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Buk 1/98 Die Trobriander heute

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Bukumatula 1/1998

Die Trobriander heute

Das letzte Paradies?
Susanne Wittman:

Im Laufe seiner psychoanalytischen Tätigkeit in Wien beobachtete Wilhelm Reich, dass die Prognose der Klienten entscheidend davon abhing, inwieweit es diesen gelang, ein befriedigendes Sexualleben zu führen. Auf einem Kongress im April 1924 berichtete er, der Rückfall in die Neurose nach einer psychoanalytischen Heilung werde in dem Maße vermieden, in dem die orgastische Befriedigung im Geschlechtsakt gesichert sei (Reich, 1969, S.100). Er betonte später wiederholt, es sei wichtiger, herauszufinden, wie man Neurosen verhindert, als diese in aufwendigen Therapien bei einzelnen Menschen zu beseitigen. Für die Entstehung der „Neurosenseuche“ in unserer Kultur machte Reich drei Hauptetappen des menschlichen Lebens verantwortlich: die frühe Kindheit und die Pubertät – in welchen die übliche Erziehung die Menschen lustunfähig mache – sowie die Zwangsehe.

Reich interessierte sich dafür, welche Faktoren ursprünglich für die Entstehung der lustfeindlichen Erziehung und Sexualunterdrückung verantwortlich waren und mit welchen Mechanismen es gelungen war, diese über Generationen hinweg in den Menschen zu verankern. Diesen Fragen ging er in seinem Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ nach. Er bezog sich hierbei unter anderem auf die Berichte des Ethnologen Bronislaw Malinowski, der 1915-1918 bei den Trobriandern gelebt hatte und dort in unserer Kultur weit verbreitete Neurosen nicht vorgefunden hatte. Malinowski hatte auch die von Freud proklamierte Universalität des Ödipuskomplexes widerlegt und kritisierte die ethnozentrische, verallgemeinernde Haltung der psychoanalytischen Theorie.

Bronislaw Malinowski gilt als der Begründer der Sozialanthropologie. Er hatte die Sprache der Trobriander erlernt und die teilnehmende Feldbeobachtung als wichtiges Fundament der Erkenntnisgewinnung in die Ethnologie eingeführt. Dies ist insofern als eine grundlegende Erneuerung dieser Wissenschaft zu verstehen, als frühere Forschungsarbeiten über sogenannte „Naturvölker“ weit davon entfernt gewesen waren, die komplexen Regeln des Zusammenlebens, die in jeder menschlichen Gemeinschaft existieren, zu verstehen und zu beschreiben, sondern diese Völker herablassend aus der Sichtweise unserer Kultur entweder als wild und unkultiviert darstellten oder einseitig deren Dasein im paradiesischem „Urzustand“ verherrlichten.

Reich las Malinowskis Schriften ab 1930; wenige Jahre später lernte er diesen in London persönlich kennen, es entstand eine Freundschaft und gegenseitiges Interesse an den jeweiligen Arbeiten des anderen.

Einem GEO-Artikel mit dem Titel „Das gerettete Eden“ (GEO, 1993) war zu entnehmen, bei der Wiederentdeckung der Schriften Reichs durch die 68er seien die Trobriander zu „Hoffnungsträgern“ geworden, man habe den Partner beim Küssen, den Trobriandern gleich, in die Unterlippe gebissen, um „sexuelles Bewusstsein“ erkennen zu lassen. Das Klischee der Trobriand-Inseln als „Südseeparadies“ oder „Inseln der freien Liebe“ wird in der Presse noch heute aufrechterhalten, wofür jüngere Trobriander, von welchen einige in Papua Neuguinea studieren, die Schriften Malinowskis verantwortlich machen. Malinowski selbst war jedoch seinerzeit sehr enttäuscht darüber, dass sich das Publikum auf einige sensationelle Aspekte gestürzt hatte und das eigentliche Anliegen des Buches zu ignorieren schien.

Es ging ihm vorallem darum, seine funktionale Arbeitsweise darzustellen, welche darauf abzielte, die Funktion der erhobenen anthropologischen Fakten zu erklären, also welche Rolle diese innerhalb einer Kultur spielen und in welchem Verhältnis sie innerhalb dieses Systems sowie mit der physischen Umgebung stehen. Er wollte verständlich machen, wie die Organisation der Sexualität bei den Trobriandern der Stabilisierung der Gesellschaft dient.

So haben Phänomene wie das Junggesellenhaus („bukumatula“), in welchen die Jugendlichen sexuelle Erfahrungen sammeln können, eine Funktion innerhalb der Kultur, da dort grundlegende Regeln des Sozialverhaltens erlernt werden und da die positiv erlebte Sexualität später die Bindung zwischen den Partnern und somit die Familie stabilisiert. Die Familien wiederum festigen aufgrund von gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeiten das gesellschaftliche Gefüge.
Die Trobriander sind bei den Verhaltensforschern auch heute noch Thema, weil viele Elemente ihrer ursprünglichen Kultur erhalten geblieben sind. Die Gründe hierfür liegen bei den Trobriandern selbst, die sehr stolz auf ihre Kultur sind, und in der Geschichte der Inseln.

Während das heutige Neuguinea wahrscheinlich bereits vor 50.000 Jahren durch Seefahrer aus Südostasien besiedelt wurde, erfolgte die Besiedlung der Trobriand-Inseln vor 4.000-5.000 Jahren durch die sogenannten Austronesier, ausgehend von Südchina und Taiwan über die Philippinen und Indonesien.

Die Trobriand-Inseln wurden 1793 von einem französischen Forschungsreisenden entdeckt, welcher sie nach seinem Leutnant Trobriand benannte. Sie liegen in der westlichen Südsee und sind Teil des seit 1975 unabhängigen Staates Papua Neuguinea. Papua Neuguinea legt Wert auf den Erhalt verschiedener Kulturen. Die Trobriander, inzwischen insgesamt ca. 20.000-25.000 Menschen, sprechen Kilivila, eine austronesische Sprache. Die Dörfer haben einige Dutzend bis wenige hundert Einwohner. Ihr Hauptnahrungsmittel sind Yamswurzeln und andere Nahrungspflanzen, außerdem fischen und jagen sie. Unter- und Mangelernährung sind hier im Gegensatz zu anderen Gebieten Neuguineas unbekannt.

1884 wurde Südost-Neuguinea einschließlich der Trobriand-Inseln englisches Protektorat, wenige Jahre später Kolonie. Um 1900 kamen die ersten Europäer auf die Trobriand-Inseln, Missionen wurden eröffnet und man begann, die Kultur der Trobriander zu dokumentieren. Die frühen Berichte stammen von Missionaren und Kolonialbeamten, die späteren von Ethnologen. Die Christianisierung erfolgte hier zurückhaltend und vorwiegend über einheimische Pastoren, man findet deshalb heute eine Mischreligion mit vielen traditionellen Elementen vor.

Die Abstammung der Kinder wird nach der Mutter bestimmt, die politische Macht liegt bei den Männern in Form einer strukturierten Häuptlings-Hierarchie.
Der Übergang der mutterrechtlichen zur vaterrechtlichen Gesellschaftsstruktur, der sich schon zu Malinowskis Zeiten abzeichnete, bildet ein zentrales Thema der Schrift „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ von Wilhelm Reich. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die sogenannte Kreuz-Vetter-Basen-Heirat: Da der Bruder der Mutter für die Versorgung der Familie zuständig ist, kann ein materiell interessierter Mutter-Bruder seinem Sohn Vermögen zukommen zu lassen, indem er diesen mit der Tochter seiner Schwester verheiratet. Um zu verhindern, dass diese sich für einen anderen Partner entscheiden, müssen sich Kinder, die für eine solche Heirat bestimmt sind, von vorehelichen sexuellen Aktivitäten fernhalten.

Wilhelm Reich erklärt, wie hieraus gesamtgesellschaftlich im Laufe vieler Generationen eine Tendenz zur Anhäufung von Privatbesitz, einer Hierarchisierung der Gesellschaft, eine sexualverneinende Haltung und einer Verschiebung der Macht in Richtung Patriarchat resultiert. Durch die Erziehung wird die sexualverneinende Haltung in jedem einzelnen Individuum verankert, so dass aktive Unterdrückung von außen in unserer Kultur entfallen kann, da die intraindividuellen Unterdrückungsmechanismen ausreichend sind, um die gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten.

Als weiterer Faktor der Machtverschiebung kommt in jüngster Zeit der Handel mit dem Festland hinzu; es werden für den Fischfang zunehmend größere Boote verwendet, auf welchen den Frauen nicht gestattet wird mitzufahren, diese Einnahmequelle ist also den Männern vorbehalten. Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren nimmt zu, da die Ressourcen angesichts des Bevölkerungswachstums auch hier nicht unbegrenzt sind: Seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts hat sich die Bevölkerungszahl verdoppelt.

In einer Fernsehreportage, die 1996 in Okaiboma, einem der größten Dörfer der Trobriand-Inseln, gedreht wurde, berichten die Einwohner einerseits über die Zunahme von Konflikten, die sie auf den Einfluss des Geldes zurückführen; andererseits wird geplant, Elektrizität einzuführen und der touristischen Erschließung der Gegend zuzustimmen.
1982 begann ein Forschungsprojekt, das die drei Fachgebiete Humanethologie, Ethnologie und Linguistik vereinte.

Es handelt sich um ein Gemeinschaftsprojekt verschiedener Institute unter der Leitung der Abteilung für Humanethologie des Max-Planck-Instituts in Andechs. Seitdem sind jedes Jahr Forscher auf einer der Inseln, was eine kontinuierliche Datengewinnung gewährleistet. Im folgenden werde ich die derzeitige Lebensweise der Trobriander unter verschiedenen Gesichtspunkten beschreiben. Besonders interessiert mich hierbei der Aspekt, inwieweit diese der von Wilhelm Reich beschriebenen heute noch entspricht.

Schwangerschaft und Geburt

Erstgebärende werden ab ca. drei Monate vor der Geburt wiederholt mit Kokosbast und Wasser abgerieben. Im 7. oder 8. Schwangerschaftsmonat verlässt die werdende Mutter die Hütte ihres Gatten und zieht zu ihren Eltern bzw. zum Bruder ihrer Mutter. Mit Beginn der Entbindung verlassen die Männer die Hütte. Mütter, Schwestern und andere weibliche Verwandte helfen bei der Geburt, man kann also davon ausgehen, dass auch Frauen, die selbst noch nicht entbunden haben, der Geburtsvorgang bekannt ist. Hinter der Gebärenden steht eine Frau, die ihren Rücken hält und leicht massiert, die Gebärende erhält einfühlsame Ermunterungen. Bei schweren Entbindungen wird der Körper der Frau mit aromatischen Blättern eingerieben, auch Zauberformeln werden gesprochen. Weitere Manipulationen finden nicht statt. Erst wenn der Kopf des Kindes erscheint, erhält die Gebärende die Aufforderung, fest zu pressen. Die Entbindung erfolgt in sitzender oder hockender Stellung.

Die Mutter darf die Hütte, in der sie entbunden hat, für einen Monat nicht verlassen. Sie wird mit Essen versorgt und von niemandem gestört. Der Frau wird dadurch ermöglicht, sich ausschließlich mit ihrem Kind zu befassen, was die Bindung fördert. Bei den Trobrianderinnen tritt keine Wochenbettdepression auf. Studien belegen, dass zwischen der in unserer Kultur häufigen Wochenbettdepression und der körperlichen Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt ein enger Zusammenhang besteht (Klaus, MH und Kennell, JH, 1987). Vermutlich stellt die Depression der Mutter eine evolutionsbiologisch verankerte Trauerreaktion dar, da der einzige Grund für das nicht vorhandene Kind – im Hinblick auf die Evolutionsgeschichte bis vor kurzer Zeit – im Tod des Kindes bestand.

Nach Ablauf des Monats wird die Mutter rituell gewaschen, danach geht sie mit dem Baby durchs Dorf und erhält von jedem kleine Geschenke. Anschließend verbringt sie einen weiteren Monat in der Hütte. Das Kind wird rund um die Uhr nach Bedarf gestillt – vorteilhaft auch für die Mutter, da dadurch ein Milchstau und die schmerzhafte Brustentzündung, die viele Frauen in westlichen Kulturen zum Abstillen zwingt, vermieden werden können. Der Arzt Horst Jüptner (Jüptner,1983) berichtet, in der Zeit seiner Anwesenheit auf Kiriwina von 1959 bis 1964 trotz primitivster hygienischer Verhältnisse nie eine solche Brustentzündung (Mastitis puerperalis) gesehen zu haben. Es wurde auch die Zufütterung von Kokosmilch und Yamsbrei beobachtet; inwieweit dies eine Anpassung an Flaschenernährung der westlichen Zivilisation darstellt, ist nicht bekannt.

Künstliche Babynahrung, Flaschen und Sauger kann man in Papua Neuguinea nur auf ärztliches Rezept bekommen – Entwicklungen wie in afrikanischen Ländern, in welchen massiv für industriell gefertigte Nahrung geworben wird und unzählige Flaschenkinder z.B. an Infektionen durch verunreinigtes Wasser sterben, traten hier nicht ein. Eine gezielte Untersuchung des Stillverhaltens, bei welcher vier Trobriandersäuglinge 856 Minuten lang beobachtet wurden, ergaben, dass die Länge des Stillvorgangs vom Säugling selbst bestimmt wird, nur selten unterbricht die Mutter den Stillvorgang, indem sie die Brust entzieht. Die Untersuchung zeigte als weiteres Ergebnis unter anderem auch eine auffällige Häufigkeit von sehr vielen kurzen Stillepisoden, die oft nur eine bis drei Minuten andauerten. Diese vom Kind ausgehenden häufigen, kurzdauernden Brustkontakte weichen sehr von der in unserer Kultur herrschenden Vorstellung ab, das Kind müsse einen „festen Rhythmus“ entwickeln und habe dann z.B. nur alle drei Stunden das Bedürfnis, gestillt zu werden.

Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 12.000 gab es 1964 60 nichteheliche Kinder. Diese werden bei den Trobriandern von den Verwandten der Mutter adoptiert, da laut deren Ansicht keines der Glieder der Einheit Mann-Frau-Kind fehlen darf.Wenn ein Säugling stirbt, muss der Ehemann an die Familie der Frau Ausgleichszahlungen in Form von Tausch- und Zeremonialgegenständen leisten. Die Frau wird von ihren Verwandten bestraft, es wird ihr vorgeworfen, sich nicht gut genug um das Kind gekümmert zu haben.

Säuglinge und Kleinkinder

Eine Professorin der Forschungsgruppe hatte den Auftrag, für ein Biokommunikations-Projekt schreiende Trobriandersäuglinge aufzunehmen. Sie reiste mit leeren Tonbändern zurück nach Deutschland – es gab keine Gelegenheit zur Aufnahme, denn selbst wenn ein Trobrianderkind weint, was nicht häufig vorkommt, wird es sofort getröstet. Bei den oben erwähnten Forschungsarbeiten galt der frühen Kindheit besonderes Interesse. Das beobachtete Verhalten wurde von den Forschern schriftlich aufgezeichnet oder per Tonband, Film oder Video dokumentiert. Weitere Daten wurden durch gezielte Befragung gewonnen.

