sondern mit gefühlsmäßigen Wertungen operiert. Es ist also für die politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu wollen, dass die Neger und Italiener nicht weniger ‚rassisch‘ sind als die Germanen. Er fühlt sich als der ‚Höhere‘, und damit ist Schluss.

    Es ist nur möglich, die Rassetheorie dadurch zu entkräften, dass man über die sachliche Widerlegung hinaus ihre verschleierten Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im We¬sentlichen zwei: die objektive Funktion, den imperialistischen Tendenzen einen biologischen Mantel umzuhängen, und die subjektive Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver, unbewusster Strömungen im Fühlen des nationalistischen Menschen zu sein und bestimmte psychische Haltungen zu verdecken.“ (ebd., S. 81-84)

    Die faschistische Ideologie sei eine

    „Weltanschauung der Asexualität, der »sexuellen Reinheit«, also im Grunde eine Erscheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu.
    (…)
    Die faschistische Ideologie trennt (…) die erotisch-sinnlichen Bedürfnisse von den abwehrenden moralischen Gefühlen der im Patriarchat erzeugten menschlichen Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiedenen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend mit licht, hehr, himmelhaft, rein; dagegen ‚vorderasiatisch‘ gleich triebhaft, dämonisch, geschlechtlich, extatisch.
    (…)
    Leugnet die Religion das sexualökonomische Prinzip überhaupt, verurteilt sie das Sexuelle als eine internationale Erscheinung des Menschentums, von dem nur das Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationalistische Faschismus das Sexuellsinnliche in die ‚fremde Rasse‘, sie so gleichzeitig erniedrigend.“ (ebd., S.89-92)

    Der Nationalsozialist bekämpfe also im Feindbild des Juden auch seine eigene verleugnete Sexualität. Nicht nur die ebenso von Judenhass wie von pervertierter Geilheit gekennzeichneten Karikaturen im von Julius Streicher herausgegebenen Wochenblatt „Der Stürmer“ belegten, dass Reich hier richtig lag.

    Da sich diese Sexualitätsverleugnung wiederum nicht auf NSDAP-Mitglieder beschränke, sei Faschismus
    „das Aufbäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich todkranken Gesellschaft gegen die […] Tendenzen des Bolschewismus zur sexuellen ebenso wie ökonomischen Freiheit, einer Freiheit, bei deren bloßen Vorstellung den bürgerlichen Menschen Todesangst überkommt.“ (ebd., S. 67)

    Reich beschrieb damit den Faschismus als psychisches, soziales, ökonomisches sowie politisches Phänomen und ordnete ihn zugleich in umfassendere geschichtliche Zusammenhänge ein.

    Auswege

    Ein dauerhafter Schutz vor faschistoiden Entgleisungen war für ihn deshalb ohne psychologisch-psychoanalytisches Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, ohne gravierende Veränderungen in Erziehung, Bildung, Sexualität, ohne Überwindung patriarchaler Normen, nicht mehr denkbar.
    Daraus zog er im März 1934 im Nachwort zur zweiten Auflage der „Massenpsychologie“ den Schluss:

    „Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“ (ebd., S.195)

    Politische und ökonomische Umwälzungen sind dringend nötig, um jeder Art von „Rechtsruck“, Autoritarismus oder Staatsterror die Grundlage zu entziehen, genügen aber nicht: Eine psychosoziale Revolution muss hinzukommen.
    Als wesentliche Punkte, von denen aus die „Struktur der Menschen“ konstruktiv beeinflusst werden kann, arbeitete Reich die Lebensumstände von Schwangeren heraus, die Art des Geborenwerdens (natürlichere statt medizinalisierter Geburt), nichtautoritäre Erziehung und Bildung, erfüllende Sexualität und Partnerschaft, Psycho- bzw. Körperpsychotherapie.

    In den 1980er Jahren entwickelte Hans-Joachim Maaz diese Ansätze zum Konzept einer „therapeutischen Kultur“ weiter, das er in DDR-„Wende“ und „Wiedervereinigung“ einbrachte. Erwachsene sollten, so die die dahinterstehende Idee, an ihren seelischen Störungen arbeiten und dafür sorgen, dass ihren Kindern und Enkeln diese Störungen erspart bleiben.

    Zwar genügt es in Zeiten der Globalisierung einerseits nicht einmal, auf die Verhältnisse im eigenen Staat einzuwirken. Wesentliche Veränderungen beginnen jedoch andererseits nicht erst, wo „Massen“ beeinflusst werden. Sie fangen an bei ganz individuellen Bemühungen, sich eigene autoritäre Prägungen, eigene aufgestaute Gefühle bewusst zu machen und daran zu arbeiten. Der „gute Kern“, von dem Reich sprach, wird durch Sozialisation nur verschüttet. Vernichtet werden kann er nicht. Deshalb ist es lebenslang möglich, ihn wieder „freizulegen“.

    Bereits wenn wir anfangen, uns bewusster mit der uns umgebenden Realität auseinanderzusetzen, wenn wir Zusammenhänge, wie die von Wilhelm Reich benannten, in diese Auseinandersetzung einbeziehen – obwohl das zunächst Verunsicherung, Angst und Zorn auslösen dürfte – sind wir ein Stück weiter. Es mag kitschig klingen, aber es ist auch rein rational betrachtet zutreffend: Da wir Bestandteil der Welt sind, wird auch diese ein wenig besser, wenn wir besser werden.

    Und das strahlt aus auf unsere Kinder oder Enkel, eröffnet Partnerschaften und Freundschaften neue Perspektiven, lässt uns Arbeitsverhältnisse und Freizeitbetätigungen kritisch hinterfragen, schärft unser politisches Denken, erleichtert konstruktives soziales Handeln, wirkt in vielleicht homöopathischer Weise auf die Gesellschaft ein. Dass dies kein Wunschdenken ist, bestätigt mir jeden Tag meine Arbeit als Psychotherapeut.

    Kinder liebevoll ins Leben zu begleiten, aktiv nach guten und gleichberechtigten Partnerschaften, erfüllter Sexualität und psychischer Gesundheit zu streben, privat und öffentlich autoritär-lebensfeindliche Normen in Familie, Schule, Beruf, Medien, Kirche, Politik und Staat anzuprangern und nach Gleichgesinnten zu suchen, mit denen sich dagegen Widerstand leisten lässt – auch das sind wirksame Mittel, zerstörerischer Gewalt und Krieg die psychosoziale Basis zu entziehen. Nicht von heute auf morgen, doch immerhin: spätestens innerhalb der nächsten Generation.- Und das heißt ja: sehr bald.

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    Quellen:

    Fromm, Erich (1989): Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, in ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, München: dtv.
    Kühl, Stefan (2018) [2014]: Ganz normale Organisationen: Zur Soziologie des Holocaust, Berlin: Suhrkamp.
    Neill, Alexander S./ Reich, Wilhelm (1989) [1986]: Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und A.S. Neill 1936–1957, hg. von Plazek, B. R., Frankfurt a. M.: Fischer.
    Peglau, Andreas (2017a) [2013]: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich u. die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial.
    Peglau, Andreas (2017b): Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ als Erklärungsansatz, Berlin: NORA.
    Peglau, Andreas (2019): Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Eine Kurzfassung, https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2019/06/Andreas-Peglau-Psychoanalyse-im-Nationalsozialismus.-Eine-Kurzfassung-2019.pdf.
    Reich, Wilhelm (1933a): Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizierende Analytiker, o.O.: Selbstverlag des Verfassers.
    Reich, Wilhelm (1933b): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, 1. Auflage, Kopenhagen/ Prag/ Zürich: Verlag für Sexualpolitik.
    Reich, Wilhelm (1934): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, 2. Auflage, Kopenhagen/ Prag/ Zürich: Verlag für Sexualpolitik.
    Reich, W. (1946). The mass psychology of fascism (3rd ed.), (Übersetzung T. P. Wolfe), New York: Orgone Institute Press.
    Reich, W. (1970). The mass psychology of fascism (3rd ed.) (Übersetzung V. R. Carfagno), New York: Farrar, Straus & Giroux.
    Reich, Wilhelm (1986) [1971]: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer und Witsch
    Reich, Wilhelm (1987) [1969]: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus, Köln: Kiepenheuer und Witsch.
    Reich, Wilhelm (1997) [1996]: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934–1939, Köln: Kiepenheuer u. Witsch.
    Reich, Wilhelm (2020): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, Der Originaltext von 1933, Gießen: Psychosozial-Verlag.
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    Zum Buch:
    Reich, Wilhelm (2020): Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik. Der Originaltext von 1933. Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau.
    Gießen: Psychosozial-Verlag, 280 Seiten, Broschur, 32,90 Euro.
    Erschienen im Januar 2020
    ISBN-13: 978-3-8379-2940-9, Bestell-Nr. 2940 DOI: https://doi.org/10.30820/9783837929409
    Auch als e-book erhältlich.

