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Bukumatula 2/2021

Wolf Büntig (1937-2021)

Erinnerungen an eine eindrucksvolle Begegnung
von
Günter Reissert:

Was ist wichtiger oder höher einzuschätzen: Das Sein oder die Unversehrtheit? Diese Frage stellte Wolf Büntig einer Gruppenteilnehmerin, nachdem diese mehrfach ihre Erbschafts- und Familienprobleme in der Gruppe thematisiert hatte. Die Familienbeziehungen behinderten jeden Versuch, ihre Position zu ändern und die dahinterliegenden schmerzlichen Erfahrungen und verdrängten Sichtweisen neu zu ordnen; sie führten immer wieder zur selben Thematik.

Es schien, als wäre ein gordischer Knoten in ihrer Seele, der mit keiner noch so geschickten Analyse, emotionaler Aktivierung und Fokussierung auf Ressourcen im „Hier und Jetzt“ zu lösen wäre.- Büntig blieb letztendlich nur mehr der Griff in die Kiste seiner eigenen Lebenserfahrung und die Konfrontation mit dem augenscheinlich nicht Vermeidbaren: der Akzeptanz einer nach wie vor schmerzhaften Situation.

Büntig hat in den letzten Jahren seiner psychotherapeutischen Tätigkeit aus einer großen Methodenvielfalt geschöpft. Ich hatte den Eindruck, dass er alle Schulen nützte, die ihm und seiner Sichtweise vom Menschen und dem Leben sinnvoll erschienen. Seine psychotherapeutische Fachrichtung ist die in Deutschland anerkannte Tiefenpsychologie. In der Gruppenarbeit verschmolz er sie mit gestalttherapeutischen, körpertherapeutischen, systemischen und Psychodrama-Elementen.

Ich habe im ZIST an einer dreijährigen Gruppe „Autonomie – Treue zum Wesen und Entfaltung von Eigenart“ von 2010-2012 teilgenommen und durfte ebenfalls einiges an „Konfrontation mit dem augenscheinlich nicht Vermeidbaren“ mitnehmen. In meiner Erinnerung nicht unbedingt mild, aber wirksam…. Ich glaube es war 2009, als ich im Radiokulturhaus-Programm las, dass Wolf Büntig dort den Fragen von Johannes Kaup Rede und Antwort stehen würde.

Sofort lebte in mir eine frühe Erinnerung als „Schwarzhörer“ an der obersten Hörsaaltüre im Wiener AKH auf. Ich war im Jahr 1983 Zivildiener beim Roten Kreuz, hatte eben einen Patienten im Wiener AKH abgesetzt und durch einen Plakataushang wahrgenommen, dass in einem Hörsaal über Psychosomatik referiert werden würde. Im obersten Rang des Saales reinzuschlüpfen war mit Rotkreuzuniform leicht.

Ich gelangte genau zu Büntings Vortrag. Es beeindruckte mich, wie er über seine Behandlungsmethoden, die nicht zuletzt auch körpertherapeutisch ausgerichtet waren, sprach. Er berichtete über Behandlungen seiner Krebspatienten und wie wichtig es sei, dem Hoffnungsaspekt und jedem Funken von Lebensbejahung nachzugehen.

Büntigs damalige Vermutung, dass es eine Abstufung von Patientensichtweisen und -einstellungen zu ihrem Leben im jeweiligen aktuellen Kontext gibt (bspw. Aufgaben, die noch zu bewältigen wären, oder eine kämpferische Einstellung gegenüber der Krankheit oder eben die Selbstaufgabe), die eine direkte Korrelation zur Überlebenschance haben sollen, ist heute in vielen Studien falsifiziert. Dennoch entbehrt sie nicht einer gewissen Plausibilität….

Offensichtlich hat Büntig diese Sicht mit dem Umgang des „Prinzips Hoffnung“ – immer fokussiert auf das „Hier und Jetzt“ in der Eigenleiblichkeit, dabei stets auf der Suche nach den Möglichkeiten, bis zuletzt interessiert. Ich erinnere mich an das o.e. Interview mit Johannes Kaup, der in seiner Profession gut vorbereitet, einige Fragen in Manier einer „allgemein verständlichen Psychologie“, stellte. Büntig hatte sich dabei vor dogmatischen Antworten gehütet, vielleicht sogar gedrückt, beharrlich gedrückt.