Die Säuglinge werden am Körper getragen. Wenn sie abgelegt werden, ist stets eine Kontaktperson dabei, die für das Kind da ist. So spielen, während die Mütter die schwere Gartenarbeit verrichten, Väter oder Geschwister mit dem Kind.
Größere Babies krabbeln zwischen den Erwachsenen und anderen Kindern herum, sie sind nie von sozialen Ereignissen ausgeschlossen und werden jederzeit hochgenommen, wenn sie es wollen. Auf jedes Bedürfnis wird sofort eingegangen, die Kinder bestimmen selbst, wann sie gestillt werden wollen.

Im Gegensatz zur in unserer Kultur weit verbreiteten Auffassung, man solle Kinder nicht „verwöhnen“ sondern früh zur Unabhängigkeit erziehen, führt die Behandlung der Kinder bei den Trobriandern „nicht etwa zu quengeligen, verwöhnten Tyrannen, sondern zu früh autonomen, hilfsbereiten Kindern, die auch physisch beeindruckend gesund sind“ (Zimmer, 1992, S.39). Bereits im Alter von drei Jahren helfen die Kinder im Garten, im Haushalt und beim Fischen. Es bleibt ihnen dennoch viel Zeit zum Spielen.

Verhaltensweisen wie Daumenlutschen und die Verwendung sogenannter „Mutterersatz-“ oder „Übergangsobjekte“ wie Schmusedecken etc. sind bei den Trobriandern unbekannt. Die Forschungsgruppe setzte zur Verhaltensbeobachtung auch Aktometer ein, am Arm befestigte Messgeräte, die die Bewegungen von Mutter und Kind rund um die Uhr aufzeichneten. Besonders bei jungen Säuglingen und deren Müttern zeigte sich ein hohes Maß an Synchronisation der motorischen Aktivität: Es ergaben sich tagsüber wie nachts fast identische Kurven für Mutter und Kind, woraus gefolgert werden kann, dass jede Bewegung des Kindes von der Mutter sofort beantwortet wird.

So wird das neben der Mutter liegende Kind auch nachts sofort gestillt, unmittelbar nach dem Stillen schläft die Mutter weiter, während der Vater gar nicht erst aufwacht. Wenn das Kind älter ist, wird auch die Mutter nicht mehr wach, weil es sich die Brust selbst nimmt.Da sich das Verhalten gegenüber Säuglingen bei den Trobriandern mit nahezu allen traditionell lebenden Naturvölkern deckt, kann man davon ausgehen, dass es sich hierbei um angeborene Verhaltensweisen handelt.

Die Grundbedürfnisse der Kinder in unserer Kultur unterscheiden sich von denen der Trobriander nicht, auch wenn ihrer Erfüllung unter anderem die hier vorherrschenden Erziehungsauffassungen im Wege stehen. Zudem sind in unserer Kultur die Möglichkeiten, Bedürfnisse der Säuglinge zu „erfühlen“ stark eingeschränkt, da die Kinder die meiste Zeit des Tages von ihren Bezugspersonen körperlich getrennt sind, z.B. in einer Babywippe, und die meisten Kinder nachts in einem Kinderbett schlafen. Die angeborenen Grundbedürfnisse und die Frustration der Säuglinge in unserer Kultur, auf die die Forscher in diesem Zusammenhang hinweisen, wurden bereits in den siebziger Jahren von der Autorin J. Liedloff in „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ thematisiert, die bei den Yequana-Indianern viele Erfahrungen machte, die sich mit den Beobachtungen bei den Trobriandern decken.

Erziehung

Den Kindern wird viel Toleranz entgegengebracht, es wurde von den Forschern nie beobachtet, dass ein Kind geschlagen wurde. Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie fröhlich und frei von Aggressionen die Kinder sind. Das Lernen erfolgt sehr früh durch Umweltreize, die das Kind dadurch, dass es immer unter Menschen ist, ständig erfährt. Es lernt durch Nachahmung der anderen und übernimmt zunehmend eigene Aufgaben.

Die Kinder erlangen früh Selbstsicherheit, sie werden von den Erwachsenen nicht daran gehindert, mit gefährlichen Gegenständen wie z.B. Messern zu spielen. Da die Bindung zwischen Mutter und Kind sehr eng ist und das Kind selbst bestimmen kann, wann es sich von der Mutter entfernt, wobei es den Kontakt jederzeit wieder aufnehmen kann, leiden die Kinder nicht unter Verlustängsten und werden schneller selbständig als hierzulande.

Nach Abschluss des Stillens mit zwei bis drei Jahren schließt sich das Kind einer Spielgruppe an. Dies ist nicht mit unseren Kindergärten und Krippen vergleichbar: Es sind keine „Erzieherinnen“ zugegen und die Altersschichtung ist inhomogen. Durch das Spielen mit Kindern unterschiedlichen Alters haben die kleineren Kinder die Möglichkeit, von den größeren zu lernen.

Die Kinder werden nicht dazu angehalten, zu bestimmten Uhrzeiten zu schlafen, sondern schlafen ein, wenn sie müde sind. Das Schlafen beinhaltet für die Kinder nicht wie hierzu lande eine Trennungssituation, da hierfür bei den Trobriandern keine separaten Zimmer vorhanden sind.

Die Beschreibungen des Erziehungsstils sind nicht einheitlich: Es wird wiederholt geschildert, dass die Kinder bei den Trobriandern in absoluter Freiheit aufwachsen. Neuere Beobachtungen zeigten einen zunächst permissiven Erziehungsstil, der mit zunehmendem Alter des Kindes leitender und restriktiver wird. Die Solidarität innerhalb der Kindergruppe ermöglicht den Kindern allerdings, sich im Falle eines Verbots gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen.

Jugendliche

Bei den Trobriandern tritt kein Generationskonflikt auf, die Jugendlichen sind stolz auf die Traditionen ihrer Vorfahren. Die in der Kindheit geschaffene gute Bindung erlaubt den Jugendlichen, die Verhaltensregeln der Gruppe, in der sie leben, zu übernehmen. Die Übernahme vorgegebener Strukturen scheint ein starkes Grundbedürfnis zu sein, was sich bei unseren Jugendlichen z.B. in der Nachahmung von Idolen zeigt.

Es ist üblich, dass die Jugendlichen die Hütte ihrer Eltern früh verlassen, die Jungen ziehen in das Junggesellenhaus „bukumatula“, die Mädchen zu einer ihrer Tanten. Die Jugendlichen beginnen nun, die Gesellschaft des anderen Geschlechts zu suchen und sind bis zu ihrer Heirat völlig ungebunden. Schon bei ca. 15-jährigen Jugendlichen wird die Sexualität aktiv gefördert, indem ihnen die Eltern ein Junggesellenhaus errichten, in welchem sie ungestört sexuelle Erfahrungen sammeln können.

Reich hatte die Bedeutung dieser bejahenden Haltung gegenüber der Sexualität, die sich in dieser Unterstützung zeigt, besonders im Hinblick auf die Entwicklung sexuell nicht blockierter Charaktere hervorgehoben. Es besteht heute vielfach die Auffassung, die Jugendlichen hätten auch in unserer Gesellschaft inzwischen keine Probleme mehr in diesem Bereich. Die tägliche Flut an Anrufen und Briefen in der Redaktion einer Jugendzeitschrift, in welcher ich eine Zeitlang tätig war, offenbarte jedoch massive Schwierigkeiten.

Eine andere weit verbreitete Auffassung ist, ohne sexuelle Verbote nehme die Promiskuität zu und ein zügelloses Chaos könne entstehen. Dies tritt jedoch bei den Trobriandern nicht ein: Im Bukumatula finden keine Orgien statt, es wird von jedem erwartet, dass andere anwesende Paare nicht beobachtet oder gestört werden. Wenn die Jugendlichen genügend Erfahrungen mit verschiedenen Partnern gesammelt haben, heiraten sie und haben – bis auf Ausnahmen, z.B. innerhalb bestimmter Rituale – nur mit ihrem Ehepartner Geschlechtsverkehr.

Sexualität

Als Psychoanalytiker interessierte sich Reich dafür, woran es lag, dass ein Teil der Patienten nach Abschluss der Therapie geheilt war, während ein anderer Teil wieder in die Neurose zurückfiel. Er machte die Beobachtung, dass die von Neurosen befreiten Patienten sich von der anderen Gruppe dadurch unterschieden, dass sie ein befriedigendes Sexualleben führen konnten. Ausgehend davon erforschte Reich die Bedeutung der Sexualität für die psychische Gesundheit. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass es zum Verständnis der Bedeutung der Sexualität im Reichschen Werk notwendig ist, seine Originalschriften zu lesen, da der Begriff „sexuelle Freiheit“ meistens missverstanden wird.

Häufig wird zum Beispiel geäußert, Reich habe ja zu seiner Zeit recht gehabt, aber heute wäre die Sexualität doch kein Problem mehr, im Gegenteil, man brauche sich doch nur umzusehen, überall seien nackte Frauen abgebildet und die Leute würden grenzenlos ihre Sexualität in allen Varianten ausleben. Gerade die Erscheinungen, die in dieser Argumentation als Beispiel für „sexuelle Freiheit“ genannt werden, wurden von Reich als Kompensation einer nicht wirklichen genitalen Befriedigung betrachtet, welche aus der Sexualunterdrückung resultiert. Dass es auch schon zu Reichs Lebzeiten sowohl Pornographie als auch Menschen gab, die sich „auslebten“, lässt sich unschwer nachweisen, zumal dies in Reichs Werken beschrieben und heftig kritisiert (!) wurde.

Reich stellte die These auf, dass ein Mensch, der in seiner Kindheit nicht der sexualfeindlichen Haltung unserer Gesellschaft ausgesetzt ist und dadurch seine sexuelle Erlebnisfähigkeit beibehalten kann, in der Lage ist, gemeinsam mit dem Partner vollständige sexuelle Befriedigung zu erlangen und kein Bedürfnis nach sexuellen Perversionen und Draufgängertum entwickelt. Auch die Überbesetzung des Inzestwunsches entstehe in unserer Kultur erst durch die allgemeine Triebeinschränkung.

So erzeuge ein Wegfall der moralischen Hemmung die sexual ökonomische Regulierung des Liebeslebens, während Sexualmoralismus das Gegenteil zur Folge habe. Durch eine Erhöhung der Bedürfnisspannung, wenig äußere Befriedigungsmöglichkeit und vor allem wenig innere Befriedigungsfähigkeit sei die sexuelle Lüsternheit und Unersättlichkeit typisch für Neurotiker unserer Gesellschaft, auch Promiskuität und Untreue sind hier häufiger als bei den Trobriandern.

Die Entwicklung der eigenen Sexualität beginnt bei den Trobriandern bereits im Kindesalter in Form von Erkundung der eigenen Geschlechtsteile und sexuellen Spielen mit anderen Kindern, woran sie von Erwachsenen nicht gehindert werden. Auch die Jugendlichen erfahren keine sexuellen Einschränkungen. Auch heute noch darf ein Mädchen bis zu ihrer Heirat jeden Mann lieben, anschließend nur noch den Ehepartner. Eine Ausnahme bildet das Erntefest; in dieser Zeit ist der Frau wieder erlaubt, jeden Mann zu lieben.

Die jüngere Forschung findet also noch die gleichen sexuellen Verhaltensweisen vor, wie sie schon von Malinowski beschrieben wurden, allerdings mit der Einschränkung, dass die Altersangaben Malinowskis inzwischen bezweifelt werden, da die Jugendlichen in dieser Region langsamer wachsen und damit etwas jünger wirken. Das Verlassen des Elternhauses und die Aufnahme sexueller Beziehungen findet somit mit 15 oder 16 Jahren statt und nicht mit, wie früher angenommen, 12 Jahren.

Außerdem wird heute kritisiert, Malinowski habe behauptet, bei den vorehelichen Liebesbeziehungen trete keine Eifersucht auf (Schiefenhövel,1996, vgl. Schlesier,1979). Tatsächlich berichtet Malinowski jedoch eingehend über das Problem der Eifersucht bei den Trobriandern (Malinowski, 1987, S.271-273).

Während es in manchen Gebieten Neuguineas ritualisierte Formen homosexueller Beziehungen mit Jugendlichen gibt, ist diese Erscheinung bei den Trobriandern unbekannt. Es finden bei den Trobriandern auch keine sexuellen Übergriffe Erwachsener gegenüber Kindern statt.

„Whereas it is not uncommon that New Guinean mothers fondle the genitals of their infants, possibly causing an erection, and make humorous remarks about children’s genitals, in none of the various Papuan and Austronesian groups with which the author has lived in the course of the past 24 years has he ever seen any sign or heard of adults engaging in sexual intercourse with children.“ (Schiefenhövel, 1990, S.407)

Der bekannte Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt beschreibt angeborene Schutzmechanismen, welche derartige Übergriffe verhindern: Der sogenannte „Westermarck-Effekt“ bedeutet, dass eine erotische Bindung des Kindes an seine Bezugspersonen aus frühester Kindheit verhindert wird; der „Coolidge-Effekt“ beinhaltet ein mangelndes sexuelles Interesse der Eltern am Kind, das sie täglich versorgen. Eingeschränkte Wirksamkeit dieser biologischen Mechanismen in unserer Kultur, in welcher größere Distanz zwischen Eltern und Kind besteht, kann als zusätzliche Erklärung neben der W. Reichs für das Auftreten sexueller Gewalt gegenüber Kindern, besonders durch Stiefväter, gelten.

Anlässlich der Menarche (Eintritt der ersten Regelblutung eines Mädchens) findet bei den Trobriandern keine besondere Zeremonie statt, die erste Regelblutung scheint als natürlicher Vorgang angesehen zu werden, dem keine besondere Beachtung geschenkt wird.

Post-partum-Koitustabu: Nach der Geburt dürfen die Eheleute ungefähr ein Jahr lang keinen Geschlechtsverkehr haben, in manchen Gegenden gilt das Tabu während der gesamten Stillzeit. Den Ehemännern sind bei den Trobriandern in dieser Zeit Affären mit anderen Frauen gestattet. In einem Interview, das der Humanethologe und Ethnomediziner Wulf Schiefenhövel 1979 auf der Trobriand-Insel Kiriwina durchführte (Schiefenhövel, 1983), deckte nach Meinung der Befragten die Sorge um den Säugling mit nahezu ständigem Hautkontakt so viel an Bedürfnissen ab, dass man den Frauen das Verkraften der sexuellen Abstinenz zutraute.