    Zum Autor:
    Andreas Peglau, Jahrgang 1957, Dr. rer. medic., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin. Von 1985 bis 1991 war er als Redakteur im DDR-Rundfunksender DT 64 unter anderem für Lebenshilfesendungen zuständig. 1990 gründete er mit anderen die Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e.V. Diverse Publikationen zur Psychoanalysegeschichte, insbesondere zu Wilhelm Reich. Weitere Informationen unter http://andreas-peglau-psychoanalyse.de

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    Bukumatula 1/2020

     

    Dobzauer Erinnerungen

    Eine (Zeit-)Reise zum Geburtsort von Wilhelm Reich Stefan Hampl, Sigmund Freud PrivatUniversität
    von
    Stefan Hampl:


    Vorwort und Danksagung

    Ich danke Wolfram Ratz für die Möglichkeit diesen Text in der Zeitschrift des Wilhelm Reich Instituts Wien veröffentlichen zu können. Mit Wolfram verbindet mich die besondere Erfahrung, dass wir im September 2017 gemeinsam das Grab von Wilhelm Reichs Vater Leon am Wiener Zentralfriedhof aufsuchten.

    Ich hatte die Grabstätte im Zuge meiner biografischen Recherchen über Wilhelm Reich entdeckt, nachdem ich sie zuvor vergeblich im ehemaligen Galizien gesucht hatte. Wolfram beruhigte mich begeistert: „Immer wieder kommt etwas Neues über Wilhelm Reich zutage!“ Da wartet dieser Erinnerungsort 100 Jahre auf seine Wiederentdeckung und erscheint plötzlich in unmittelbarer Umgebung des Reichinstituts!

    Von meinen Erzählungen über Reichs Wurzeln in Altösterreich, Galizien bzw. der Bukowina angestoßen, machte mich Wolfram auch auf Walter Kogler aufmerksam. Schon 30 Jahre vor mir war dieser in die Ukraine auf Spurensuche nach Wilhelm Reich aufgebrochen. In dem damals noch sowjetisch kontrollierten Land war Walter Kogler mit unzähligen Schikanen konfrontiert. Der dabei entstandene Reisebericht liest sich heute noch wie ein fantastischer Abenteuerroman (erschienen in Bukumatula 2/1992; abrufbar unter: https://www.wilhelmrei.ch/back-in-the-ussr).

    1987 begleitete Kogler sogar die renommierte Fotojournalistin Digne Meller Marcovicz für eine Reich-Dokumentation nach Lemberg. Der Weg zu Reichs Geburtsort blieb ihnen verwehrt. Dafür wurde Walter Kogler (gemeinsam mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt, Myron Sharaf, Elsa Lindenberg etc.) im Film „Viva Kleiner Mann!“ verewigt.

    Es würde mich freuen, wenn mein Reisebericht ebenso Ansporn für andere wäre, Wilhelm Reichs Wurzeln im damals östlichsten Teil der Donaumonarchie nachzuspüren. Jede wiederentdeckte Erinnerung bringt auch wieder eine neue Seite in uns selbst hervor.

    Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version für die Zeitschrift Bukumatula des Wilhelm Reich Instituts Wien. Quellenangabe des Originalbeitrags: Hampl, S. (2017). Dobzauer Erinnerungen. Eine (Zeit-)Reise zum Geburtsort von Wilhelm Reich. In T. Slunecko, M. Wieser, & A. Przyborski (Hrsg.), Kulturpsychologie in Wien (S. 90–127). Facultas Verlag. Nähere Informationen über meine aktuelle Reichforschung unter: www.wilhelmrei.ch oder fb.me/unchartedreich


    „Manchmal fängt etwas Neues mit einem Gespräch darüber an, was sich allzu lange wie von selbst verstanden hat, oder auch nur mit der Erinnerung an etwas, was in Vergessenheit geraten ist.“ (Schlögel 2006)

    Einleitung

    Wer hätte gedacht, dass Wilhelm Reich aus der heutigen Ukraine stammt? Dabei ist er kein Einzelfall. Auch bekannte Schauspieler wie Dustin Hoffmann, Walther Matthau oder Silvester Stallone haben ukrainische Wurzeln. Die Vorfahren bedeutender Künstler wie Andy Warhol, Lenny Kravitz und Bob Dylan, und auch die des Nobelpreisträgers für Ökonomie, Milton Friedman, stammen von dort. Die Eltern Sigmund Freuds kommen aus Brody, einem der ehemals östlichsten Außenposten der Donaumonarchie.

    Für manche Berühmtheit waren ihre Erfahrungen im Kindes- oder Jugendalter im ukrainischen (vorm. ruthenischen) Kulturumfeld für den Rest des Lebens bestimmend. So wurde etwa Kasimir Malewitschs Suprematismus von der ornamentalen bäuerlichen Malerei und Stickkunst in der Ukraine beeinflusst, dem Komponist George Gershwin diente ein ukrainisches Schlaflied als Vorlage für seinen Welterfolg „Summertime“, der Psychoanalytiker und Naturforscher Wilhelm Reich entwickelte seine Theorie der Sexualität und Charakterpanzerung aufgrund seiner jugendlichen Erfahrungen am väterlichen Gutshof (W. Reich 1994).

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte die galizische Hauptstadt Lemberg besonders viele Persönlichkeiten hervor, die bis heute für Wissenschaft und Kultur bedeutsam sind. So etwa die bekannten Schriftsteller Joseph Roth (1894-1939 Paris), Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895 Linheim), den Immunologen und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck (1896-1961 Nes Ziona, Israel), den Psychologen und Brentano-Schüler Alexius Meinong (1853-1920 Graz), den Reformpädagogen und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892-1953 San Francisco), den Ökonomen Ludwig von Mises (1881-1973 New York), zu dessen Schülern u.a. der phänomenologische Soziologe Alfred Schütz (1899 Wien-1959 New York) zählt, sowie dessen Bruder, den Mathematiker Richard von Mises (1883-1953 Boston), die Psychologin und Psychoanalytikerin Else Frenkel- Brunswik (1908-1958 Berkeley; Mitarbeiterin von Charlotte und Karl Bühler sowie Frau von Egon Brunswick).

    Der Religionsphilosoph Martin Buber wuchs bei seinen Großeltern in Lemberg auf. Auch ein prominenter Offizier stammt von dort: Oberst Alfred Redl (1864-1913 Wien), der am Vorabend des Ersten Weltkriegs österreichische Militärgeheimnisse an die Russen verriet und damit in den Augen vieler für das Ende Galiziens und damit der Habsburger-Monarchie mitverantwortlich ist.

    Wilhelm Reichs galizische Wurzeln

    In Wilhelm Reichs Autobiografie stellt der Name seines Geburtsorts eine überraschende Leerstelle dar. Wilhelm Reich wurde nach eigenen Angaben 1897 „als erstes Kind nicht unvermögender Eltern auf einem kleinen Dorf geboren“ (W. Reich 1994, S. 13). Danach übersiedelte er mit seinen Eltern auf ein größeres Landgut in der Bukowina, ging in Czernowitz aufs deutsche Gymnasium, kämpfte im Ersten Weltkrieg, bevor er 1918 zum Studium nach Wien kam, wo er Sigmund Freud kennenlernte. Dieser war von Reich offensichtlich so beeindruckt, dass er ihn mit gerade 22 Jahren noch als Student in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufnahm.

     „Wilhelm Reich im Alter von 3 Jahren, 1900“ in Dobzau? (W. Reich 1994, zw. S. 110 und S. 111.).
    Abb. 1: „Wilhelm Reich im Alter von 3 Jahren, 1900“ in Dobzau? (W. Reich 1994, zw. S. 110 und S. 111.).