Er erzählte über den Umgang mit Aggression und dass ein ihm bekannter Tischler einem Mann, der mehrfach übergriffig in seiner Werkstatt agierte, nach der dritten Verwarnung tätlich entgegentrat („Wer nicht hören will ….“?). Sein Verständnis lag eindeutig auf Seiten des Tischlers…. Büntigs Sichtweise war sehr von der Einfachheit klarer Regeln und des sittlichen Umgangs in gegenseitigem Respekt geprägt. Da war nichts Beschönigendes und wenig Nachsicht mit schlechtem Benehmen.

Aber darüber hinaus war es Büntig besonders wichtig, auf die Fähigkeiten und Potentiale, die in jedem Menschen stecken – und dass sich auch die Suche danach auszahlt, hinzuweisen. Mit Kaups vorbereitetem Fragenkatalog haben Büntigs Antworten nicht immer zusammengepasst.

Als Kaup wieder eine Frage nach der Depression als Volkskrankheit und möglichen Ursachen zurückführen wollte, antwortete Büntig: Ja, das ist ernstzunehmend mit der Depression, da gibt es doch einige Vermutungen dazu, …. aber mich interessieren vielmehr die Potentiale der Menschen – lassen Sie uns über die Potentiale reden. Ich hätte ihn küssen können! Das war der Moment, wo ich beschloss, ihn nach dem Vortrag über seine Arbeit und Angebote im ZIST – seinem Zentrum für Selbsterfahrung und Fortbildung, zu fragen. Er bot mir die o.e. Dreijahresgruppe an.

Und es wurde eine dichte Zeit. Büntig eröffnete die Gruppe mit der Vorstellung seiner Person: Ich bin Wolf Büntig, ich bin Arzt und Unternehmer. Das hat mich anfänglich ein wenig befremdet – in Kombination mit seiner sachlich distanzierten Art, sogar sehr befremdet. Den Gruppenablauf hat er so beschrieben: Am Vormittag mischt Euch meine Frau mit ihren Impulsen auf, ich übernehme den Nachmittag und räume zusammen. Die Gruppe hatte eine deutliche Dynamik; Grüppchenbildungen und „Seilschaften“ wechselten rasch.

Fünfundzwanzig Personen, davon zwei Drittel Frauen, der Rest Männer. Zwei Männer hatten gleich nach der ersten Woche wieder die Segel gestrichen, eine Frau ist nach einem Jahr dazu gekommen. Wir unterschrieben jedoch alle eine „Verpflichtungserklärung“, an allen drei Jahren – jeweils zwei Wochen geblockt pro Jahr, lückenlos teilzunehmen. In der Praxis ging‘s dann nicht mehr ganz so streng zu, aber immerhin: eben auch ein Unternehmer.

Ich erinnere mich noch deutlich an diese Atmosphäre von klarer, fast aufdringlicher Struktur und gleichzeitig selbstverständlichem Respekt vor der eigenen, individuellen Entscheidung. Büntig goutierte ein verspätetes Erscheinen in der Gruppe nicht, er versagte sogar die Teilnahme an der Morgenmeditation, dem „Stillsitzen“, wenn jemand zu spät eintraf (nur manchen Frauen gegenüber schien er eine größere Toleranz zu haben…).

Aber dennoch: eine Gruppensession oder einen Tag auszulassen, am gemeinsamen Essen nicht teilzunehmen (es war mein erstes, rein vegetarisches Essen, das abwechslungsreich und köstlich war!), tat der Gruppenmitgliedschaft keinen Abbruch. Die Freizeit war ohnehin selbstbestimmt und der Abend durchaus immer wieder mit gemeinsamen Alkoholkonsum getränkt.

Büntig hatte in seinen jungen Therapeuten-Jahren intensiv körpertherapeutisch und soviel ich weiß, auch auf der Matte gearbeitet. Er beschäftigte sich ausgiebig mit Wilhelm Reich und deutete an, vieles von ihm gelesen zu haben. Er rezitierte (ich erinnere mich nicht mehr an den Zusammenhang) einmal die Kernaussage der Massenpsychologie: Jedes System schafft sich seine Charaktere, die es zu seiner Erhaltung benötigt.

In der Gruppe verschmolz er systemische Techniken mit „sanftem Embodyment“. Er führte immer wieder zurück zu den Phänomenen, zu dem offensichtlich Hör,- Fühl- und Sichtbaren der Teilnehmer*innen. Aus der aktuellen Position ließ er Gesten und Körperhaltungen überspitzen, aber auch darstellend zum Ausdruck bringen, um sie in der Eigenwahrnehmung wieder rückzukoppeln.