In anderen Kulturen leben in der Zeit des Tabus auch die Ehemänner abstinent. Bei den Me’udana in Südost-Neuguinea wird zum Beispiel angenommen, es schade dem Kind, wenn die Eltern während der Stillperiode Geschlechtsverkehr hätten. Nach etwa zwei Jahren, wenn das Kind laufen und etwas sprechen kann und sich gut entwickelt hat, meint man, es habe genug Muttermilch erhalten. Nach der Entwöhnung nehmen die Eltern den Geschlechtsverkehr wieder auf.
Problematisch ist der Einfluss der Missionare, die das Tabu des Geschlechtsverkehrs während der bis zu drei Jahren andauernden Stillzeit als Aberglaube abtun, da dadurch ein wesentlicher Teil der natürlichen Geburtenkontrolle verlorengeht.

Im Rahmen der Aktometermessungen wurde bei einem Ehepaar beobachtet, dass das Post-partum-Koitusverbot nicht mehr beachtet wurde; ob dies inzwischen in zunehmendem Maße der Fall ist oder eine Ausnahme darstellt, ist unbekannt.

Die Trobriander wissen über die physiologischen Vorgänge der Zeugung Bescheid, die magischen Vorstellungen über Entstehung der Kinder, die bei Malinowski beschrieben sind, werden von der jüngeren Generation belächelt. Es ist naheliegend, dass der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft auch in Gesellschaften bekannt ist, bei welchen zusätzlich magische Vorstellungen existieren, was sich gegenseitig nicht ausschließen muss. Schließlich wird die Frage, wie Leben entsteht, auch durch eine rein aus dem naturwissenschaftlichen Weltbild stammende Denkweise nicht erklärt.

Malinowski hatte berichtet, er könne ein Wissen über Verhütungsmethoden bei den Trobriandern mit Sicherheit aus schließen. Im Jahre 1962 wurden 500 Personen auf Kiriwina für eine Erhebung in Bezug auf die Häufigkeit von Krebserkrankungen untersucht, wobei bei zahlreichen Frauen im Zervixkanal Gebilde aus zusammengerollten Blättern gefunden wurden, die – was auf Befragen bestätigt wurde – der Schwangerschaftsverhütung dienen sollten. Auch Pflanzenextrakte zum gleichen Zweck sind bekannt, z.B. soll das Trinken von drei Tassen Hemigraphisblätterextrakt das Entstehen einer Schwangerschaft für die Dauer eines Jahres verhindern.

Krankheiten

Die obengenannte Untersuchung bei den Trobriandern ergab u.a. ein selteneres Auftreten von Gebärmutterhalskrebs als in Europa. Interessanterweise wird laut hiesiger Lehrmeinung häufiger Geschlechtsverkehr als Risikofaktor für diese Erkrankung betrachtet.

Syphilis wurde dort nie vorgefunden, Eierstockentzündung und Myome traten extrem selten auf. „Zivilisationskrankheiten“ wie Bluthochdruck, Herzinfarkt u.a. sind bei den Trobriandern nicht bekannt.
Ein weltweit verbreitetes Problem, das auch bei den Trobriandern häufig auftritt, ist der Wurmbefall.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten der von Malinowski beschriebenen lustbejahenden Elemente in der Lebensweise der Trobriander, auf die sich Wilhelm Reich bezieht, noch heute existieren.

Wie lange sich diese Elemente angesichts des zunehmenden Einflusses der Kapitalwirtschaft und der damit verbundenen Umstrukturierung halten können, ist ungewiss. Es stellt sich die Frage, inwieweit wir zum Erhalt solcher Kulturen beitragen können. Kritisches Konsumverhalten stellt hierbei einen wesentlichen Faktor dar. Dies schließt auch ein, die Umstände in unserer eigenen Kultur lebensfreundlicher zu gestalten, statt den Tourismus in „ursprünglichere Gegenden“, wo diese Lebensweise noch erhalten ist, zu unterstützen.

Literaturangaben:
Eibl-Eibesfeldt, I.: Sexual Pathologies from the Perspective of Ethology. In: Pedophilia, Hrsg. J.R. Feierman. New York: Springer, 1990
GEO, 11/93, Hamburg: Gruner & Jahr, 1993
Gottschalk-Batschkus, C. und Schuler, J. (Hrsg.): Ethnomedizinische Perspektiven zur frühen Kindheit. Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, 1996
Jüptner, H.: Geburtshilflich-gynäkologische Beobachtungen bei den Trobriandern. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn,1983. S. 137-141
Klaus, MH und Kennell, JH: Mutter-Kind-Bindung. München: dtv, 1987
Malinowski, B.: Korallengärten und ihre Magie: Bodenbestellung und bäuerl. Riten auf den Trobriand-Inseln. Frankfurt am Main: Syndikat, 1981
Malinowski, B.: The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia. Boston: Beacon Press, 1987
Reich, W.: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Hamburg: Fischer Taschenbuch Verlag, 1975
Reich, W.: Die Funktion des Orgasmus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1969
Schiefenhövel, W.: Weitere Informationen zur Geburt auf den Trobriand-Inseln. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn,1983. S.143-150
Schiefenhövel, W. u.a.: Im Spiegel der Anderen. München: Realis Verlags-GmbH, 1993
Schiefenhövel, W.: Ritualized Adult-Male/Adolescent-Male Sexual Behavior in Melanesia: An Anthropological and Ethologocal Perspective. In: Pedophilia, Hrsg. J.R. Feierman. New York: Springer, 1990
Schlesier, E.: Me’udana (Südost-Neuguinea). Die Empfängnistheorie und ihre Auswirkungen. In: Curare Sonderband 1/83. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn,1983. S. 151-158
Sharaf, M.: Fury on Earth. New York: St. Martin’s Press, 1983
Zimmer, K.: Gute Bindungen machen selbständig. In: Die Zeit, 25.9.1992, S.39

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    Bukumatula 2/1998

    Die Angst des Herausgebers vor dem Redaktionsschluss

    Charlotte Schirrmacher und Martin Hasenschwandtner im Gespräch mit Wolfram Ratz:

    Wie ist es zur Entstehung von „Bukumatula“ gekommen?

    Für mich persönlich gibt es dazu eine Vorgeschichte. In der Zeitschrift „Falter“ habe ich einmal ein Interview mit einem französischen Autor gelesen, der behauptete, dass er nie in eine Buchhandlung gehe, um sich ein Buch zu kaufen. Das hat mich erstaunt. Und auf die Frage, wie er das meint, sagte er: „Wenn ich eines lesen will, schreibe ich mir selber eines.“ Das hat mich damals sehr beeindruckt und mich auf die Idee gebracht – ich habe ja immer schon gerne geschrieben, mir eine eigene Zeitung zu machen.

    Das entstand aus Deinem Wunsch heraus, schriftstellerisch tätig zu werden. Oder hast Du vielleicht den geheimen Wunsch gehabt, dass sich Dein Haus in der Simmeringer Hauptstraße zu einem „Bukumatula“ entwickeln könnte?

    Also, an letzteres habe ich noch gar nicht gedacht, aber das ist ein schöner Gedanke.- Zur „Übung“ habe ich ja schon vorher eine Zeitschrift herausgegeben. Die hieß „Gustl“ und war eine Leserzeitschrift. Die Herstellung damals war unvorstellbar mühsam. Die Texte entstanden auf einer mechanischen Schreibmaschine. Bei Korrekturen musste ich entweder Zeilen neu schreiben und die alten überkleben, oder ganze Seiten neu schreiben. Das wurde mir bald zu blöd. Ich kaufte mir einen „Videowriter“. Das war in der EDV-Steinzeit eine großartige Errungenschaft. Erstmals konnte ich problemlos Korrekturen anbringen und Geschriebenes auf Disketten speichern.

    Und wie kommt jetzt der „Gustl“ auf die Trobriander-Inseln?

    Aufgrund zunehmender Informationen über nationale und internationale Reich-Aktivitäten hat es sich ergeben – 1987 war ja auch ein Reich-Gedenkjahr, dass in mir die Idee einer Zeitschrift entstand. Anlässlich einer Vorstandssitzung bei Monika Gürtler, bei der jahrelang das WRI-Zuhause war, wurde im Frühjahr 1987 beschlossen: Ja, gut, wir machen eine Zeitschrift und wir schauen, wie gut es uns damit geht. Ich fühlte mich als Vater, Beatrix Wirth fungierte als Mutter und der damalige WRI-Vorstand übernahm die Hebammenrolle Es war eine „Sanfte Geburt“ im Familienkreis, ganz im Sinne von Eva Reich.- Nach einem bereits abgeschlossenen „Brainstorming“ bezüglich der Namensgebung hatte Alfred Preindl die Idee, die Zeitschrift „Bukumatula“ zu nennen. Er bezog sich dabei auf das Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“, in dem Reich seine Ideen zu einer gelungenen Sozialität – anhand der Forschungen Malinowskis auf den Trobriander-Inseln, darstellte.

    Das war also die Geburt …

    Ja, wir hatten einen Namen, die grafischen Gestaltung übernahm Beate Rümmele – und ab ging die Post. Das klingt jetzt einfacher als es war, aber Ende April 1988 erschien die erste Ausgabe. Ich machte mit der Journalistin Nadine Hauer, die die Ö1-Sendung in Radio Diagonal „Zur Person Wilhelm Reichs“ mitgestaltete, ein Interview.

    Und an wen wurde Bukumatula verschickt?

    An die Mitglieder unseres Instituts und an Leute, die an den Arbeiten Reichs interessiert waren. Wir hatten ja von vor angegangenen Veranstaltungen her eine relativ umfangreiche Adressenliste. Die erste Ausgabe haben wir allen zugeschickt; der Rücklauf in Form von Abo-Einzahlungen war ermutigend. Nach dem zweiten Jahr blieb die Auflagenhöhe von 250 Exemplaren bis heute ziemlich konstant. Das ist keine sehr hohe Auflage, aber es ist eben eine Zeitung „von Spezialisten für Spezialisten“. Der Arbeitsaufwand zur Herstellung bleibt der gleiche, ob jetzt einhundert oder eintausend Exemplare gedruckt werden. Es ist ja so, dass uns finanziell äußerst enge Grenzen gesetzt sind. Die Zeitschrift muss sich selbst erhalten. Alles ist sozusagen im „Kleinformat“ – ich meine das von meiner Zeit her, die ich dafür einbringen kann, von den technischen Herstellungsmöglichkeiten her, etc.- Bukumatula ist jedenfalls seit zehn Jahren regelmäßig und zeitgerecht alle zwei Monate erschienen, was doch einiges an Disziplin erfordert. Ich fühle mich den Lesern verpflichtet, dass sie ein möglichst gutes Produkt und das möglichst zeitgerecht bekommen.

    Wenn Bukumatula so „diszipliniert“ erscheint, dann hast Du auch zeitlich …

    … ja, auf die Erscheinungstermine Rücksicht zu nehmen. Ich habe sozusagen meinen Jahresplan darauf eingestellt, also, wann kann ich auf Urlaub gehen, etc.

    Bukumatula war gedacht als Forum, wo man diskutieren kann, wo man Ideen einbringen kann, wo man sich „versuchen“ kann?

    Ja, das war schon so gedacht, aber von sich aus bietet niemand Artikel an. Außer ein paar Leserbriefen kommt so gut wie nichts. Es war immer mein Bestreben, bislang noch un-veröffentlichte Artikel zu bekommen. Dafür muss man schon einigermaßen aktiv sein, muss Kontakte pflegen, Autoren streicheln, etc. Wir können keine Honorare zahlen und damit die Schreibenden bezüglich Abgabetermin, etc. unter Druck setzen. Das ist manchmal ziemlich mühsam. In der Praxis schaut das dann – günstigstenfalls – so aus, dass ich einen Artikel in „Reserve“ habe. Für die nächste Ausgabe hat mir z.B. Will Davis einen Beitrag über den schizoiden Charakter geschickt; da wartet noch eine sportliche Herausforderung in Form einer Übersetzung auf mich – und auf Regina Hochmaier, die mir in diesem Fall behilflich ist.

    Schreibst Du auch selber Artikel?

    Ich bin der „Artikeljäger“, und wenn es keinen gibt, dann schreibe ich manchmal selber einen oder mache Interviews. Das spreche ich aber immer mit Beatrix Wirth, unserer Obfrau, ab, die mir dabei sehr hilfreich und engagiert zur Seite steht. Sie weiß viel und kann auch gut schreiben. Auch Heiko Lassek in Berlin hat mir schon öfters entweder eigene Beiträge geschickt oder mir Informationen über infragekommende Autoren bzw. Artikel gegeben. Mein Wunsch ist, ein paar Leute mehr zu haben, die das ganze tragen, ein „fesches“ Redaktionsteam sozusagen. Vielleicht gibt es auch aus dem Leserkreis Interessenten, die mitmachen möchten. Das würde mich sehr freuen.

    Bekommst Du über Artikel auch Impulse für Deine eigene Arbeit als Therapeut?

    Schon, aber die Impulse gehen oft in der redaktionellen Arbeit unter. Meine Hauptaufgabe ist inhaltlich die des Redigierens und handwerklich die der technischen Herstellung, also des Umbrechens, etc. Mein Wunsch ist ein „Gesamtkunstwerk“, sozusagen in jeder Ausgabe einen Bogen von A-Z herzustellen, insbesondere was die Lesbarkeit betrifft. Was ich selbst nicht verstehe, möchte ich auch niemandem anderen zumuten. Und ich habe mich auch schon daran gewöhnt, nicht mehr verbittert zu sein, wenn ich eine fertiggedruckte Ausgabe durchlese und einen Fehler nach dem anderen darin finde.

    Bist Du derjenige, auf den die anderen „setzen“?

    Als geschäftsführender Sekretär sehe ich die Herausgabe von Bukumatula als einen Teil meines Arbeitsauftrages. Manchmal bin ich Autor, immer aber Layouter, Lektor, Redakteur, Herausgeber, etc. – also viel mehr als ich mir das in meiner „Gustl-Zeit“ je erträumt hätte. Der Arbeitsaufwand ist groß, und ich verbringe viele und oft sehr einsame Stunden vor meinem PC.- Vor ein paar Jahren – ich fühlte mich einigermaßen erschöpft – erschienen zwei Ausgaben über Makrobiotik, die von Brigitta Bolen, Bernhard Hubacek und Beatrix Wirth gestaltet wurden.- Da könnte man natürlich sagen, das hat mit Wilhelm Reich nichts zu tun. Vom Energetischen her hat es aber sehr wohl mit den Ideen Reichs zu tun. Es gab einige beißende Leserbriefe, aber ich habe mich über das Engagement der Gestalter sehr gefreut. Und von einer Leserin hörte ich im persönlichen Gespräch, dass sie aufgrund dieser Artikel ihre Ernährungsweise umgestellt hat. Wenn ein Artikel auch nur bei einem Leser oder bei einer Leserin eine Wandlung zum Positiven bewirkt, dann freut mich das schon sehr. Ich habe dann eh‘ wieder weitergemacht

    Gibt es die Möglichkeit, dass Leute, die in Therapie sind, auch zu Wort kommen können?