    Während meines eigenen Psychologiestudiums habe ich mich nie näher mit Wilhelm Reich beschäftigt. Zwar war mir der Name geläufig, aber mein Wissen über ihn beschränkte sich auf Schlagworte sowie die Kommentare anderer: Psychoanalytiker, Kommunist, Charakteranalytiker, Sexualtherapeut, Regenmacher. Offensichtlich ein Mensch mit Ecken und Kanten. Meine nähere Bekanntschaft mit Wilhelm Reichs Lebensgeschichte beruhte schließlich auf einer folgenreichen Verwechslung.

    Eines Tages sah ich das Buch Der ‚Fall’ Wilhelm Reich (Fallend & Nitzschke 2002) am Schreibtisch eines Kollegen liegen. Es geht dabei um Wilhelm Reichs Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934. Was für ein dramatisches Schicksal für Freuds angeblich begabtesten Schüler (1) Am Abend desselben Tages lief der Fernsehfilm Der Fall Wilhelm Reich von Regisseur Antonin Svoboda (2013).

    Nach einigen Filmminuten wurde mir klar, dass es sich dabei offensichtlich um einen gänzlich anderen „Fall“ Reich handelte, der jedoch nicht minder faszinierend war: Im Zentrum des Films standen Reichs umstrittene Experimente mit Regenkanonen und Orgon-Akkumulatoren im nordamerikanischen Exil. Die dortigen Behörden ordneten die Vernichtung seiner Forschung und Verbrennung seiner Bücher an. Im Anschluss wurde Reich sogar inhaftiert.

    Er starb während der Verbüßung einer zweijährigen Haftstrafe am 3. November 1957 im United States Penitentiary, Lewisburg (Pennsylvania)(2). Wie uns der Film zu verstehen gibt, waren die USA der 1950er Jahre für jemanden wie Reich, den man als Kommunist und Quacksalber verdächtigte, alles andere als ein Ort der Freiheit. Sein Los erinnert an die Tragik eines griechischen Mythos: Dem Holocaust in Europa entkommen, wurde er ausgerechnet im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bis zum Tode verfolgt.

    Doch wo hatte dieses bemerkenswerte Leben seinen Anfang genommen? Laut Eintrag 93 aus dem Trauungsbuch des israelitischen Matrikelbezirkes Lemberg (Abb. 2) haben Reichs Eltern 1895 geheiratet. Die Mutter Cecylia stammte aus Brody nahe der ehemals österreichisch-russischen Grenze, der Vater Leon war wohnhaft in Dobrzanicy bzw. Dobrzanica (poln.; dt. Dobzau, ukr. Dorbrjanytschi), wo er eine Landwirtschaft betrieb. Laut Ratz (1994) wurde auch Wilhelm Reich dort geboren. Ob an diesem Ort wohl heute noch etwas an diesen berühmten Sohn der Gemeinde erinnern würde?

    Abb 2: Eintrag der Ehe von Leon und Cecylia Reich am 4. Juni 1895; Auszug aus dem Trauungsbuch. Quelle: Archiwum Główne Akt Dawnych (Zentrales historisches Archiv Warschau)
    Abb 2: Eintrag der Ehe von Leon und Cecylia Reich am 4. Juni 1895; Auszug aus dem Trauungsbuch. Quelle: Archiwum Główne Akt Dawnych (Zentrales historisches Archiv Warschau)

    Erhebung: Die Reise zum Geburtsort von Wilhelm Reich

    Jewish heritage travel is an odd phenomenon. We travel to these distant locations, where we usually do not speak the language, and often with very little concrete information, in search of some sort of connection. If it was knowledge about the places we wanted, an internet search would likely yield more facts than an on-site visit. We are looking for the sort of emotional knowledge that articles and photographs cannot provide. But do we find it? And perhaps more importantly, is it sufficient to satisfy our own curiosity or do we have a greater responsibility? (Adler 2017)

    Wilhelm Reich ist in Dobzau geboren, das auf Polnisch Dobrzanica und auf Ukrainisch Dobrjanytschi heißt. Als ich am 23. Juli 2015 den Namen der knapp 300-Seelen-Gemeinde Dobrjanytschi in das Navigationsgerät meines Autos eintippe, stelle ich voller Verblüffung fest, dass er prompt gefunden wird. Der Tank ist voll, das Wetter gut, also spricht nichts gegen eine kleine Landpartie mit meiner Familie.

    Die einzige Maßnahme, um sich bei aller Spontaneität ein wenig abzusichern, ist es, kurz vor Abfahrt noch beim Bürgermeister des Dorfes anzurufen. Seinen Namen und seine Telefonnummer hatte ich über eine ukrainische Internetseite recherchiert. Vielleicht konnte er uns ja bei der Suche nach dem Geburtshaus von Wilhelm Reich vor Ort behilflich sein. Von Lemberg aus dauert die Fahrt wie geplant ca. eineinhalb Stunden. Anfangs haben wir noch mit Verkehr und Baustellen zu tun, doch nach der Abzweigung in Bibrka sind wir fast die einzigen auf der Straße.

    Abb. 3: Ortsschild von Dobrjanytschi, von Osten kommend
    Abb. 3: Ortsschild von Dobrjanytschi, von Osten kommend

    „Dobrjan“: Das Ortsschild von Dobrjanytschi ist nur noch teilweise lesbar. Noch ahne ich nicht, wie bezeichnend dieser erste Hinweis für den weiteren Verlauf meiner Forschung sein wird. Wir fahren in den Ort hinein und fragen einen jungen Mann am Straßenrand nach dem Bürgermeister. Er empfiehlt uns, weitere 200 Meter geradeaus zu fahren. Die Dorfstraße ist in sehr schlechtem Zustand; der Asphalt hat sich zu den Rändern hin aufgelöst.

    Wir holpern mit unserem Auto langsam den Hügel hinauf. Vor einem zweistöckigen, dunkelroten Haus auf der linken Seite bleiben wir stehen. Nachdem es das einzige mehrgeschossige Haus in der Straße ist, vermuten wir, dass es sich wohl um das Gemeindeamt handeln dürfte. Ein älterer Herr in für ländliche Verhältnisse gepflegtem Äußeren steht vor dem Tor und winkt uns zu. Es handelt sich um den Bürgermeister Senowyj Wynnyzkyj.

    Er hat uns schon erwartet. Wir steigen aus und begrüßen ihn mit Handschlag. Er ist sichtlich erfreut über unseren Besuch. Fremde Leute kommen nicht oft in diese Gegend. Das letzte Mal seien vor etwa fünf Jahren ein paar Ausländer hier gewesen. Diese hätten ebenso nach Wilhelm Reich gesucht; vermutlich Verwandte von ihm, sagt der Bürgermeister. Mit der Frage nach Reichs Geburtshaus bringen wir ihn in Verlegenheit. Vor einigen Jahren hätte ein Historiker aus Lemberg, Vasil Laba, die Geschichte der Gegend untersucht. Mitunter könne dieser uns mehr erzählen. Er selbst sei zwar schon einige Zeit Bürgermeister, aber leider zu jung (ca. Mitte 60), um uns nähere Auskünfte zu geben.

    Er sieht jedoch eine Chance darin, eine der ältesten Dorfbewohnerinnen, Frau Kateryna bzw. Pani Kateryna, wie man in der Ukraine sagt, zu fragen. Sie könnte sich vielleicht erinnern. Zwar sei sie nicht die allerälteste, verfüge jedoch über ein hervorragendes Gedächtnis und kenne jeden, der in diesem Dorf lebe und einmal gelebt habe. Sogleich macht sich der Bürgermeister auf, Pani Kateryna zu suchen und kehrt mit ihr drei Minuten später zurück.

    Pani Kateryna

    Abb. 4: Pani Kateryna (rechts im Bild) im Gespräch mit der ältesten Dorfbewohnerin
    Abb. 4: Pani Kateryna (rechts im Bild) im Gespräch mit der ältesten Dorfbewohnerin

    Pani Kateryna, eine rüstige 82-jährige, setzt sich in den Schatten eines Baumes und übernimmt gleich die weitere Gesprächsführung. „Um wen handelt es sich bei dem Gesuchten? (…) Hatte dieser eine Frau oder Verwandte? (…) Wenn er berühmt war, müsste er doch am oberen Ende der Straße gewohnt haben…“. „Nein, berühmt war er damals nicht“, entgegnet der Bürgermeister. „Naja, aber an die Deutschen erinnern wir uns und auch an die Juden“, sagt Pani Kateryna. „Da gab es zum Beispiel die Kortschmi (3), dort waren Juden.“ (…) „Hanna hatte doch einen Jungen mit roten Haaren, wie hieß der nochmal?“ (…) „Wie hat man Wilhelm Reich denn als Kind gerufen“, werde ich gefragt.