Er setzte seine Analysen – aus der tiefenpsychologischen Profession kommend hatte er sie jederzeit parat – hauptsächlich dafür ein, andere Perspektiven und Positionen in unsere individuellen Lebensgeschichten hereinzunehmen. Es war ihm wichtig, Zusammenhänge, die erst aus der Synthese des aktuellen mit dem historischen Lebensumfeld verständlich werden, transparent zu machen.

Deutungen verwendete er ausschließlich, um seine Vermutungen zu verifizieren, behielt sie aber zumeist für sich. Ich werde nie vergessen, wie er sich einmal so outete: Ich treffe ja den Kern eines Problems gar nicht so genau. Ich schieße immer eine Menge Pfeile ab, und einer wird dann schon treffen…! und schmunzelte dabei sichtlich belustigt.

Auf der Suche nach individuellen Wegen zur Erweiterung des Selbstverständnisses und einer dichteren Integration der persönlichen Lebensgeschichte verwendete er intensiv die szenische Darstellung alternativer Positionen. Er lud immer wieder ein, körperlich die Position zu ändern und bot dabei jedem/r von uns immer wieder sein „bleib dabei – ich bleib auch dabei“ an.

In seiner Routine klang dies manchmal ein wenig inflationär. Der Spruch veranlasste mich auch außerhalb der Gruppensitzungen bei den abendlichen Plaudereien mit vollem Glas in der Hand zu sagen: „Bleib dabei – ich bleib auch dabei“. Dem „Alten“ gegenüber zwar ein wenig rotzig, aber das darf auch manchmal sein! Dennoch, in der Rückschau betrachtet, ist dies ein guter Spruch, ein feines Angebot, welches er auch immer wahrgemacht hat.- Aus Sicht der modernen integrativen Therapie („IT“) würde ich Büntigs Arbeit heute als Arbeit des „Menschen als Körper-Seele-Geist-Subjekt im Kontext und Kontinuum“ bezeichnen. Büntigs Arbeit war hochintegriert.

Büntig hat mehrere Bücher und eine Reihe von Artikeln verfasst; im Eigenverlag hat er auch Bücher zur Einführung in die Bioenergetik herausgegeben. Bereits 1992 wurden Workshops von ihm in Bukumatula angekündigt und 2012 stimmte er auch der Veröffentlichung eines seiner Artikel darin zu. Im jährlichen Programmheft des ZIST veröffentlichte er regelmäßig Aufsätze und Reflektionen zu aktuellen Themen psycho-physischer Belange im gesellschaftlichen Kontext.

Er hat – wie viele erfahrene Therapeut*innen (und vielleicht auch analog zur Wirkungsgeschichte Wilhelm Reichs?), den Menschen immer vor dem eigenen Erfahrungshintergrund im aktuellen gesellschaftlichen Kontext gesehen. Es war ihm sehr bewusst, dass manche Änderungen persönlicher Geschichten erst durch Änderungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext möglich werden.

Nicht zuletzt zu den aktuellen Entwicklungen der Psychotherapie, die seit einigen Jahren sehr gerne als „psychotherapeutische Wissenschaften“ bezeichnet werden, hat er Stellung bezogen. Im ZIST-Programmheft 2019 setzt er sich in einem Aufsatz zum Thema „Wissenschaft als Glaube“ auseinander. Die Gedanken dazu fasst er komprimiert folgendermaßen zusammen: Wenn Ihr Euch durch Wissenschaftlichkeit gegen die Unsicherheit des Lebens versichern und Euch dem unsicheren Leben nicht hingeben wollt, werdet bitte keine Therapeuten!

Ich konnte es mit ihm leider nie austauschen, aber aus manchen Sätzen vermeinte ich zu entnehmen, dass er in seinen Begleitungsangeboten innerlich stets eine spirituelle Dimension hinzunahm. Er begab sich jedenfalls noch im fortgeschrittenen Alter auf den Weg von „Diamond Approach“, einer Gemeinschaft zur Förderung der persönlichen Entwicklung, jenseits aller Dogmen und festgefahrenen Halbwahrheiten.

In mir erweckte dies den Eindruck, dass er sich nicht mit seiner Lebens- und Berufserfahrung begnügte, dass er sich vielmehr in jene Reihe von Menschen eingliedern wollte, die sich dazu bekennen, die Erfüllung des Lebens in der immerwährenden Suche zu finden. Eine lohnenswerte Richtung. Möglicherweise habe ich die Begegnung mit ihm auch deshalb gesucht…. Ich werde ich ihn trotz verbliebenen respektvoller Distanz immer als einen meiner ganz wichtigen Orientierungsgeber in Erinnerung behalten.

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