    Ja, da gab es zum Beispiel einen Beitrag einer Klientin von mir. Sie hat ihre Erfahrungen niedergeschrieben und für die Veröffentlichung die Bedingung gestellt, dass ich dazu Stellung nehme. Ich habe sie sehr geschätzt und habe das gerne gemacht. Es wurde auch ein sehr berührender Artikel („Die ersten zehntausend Sitzungen sind die härtesten“, Anm.d.Hsg.).- Ich mag den Begriff „Fallstudie“ nicht, aber man kann dabei sehr teilhaben an den Schicksalen anderer Menschen, weil die angesprochenen Themen ja jeden in irgendeiner Form berühren. Es gibt so viele interessante Menschen, die sehr viel wissen, dieses Wissen aber nicht in eine Schriftform bringen können oder wollen. Das ist schade. Ich denke da zum Beispiel auch an Michael Smith

    Was sind die formalen Kriterien für die Veröffentlichung eines Beitrages?

    Es muss in irgendeiner Form mit Wilhelm Reich zu tun haben, mit seinem Leben, mit seiner Arbeit …

    Ich meine vom Schriftstellerischen her, von der Sprache her …

    Eigentlich keine. Das diskutiere bzw. verhandle ich immer mit den jeweiligen Autoren aus. Das ist oft beschwerlich, aber da konnte immer eine Lösung gefunden werden. Einmal habe ich einen Beitrag von Beatrix Wirth – es war eine Buchbesprechung (Loil Neidhöfer: „Intuitive Körperarbeit“; Anm.d.Hsg.) – flugs und launisch nach meinem Fürguthalten – und ohne Absprache mit ihr – verändert. Das hat sie sehr geärgert. Ich bin da sehr vorsichtig geworden. Es gibt Artikel, die ich auf Diskette bekomme und nur zu umbrechen brauche – etwa der von Susanne Wittman in der letzten Ausgabe – das sind Glücksfälle. Normalerweise bekomme ich Manuskripte, die einiges an Bearbeitung bedürfen. Dann kommt es zu mühsamen Rückrufen, auch ins Ausland, was sowohl zeitlich als auch finanziell ziemlich aufwendig werden kann.

    Ich wollte gerade fragen, ob der Name für Dich überhaupt noch passt

    Du meinst Bukumatula?- Das ist ein Haus der Lebensfreude, oder sollte es zumindest sein …

    So gesehen könnte man über alles schreiben, was Freude macht.

    Ja, Reich hat sich ja mit sehr vielen Themen beschäftigt. Von der Psychoanalyse zur Wetterkunde, von den „Kindern der Zukunft“ bis zu den UFOs. Das ist natürlich für die Herausgabe einer Zeitschrift ein dankbarer Boden. Da passt der Otto Mühl genauso hinein wie der El Nino, die Marcovich oder der Krenn.

    Eigentlich habe ich gemeint, ob das „Bukumatula“ auch ein bukumatula für Dich ist …

    Naja, es gibt einen großen „unsichtbaren“ Teil meiner Arbeit, das Redigieren zum Beispiel. Das ist sehr zeitaufwendig. Wie ich dabei weiterkomme hängt auch von meiner jeweiligen „Tagesform“ ab. Da muss ich dann manchmal schon sehr mit meiner Motivation kämpfen. Peter Handke hat einmal das Schreiben mit der Tischlerarbeit des Hobelns verglichen, das hat mir sehr gefallen: Sätze müssen solange „gehobelt“ werden, bis ein „Feinschliff“ hergestellt ist. Ein von mir schön formulierter bzw. umformulierter Satz macht mir großes Vergnügen. Vor dem Erscheinen bin ich regelmäßig und ordentlich in Hektik, da erlebe ich sozusagen „die Angst des Herausgebers vor dem Redaktionstermin“. Es muss alles schnell, schnell gehen. Da noch ein Inserat hinein, dort einen Veranstaltungshinweis heraus. Irgendwann ist aber Schluss, obwohl es noch vieles zu verbessern gäbe. Und dann passiert es, dass am Samstag Nachmittag die Tintenpatrone leer wird, am Sonntag Vormittag keine Diskette zu finden ist und am Montag durch einen Systemfehler alle Korrekturen gelöscht werden. Oder in der Kopieranstalt: da ist auf einmal das Papier für den Umschlag nicht mehr vorrätig oder die Kopiermaschine außer Betrieb – oder es sind „Fenstertage“, die die Herstellungszeit unerträglich lang machen. Wenn ich aber den großen Billa-Sack voll „Bukumatulas“ zur Post bringe, geht es mir wieder gut. Dann überfällt mich eine feine „Entladung“ – nicht nur von der zu schleppenden Last her.

    Hast Du Wünsche für Dein „Kind“?

    Fast wollte ich sagen „dass es groß und stark wird“ …

    Aber das ist es doch …

    Ja, mit Liebe betreut ist „klein und zart“ auch „groß und stark“.

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    Bukumatula 2/1998

    Du liebes Bukumatula!

    Eine Liebeserklärung von Beatrix Teichmann-Wirth
    – 10 Jahre Bukumatula –

    Manche mögen meine libidinöse, zärtliche Verbindung zu Dir belächeln oder sogar abwerten. Und auch ich selbst zögerte, meine Zeilen anlässlich Deines Geburtstags derart direkt und unverschämt an Dich zu richten. Ist es nicht lächerlich, eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift dergestalt zu würdigen? Wäre es nicht angemessener, eine chronologische Abfolge der Ereignisse rund um „Bukumatula“ zu kommentieren? Oder den Stellenwert von Bukumatula in der körper(psycho)-therapeutischen Journal-Szene herauszuarbeiten?

    Nein. Mein Herz hängt an Dir und jedesmal, wenn das WRI-Gebäude einzustürzen droht, weiß ich wieder, wie sehr. So will ich es riskieren, diese meine Zuneigung zu veröffentlichen. Es ist eigenartig. So deutlich spürbar meine Beziehung zu Dir ist, so groß sind die Schwierigkeiten, Dich auf Nachfrage hin zu definieren. Dies fängt schon beim Namen an. Wie spricht man diesen eigentlich aus? Bukumatula, wie ich es tue, oder Bukumatula?

    Möge die Frage der Betonung und die damit verbundene Scheu der Aussprache kein Hemmschuh dafür sein, dass es sich herumspricht, dass es Dich gibt. Auch die Bedeutung des Namens dürfte nicht zum Allgemeinwissen selbst Reich-belesener Personen zählen. Er ist uns zugefallen, eines WRI-Vorstandsabends, als wir schon eine Vielzahl von klugen und bedeutsamen Namen aus unseren Köpfen gezwungen hatten.

    Dann, als schon die ersten Ermüdungserscheinungen und wohl auch die Wirkung des Rotweins spürbar waren, wurde Dein Name erstmals ausgesprochen, von Alfred Preindl, der aus diesem Grund wohl geschichtliche Bedeutung erlangt hat. Ich kann mich gut erinnern. Natürlich gab es Einwände (die Aussprache und die umgangssprachliche Bedeutungslosigkeit), aber die Begeisterung war dennoch unmittelbar erlebbar und setzte sich durch.
    Gut so, wie ich meine.

    Drückt die Wahl eines derart ungewöhnlichen Namens doch auch aus, was Du nicht bist: Zuallererst einordenbar.
    Als Zeitschrift für körper(psycho)therapeutische Themen, die Raum gibt für wissenschaftliche Reputationsbestrebungen.

    Als (politisches) Instrument im Kampf um die Anerkennung körpertherapeutischer Verfahren.
    Ich glaube, man macht auch nach zehnjährigem Erscheinen „keinen Staat“, wenn man in Dir etwas veröffentlicht hat. Vielmehr riskiert man wohl fragendes Kopfschütteln „in Bukumatula (wieder die Aussprachehemmschwelle), was ist das?“

    Und dennoch hast du einigen „Größen“ der Szene für ihre Gedanken Heimat gegeben. Will Davis mit seinen Beiträgen, die wirklich den Namen Originalia verdienen, sind sie doch ursprünglich, nicht bloß zusammenfassend, aus bereits Vorhandenem synthetisierend.

    Auch Heiko Lassek und Heike Buhl haben Dich mit ihren Beiträgen zur Energetischen Medizin bereichert. Und unser, letztes Jahr leider verstorbener Myron Sharaf, hat in Dir seinen analytischen Ansatz formuliert, was Anlass für körpertherapeutische Kontroversen war. Diese Kontroversen könnte man unter den Titel „Wer hat ein Anrecht auf das therapeutische Erbe Wilhelm Reichs?“ stellen.

    Du ertrugst dies alles mit Gleich-Mut ohne zu entscheiden, vielleicht mit der von Michael Smith benannten Haltung „Life ist bigger than you“. Auch Loil Neidhöfer, mit welchem uns über Jahre hinweg mehr verband als abgedruckte Zeilen, hat in besseren Zeiten noch aus Dir gesprochen. Damals, als er noch nicht über ein eigenes Schriftwerk verfügte, welches natürlich größer (was bei Deiner äußerlichen Kleinheit nicht schwer sein dürfte) und auch glänzender wurde. „Skan-Reader“ wird es genannt. Und eben in diesem Skan-Reader musste ich Beleidigendes über Dich lesen: Du wirst als „Periodikum mit kleinster Auslage“ herabgemindert.

    Das war nach der „Wende“ zwischen Loil und den Bukumatula-Bewohnern. Anlass war eine Veröffentlichung in Dir, wo Bernhard Hubacek über einen Artikel einen Konflikt mit Loil austrug. Uns – Wolfram Ratz, Renate Wieser und mir – war nicht wohl dabei. Und dennoch erschien uns die Strafe für die Veröffentlichung – der Kontaktabbruch von seiten Loils – zu hart.

    Es war sicher in Deinem ganzen Leben die aufregendste Zeit. Wir drei saßen stundenlang zusammen, entwarfen Herausgeberbriefe, nur um sie dann wieder in den Papierkorb zu werfen, versuchten Formulierungen und waren doch noch zu befangen und ängstlich, um wirklich in aller Freiheit dazu Stellung zu nehmen.

    Ja, Du bist klein, misst nur 15x21cm und birgst nicht mehr als 30 Seiten in Dir. Platz für einen Leit-Artikel.
    Ich finde das schön. Man sieht sich nicht einer Fülle von verschiedenen, zu erarbeitenden Inhalten gegenüber. Man muss Dich nicht mit Unterstreichstift lesen, Du eignest Dich für mich auch als Lektüre im Bett oder aufgrund Deiner Leichtigkeit und Handlichkeit als Wegbegleiter.

    Ich selbst – und dies fällt mir jetzt erst so deutlich auf – blieb Dir in all den Jahren treu. Nie ein Gedanke, meine Ideen in renommierteren und wohl populäreren Zeitschriften zu veröffentlichen. Ich finde in Dir einen weiten Raum, wo es Erlaubnis gibt. Erlaubnis, aus mir heraus zu schreiben, ohne sekundäre Motivationen. Wie die Paare im bukumatula der Trobriander, bin ich mit Dir eine dauerhafte Beziehung – die mit Wilhelm Reich – eingegangen.

    Es findet für mich eine „Befürsorgung“ meiner Art des Schreibens statt. So unbewusst die Namenswahl war, um so freudiger nehme ich nun wahr, wie passend Dein Name ist. Auch Du bist ein „Ledigenhaus“ für Personen, welche sich noch nicht einer Richtung verschrieben haben. Und wenn in der Beschreibung von „Bukumatula“ bei Reich zu lesen steht: „Es gilt als höchst ungehörig, ein anderes Paar beim Liebesspiel zu beobachten“, so trifft diese Regel – scheint mir – auch auf Dich zu.

    Soviel ich mich erinnere, hast Du niemals dafür herhalten müssen, dass das Liebesspiel anderer (mit welchem Therapieansatz sie liebäugeln und an welchen Formen des Liebesspiels sie sich erfreuen) kommentiert oder herabgewürdigt wurde, auf dass wir in Dir groß erscheinen.

    Und wie im bukumatula die Paare durch keinerlei Gesetz und Sitte miteinander verbunden sind, gibt es auch in Dir keine durch lebenslängliche Bande gebundenen Bewohner. Wer dazukommt, tut dies aus eigener Freiheit und Freude.
    Dass dies möglich ist, verdanken wir wohl zu allererst Wolfram. Er sorgt dafür, dass das Bukumatula-Haus steht.
    Wolfram ist auch für die Gestaltung Deiner Außenfassade verantwortlich.

    Du glänzt durch dezentes blassgrau, das Dir einen edlen, würdigen Anstrich gibt. Nichts Protziges haftet Dir an, das Namensschild wie im Vorübergehen an die Hauswand geschrieben. Kein ähnliches Haus hab‘ ich je gesehen. Du bist für mich attraktiv durch das Ungewöhnliche, das Schlichte. Ich frage mich, in welchem Verwandtschaftsverhältnis Wolfram wohl zu Dir steht.

    In den Herausgeberbriefen gebärdet er sich wie ein guter Onkel („Viel Spaß beim Lesen“). Verantwortlich für Dein Wohl und Gedeihen, fühlt er sich wie ein Vater. Und dennoch gibt es etwas Verschämtes in Wolframs Beziehung zu Dir. So als wärst Du einer großen, aber verborgenen, vielleicht heimlichen Liebe entsprungen. Ein Kind, für welches Wolfram zwar rührend und liebevoll sorgt, wo aber Vaterstolz nicht unverhohlen zutage treten darf.

    Ich selbst empfinde mich als Patentante von Dir – eine Art Luxusbeziehung – nehme Kontakt auf, wenn ich mich nach Dir sehne oder Du Unterstützung brauchst. Und ich begleite Dich mit den besten Wünschen.

    Da gibt es doch dieses Geburtstagslied „Hoch sollst Du leben!“- Also:

    Leben sollst Du bleiben, 3x so viel Leben.
    Zart sollst Du bleiben, 3x so zart.
    Kräftig sollst Du bleiben, 3x so kräftig.
    Vielseitig sollst Du bleiben, 3x so vielseitig.
    Kompromisslos sollst Du bleiben, 3x so kompromisslos.

    Und das wichtigste:

    Artikel-Kinder sollst Du kriegen, 3x so viele.

    Damit grüße ich Dich,
    liebes Bukumatula,
    von Herzen
    Deine Beatrix

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    Bukumatula 2/1998

    Bukumatula – Das Ledigenhaus

    Zitiert nach Bronislaw Malinowski und Wilhelm Reich
    Beatrix Teichmann-Wirth

    Brauch und Sitte dieses Stammes kommen diesem Bedürfnis (nach Sexualbejahung in der Jugend, Anmerkung von B.W.) entgegen und bieten Unterkunft und Abgeschlossenheit in Gestalt des bukumatula, des bereits erwähnten Ledigenhauses. Hier wohnen eine beschränkte Anzahl von Paaren, zwei, drei oder vier, auf längere oder kürzere Zeit in vorübergehender Gemeinschaft. Gelegentlich bietet das bukumatula auch jüngeren Paaren Obdach, wenn sie sich auf ein paar Stunden ungestört dem Liebensgenuss hingeben wollen…

    Augenblicklich gibt es fünf Junggesellenheime in Omarakana und vier im Nachbardorf Kasana`i. Ihre Zahl hat sich infolge des Einflusses der Missionare stark verringert. Aus Angst, der Missionar könne ihn durch Aussonderung bloßstellen, ihn verwarnen oder gegen ihn predigen, errichtet mancher Eigentümer eines bukumatula dieses jetzt im äußeren Ring, wo es weniger auffällig ist. Meine Gewährsleute haben mir erzählt, dass es noch vor zehn Jahren fünfzehn Ledigenhäuser in beiden Dörfern gab, und meine ältesten Bekannten erinnern sich der Zeit, da es etwa dreißig waren.