    Auf die Frage fällt mir auf die Schnelle und wenig geistreich nur „Willy“ ein. In dem Moment scheint es mir absurd, dass Reich ausgerechnet hier in der heutigen Ukraine so gerufen worden sein könnte. Es überrascht mich daher wenig, dass die Versammelten mit dem Spitznamen sichtlich wenig anfangen können. Erst meine späteren Recherchen bestätigen meine damalige Intuition. „Willy“ dürfte tatsächlich Reichs Spitzname gewesen sein, zumindest während seiner Studienzeit in Wien (Sharaf 1994, S. 44).

    Pani Kateryna fährt fort, ihr Gedächtnis nach weiteren Personen zu durchforsten, die aus ihrer Sicht einen Beitrag zur Suche nach Wilhelm Reich leisten könnten. Jeden Namen, der ihr einfällt, spricht sie laut und deutlich aus; jeden Menschen ihrer Erinnerung charakterisiert sie anhand von Merkmalen, die für ihn bzw. sie typisch gewesen sind. Es kommt einem so vor, als würde sie auf diese Weise versuchen, sich selbst, aber auch den anderen so etwas wie „Erinnerungsbälle“ zuzuwerfen, um die bestehende Gedächtnislücke der Gruppe möglichst rasch zu schließen. „An Scheiko kann ich mich etwa erinnern, der ist hier bei Mamas Haus begraben“.

    Mit meinem bruchstückhaften Ukrainisch versuche ich den Erzählungen einigermaßen zu folgen. Wie mir auffällt, scheinen sie sich zunehmend im Kreis zu drehen. Keine anfangs noch so vielversprechende Familienspur führt letztlich zu Wilhelm Reich; für die Gruppe Grund genug, auch meine Beziehung zu ihm zu thematisieren. „Warum sucht dieser Herr eigentlich nach diesem Reich“, fragt Pani Kateryna den Bürgermeister.

    Dass ich mich einfach für den Geburtsort eines bekannten Menschen interessiere, scheint den Beteiligten nicht unmittelbar einzuleuchten. Reich müsse sicher ein Vorfahre von mir sein, vielleicht mein Großvater oder Urgroßvater. Warum sollte schließlich ein Fremder hier einen anderen Fremden suchen? Ich werfe einen kurzen Blick auf meinen kleinen Sohn, der neben uns gerade versucht ein Huhn zu fangen. Er wäre dann wohl Reichs Ururenkel.

    Im kindlichen Treiben fallen Vergangenheit und Gegenwart in eins. Fast ist es, als ob der kleine Wilhelm Reich (Abb. 1) hier zu unseren Füßen spielen würde. Die frühesten Erinnerungen der Dorfbewohner sind ihre eigenen Kindheitserinnerungen und diese setzen erst mit Mitte der 1930er-Jahre ein. Eine zentrale Zäsur für das Dorf – darin sind sich alle Beteiligten einig – stellt der Einmarsch der Sowjettruppen 1939 ins damals polnische Dobrzanica (ukr. Dobrjanytschi) dar. Bis zum heutigen Tag sei die Ukraine von den „Ruskis“ (umgs. für ‚Russen’) bedroht, sagt Pani Kataryna.

    Damit spitzt sich das Gespräch in weiterer Folge auf eine einzige Schlüsselfrage zu, nämlich ob Reich vor oder nach den „Moskali“ (ebenso umgs. für ‚Russen’) in Dobrjanytschi war. „Wenn Reich früher da gewesen ist, dann ist eine Erinnerung an ihn grundsätzlich unmöglich“, deklariert Frau Kateryna mit Nachdruck. Nähere Auskunft hätte höchstens ihr verstorbener Vater geben können, oder der Lehrer der deutschen Schule, auf die sie im Ort als Kind gegangen sei. „Dieser Lehrer habe aber leider weder Frau noch Kinder gehabt“, ergänzt der Bürgermeister. Entmutigt seufzt er, weil in Ermangelung von Nachkommen auch diese Spur im Sand verläuft.

    An dieser Stelle fällt mir wieder ein, warum wir ursprünglich hergekommen waren: um das Geburtshaus von Wilhelm Reich zu finden. Frau Kateryna erinnert sich, dass einer der Juden oben am Hügel gewohnt hätte und ein zweiter … – an dieser Stelle fällt ihr der Bürgermeister jäh ins Wort. Diese Idee könne sie gleich verwerfen, denn der Gesuchte sei schließlich Österreicher oder Deutscher und kein Jude gewesen.

    Mein Kommentar, dass das eine das andere nicht ausschließe, stimmt ihn sichtlich nachdenklich. Zögerlich bestätigt er meine Aussage und wendet sich dann verlegen ab. Mir kommt vor, dass ihm die Situation peinlich ist. Im Nachhinein kann es für den Bürgermeister tröstlich sein, dass auch mir im Zuge der weiteren Forschung ähnliche Denkfehler aus Selbstverständlichkeit unterlaufen werden.

    Abschließend empfiehlt uns Pani Kateryna, im alten Teil des Friedhofs weiterzusuchen. Dort gäbe es noch „deutsche“ Gräber, die uns vielleicht weiterhelfen könnten. Wir verabschieden uns von ihr und den übrigen Dorfbewohnern und Dorfbewohnerinnen (zwischenzeitlich sind insgesamt zirka sechs bis sieben Nachbarn um uns versammelt) und steigen mit dem Bürgermeister ins Auto. „Über Stock und über Stein…“ – diese deutsche Redensart gibt uns Pani Kateryna noch auf den Weg mit. Sie war ihr ganz zuletzt noch aus ihrer Kindheit eingefallen. Ich denke daran, während wir die holprige Straße zum Friedhof hinauffahren. Die Straße wird von den Dorfbewohnern heute noch „Koloniya“ genannt, weil dort einmal die „deutsche Kolonie“ des Ortes gewesen sei.

    Deutsche Kolonie, deutscher Überfall, deutscher Lebensraum

    Beim Gedanken an die „deutsche Kolonie“ kommt mir unmittelbar der „deutsche Überfall“ auf Polen vom 1. September 1939 in den Sinn. Zwar hatten wir in Dobrjanytschi noch nicht das Geburtshaus von Wilhelm Reich gefunden, jedoch standen wir zweifelsohne an einem jener scheinbar unspektakulären, aber geschichtsträchtigen Orte, an dem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte.

    Genau aus westlicher Richtung, in die wir gerade fuhren, dürfte die Deutsche Wehrmacht damals angerückt sein. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl der Beklemmung. Was würde ich tun, wenn dies in eben diesem Moment passieren würde? Ich versuche mir vorzustellen, wie die Dorfbevölkerung reagiert und wie anschließend das Dorfleben unter deutscher NS-Verwaltung ausgesehen haben mag.

    Gut, dass Wilhelm Reich damals schon weg war, denke ich mir. Die Juden wurden sicher alle auf grausame Weise ermordet, so wie in der nächsten größeren Stadt Rohatyn (s.u.). Die „Deutsche Kolonie“ in Dobrjanytschi: Welch ein Euphemismus für eine der Keimzellen nazideutscher Lebensraumpolitik im Osten! Doch noch war ich zu sehr in meiner eigenen Vorstellungswelt und kannte nicht die ganze Geschichte.

    Pan Ivan

    Bürgermeister Wynnyzkyj reißt mich jäh aus meinen Gedanken. Er bittet mich anzuhalten. Wir könnten es noch bei Herrn Ivan bzw. Pan Ivan versuchen, der in einem der Häuser an der rechten Straßenseite der Koloniya wohne. Dieser sei zwar nicht mehr so gut bei Gesundheit, gehöre aber wie Pani Kateryna zu den Dorfältesten. Vielleicht habe er noch eine Erinnerung an Wilhelm Reich. Wieder lassen wir das Auto auf der Straße stehen und gehen zu Fuß den Weg zum Haus hinunter.

    Der Eingang zum Haus liegt auf der rückwärtigen Seite. Über der Eingangstür befindet sich eine mehrfach übermalte Plakette. Laut Bürgermeister sei diese noch von den Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg hier gewesen seien. Angeblich war dies das Haus eines der Kommandanten. Die Türe steht offen, der Bürgermeister tritt ohne Umschweife ein. Über einen kleinen Vorraum gelangen wir direkt in die Küche. Dort sitzt Pan Ivan auf einem Stuhl. Der Bürgermeister fragt ihn nach Wilhelm Reich. Ob Pan Ivan wisse, wo dieser gewohnt habe.

    Pan Ivan erhebt sich schwerfällig, gestützt auf einen Krückstock, um besser zu sehen, wer gekommen war. Der Bürgermeister wiederholt die Frage: „Wissen Sie, wo Wilhelm Reich gewohnt hat?“. Jawohl das wisse er, sagt Pan Ivan: „Unten beim Dorfbrunnen!“ Wir sind völlig verdattert; auch der Bürgermeister. Pan Ivan geht auf uns zu. „Und diesen Brunnen gibt es doch noch heute!“, setzt er fort. Der Bürgermeister kennt den Brunnen, aber fragt nach, ob er die Antwort auch richtig verstanden hat: „Und dieser Reich hat wirklich dort unten gelebt?“. „Jawohl, dort hat er gelebt!“, bekräftigt Pan Ivan. „Dort hat er gelebt!“ Jetzt sind wir gänzlich aufgescheucht.

    Damit hatten wir nicht gerechnet. Ausgerechnet im ehemaligen Haus eines deutschen NS-Kommandanten erfahren wir etwas über den österreichischen Juden Wilhelm Reich! Der Bürgermeister drängt uns ins Freie. Da Pan Ivan nicht mehr gut sehe, sollen wir besser draußen weiterreden.

    Abb. 5: Deutsche Beschriftung über dem Türstock; rechts: Pan Ivan in der Küche sitzend
    Abb. 5: Deutsche Beschriftung über dem Türstock; rechts: Pan Ivan in der Küche sitzend

    Unter dem Türstock des Hauses bleibt Pan Ivan stehen und beginnt uns von Wilhelm Reich zu erzählen. Er selbst sei jetzt 86 Jahre alt, 1930 geboren. „Entschuldigen Sie, aber ein wenig hab’ ich schon gelebt. An die Deutschen – da erinnere ich mich an alle! Schließlich bin ich mit ihnen aufgewachsen!“.

    Im anschließenden Gespräch amüsieren sich der Bürgermeister und Pan Ivan über Pani Kateryna: Die „Kozlyka“ könne sich an „gar nichts mehr erinnern“, so der Bürgermeister. Ich selbst bin voller Aufregung, dass wir mit Pan Ivan jemanden gefunden haben, der uns weiterhelfen kann – endlich ein Zeitzeuge, der den Namen der Familie Reich kannte und sogar wusste, wo diese einmal gelebt hatte.

    Nachdem sich unsere erste Euphorie gelegt hat, beginnen sich jedoch auch Zweifel an Pan Ivans Ausführungen zu regen. Wenn Ivan 1930 geboren sei, was genau könne er dann von Wilhelm Reich erinnern, fragt der Bürgermeister.

    „Was war er für ein Mensch? Wer war er?“ Pan Ivan blickt zu Boden und atmet tief aus. „Er war Deutscher, er war Jude, er war Österreicher“, sagt der Bürgermeister. Pan Ivans Blick wandert, er wirkt in Gedanken versunken und nach Worten ringend. „Das … weiß ich schon … nicht mehr …“. Mehrmals setzt er an, um fortzusetzen: „Ich bin schon lange … lange, lange ist es her … vor langer Zeit bin ich mit diesen Deutschen hier aufgewachsen!“. Sein Ton wird plötzlich weinerlich; Pan Ivan kommen die Tränen. Mit einem karierten Stofftaschentuch setzt er vergeblich an, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Denn die Präsenz der Vergangenheit scheint nun seine Hand zu führen.

    Gestikulierend bringt er zum Ausdruck: „Sie haben mir zu Essen gegeben!“. „Ich war erst 2 Monate alt, als mein Vater starb. Ich war so unsagbar arm, dass ich fast verhungert wäre!“. Erst jetzt gelingt es ihm die Hand zum Gesicht zu führen und sich mit dem Taschentuch die Augen zu trocknen. „Diese Deutschen haben mich aufgefangen.

    Heinrich hieß einer. Ich ging zu dessen Haus. Der deutsche Dorfvorsteher Karl fragte dort seine Frau: „Lisa hast du dem Jungen schon zu essen gegeben? … Gib ihm zu essen!“. Pan Ivan schnäuzt sich und lächelt zufrieden. Die Deutschen waren anständige Leute und haben ihm als Kind das Leben gerettet.

    Die Anschlussfrage des Bürgermeisters „könnte es sein, dass Sie diesen Heinrich vielleicht mit Wilhelm Reich verwechseln?“, wird von Pan Ivan nur am Rande zur Kenntnis genommen. „Ach wissen Sie“, sagt er, „die Menschen wechseln eben. Der eine heiratet, der andere stirbt, …“. „Und haben Sie vielleicht das Buch über die Geschichte Dobrjanytschis?“, will der Bürgermeister abschließend wissen. „Ja, das habe ich!“, sagt Pan Ivan.

    „Aber wissen Sie, bei mir ist momentan ein Umbau im Gange …“. Bürgermeister Wynnyzkyj senkt den Blick. Laut seiner Auskunft würde uns dieses Buch von Vasil Laba die Antworten auf all unsere Fragen bieten. Doch wie es den Anschein hat, bleibt es ebenso verschollen, wie das Geburtshaus von Wilhelm Reich. Je mehr wir danach suchen, umso mehr entzieht es sich uns.

    Reichs Geburtshaus?

    „Viele Dorfhäuser waren hellblau gestrichen. Früher bedeutete das, dass hier ein heiratsfähiges Mädchen wohnte“ (Pollack 2014, S. 90).

    Abb. 6: Verfallenes Haus entlang der Koloniya-Straße
    Abb. 6: Verfallenes Haus entlang der Koloniya-Straße

    Pan Ivan hatte uns den Hinweis gegeben, dass die Familie von Wilhelm Reich am unteren Ende der Koloniya-Straße gewohnt haben könnte. Wir steigen also ins Auto und fahren abermals in die Richtung zurück, aus der wir ursprünglich gekommen waren. Während wir im Schritttempo langsam die Dorfstraße hügelabwärts rollen, mustern wir jedes einzelne Haus entlang des Weges auf Hinweise, die auf eine ehemalige Nutzung durch die Familie Reich hindeuten könnten: vielleicht die Bauform, vielleicht das Alter, vielleicht der Zustand? Irgendwie sehen die Häuser alle gleich aus.

    Ich meine die typischen ukrainischen Lehmhäuser zu erkennen, die ich auch schon in anderen galizischen Dörfern gesehen habe: längliche, eingeschossige Bauten mit Satteldach. Ein besonders verfallenes Haus mit klaffenden Rissen in den Wänden springt mir auf der linken Straßenseite ins Auge. Könnte das das Geburtshaus von Wilhelm Reich sein? Der Bürgermeister winkt ab.

    Dieses Haus sei baufällig geworden, weil es einfach schon zu lange leer stehe. Ein großes Problem des Ortes sei, dass die Jungen weggingen und die Alten sterben. Dann sei niemand mehr da, um die alten Gemäuer in Stand zu halten. Erst letzte Woche sei wieder eine ältere Frau verstorben – gleich da unten in dem hellblauen Haus. Vielleicht handle es sich dabei ja sogar um das gesuchte Objekt, gibt sich der Bürgermeister plötzlich überraschend zuversichtlich.

    Wir halten an und steigen aus. Der Bürgermeister eilt voraus, um uns das Gatter zum Grundstück zu öffnen. Hier habe die verstorbene Dame gewohnt. Wir schauen durch die Fenster ins Haus hinein und schaudern ein wenig. Viel ist aufgrund der Vorhänge nicht erkennbar, aber auf dem Sims stehen noch Blumen und ein paar lila Rosen, von denen manche noch blühen, während von den anderen schon die Köpfe hängen.

    Es ist spürbar, dass hier vor Kurzem noch jemand gelebt hat. Wir mustern auch die Eingangstüre, aber diese ist durch ein Vorhängeschloss versperrt. Der Bürgermeister hat keinen Schlüssel. Er vermutet jedoch, dass im bewaldeten hinteren Teil des Grundstücks einmal ein weiteres Haus gestanden haben könnte.