    Dieser Rückgang ist natürlich zum Teil in der ungeheuren Bevölkerungsabnahme begründet, und nur zum andern Teil in der Tatsache, dass heutzutage manche Junggesellen bei ihren Eltern wohnen, manche in Witwenhäusern und noch andere in Missionsstationen. Doch was auch der Grund sei – es braucht kaum gesagt zu werden, dass dieser Stand der Dinge wahre Geschlechtsmoral nicht fördert… Es ist mir erzählt worden dass zuweilen ein Mann für seine Tochter ein Haus als bukumatula gebaut habe, und dass in alten Zeiten auch Mädchen Ledigenhäuser zu besitzen und zu bewohnen pflegten; jedoch ist mir kein tatsächliches Beispiel dieser Art bekannt geworden.“ (Malinowski, zit. nach Reich, 1995)

    Die hier zusammengestellten Informationen beziehen sich auf die von Malinowski zwischen 1920-1930 bei den Trobriandern gemachten Forschungen. Dass der Rückgang weiter zunimmt ist zu befürchten, obwohl sie, wie Susanne Wittmann es in der letzten BUKUMATULA-Ausgabe beschrieben hat, weiterhin existieren.

    Das Bukumatula steht jenen Jugendlichen zur Verfügung, die nach einer Zeit der heimlicheren und weniger bindenden Zusammenkünfte regelmäßig als Paar zusammenkommen und „das Lager Nacht für Nacht teilen“. Diese dienen, wie Reich es trefflich nennt, der „Befürsorgung für die sexuellen Umarmung“, welche bei den Trobriandern über das bloße Gewährenlassen hinausgeht.

    „Im bukumatula haben wir es mit einer Anzahl von Paaren zu tun, die in einem gemeinsamen Hause schlafen, doch jedes Paar streng für sich – nicht mit jungen Leuten, die alle unterschiedslos miteinander leben; nie werden die Partner ausgetauscht, und `wildern´ oder `gefälligsein´ kommt nicht vor. Im Gegenteil, innerhalb des bukumatula wird ein besonderer Ehrenkodex beobachtet, der jedem Bewohner auferlegt, geschlechtliche Rechte innerhalb des Hauses viel sorgsamer zu achten als außerhalb.

    Falls jemand gegen diesen Ehrenkodex verstieße, würde man von ihm das Wort kaylasi gebrauchen, was soviel heißt wie `sich geschlechtlich vergehen´. Im bukumatula (Junggesellenhaus) herrscht strenge Zucht. Nie geben sich die Bewohner orgiastischen Vergnügungen hin, und es gilt für höchst ungehörig, ein anderes Paar bei seinem Liebesspiel zu beobachten. Meine jungen Freunde erzählten mir, dass man entweder warte, bis die anderen alle eingeschlafen seien, oder dass alle Paare eines Hauses übereinkämen, die andern nicht zu beachten.

    Ich habe bei dem durchschnittlichen jungen Mann auch nicht die leiseste Spur eines Voyeurinteresses gefunden und auch keinerlei Neigung zu Exhibitionismus. Im Gegenteil, wenn ich die verschiedenen Stellungen und die Technik des Geschlechtsaktes erörterte, wurde mir ganz von selbst mitgeteilt, dass es besonders unauffällige Arten der Ausführung gäbe, `damit man die anderen Leute im bukumatula nicht aufweckt´.“ (Malinowski nach Reich 1995)

    „Das jugendliche Paar ist durch keinerlei Gesetz oder Sitte aneinander gebunden; sie werden nur durch die persönliche Zuneigung und die geschlechtliche Leidenschaft zusammengehalten und können sich nach Belieben trennen. Wir hörten auch, dass dieses Verhältnis keinerlei Besitzanspruch in sich schließt, jedem steht die Umarmung mit anderen Partnern, insbesondere anlässlich der Ernte- und Mondfeste frei.

    Es kommt zwar zu Äußerungen von Eifersucht, aber bei gewissen Gelegenheiten ist sogar dies `unsittlich´, so etwa, wenn die jungen Mädchen anlässlich eines Trauerfalles die trauernden Männer durch Geschlechtsumarmung trösten. Trotz alledem, oder vom Standpunkt der sexuellen Ökonomie gerade deshalb, sind die Beziehungen auch häufig (ohne äußeren oder inneren Zwang) dauernder, inniger und befriedigender als diejenigen, die unsere sexuell verkrüppelte Jugend zustande bringt.

    Die Interessengemeinschaft der jungen Paare bezieht sich nur auf das Geschlechtliche. Niemals nehmen sie gemeinsam Mahlzeiten ein, die, wie wir später hören werden, geradezu zum Symbol der richtigen Ehe werden.“ (Reich, 1995)

    Literatur:
    Reich, Wilhelm: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Kiepenheuer & Witsch 1995 (Orig. 1932)
    Malinowki, Bronislaw: Das Sexualleben der Wilden

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    Bukumatula 3/1998

    Gute Mädchen kommen in den Himmel

    Eine Fallgeschichte von
    Heike Buhl:

    In meiner körpertherapeutischen Praxis begegne ich immer wieder Menschen, die sich für andere aufopfern. Ob sie es merken oder nicht, gehen sie damit oft über ihre eigenen inneren Grenzen und powern sich auf Dauer aus. Sie helfen anderen und bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden. Natürlich möchte jeder ein guter Mensch sein! Aber wie weit soll man bei der Nächstenliebe gehen? Wo fängt die Selbstaufgabe an, wann sind dabei die eigenen Kräfte überschritten?

    Zu diesem Thema möchte ich die Fallgeschichte einer Klientin vorstellen, die ich zwei Jahre lang in ihrem inneren Prozess begleitete.

    Die Vorgeschichte
    Mitte 1994 kommt Anna zu mir in die Praxis. Sie ist Anfang 50 und arbeitet in der Altenpflege. Die von ihr geschilderten Beschwerden sind hauptsächlich psychischer Natur. Sie möchte insgesamt ruhiger und ausgeglichener werden, mehr „mit den Beinen auf den Boden kommen“ und lernen, anderen besser zu helfen. Letzteres scheint sie besonders zu beschäftigen. Sie wirkt wie die typische Vertreterin des „Helfersyndroms“ – Menschen, die sich für andere aufopfern, die eigenen Grenzen übersehen und dabei Gefahr laufen, sich irgendwann völlig erschöpft und ausgebrannt zu fühlen.

    Wenn Anna davon erzählt, wie sie anderen Menschen hilft, blüht sie regelrecht auf. Es erscheint fast so, als wolle sie die Therapie hauptsächlich machen, um noch mehr Kraft für andere zu haben. Für den Einwand, dass sie doch auch mit den vorhandenen Kräften besser haushalten lernen könnte, hat sie kein offenes Ohr. Anna hat außer den Kranken und Hilfsbedürftigen, um die sie sich kümmert, kaum soziale Kontakte. Für andere Menschen reibt sie sich auf und ist enttäuscht, wenn diese ihre Hilfe nicht annehmen können. Seit vielen Jahren hat sie eine lose Beziehung zu einem Mann. Den Wunsch nach einer eigenen Familie hat sie nicht.

    Anna berichtet von einer schweren Kindheit. Sie wuchs in einem Übersiedlerlager als drittes von sechs Kindern auf. Eine der älteren Schwestern starb früh. Als Anna neun Jahre alt war, starb auch ihr Vater. Die Mutter war mit der Erziehung der Kinder offenbar überfordert, sie wurde stark depressiv und äußerte immer wieder, die Kinder seien doch „ohne sie besser dran“. Anna, selber noch ein Kind, übernahm die Versorgung der drei jüngeren Brüder und versuchte, die Mutter über den Verlust des Vaters so gut wie möglich hinwegzutrösten – für eine Neunjährige eine unmögliche Aufgabe.

    Annas äußere Erscheinung ist gepflegt, sie wirkt dabei etwas verhärmt, wie ein Mensch, der sich selber nicht viel gönnt. Während unseres Gesprächs gehen ihre Augen unruhig hin und her, sie wirkt angespannt. Es fällt ihr schwer, über sich selbst zu sprechen. Sie macht den Eindruck, als wolle sie am liebsten gleich wieder weglaufen. Die Vorstellung, für sich selber Hilfe oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist ihr unangenehm. Eine Therapie zu beginnen, ist für sie nur unter dem Deckmantel „für andere“ möglich. Wir einigen uns darauf, dass sie zunächst vier Stunden „zur Probe“ zu mir kommt und danach entscheidet, ob sie sich auf einen längeren therapeutischen Prozess einlassen kann.

    Körpertherapie – was ist das eigentlich?

    Die Körper- oder Orgontherapie geht zurück auf die Erkenntnisse des Arztes Wilhelm Reich. Wir gehen dabei davon aus, dass allen psychischen und körperlichen Phänomenen ein natürliches Fließen von Lebensenergie, die Reich Orgonenergie nannte, zugrunde liegt. Unser Denken und Handeln, unser Bewusstsein und Gefühl und unsere körperliche Selbstwahrnehmung sind unterschiedliche Ausdrucksformen dieses energetischen Lebensflusses.

    Psychische Konflikte führen zu einer Einschränkung der Lebendigkeit des menschlichen Organismus, indem sie den Fluss dieser Lebensenergie im Körper herabsetzen. Äußerlich macht sich dies in muskulären Verspannungen bemerkbar, innerlich drückt es sich in einer Einschränkung der Pulsation des vegetativen Nervensystems aus: damit ist der Grundstein für das Entstehen von Krankheit gelegt.

    Krankheit entsteht als Folge der Störung der inneren oder äußeren Harmonie des Menschen. Mangelndes Selbstwertgefühl, unbefriedigende Partnerschaft und Sexualität, Dissonanzen in der Familie, Stress am Arbeitsplatz sind nur einige Beispiele für Faktoren, die unbewusst zur Entstehung von Erkrankungen beitragen können. Die Krankheitssymptome haben dabei ihre eigene Ausdruckssprache; z. B. läuft uns „die Galle über“, es „verschlägt uns den Atem“, wir „kriegen kalte Füße“, haben „die Nase voll“, oder uns „wachsen graue Haare“.

    In der Orgontherapie wird nun mittels verschiedener Techniken an der Auflösung energetischer und muskulärer Blockaden im Körper gearbeitet. Es findet also keine medikamentöse Symptombekämpfung statt, sondern man versucht, den Ursachen der Erkrankung auf die Spur zu kommen.

    Drei verschiedene therapeutische Techniken haben sich dabei in meinen Augen als besonders wirkungsvoll zur Lösung energetischer Blockaden im Körper herausgestellt. Die Kombination dieser Herangehensweisen ist die Besonderheit meiner Behandlungsart, mit der ich in der Praxis für Energetische Medizin seit über zwölf Jahren an dem Ziel der Verwirklichung einer neuen, ganzheitlichen Art von Medizin arbeite.

    Eine dieser Techniken ist die am Wilhelm-Reich-Institut von Heiko Lassek aus den Reichschen Methoden weiterentwickelte Energetische Medizin. Diese Arbeit benutzt verschiedene körperliche Anspannungspositionen in Verbindung mit tiefer Atmung, um den Energiefluss im Körper zu mobilisieren. Dadurch treten im Körper autonome Bewegungen auf. Diese Arbeit hat sich bei emotionalen wie auch bei somatischen Beschwerden als sehr wirkungsvoll herausgestellt, da jede Behandlung als vegetativer Reiz wirkt, der das autonome Nervensystem zur gesunden Pulsation anregt.

    Es wird mit dem Wechsel von hochenergetischer Ladung und Entladung des Körpers gearbeitet. Der Organismus, der sich in einem ungesunden Gleichgewichtszustand eingerichtet hat, wird stimuliert und „aufgeweckt“. Gleichzeitig ermöglicht es diese Herangehensweise, über nachfolgende sanfte Bahnung den Energiefluss im Körper gezielt zu lenken und zu richten. Dadurch kann vermieden werden, dass mobilisierte Energie das Krankheitssymptom „nährt“ und womöglich die Symptome verstärkt.

    Der zweite Schwerpunkt meiner Arbeit ist die von Will Davis in der European Reichian School aus dem Reichschen Ansatz entwickelte „Points and Positions“-Arbeit. Die körperlichen Anspannungsmuster und Blockaden werden hierbei durch gezielte Behandlung des Bindegewebes, der Faszien und Muskelansatzpunkte aufgelöst. Indem man den Körper in bestimmte, die verspannten Muskeln entlastende Positionen bringt, werden kontrahierte Bereiche schmerzlos entspannt.

    Diese Arbeit führt auf eine sanfte, wachstumsbetonte Art zur Anregung der Pulsationsvorgänge im Körper. Sie unterstützt insbesondere auch den Aspekt des Sich-Zentrierens, Sich-Sammelns und Nach-Innen-Gehens der Patienten wie in einer heilsamen Trance. Tiefe innere Prozesse werden aktiviert, die Einfluss auf körperliche, emotionale und psychische Vorgänge haben. Mit Hilfe dieser Technik ist es auch möglich, einzelne Blockaden im Körper sehr gezielt zu bearbeiten.

    Der dritte Aspekt der Therapie legt das Hauptaugenmerk auf das Bewusstwerden und den Ausdruck derjenigen Gefühle, die vom Patienten in den muskulären Verspannungen „festgehalten“ werden. Angst, Wut und Trauer sind oft als verboten oder unangenehm erfahren und daher unterdrückt worden. Das Wiedererleben dieser Gefühle in der geschützten therapeutischen Situation wirkt oft sehr erlösend, da das Unterdrücken von Emotionen viel Kraft bindet. Gleichzeitig werden die Gefühle von Vertrauen, Freude und Lust wieder stärker erlebt. Neben der Verbesserung körperlicher und psychischer Symptome hat die Therapie häufig einen Wechsel in grundlegenden Lebensbereichen zur Folge.

    Annas Therapie

    Anna hat einen gleichmäßigen Körperbau, die Muskeln sind insgesamt gut ausgeprägt, aber sehr angespannt. Ihre Augen sind kurzsichtig (-6 Dioptrien) und ruhelos. Augenkontakt fällt ihr schwer. Besonders verspannt sind das Kinn, das Hinterhaupt und die Schultern sowie die Muskeln entlang der Wirbelsäule. Ich interpretiere die muskulären Verspannungen als Ausdruck der inneren Anspannung und des Leistungsdrucks, unter dem Anna steht.