    Abb. 7: Das verlassene Haus (Koloniya-Straße Nr. 8) einer vor kurzem verstorbenen Frau; welke Blumen auf der Fensterbank
    Abb. 7: Das verlassene Haus (Koloniya-Straße Nr. 8) einer vor kurzem verstorbenen Frau; welke Blumen auf der Fensterbank

    Er beginnt sich den Weg durch zum Teil knie- bis hüfthohes Gestrüpp zu bahnen. Der Waldboden ist mit dichten Doldengewächsen bedeckt, die den Blick auf den Boden behindern. Überwucherte Fundamente wären hier mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Außerdem wissen wir ja nicht, ob das Haus, das hier einmal gestanden haben könnte, irgendwann baufällig geworden und in sich selbst zusammengestürzt oder im Zuge ethnischer Säuberungen gewaltsam entfernt worden war.

    Während wir uns im Dickicht vorantasten und mit den Schuhspitzen den Boden nach harten Widerständen abtasten, erfasst mich auf einmal wieder ein Gefühl der Beklemmung. Ich erinnere mich an einen Besuch des ehe- maligen tschechischen Dorfes Lidice. Dieser Ort, der seit dem Mittelalter existiert hatte, wurde von den Nazis 1942 dem Erdboden gleichgemacht und samt seiner 503 Einwohner/inn/en (davon 98 Kinder) von der Landkarte getilgt.

    Zum Gedenken an diese unvorstellbare Gräueltat ist das Gelände nach Kriegsende nicht wieder besiedelt worden. An die übermächtigen Ausmaße dieser Auslöschung erinnert heute die Landschaft selbst – als ungeheure Leerstelle. Mit jedem Schritt, den man im weitläufigen Gelände von Lidice setzt, wird man von dem unfassbaren Schrecken erfasst, der hier stattgefunden hat – obwohl und gerade, weil hier außer Wiesen und Bäumen nichts mehr davon zu sehen ist!

    Nach unserer Reise nach Dobrjanytschi stoße ich auf ein Buch des österreichischen Journalisten und Galizienforschers Martin Pollack, Kontaminierte Landschaften (2014). Im dritten Kapitel beschreibt Pollack eine Begebenheit, die mich aufhorchen lässt, weil sie mich an meine eigene „Feld“-Forschung erinnert.

    Seine Geschichte hat sich nur etwa 20 km weiter südlich von Dobrjanytschi zugetragen: Vor den Augen erstaunter ukrainischer Dorfbewohner sucht ein amerikanischer Wünschelrutengänger nahe der Kleinstadt Rohatyn ein Feld nach jüdischen Massengräbern ab. Aber solange man nicht im Boden gräbt, ist nichts zu finden. Am 20. März 1942 wurden in Rohatyn(4) mehrere tausend Juden brutal ermordet, was in etwa der Hälfte der Bevölkerung entsprach.

    In Dobrjanytschi lebten (entsprechend dem galizischen Durchschnitt) vor 1939 vermutlich etwa 10% Juden; 1881 wurden sogar 103 der damals 623 Dorfbewohner/innen der „israelischer Konfession“ (Sulimierski & Walewski 1881, S. 83) zugeordnet; heute gibt es hier keinen einzigen mehr. Der bekannteste (jüdische) Sohn des Dorfes, Wilhelm Reich, war während des Massakers von Rohatyn 1942 schon weit weg in Amerika.

    Dass er im selben Jahr sein berühmtes Forschungslabor Orgonon gründete und das ausgerechnet in den weitläufigen Feldern des ländlichen Bundesstaats Maine, hat vor diesem Hintergrund eine besondere Note. Fast wirkt es als wäre die galizische Heimat in Reichs Leben gerade in dem Moment im Westen wiederauferstanden, als sie im Osten endgültig unterging. Der Überlieferung nach habe Wilhelm Reich beim Aufbau seines 1,1 km2-Forschungsanwesens in Maine regelrecht den gutsherrenhaften Habitus seines Vaters Leon(5) angenommen: „Reich also seems to have very much taken after his father in his excellence at ‘running things’.

    Indeed, at Orgonon he took pleasure in managing all kinds of practical matters from construction to the selling of timber” (Sharaf 1994, S. 45). Bourdieu u. a. (2009, S. 118) gehen davon aus, dass „der bewohnte (bzw. angeeignete) Raum wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums funktioniert“. Aus dieser soziologischen Perspektive kann man in dem genannten Beispiel auch eine Art „Beharrungskraft der Strukturen des Sozialraums“ im physischen Raum erkennen.

    Was bedeutet das im Gegenzug für Dobrjanytschi? Wenn die Menschen sich hier nicht weiter zurück als an ihre eigene Kindheit erinnern, gibt es dann auch umgekehrt so etwas wie „Beharrungsstrukturen des physischen Raums“ im Sozialraum? Falls ja, so könnte dies es uns vielleicht ermöglichen, die Strukturen dieses Sozialraums zu rekonstruieren. Nur welche Chance auf Antworten haben wir, wenn auch die materiellen Anhaltspunkte im Raum durch die wechselnden Gewaltregimes der Nazis und der Sowjets sowie zwei zerstörerische Weltkriege ausgelöscht wurden?

    ryna kommt zurück und zerstreut jede Hoffnung; rechts: das Eingangstor zum Friedhof
    ryna kommt zurück und zerstreut jede Hoffnung; rechts: das Eingangstor zum Friedhof

    Nachdem wir auf dem Grundstück weder auf Fundamente noch auf Gräber gestoßen sind, brechen wir unsere Suche nach Reichs Geburtshaus in Dobrjanytschi nun endgültig ab. Pani Kateryna kommt gelaufen, um uns mitzuteilen, dass Pan Ivan uns vollkommen in die Irre geleitet habe. An der Stelle, an der wir gesucht hätten, habe nie ein Wilhelm Reich gelebt.

    Wie sie uns bereits gesagt habe, sei der Friedhof der einzige Ort, an dem wir unser Glück noch versuchen könnten. Wir beschließen ihrem Rat Folge zu leisten und drehen abermals um, da der Friedhof ja am oberen Ende des Hügels liegt. Damit fahren wir nun bereits das fünfte Mal über die Koloniya-Straße, diesmal bis an deren Ende, wo sich der Weg nach Süden und nach Norden teilt.

    Kurz vor der Abzweigung zum Friedhof bleiben wir auf der rechten Seite bei einem Gemischtwarengeschäft stehen, um uns ein paar Knabbereien und etwas zu trinken zu kaufen. Zugleich ist es eine gute Gelegenheit, nebenbei noch schnell eine kleine Aufmerksamkeit für den Bürgermeister zu besorgen. Die Zeit drängt ein wenig, da der Bürgermeister noch in den Nachbarort Tutschne muss, der ebenso zum Verwaltungsbereich von Dobrjanytschi gehört.

    Dort hätte er einen Streit zwischen zwei Nachbarn zu schlichten, die sich wegen gefangener Forellen in die Haare gekriegt haben. Da der Bürgermeister ohne Auto gekommen ist, bieten wir ihm an, ihn auf unserem Heimweg nach Lemberg in Tutschne abzusetzen.

    Der Friedhof: Eine Zeitreise nach Altösterreich

    Abb. 9: Bürgermeister Wynnyzkyj im dt. Teil des Friedhofs von Dobrjanytschi
    Abb. 9: Bürgermeister Wynnyzkyj im dt. Teil des Friedhofs von Dobrjanytschi

    Ruhe sanft
    Des Lebens Kummer
    Drückt nicht mehr
    Dein edles Herz
    Rosine Mathias geb. Ario 1899
    (Inschrift auf einem Grabstein am Friedhof von Dobrjanytschi, Abb. 11)

    Der Friedhof liegt an der Verbindungsstraße zwischen der ehemaligen deutschen Kolonie und dem eigentlichen Ortskern von Dobrjanytschi (Abb. 12). Wir geben uns keiner großen Hoffnung hin, hier am Ende noch eine Spur zu Wilhelm Reich zu finden. Laut seiner Autobiografie (W. Reich 1994) sind seine beiden Eltern zirka 200 Kilometer südlich in Jujinetz bei Czernowitz verstorben.

    Dass wir auf die Gräber weiterer Familienangehöriger stoßen könnten, halten wir für unwahrscheinlich. Für Juden gab es mit Sicherheit, wie auch in anderen Dörfern Galiziens, einen separaten Friedhof. Die jüdischen Friedhöfe wurden jedoch vielfach von den Sowjets zerstört, die Grabsteine entfernt und teilweise als Baumaterial verwendet. Der deutsche Fotograf Christian Herrmann dokumentiert in Form von „Galizischen Diptychons“ aktuelle Funde dieser Art und veröffentlicht sie auf Facebook.

    Abb. 10: Mit jüdischen Grabsteinen gebauter Schweinestall in Monastyryska, Quelle: Christian Herrmann (April 2017)
    Abb. 10: Mit jüdischen Grabsteinen gebauter Schweinestall in Monastyryska, Quelle: Christian Herrmann (April 2017)

    Galician Diptych II – The Jewish cemetery of the Galician town of Monastyryska in Ukraine was destroyed in the 1980s, shortly before the Soviet Union imploded. The tombstones were smashed into pieces and used to build the base of a pigsty of a collective farm in the neighbouring village of Horishnya Slobidka. There, were [sic!] the plaster is crumbling, Hebrew letters are getting visible (Herrmann 2017).

    Wäre ein Angehöriger der Familie Reich am Friedhof von Dobrjanytschi begraben, hätten der Bürgermeister oder die übrigen Dorfbewohner bzw. -bewohnerinnen uns wohl darauf hingewiesen. Die Einträge im Trauungsbuch (Abb. 2) bestätigen, dass Reichs Mutter Cäcilie Roniger-Reich offensichtlich aus dem 90 Kilometer entfernten Brody stammte. In den Biografien von Wilhelm Reich selbst (W. Reich 1994) sowie jener seiner Frau Ilse (I. O. Reich & Reich 1975) und der seines Sohns Peter (P. Reich 2015) gibt es jedoch keine Angaben zum Verbleib der Großeltern.

    Laut Sharaf (1994, S. 56) soll Reichs vermögender Onkel Josef Blum, dessen Landgut in Jujinetz Reichs Vater Leon bewirtschaftete (Sharaf 1994, S. 43), sein gesamtes Vermögen in der Wirtschaftskrise von 1929 verloren haben. Er habe dann einen Platz im B’nai Brith Altersheim ergattert. Seine Schwester und Reichs Großmutter mütterlicherseits, Josephine Roniger, wäre ohne die finanzielle Unterstützung von Reichs erster Frau Otilie auf der Straße gelandet.

    Reich versagte der eigenen Großmutter jegliche Hilfe, da sie ein Leben lang seine Mutter gegen seinen Vater aufgehetzt habe. Wo Josef Blum und Josephine Roniger genau begraben sind, ist nicht bekannt. Auch der Verbleib von Leon Reichs Bruder, dem Juristen Arnold Reich, ist ungewiss. Wilhelm Reich selbst wurde 7000 km weit von Dobrjanytschi entfernt auf seinem Anwesen Orgonon in Rangeley, Maine beigesetzt.

    Abb. 11: Grabsteine in deutscher Sprache: Rosine Matthias (1841-1899), Christian Fischer (1818-1881) und der Lehrer Franz Fischer (1856-1920)
    Abb. 11: Grabsteine in deutscher Sprache: Rosine Matthias (1841-1899), Christian Fischer (1818-1881) und der Lehrer Franz Fischer (1856-1920)

    Nichtsdestoweniger folgen wir dem Bürgermeister auf den Friedhof von Dobrjanytschi. Letztlich überwiegt die Neugierde, dort vielleicht doch noch etwas Interessantes zu entdecken. Im Zentrum des Friedhofs befindet sich ein mit Blumen geschmücktes Grabmal, das den Widerstandskämpfern des Dorfes im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist. Von dort aus gelangen wir in einen Winkel am Rande des Friedhofs, der von hohen Bäumen bewachsen und am Boden von Pflanzen überwuchert ist.

    Dort finden wir tatsächlich eine Reihe von deutschen Grabsteinen in unterschiedlich gutem Zustand: Die meisten sind überwachsen, manche sind umgekippt, viele stehen schief. Wie sich anhand der Jahreszahlen entziffern lässt, sind diese Gräber älter als viele andere am Friedhof und fallen sogar tatsächlich genau in die Zeit, in der Wilhelm Reich geboren wurde. „Franz Fischer, Lehrer, 1858-1920“ (Abb. 11): Er könnte die Familie Reich gekannt haben, insbesondere da sich Reichs Vater Leon der deutschen Kultur gegenüber sehr verbunden fühlte.

    Nicht zuletzt benannte Leon Reich seinen ersten Sohn nach dem deutschen Kaiser Wilhelm, den er als „Ideal“ verehrt haben soll (W. Reich 1994). Ach, wenn man die Verstorbenen nur fragen könnte! Ich fotografiere die Grabsteine. Auch wenn uns die Spuren vor Ort nicht weiterführen, so erhoffe ich mir, dass die Namen der Verstorbenen mir zumindest im Nachhinein bei der weiterführenden Recherche dienlich sein werden. Jedenfalls sind sie als deutlicher Hinweis zu verstehen, dass es in Dobrjanytschi schon vor dem Zweiten Weltkrieg Deutsche gab. Ich beginne zu ahnen, dass die „deutsche Kolonie“ hier älter sein könnte als ursprünglich angenommen.

    Die deutsche Kolonie in Dobzau

    Zurück in Wien führt mich die Suche nach dem Geburtsort von Wilhelm Reich in Archive. Vor allem beschäftigt mich die Frage, was man Näheres über die Kolonie von Dobzau erfahren kann. Jedenfalls war diese Gründung kein Einzelfall. Die Ansiedlung deutschsprachiger Kolonist/inn/en stellte das Ergebnis einer großangelegten, bereits 1774 von Maria Theresia eingeleiteten und von Joseph II. ausgebauten, gezielten Kolonisierungspolitik der ländlichen Regionen Galiziens dar. 1781 erließ Joseph II. sowohl ein Ansiedlungs- als auch ein Toleranzpatent zur freien Religionsausübung für orthodoxe Christen und Protestanten (Klijanienko-Birkmann 2014, S. 28).

    Auch die Leibeigenschaft wurde aufgehoben. 1782 wurde per Edikt auch den Juden die Religionsfreiheit zugestanden. Damit war es deutschen Einwanderern aus dem damaligen Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit möglich, sich in Galizien anzusiedeln. Die Siedler kamen bis aus Westphalen, der Pfalz und dem Saarland. Sie erhielten von Wien aus kostenlosen Transport.

    In Galizien wurden für sie eigene Häuser errichtet. Äcker und Wiesen, das benötigte Vieh sowie erforderliche Ackergeräte wurden zur Verfügung gestellt. Des Weiteren lockte eine zehnjährige Abgaben- und Steuerbefreiung, der älteste Sohn wurde vom Militärdienst freigestellt. Eine Grundidee dieser Politik scheint gewesen sein, den unterentwickelten und wilden Osten durch die deutsche Sprache und Kultur zu zivilisieren. Jeder Schritt wurde minutiös von staatlicher Seite geplant und finanziert.

    „Je 12 bis 20 Familien bildeten eine Kolonie, welcher von der Regierung Ackerland, Häuser, Weideplätze und Waldungen angewiesen wurden“ (Rudolf von Österreich, 1898, S. 472). Die deutsche Kolonie in Dobzau wurde 1786 errichtet (Дума, 2013). Von ihrer Anlage her entspricht die deutsche Kolonie Dobzau geradezu idealtypisch (siehe Abb. 12) der Beschreibung im Kronprinzenwerk: Die deutschen Colonien in Galizien liegen verstreut an dem Nordabhang der Karpathen, im Flußgebiet der Weichsel und des San und in der ostgalizischen Ebene.

    Sie bilden nur selten Gemeinden für sich, gewöhnlich sind sie in polnische und ruthenische Gemeinden incorporiert. Sie unterscheiden sich aber von ihren Nachbarn und Gemeindegenossen ganz bedeutend. Schon die planmäßige Anlage der Kolonie sticht von der Anlage der slavischen Dörfer ab. Zu beiden Seiten der Landstraße stehen die ganz gleich gebauten, netten, weißen – aber allzu nüchternen Häuser; an einem Ende der Colonie erhebt sich die Kirche(6) und die Schule.