    Dies spürt sie vor allem an ihrer Arbeitsstelle. Sie soll dort ein Archiv umorganisieren und fühlt sich von dieser Aufgabe überfordert. Damit nicht genug, kritisiert sich Anna auch noch dafür, dass sie nicht besser und leistungsfähiger ist. Selbstkritik ist eine von Annas „Stärken“!

    In den ersten vier Stunden arbeite ich mit Anna zunächst nur mit der Points & Positions-Arbeit, um ihr Körpergefühl zu verbessern, den Körper sanft zu mobilisieren und sie vor allem etwas zu entspannen. Danach sind die Augen etwas ruhiger, es kommt innere Bewegung in den Rücken und die Beine. Sie berichtet, nach einer Stunde energetischer Arbeit an den Beinen habe es in die Beine, das Herz und den Kopf Zuhause noch mehrmals „wie der Blitz eingeschlagen“. Der Kopf fühlte sich danach viel freier an.

    Anna möchte die Therapie fortsetzten, aber ihre Ängstlichkeit hat sie noch nicht überwunden. Zunächst legt sie sich nur für vier weitere Stunden fest. Dies ist zwar ungewöhnlich, ich gehe jedoch darauf ein, da ich merke, wie schwer dieser Schritt für sie ist.

    Krankheit als „gesundes Zeichen“?

    Das Ziel einer ersten Mobilisierung scheint erreicht zu sein, zumal sich an die vierte Stunde noch eine Art „Kurzgrippe“ mit Fieber für einen Tag anschließt. In der Reichschen Therapie sehen wir einen grippalen Infekt durchaus als positives Zeichen, vor allem, wenn der Klient schon seit langer Zeit keine Erkrankung mehr gehabt hat. Das Fieber zeigt an, dass der Organismus vegetativ in Bewegung kommt.

    Das vegetative Nervensystem des Menschen, das die Tätigkeit der inneren Organe regelt, arbeitet nach dem Prinzip der Pulsation: Phasen von Anspannung und Entspannung, Aktivität und Ruhe, wechseln sich idealerweise ab. Wenn diese „vegetative Pulsation“ chronisch gestört ist, z.B. durch chronischen Stress, kann der Körper mit Krankheit als einem „Ausbruchsversuch des Organismus aus der Starre“ reagieren.

    Es ist ein Versuch des Körpers, die Pulsation doch noch rudimentär aufrecht zu erhalten. Überschüssige Energie entlädt sich sozusagen in dem Krankheitssymptom, wenn auch nicht gerade auf optimale Weise. Je nach Intensität der zugrunde liegenden Pulsationseinschränkung haben diese Krankheitsausbrüche verschiedene Ausprägungen – angefangen von Grippe, entzündlichen Erkrankungen, Asthma oder Darmerkrankungen über Hochdruckerkrankungen bis hin zu Leukämie und Krebs.

    Wird der Energiefluss im Körper und damit die vegetative Pulsation wieder angeregt, so entzieht man der Erkrankung den Nährboden. Dies bedeutet eine völlig neue Bewertung von Gesundheit und Krankheit: ein Mensch, der jahrelang nicht krank war, kann zwar einfach kerngesund sein, er kann aber auch eine sogenannte „vegetative Reaktionsstarre“ aufweisen, auf deren Boden sich dann „aus dem Nichts“ plötzlich eine schwere Erkrankung wie z.B. Krebs bilden kann. Derjenige, der jedes Jahr einen fieberhaften grippalen Infekt hat, kann daher gesünder sein als derjenige, der „nie krank gewesen“ ist.

    Weiterer Therapieverlauf

    In den nächsten Stunden arbeite ich mit Anna abwechselnd mit Orgontherapie und Points & Positions-Arbeit. Es stellt sich heraus, dass die Energie recht gut in die Arme fließen kann, es kommt dort in der orgontherapeutischen Arbeit spontan zu entladenden Schlagebewegungen. Die Rückenmuskulatur fühlt sich dagegen wie Beton an. Auch der Bauch und die Beine sind weiter sehr verspannt.

    Anna klagt, dass sie schon viele Jahre unregelmäßigen Stuhlgang habe, ein Wechsel von Verstopfung und Durchfall mit schmerzhaften Blähungen. Auch hier zeigt sich wieder der Wechsel von vegetativer Starre (Verstopfung) und überschießender Entladung (Durchfälle). Verspannungen im Kopf- und Nackenbereich führten zu einem seit langer Zeit anhaltenden Tinnitus, einem ständigen „Klingeln“ im linken Ohr und öfters zu Kopfschmerzen.

    Bei der Arbeit an den Augen stellt Anna fest, dass sie überhaupt nicht böse „gucken“ kann. Dies ist Ausdruck ihrer tiefen Aggressionshemmung. Sie will ein ganz und gar guter Mensch sein. Das verträgt sich nicht mit Ärger oder „Nein“ sagen. Es führt aber auch dazu, dass sie sich ständig überfordert. Bevor sie nicht lernt, sich den unterdrückten Aggressionen zu nähern und sie in der geschützten therapeutischen Situation zum Ausdruck zu bringen, wird sie sich im sonstigen Leben schwer abgrenzen können.

    Die orgontherapeutische Arbeit bringt Annas Körper zu allen möglichen ungewohnten Reaktionen. Manchmal ist ihr die Energie zuviel, dann kann sie nächtelang nicht schlafen. Manchmal sucht der Körper sich andere Entladungswege, so dass alte Symptome – bei Anna ist es eine Gürtelrose – für kurze Zeit wieder auftauchen können.

    Dann wieder macht sie eine Angina durch, die sie selber als „lösend“ empfindet. Im Laufe der Arbeit lassen diese überschießenden Reaktionen nach. Es ist auch zu beobachten, dass Annas Starre in den Beinen sich auflöst und Entladungen über autonome Beinbewegungen möglich werden. Insgesamt kann sie jetzt mehr Energie aufnehmen und aushalten, was subjektiv zu einem Gefühl von mehr Kraft und Stärke führt.

    Ende des Jahres stellt Anna fest, dass ihr räumliches Vorstellungsvermögen als Folge der Augenarbeit besser geworden ist. In der Arbeit kann sie sich jetzt schon besser konzentrieren. Auch kann sie Kontakte zu anderen Menschen jetzt besser aushalten, muss nicht mehr „ganz schnell weglaufen“. Zur Therapie kommt sie inzwischen regelmäßig. Das Ohrgeräusch beginnt aber ab Februar 1995 manchmal für mehrere Tage ganz zu verschwinden. Anna erkennt, dass das „Klingeln“ nachlässt, wenn sie weniger unter Druck steht.

    Im April 1995 erzählt mir Anna, dass ein für sie essentielles Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ weit in ihre Kindheit zurückreichende Wurzeln hat. Da sie als einzige in der Familie dunkle Haare hatte, sagte der Vater öfter halb scherzhaft: „Du gehörst nicht zu uns, du bist ein Zigeunerkind“. Dies hat sich ihr tief eingegraben. Ihre Mutter hingegen war nicht belastbar. Anna versuchte sie immer aufzuheitern. Dabei blieb bei Anna das Gefühl zurück, anderen zur Last zu fallen. Bei dieser Erinnerung beginnt sie erstmals in der Therapie leise zu weinen, denn sie „will niemanden belasten“. Daher muss sie ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken.

    Da sie sich von klein auf für die Familie zuständig fühlte, hat sie nie gelernt, eigene Wünsche zu entwickeln. Das Kümmern0 um andere ist ihr Lebensinhalt und Selbstideal geworden. An ihrer Arbeitsstelle ist sie oft bis 8 oder 9 Uhr abends. Sie fragt mich ganz ernsthaft, warum sie denn lernen solle, was ihr Spaß macht. Es ist ihr schwer zu vermitteln, dass ihre ständige Aufopferung und Selbstaufgabe der Grund für ihre körperlichen und psychischen Beschwerden sein könnten, und dass ein Stück Lebensfreude bestimmt niemandem schadet.

    Wir haben offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen vom Sinn des Lebens – sie meint, nur durch völlige Selbstaufgabe ein guter Mensch sein zu können, ich dagegen meine, dass man nur für andere da sein kann, wenn man zuerst gut für sich selber gesorgt hat: „Erst Eigenrettung, dann Fremdrettung“ heißt es in der Ausbildung in Erster Hilfe. Dies ist Annas kirchlich geprägtem Ideal zuwider; lieber trägt sie die Lasten anderer – und handelt sich damit einen harten Rücken und Kopfschmerzen ein.

    Anna hat viel praktisches Geschick, kann die Dinge gut „anpacken“. „Wenn’s drauf ankommt, kann ich alles“, sagt sie. Es fällt Anna schwer, von sich selbst zu reden, für andere hat sie aber schnell einen Rat oder eine Lösung parat. Ihr Kümmern um andere führt dann leicht dazu, dass sie sich bei anderen, wie sie es nennt, „einmischt“. Der Weg zwischen selbstloser Nächstenliebe und manipulativem Helfersyndrom ist schmal. Im Herbst 1995 kommt sie plötzlich mit einem Blumenstrauß in die Praxis und sagt: „In der letzten Stunde habe ich wirklich begriffen, dass ich mich gar nicht immer einmischen muss. Ich kann die anderen die Dinge auf ihre eigene Art erledigen lassen, ohne gleich eine Grundsatzdiskussion über jede Kleinigkeit führen zu müssen.“

    Anna merkt von sich aus, dass das Helfen dazu dient, ihre eigene innere Leere zu verdecken und daher nicht dem Überfluss, sondern dem Mangel entspringt. Das Helfen macht wichtig! Anna beginnt, die kirchliche Erziehung zum Nur-gut-sein anzuzweifeln. Ihre Zweifel an kirchlichen Dogmen mehren sich, und sie beginnt in kleinen Schritten mehr für sich selbst zu tun. Dazu muss sie regelrecht trainieren, ihre eigenen Wünsche wahrzunehmen und zu äußern.
    An ihrer Arbeitsstelle gelingt es Anna erste Grenzen zu ziehen. Sie trennt berufliche und private Erledigungen und schafft es, den Arbeitstag auf acht Stunden zu begrenzen.

    Damit taucht nun aber das Problem auf, wie sie ihre Freizeit füllen soll! Helfen hilft eben auch dabei, vor sich selber auszuweichen. Es fällt ihr weiter schwer, sich selbst etwas zu gönnen. Offenbar fällt auch die Therapie darunter, die sie immer wieder einmal ganz bald beenden möchte.

    Da Anna sich jetzt schon besser konzentrieren kann, beginnt sie, abends Musik zu hören oder zu lesen. Wenn sie mal nicht weiter weiß, traut sie sich jetzt auch, jemanden um Rat zu fragen. Sie gesteht sich auch schon mal ein, dass sie einige der Dinge, für die sie sich manchmal vorschnell anbietet, eigentlich nicht tun will. Ablehnen fällt ihr aber trotzdem noch schwer.

    Dafür ist der menschliche Kontakt in Gruppen zunehmend besser. Bei der Silberhochzeit ihrer Schwester fühlt sie sich viel weniger verklemmt und muss sich weniger „einmischen“. Anna möchte noch mehr lernen, sich auszudrücken. Sie merkt selber, wie ihr die Worte im wahrsten Sinne „im Halse stecken bleiben“. Wir arbeiten deshalb daran, Verspannungen im Halsbereich durch sanfte Arbeit aufzulösen.

    Dazu bitte ich Anna, verschiedene Töne wie beim Singen zu machen und deren Resonanz mit anderen Körperteilen zu spüren. Dies löst bei ihr zunächst heftigen Würgereiz aus. Dadurch löst sich die Verspannung in der Kehle etwas, der Kopf fühlt sich mehr mit dem Körper verbunden an und die Töne gelingen Anna schon viel besser. Beim Versuch, die „Augen zu besingen“, d.h. den Ton wie durch die Augen nach außen zu schicken, spürt Anna plötzlich starke Angst.

    Sie sagt, dass sie zwar Angst vor Menschen kenne, aber keine Angst vor Dunkelheit oder ähnlichen Dingen, vor denen sich jeder andere fürchte. Da in der Kindheit kein Schutz für sie da war, hat sie die Angst einfach verdrängt und sich furchtlos gegeben. Bei dem Satz: „es ist in Ordnung, Angst zu haben“ muss Anna vor Erleichterung weinen. Es ist schon ganz schön anstrengend, nie ängstlich sein zu dürfen!

    Nach der Stunde taucht vor Annas innerem Auge spontan eine längst vergessene Szene aus der Kindheit wieder auf: Als Anna etwa 10 Jahre alt war, warf die Mutter mit einem Messer nach ihr, da sie sich wieder mal „eingemischt“ hatte. Helfen schien die einzige Möglichkeit zu sein, sich etwas Anerkennung zu verschaffen.

    Die energetische Arbeit im Kopfbereich führt dazu, dass der Kopf klarer wird und die Konzentrationsfähigkeit weiter zunimmt. Die Kopfschmerzen werden seltener. Mit der Lösung von Verspannungen im Rückenbereich wird der Energiefluss im Körper immer einheitlicher. Bei der energetischen Hochladungsarbeit können jetzt Arme und Beine im Wechsel Energie aufnehmen und in autonomen Bewegungen wieder entladen. Die Entladungen werden dabei „feinschlägiger“, so als ob der Körper feinere „Entladungskanäle“ für die Energie in die Peripherie gebaut hätte.
    Annas Augen haben sich im Laufe der Therapie sehr verändert.

    Das unruhige Hin- und Herschauen vom Beginn der Therapie ist verschwunden. Sie kann jetzt Gefühle in den Augen ausdrücken. Wenn sie will, kann sie sogar richtig böse gucken! Ruhiger Augenkontakt, dessen Dauer sie selbst bestimmt, löst Verspannungen im Bauch. Die vorher kontinuierlich zunehmende Kurzsichtigkeit hat sich seit Beginn der Therapie stabilisiert. Eine beginnende Netzhautablösung ist zum Stillstand gekommen. Das ganze Gesicht ist inzwischen viel weicher geworden und hat das verhärmte Aussehen verloren.

    Im Sommer 1996 beschäftigt sich Anna mit dem Konzept des „inneren Kindes“ und bittet mich, ihr beim Zwiegespräch mit diesem Kind behilflich zu sein. Dabei bestätigt sich, dass sie schon sehr früh in die Mutterrolle geschlüpft ist. Anna ist sozusagen nie wirklich Kind gewesen. In der Mutterrolle versucht sie dann, andere glücklich zu machen, kann dabei aber nicht selber glücklich werden. Die innere Leere und Einsamkeit wehrt sie ab und sagt sich „ich brauche niemanden“. Sie gibt den anderen, was sie sich eigentlich selber wünscht. Anna merkt, dass sie noch ein Stück Kindsein nachholen muss und dass ihr „inneres Kind“ viel Zuwendung braucht. Nach der Stunde kauft sie dem „Kind“ gleich einen Teddybären!