    Auf den ersten Blick bemerkt man, daß dieser Menschensitz nach einem in der Amtsstube ausgearbeiteten Plan schablonenmäßig gegründet wurde, daß hier der Zirkel und Lineal ausschließlich maßgebend waren. Man findet hier nicht jenes Sichanschmiegen an die gegebenen Verhältnisse, jene scheinbare Unordnung, die durch das natürliche Wachsthum des Ursitzes bedingt ist (Rudolf von Österreich, 1898, S. 472).

    Abb. 12: Karten der deutschen Kolonie in Dobzau; die 1786 gegründete Ansiedlung hebt sich entlang einer annähernd waagrechten Linie in Norden deutlich vom organisch gewachsenen Ortskern im Süden ab, der Friedhof liegt dazwischen; oben: Josephinische Landesaufnahme 1763-1787, Mitte: Franziszeische Landesaufnahme 1806-1869, Quelle: mapire.eu (Österreichisches Staatsarchiv); unten: Satellitenaufnahme von Dobzau, Quelle: Google Maps.
    Abb. 12: Karten der deutschen Kolonie in Dobzau; die 1786 gegründete Ansiedlung hebt sich entlang einer annähernd waagrechten Linie in Norden deutlich vom organisch gewachsenen Ortskern im Süden ab, der Friedhof liegt dazwischen; oben: Josephinische Landesaufnahme 1763-1787, Mitte: Franziszeische Landesaufnahme 1806-1869, Quelle: mapire.eu (Österreichisches Staatsarchiv); unten: Satellitenaufnahme von Dobzau, Quelle: Google Maps.

    Dobzau ist damit nicht nur beispielhaft für die individuelle Ansiedlung deutscher Kolonist/inn/en, sondern repräsentativ für ‚eines der größten systematischen Aufklärungsexperimente der Neuzeit’ (Amar 2015, S. 25; Wolff 2012, S. 20). Zwar scheint das ursprüngliche Interesse Österreichs an Galizien eher gering gewesen zu sein, da mit Gebietszugewinnen immer auch Risiken, wie die Ausdünnung von Wehrfähigkeit und Ressourcen verbunden sind.

    Letztlich habe man sich aber aus politisch-militärischen Überlegungen dafür entschieden, sich 1772 gemeinsam mit Preußen und Russland an polnischen Gebieten zu beteiligen, um gegenüber diesen beiden erstarkenden Mächten nicht zu stark ins Hintertreffen zu gelangen. Aufgrund seiner geografischen Lage konnte Galizien – im Sinne einer natürlichen Pufferzone gegenüber Russland – sowohl als „Glacis Österreichs“ (Manner 2015, S. 119) dienen, als auch zu einem späteren Zeitpunkt einmal willkommenes Tausch- bzw. Kompensationsobjekt für anderweitige Gebietsansprüche der Habsburger in Europa sein.

    Für die Zwischenzeit galt es die Wirtschaftsleistung zu verbessern, die Wehrhaftigkeit zu erhöhen, die (deutsche) Kultur zu entwickeln und den polnischen Adel zu schwächen. „Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die ländliche deutsche Bevölkerung auf insgesamt 39 800, die gesamte deutsche Bevölkerung des Landes auf 93 300 Einwohner angestiegen. 50 Tochtersiedlungen waren gegründet worden, davon 4 in West- und 46 in Ostgalizien, zu denen in den späteren Jahren noch 25 hinzukamen“ (Klijanienko-Birkmann 2014, S. 28).

    Im Zuge des Ausgleichs mit Ungarn 1867 erhielten in der Habsburgermonarchie nicht nur die Ungarn, sondern auch die Polen in Galizien ein höheres Maß an Autonomie. Polnisch wurde vielerorts zur Amtssprache und war auch im Alltag weit stärker verbreitet als Deutsch. In den katholischen Kirchen war Polnisch vorherrschend. Gerade die katholischen Siedler verloren ihre Bindung zu deutscher Kultur und Sprache oft durch Heirat. Nach Auffassung der k.u.k-Chronisten gab es daher zwei Speerspitzen des Deutschtums in Galizien: die Protestanten und die deutschsprachigen Juden, zu denen auch die Familie von Wilhelm Reich gehörte.

    So paradox es aus heutiger Sicht klingen mag, wurde gerade in die jüdischen Kolonist/inn/en die Hoffnung gesetzt, das Deutschtum in Galizien zu verteidigen. Diese grenzten sich von den galizischen Juden ab, die vorwiegend Jiddisch sprachen(7). Aber auch die Protestanten wiesen aufgrund ihrer Eigenständigkeit und religiösen Überzeugung offensichtlich höchste Resistenz gegenüber der Polonisierung auf. Sie unterstützten die Verbreitung der deutschen Kultur und Sprache aus eigenen Stücken heraus auch administrativ und finanziell (insbesondere durch den „Gustav-Adolf-Verein“).

    Die evangelische Kirche errichtete etwa in Dobrjanytschi ein Bethaus mit Schule unter einem Dach (k.k. evang. Oberkirchenrathe, 1875, S. 216) und stellte wohl auch Lehrer Franz Fischer an, dessen Grabstein am Friedhof von Dobrjanytschi zu finden ist (Abb. 11). Denn Friedhöfe waren „in allen Colonien und in Lemberg gemeinschaftlich mit den Communen“ zu führen (ebd. S. 217). Die Schule hatte eine Klasse. Das Bethaus wurde 1826 eingetauft und vermutlich kurz davor errichtet. Pani Kateryna erinnert sich im Gespräch, dass dieses noch bis in die 1940er Jahre existierte und die Glocken dort geläutet haben.

    Die in diesem Beitrag elaborierte Lebensgeschichte Wilhelm Reichs könnte einen Anstoß bieten, das bis heute tiefsitzende Trennungstrauma in Ost- und Westeuropa aufzulösen und in ein neues Verständnis des gemeinsamen Kulturerbes überzuführen. Vor allem müsste es gelingen, das angesprochene gemeinsame Erbe für die Menschen wieder im Alltag erlebbar und erfahrbar zu machen und dadurch jene tiefsitzende Maskierung zu durchbrechen, die durch die unvorstellbaren Opfer von zwei Weltkriegen, Holocaust, Nazi- und Sowjetterror sowie Jahrzehnte des Kalten Kriegs gegenwärtig positiv gerahmte, grenzüberschreitende Erinnerung an die untergegangene Welt vor 1914 – jenes habsburgische „Atlantis“ (Röskau-Rydel 2002) – bis heute verhindert.

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    (1) Ein wesentlicher Grund für den Ausschluss dürfte laut Slunecko & Ruck (2008) – neben theoretischen Differenzen mit Freud – Reichs konfrontatives sexualpolitisches Engagement gewesen sein.
    (2) Damit ereilte Wilhelm Reich ein ähnlich verhängnisvolles Schicksal wie seinen Zeitgenossen, den Sozialpsychologen Gustav Ichheiser, der ebenso 1897 in Galizien, nämlich in Krakau geboren wurde. Ichheiser wurde in den USA mit der Diagnose paranoide Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und begann kurz nach seiner Entlassung Selbstmord (Benetka & Woller 2015).
    (3) Als Kortschmi bezeichnet man in Galizien Gasthäuser bzw. Brandweinschenken. Sie wurden früher oft von Juden geführt, da das Gewerbe Christen als verwerflich galt.
    (4) Während ich diesen Beitrag schreibe, wird auf den Feldern nahe Rohatyn gerade von Geologen der Boden untersucht. Im Rahmen des Projekts „Rohatyn Jewish Heritage“ (www.rohatynjewishheritage.org) soll über 70 Jahre nach der Shoah endlich geklärt werden, wo sich tatsächlich die jüdischen Massengräber dort befinden und wie viele Skelette noch im Boden liegen.
    (5) Leon Reich bewirtschaftete und verwaltete in der Bukowina von 1900-1914 ca. 8 km2 Land.
    (6) In Dobzau bzw. Dobrzanica gab es offenbar ein evangelisches Bethaus, das – wie das Bethaus in Unterwalden und die Kirche in Theodorshof – als Filiale der Pfarrgemeinde Lemberg dem Uniwer Diakonat unterstellt war.
    (7) Wilhelm Reich weist in seiner Autobiografie darauf hin, dass es ihm von seinem Vater als Kind verboten war, sich mit den einheimischen galizischen Juden abzugeben sowie Jiddisch zu sprechen.

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