    Der Therapieabschluss

    Im August 1996 beendet Anna nach zwei Jahren die Therapie. Sie fühlt sich unter Menschen zunehmend wohler, redet lauter und freier, kann sich besser konzentrieren und spürt auf der Arbeitsstelle keinen Zeitdruck mehr. Der Stuhlgang ist gleichmäßiger geworden und hat das Beängstigende verloren.

    Das Klingeln im Ohr ist zeitweise völlig verschwunden, und die Kopfschmerzen sind selten geworden. Anna beginnt, ihr Leben selber zu strukturieren. Die Saat von Selbstliebe als Grundlage für Selbstvertrauen und Nächstenliebe ist inzwischen auf fruchtbaren Boden gefallen. Nur wer für sich selbst gut sorgen kann, kann von Herzen etwas für andere tun – nicht um die eigene innere Leere zu verdecken, sondern um die innere Fülle auszudrücken. Nicht umsonst heißt es: „Liebe Deinen Nächsten WIE DICH SELBST“!

    Anna schließt nicht aus, dass sie nach einer Pause die Therapie noch fortsetzen möchte. Schließlich möchte sie ihre Spontaneität und ihr Selbstvertrauen noch etwas weiter entwickeln. Sie hat aber in kurzer Zeit für sich selbst so viele neue Erfahrungen gemacht und Einsichten gewonnen, dass sie diese erst einmal weiter in ihrem Leben umsetzen möchte. Auch ich finde, dass Anna in den vergangenen zwei Jahren Riesenschritte gemacht hat. Ich bin sicher, dass Anna weit davon entfernt ist, ein egoistischer und selbstsüchtiger Mensch zu werden. Sie hat lediglich gelernt, ein bisschen besser für den Menschen zu sorgen, der ihr am nächsten steht – für sie selbst.
    __________________________
    Dr med. Heike S. Buhl, Jahrgang 1955, Ärztin, arbeitet seit vierzehn Jahren mit den Methoden von Dr. Wilhelm Reich in ihrer eigenen Praxis. In Zusammenarbeit mit dem Wilhelm Reich-Institut Berlin und der European Reichian School bemüht sie sich um die Verwirklichung einer neuen, ganzheitlichen Art von Medizin. Sie ist Vorstandsmitglied der „Wilhelm-Reich-Gesellschaft“ und Redaktionsmitglied der Zeitschrift emotion.

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    Bukumatula 3/1998

    2 Nachrufe auf Al Bauman

    von
    Josef Erwa und Brigitta Bolen

    Josef Erwa

    Al ist tot.

    Solange ein Mensch Spuren im Körper und in den Sinnen eines anderen Menschen hinterlässt, solange ist dieser Mensch lebendig. Es ist die Kunst des „Sichzeigens“, die die Spuren hinterlässt. Die Leidenschaft und die nie endende Sehnsucht zu sein, die sich in der Kunst auszudrücken versucht. Es ist die aufrechte Lebendigkeit, die sich als Werkzeug der Kunst versteht. Es ist der Widerstand gegen das Verseuchte und gegen das Risiko unterzugehen.

    Es ist das Vertrauen an das Schöne im Lebendigen und die Kraft und der Mut zum eigenem Schicksal. Es ist der durchströmte Körper, der seine Augen öffnet und seine Sinne reden lässt. Es ist die Kunst, an der sich die Schönheit Al’s gebar.

    Al hinterließ tiefe und eindrucksvolle Spuren in den Herzen einer Vielzahl von Menschen. Al war für mich der gefürchtete Wegweiser. Er zeigte mir erbarmungslos und klar meine innere Wüste. Er erinnerte mich nur daran zu atmen und erinnerte mich immer wieder meinen Körper zu spüren – solange bis ich endlich begriffen habe … bis ich endlich begreife, jedesmal wieder.

    Al ist für mich „zwei große blaue Augen“, die sahen und die das Sein, das sie sahen, sein lassen konnten. Al lehrte nicht das rechte Leben und war kein Heilsversprecher. Er sehnte sich nach Freunden, nach Gewachsenem, Bewegtem und wusste von der Falle der Verehrung und Heiligsprechung. Er wäre ein talentierter Guru gewesen, und ich ehre ihn für seine Meisterschaft auf diese Macht verzichtet zu haben.

    Al verstand sich zu schützen und ist mir Vorbild darin. Al wusste von der abgrundlosen Macht der emotionalen Pest, sah und litt an den allgegenwärtigen Verseuchungen. Und klar blickte er mir ins Gesicht. Er hatte kein Mitleid, denn er wusste von der Kraft des sehnenden Werdenwollens, und nur das interessierte ihn und nicht die Heilung alter Verkrüppelungen.

    Al war ein aufrechter Mann. Er lebte sein Leben in den lebendigen Nischen seines eigenen Wollens und seiner Kunst mit seinen Freunden und Lieben und hatte Glück, weil er es verdiente. „Don`t crack the walls, live in the cracks“, hat er einmal dazu gemeint. Al war ein Mann und danach habe ich mich wirklich gesehnt. So rar sind schöne alte Männer, so selten gelebte Weisheit – und verdammt einsam sind die Söhne.

    Al wusste und lebte durch die heilende Kraft seiner Kunst, vom Wagemut sich auszudrücken, von seiner Sehnsucht sich zu zeigen – und er zeigte sich in seiner Wahrhaftigkeit am Flügel mit seiner Frau als Gesang. Al war mein einziger Lehrer und ich habe ihn nicht oft gesehen. – Selten hat er mich belehrt. Oft hat er sich abgewandt und manchmal sah ich geheime Zweifel in seinen Augen, oft war er hart und gab mir keinen Trost, ließ mich alleine und begrüßte mich jedes Jahr erneut.

    Al war aufrichtiges und schönes Mannsein und kompromisslos darin, und fast verdurstet trank ich diese Botschaft und ich arbeite noch immer und mühsam daran. Ich habe Al gefürchtet, wie sonst keinen Mann, weil ich nicht wusste, wie ich soviel an Liebe zu ihm sein kann. Al war ein bescheidener Mann, der die ganze Lebendigkeit wollte und niemals aufhörte zu wachsen und sich zu verändern, einer der seine eigenen Schrecken und die Liebe kannte und sich täglich neu erfand.

    Ich erzähle meiner Tochter von ihm …
    Al wird lange in den Herzen und Sinnen von jenen weiterleben, die sich auf den Weg machten und nicht wissen, wohin er führen wird, die sich sehnen und scheitern und doch irgendwie weitermachen, in jenen, die erfolgreich sind und in jenen, die sich weitermühen und in jenen, die sinnlos vergehen, in allen, die irgendwann seine Schönheit gesehen haben.

    Al führte als Schüler Wilhelm Reichs dessen revolutionäre Tradition fort, an deren wackeligen Anfang der Bewusstwerdung wir uns hoffentlich schon befinden. Eine andere Ausrichtung, ein neues philosophisches Verstehen, eine Orientierung nach dem Lebendigen, die aus dem geschichtlich Gewordenen hinausragt, die sich nicht in esoterische Jenseitsphantastereien selbstüberhöht und krümmt, sondern sich nach einem philosophischen Seinsinn ausdehnt, der die einzig gelebte, gegenwärtige Wahrhaftigkeit sein kann, der aus der geschichtlichen Tiefe zu uns herübertönt und die Sehnsucht nach Lebendigkeit und Schönheit in sich trägt.

    Weil wir lange noch nicht in diesem Weltenkörper zu Hause sind, gab es Männer, die suchten, sich fanden, sich zu leben wagten und in Widerstand zu den mächtigen Normalitätsansichten ihrer Zeit gingen. Männer wie Al Bauman, Wilhelm Reich, Friedrich Nietzsche oder Peter Sloterdijk haben sich der Wahrhaftigkeit verschrieben, so naiv oder anmaßend das auch klingen mag. Sie richteten ihren Blick auf die Realität des Menschenmöglichen und mit klarem Verstand auf das geschichtliche Scheitern und die Verbrechen – und waren entsetzt.

    Sie haben sich mit offenen Sinnen der Liebe und der Lebendigkeit zugewandt und fanden Schmerz und Entsetzen, Erkenntnis und Weisheit, Leid und Verwirrung, Schönheit und Liebe. Al war ein liebender Mann. Nicht dass ich meine, dass er alles verstanden, oder philosophisch begründen konnte; er sprach auch nur wenig darüber in den Workshops. Und doch erinnere ich mich an viele einzelne, oft banale Sätze, die ich erst dann verstand, als ich sie in mir selber gefunden habe. Und da erinnerte ich mich Jahre später, dass das Al irgendwann einmal gesagt hat und freute mich daran, ihn ein wenig, wenn auch sehr spät verstanden zu haben. Es waren einfache Sätze, die an meinem Urgrund rührten.

    Nicht dass ich Al überhöhen oder verklären will, aber es bleibt eine lebendige Erinnerung an einen weisen, alten Mann, der davon wusste, wie wenig er wusste, der bescheiden seine eigene Tiefe jeden Tag erneut suchte und sich nicht anmaßte, sich nicht überhöhte und ehrfurchtsvoll dem Leben gegenüber blieb. Er war ein einfacher Mann und ein großer Künstler, dessen Werk ich viel zu wenig kenne. Er war ein naiver Mann, der sich vor der Pest zu schützen wusste. Er war ein mutiger Mann, weil er sich zu wehren verstand, denn er traute seinem eigenen Wollen – und er wollte die Liebe.

    Al war ein schöner, alter Mann.

    Allein gehe ich nun, meine Jünger. Auch ihr geht nun davon und alleine. So will ich es.
    Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra.
    Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur Schüler bleibt.
    Ihr verehrt mich, aber wie wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage.
    Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen?
    Ihr hattet euch noch nicht gesucht, da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen, darum ist es so wenig mit allem Glauben.
    Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden, und wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren…

    Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“

    Brigitta Bolen

    Lieber Al!

    Du bist gegangen – vor kurzem. Und jetzt fragt mich Wolfram über Dich zu schreiben, für BUKUMATULA, weil ich Dir nahe war. Ja, ich war Dir nahe – ich liebe Dich – noch immer – in Worte fassen? – Ich will an diesem späten Abend, wo ich gerade erst von der Arbeit heimgekommen bin und vernünftigerweise etwas essen sollte, eine Schachtel Pralinen nehmen („take one and get sick …“) und es versuchen.

    Wer warst Du, bist Du? – für mich. Ich fühlte mich von Dir so umfassend geliebt wie von keinem anderen.
    Ich fühlte mich von niemandem so zugleich in Ruhe gelassen und zutiefst berührt. Was hast Du mir gegeben? Du hast mich mir selbst zurückgegeben, Du hast mich in Deiner Gegenwart meine Fragen selbst beantworten lassen, oder mich fühlen lassen, dass sie nicht nötig waren.

    Du hast mir die präzisen, einfachen, feinen Fingerzeige, Worte, „Schubser“ gegeben, die ich, einmal wahrgenommen, immer sofort begriffen und nie wieder vergessen habe …

    Du hast mich, als ich mich das erste Mal vor Dir auf die Matte legte für eine „Arbeit“, wie wir das nannten, auf den Bauch geküsst. Und ich lachte – lachte, so wie nie davor in meinem Leben – ich fühlte mich erkannt in dieser simplen Art. (Für mich ist das nicht mehr „Arbeit“ – Dir sei Dank!) Ich konnte nie mehr genug haben – das in Deiner Gegenwart – und dadurch auch mehr und mehr in meinem Leben, zu spüren.

    Du hast es mir einfach zurückgegeben – das, was ich schon immer wusste. „Du weißt es ganz genau“ sagtest Du – und ich wusste, ja, es ist so – und begann dem zurückzuvertrauen – was ich schon wusste, fühlte. – Wie lernte ich das „Zurückfühlen“: durch Deine einfachen, simplen Übungen. Da ist kein Hokus Pokus. „Just go with the feelings – streamings of your body – let your body talk to you.“

    Ich entdeckte mit Deinem Hinweis, dass es so ist, dass mein Körper zu mir spricht – ich konnte mich in Deiner Gegenwart mehr und mehr daran gewöhnen – und es ist ein Schatz in meinem Leben geworden, der mit keinem anderen Reichtum aufgewogen werden kann.

    Du hast mir meine Würde zurückgegeben. – Wie?
    Du fragtest mich – und ich fühlte, dass Du interessiert warst an meiner Antwort – ganz einfach das klingt so einfach. –
    Ich lernte auch in Deiner Gegenwart, dass es kein Problem ist, nicht alle Gefühle und Ansichten zu teilen – ich lernte in Deiner Gegenwart, dass es kein Problem ist, nicht immer verstanden zu werden – weil ich fühlte, dass die Liebe, der Respekt und die Offenheit dadurch nicht weniger würden.

    Es war so gut, im Raum Deiner einfachen, lustvollen Liebe mich so unsicher fühlen zu lassen wie ich immer war. Du hast mir auch meine Unsicherheit geschenkt. Es gab bei Dir keine Grenzen – nicht weil sie überschritten werden konnten, sondern weil es sie nicht gab. Ich fühlte, dass ich ich bin und dass Du Du bist und wenn es Kontakt gibt, ist das wunderschön – und wenn nicht – auch gut.

    Du lehrtest mich, dass ich lieben kann – ohne Eifersucht. Es war kein Problem, Deine Liebe zu teilen oder meine Liebe zu teilen: Danke dafür – ich hab es anders noch nie so erfahren. Ich liebte Deine Art, mich zu genießen – ich fühlte dabei eine vollkommene einfache Reinheit und „Unschuld“ und fühlte mich nie in Besitz genommen.

    Das war einfach ein unendliches Genießen, bis es genug war – schön! – Danke dafür! Einfach, einfach, einfach!!! …
    das warst Du für mich, das liebte ich an Dir – man sagt, dass ich kompliziert bin – in Deiner Gegenwart konnte ich mich einfach fühlen – und lernte mehr und mehr das einfach auch so zu sein – in allem.

    Genug gesagt? – Ja, es muss nicht alles gesagt werden.

    Ich liebe Dich, ich liebe das Leben, ich liebe mich, ich liebe, seit Du gegangen bist, sogar den Tod.
    Danke dafür tausendmal und noch mehr. Mit Dir konnte ich leben, was ich meine, was Reich uns zeigte – ich will es einfach weiter tun …

    Brigitta

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    Bukumatula 4/1998

     

    Die biologischen Grundlagen des schizoiden Prozesses, Teil 3

    Fortsetzung von Bukumatula 3/97
    Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
    Will Davis

     

    Für die Reichsche Arbeit ist es wesentlich, wenn auch schwierig, die Beziehung zwischen dem Biologischen und dem Behavioristischen bzw. dem Physischen und dem Psychologischen zu verstehen. Die Herausforderung besteht nicht nur im Verständnis des psychosomatischen Zusammenhangs, sondern auch in der Übersetzung dieser zwei Bereiche in eine verstehbare und einheitliche Form.

    Es ist Aufgabe dieses Artikels, die Beziehung – die funktionelle Identität – von biologischem Plasma und den emotionalen, physischen und psychischen Strukturen des Schizoiden herauszuarbeiten. Diese Strukturen stehen nämlich nicht nur auf der psychosomatischen Ebene miteinander in Beziehung, sondern – und das ist wesentlich – sind verschiedene Formen desselben Prozesses.

    EINLEITUNG

    Im ersten Teil dieses Artikels (BUKUMATULA 2/3/97) habe ich zwei miteinander verwandte Ideen aufgegriffen: dass die Entwicklung des schizoiden Charakters direkt von der plasmatischen Funktion beeinflusst wird und dass sich die plasmatische Funktion deutlich in der Form und Funktion des Bindegewebes zeigt.

    Weiters habe ich die These aufgestellt, dass der schizoide Charakter eine plasmatische Kontraktion als Abwehr von Schock und Trauma einsetzt. Bis jetzt wurde das Abwehrsystem einfach als neuromuskuläre Kontraktion gesehen. Das Verständnis, welche Rolle das Bindegewebe in physischen und psychischen Abwehrsystemen spielt, erlaubt uns eine neue, bessere Differenzierung von zwei verschiedenen Formen der Abwehr:

    1. die plasmatische Kontraktion und
    2. die neuromuskuläre Kontraktion.

    Das Verständnis der plasmatischen Reaktion auf Stress und Trauma hilft uns auch die physisch-biologischen Grundlagen der psychischen Panzerung zu begreifen.

    Im ersten Teil dieses Artikels habe ich die direkte Beziehung zwischen den biologischen Aktivitäten des Bindegewebes erklärt und aufgezeigt, dass die Dysfunktion des Bindegewebes eine psychosomatische Repräsentanz der grundlegenden Charakteristika des Schizoiden ist. Ich habe die Funktionen und Charakteristika des Bindegewebes mit dem schizoiden Zustand verglichen und aufgezeigt, dass sie voneinander abhängig sind (siehe Tafel 2 im 1. Teil).

    Zum Beispiel übernimmt das Bindegewebe eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung des Organismus gegen physische Eingriffe und Störungen. Genauso kontrahiert der Schizoide auf plasmatischer Ebene, um sich zu stabilisieren und sich gegen Bedrohungen und Angriffe zu schützen. Ein anderes Beispiel wäre, dass das Bindegewebe ein Netzwerk und Informationssystem im ganzen Körper unterhält: während einer Schockreaktion setzt der Schizoide dieses Netzwerksystem ein, um ganz und einheitlich zu kontrahieren. Das ist eine „ganzkörperliche“ Reaktion. Deshalb gibt es hier keine Segmentierung.

    Ich habe auch die gesunde, frei fließende Eigenschaft der Amöbe mit dem rigiden, paralysierten Zustand des Schizoiden verglichen. Auch hier werden die Unterschiede zwischen dem gesunden plasmatischen Status – der fließenden, pulsierenden Amöbe – und dem ungesunden, kontrahierten Zustand – dem rigiden, gefrorenen Schizoiden, deutlich.

    Der letzte Teil dieses Artikels zeigt ein Modell von zwei grundsätzlich verschiedenen Reaktionen des Organismus auf Stress: Die erstmögliche Reaktion im Mutterleib und in der frühen Kindheit ist plasmatisch; die sich später entwickelnden Reaktionen beruhen hingegen auf dem kognitiv/neuromuskulären System. Meiner Behauptung liegt die Idee zugrunde, dass der Organismus im Mutterleib und in der frühen Kindheit sozusagen wie eine „Amöbe“ funktioniert, dem als einzige Abwehr auf Stress die plasmatische Kontraktion bleibt.

    Erst später, wenn das Kind neuromuskuläre und kognitive Fähigkeiten entwickelt hat, kann es sie auch dazu einsetzen, ein Abwehrsystem aufzubauen. Je älter das Kind ist, desto weniger wird es für seinen Schutz vom plasmatischen System abhängig sein, da sich ja jetzt das kognitiv/-neuromuskuläre System entwickelt bzw. entwickelt hat.

    Eine kognitiv/neuromuskuläre Reaktion auf Stress bedarf willkürlich einsetzbarer Muskeln, bedarf des Zentralen Nervensystems, eines Bewusstseins und es bedarf einer segmentalen und lokalen Reaktionsfähigkeit – z.B., dass die Schultern in Angst hochgezogen werden, die Füße aber „geerdet“ bleiben.

    Die Reaktion des Schizoiden ist jedoch eine ganzkörperliche Kontraktion. Sie schließt die unwillkürliche Muskulatur und das Vegetative Nervensystem (vor allem das vegetative Nervensystem des Verdauungstraktes) mit ein, so dass z.B. die Schultern auch hochgezogen werden, die Füße aber nicht geerdet bleiben. Durch die Fähigkeit des Plasmas sich zu vernetzen, kommt es zu einer Ganzkörperkontraktion, vergleichbar der plasmatischen Kontraktion einer Amöbe, wenn sie unter Stress steht.

    Im zweiten Teil behandle ich die Themen Schock und Trauma und biete ein Modell zur Entwicklung von plasmatischen und neuromuskulären Charaktertypen an. Außerdem werde ich verschiedene, speziell hierfür entwickelte Arbeitsansätze vorstellen: Körperarbeit, die insbesondere die Funktion des Bindegewebes miteinbezieht, kognitive, d.h. verbale Arbeit speziell für diesen Themenkreis, sowie die Mobilisation der Einwärtsbewegung der Pulsation auf der energetischen Ebene, dem „Instroke“.

    PLASMA UND „ERNÄHRUNG“

    Bevor wir die Themen Schock und Trauma behandeln, möchte ich erklären, warum ich die Funktion des Plasmas für die Entwicklung des schizoiden Charakters für so bedeutend halte. Ich werde aufzeigen, wie eine Funktionsstörung des Plasmas sich direkt auf die Entwicklung des schizoiden Prozesses auswirkt.

    Im ersten Teil habe ich die speziellen Charakteristika des Plasmas erwähnt und habe in seiner Dysfunktion die Grundlage für den schizoiden Prozess erkannt. Gray´s Anatomielexikon behauptet, dass ein ganz bemerkenswertes Charakteristikum des Plasmas die Ernährung ist: nämlich seine Fähigkeit, spontan alle Stoffe für sein Wachstum und Weiterbestehen anzuziehen. Gray führt weiter aus, dass in gesundem Zustand auch „Fremdsubstanzen“, z.B. Nahrungsmittel eingeschlossen und aufgenommen werden.

    Wenn wir diese rein biologische Information in Betracht ziehen, müssen wir uns fragen, was die dem Plasma eigene Fähigkeit, sich physisch zu ernähren, mit dem schizoiden Verhalten zu tun hat. Ist nicht das „Ernährtwerden“ ein zentrales Thema für diesen Charaktertyp? Ist nicht der Mangel an „Nahrung“ der Ausgangspunkt, der dem schizoiden Verhalten ganz ursprünglich zugrunde liegt?

    Psychologisch gesehen würde dieser rein biologische Mangel als frühe Kontaktstörung in der Versorgung von physischer und emotionaler Unterstützung bzw. Nahrung beschrieben werden. Mangelnder Augenkontakt zwischen Eltern und Kind, unregelmäßiger, immer wieder unterbrochener Kontakt oder ein Mangel an Wärme und elterlicher Zuneigung, mangelhafte Ernährung aus Unachtsamkeit oder zu viel Spannung und Auseinandersetzungen sind die Faktoren, die Stress erzeugen und die „Ernährung“ des Kindes beeinträchtigen. Sie erzeugen sowohl physisch als auch psychisch und emotional einen unterernährten Zustand.

    Das mangelnde „Bemuttertwerden“ entspricht dem klassisch psychologischen Verständnis der Entwicklung von Frühstörungen (normalerweise nicht nur auf die Mutter an sich, sondern auch auf andere Bezugspersonen, bzw. die Umgebung, bezogen). Diese Erfahrungen beschreiben das Geschehen, wenn wir den Begriff der „Frühstörung“ als den wichtigsten Faktor in der Entwicklung zu einer schizoiden Persönlichkeit verwenden. Das Thema „Nahrungsmangel“ begleitet den Schizoiden physisch und psychisch, d.h. also auch emotional, sein ganzes Leben lang.

    Körperlich wirken Schizoide dünn, unterernährt, unterentwickelt und kalt. Emotional entstammen mangelnde Kontaktfähigkeit und die Probleme mit Liebe und Vertrauen direkt aus diesen frühen Entbehrungen. Sie sind in einer ewigen Spirale des „Nicht-genug-Bekommens“ gefangen; sie sind nicht fähig, von sich aus zu geben. Das hat zur Folge, dass sie nicht wissen, wie sie ihr Leben einrichten könnten, um sowohl physisch als auch psychisch genährt zu werden. Es ist ihnen nicht möglich, sich Raum und Platz in dieser Welt zu schaffen, wo sie sich geliebt, behütet und sicher fühlen können.

    Das Paradoxe sowie das Problem dabei ist, dass ein gut versorgter Organismus auch gut ernährt werden kann. Ist er jedoch nicht ausreichend genährt, dann kann er auch nicht ausreichend versorgt werden. Anders ausgedrückt: Funktioniert das plasmatische System gut, dann kann auch physische und emotionale Nahrung gut aufgenommen und wieder abgegeben werden. Wenn das plasmatische System jedoch kontrahiert ist, dann wurde die Erfahrung „genährt zu werden und sich nähren zu können“ nie gemacht und daher auch nie wirklich gelernt.

    Der Schizoide hat nie erfahren bzw. gelernt, physische und emotionale Nahrung (auf) zu nehmen oder zu geben. Er kann sie weder annehmen, noch anderen geben. Später überträgt sich das, was wir vorher als biologische Fähigkeit zur „Inkorporation“, Einverleibung oder Aufnahme von Nahrung besprochen haben, direkt auf zwischenmenschliche Beziehungen; z.B. die Schwierigkeit, einen Menschen mit schizoidem Charakter zu berühren, zu umsorgen und zu lieben.

    Der Schizoide ist nicht in der Lage zu verdeutlichen, wer er ist, was er braucht und was er geben kann. Die sogenannten „Fremdsubstanzen“, die Nahrung, sind jetzt Liebe, Kontakt und Fürsorge. Die Tragödie ist die, dass diese „Nahrung“, die von außen, von anderen kommt, immer fremd bleibt und niemals „einverleibt“ wird – dass jemand an ihn glaubt und ihm vertraut, so dass sich der Organismus geliebt und umsorgt fühlen könnte.

    Es wird buchstäblich nichts „einverleibt“. Ihre Körper wirken dünn und unterernährt. Sie sind ständig auf der Suche, weil sie nicht das bekommen, was sie brauchen. Ihre Distanziertheit und ihr arrogantes Gehabe ist Ausdruck ihrer Unfähigkeit, etwas aufzunehmen, egal was andere sagen oder tun; sie können es nicht auf- oder annehmen oder glauben, und so bleibt der Mangel an Vertrauen bestehen. Das sind nur einige der Probleme auf der Verhaltensebene, die auf mangelhafter „Nahrungsaufnahme“ beruhen, welche durch die plasmatische Kontraktion hervorgerufen wurde.

    Der Organismus ist außerstande etwas „anzuziehen“, „aufzunehmen“ oder sich etwas „einzuverleiben“. Der plasmatische Zustand verhindert, dass er bekommt, was er will – sowohl auf der physischen, als auch auf der psychischen Ebene. Er ist in jeder Hinsicht unfähig zu „wachsen“.- Er kann gerade überleben. Dieser Kampf ums Überleben ist die Grundlage für die existentiellen Probleme des Schizoiden, deren Wurzeln wiederum in der mangelnden Ernährung – dem Trauma von Frühstörungen – liegen.

    SCHOCK UND TRAUMA

    In der Psychologie wird dieser „unterernährte“ Gesundheitszustand „Schock- oder Traumazustand“ genannt. In beiden Teilen meiner Arbeit sind die Begriffe Schock und Trauma immer wieder aufgetaucht. Obwohl es allgemein üblich ist, diese beiden Begriffe gleichbedeutend zu gebrauchen, möchte ich sie hier genauer differenzieren.

    Um es vereinfacht zu sagen: Nicht jeder Schock ist traumatisierend. Wenn wir mit jemandem arbeiten, kann es vorkommen, dass so etwas wie ein Schockereignis auftaucht. Aber es ist riskant automatisch anzunehmen, dass der Klient traumatisiert oder gar geschockt ist – in dem Sinne, dass der Schock einen langzeitigen, negativen Effekt hat. Es wird wahrscheinlich sogar fruchtlos sein, an diesem „angenommenen“ Schock zu arbeiten.

    Das Wort „Schock“ kommt aus dem Französischen („choquer“) und war ursprünglich der militärische Fachausdruck für eine „vehemente Attacke“. Das Geschehen findet plötzlich und ansatzlos statt und ist von kurzer Dauer. Wiewohl es ein äußeres Ereignis ist, produziert es „innerlich eine Störung der Stabilität und der Beständigkeit“.

    Der Grundgedanke ist, einen Feind durch eine plötzliche, unerwartete Attacke zu „schockieren“ und dann Vorteile durch die „innere Verstörung“ – den Schock -, die kurzfristig durch die Attacke geschaffen wurde, zu gewinnen. Interessant dabei ist, dass die Aktion, die der Attacke folgt, das ist, was bleibende Wirkung hat. Was nach dem Schock kommt, ist der bestimmende Faktor dafür, ob das Ereignis auch eine langdauernde Auswirkung hat.
    Ich würde langzeitige und negative Nacheffekte eines Schocks als „Trauma“ bezeichnen.- Biologisch gesehen ist Trauma chronisch kontrahiertes Plasma.

    „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. Es ist die Reaktion auf ein früheres, äußeres Ereignis (z.B. auf einen Schock). Die Psychiatrie hat ihr Verständnis von „Trauma“ über die Jahre hinweg neu definiert. Es hat sich von einem zuerst formulierten Aufbranden von Angst anlässlich eines äußeren Ereignisses zu einem Aufbranden von Angst anlässlich eines inneren Ereignisses entwickelt.

    Im Laufe der Zeit und durch neue Erkenntnisse wurde die Definition weiter gefasst und wurde als spätere Reaktion zu einem früheren Ereignis verstanden. Schließlich wurde die Definition so gefasst, dass es zu einer Anhäufung von Ereignissen kommt, die das Individuum zwar nicht überwältigten, sich aber auf den Organismus insgesamt negativ auswirken.

    Ich glaube, dass ein Trauma schlussendlich folgendes ist: Stress, der über etliche Zeit hinweg zunimmt, bis zu dem Punkt, wo der Organismus in traumatisierter Art antwortet. Der Organismus leidet unter einer ständigen „Verwundung“. Biologisch ausgedrückt verwandelt sich die Verwundung zu chronisch kontrahiertem Plasma.

    Die „Urknalltheorie“ der traditionellen Psychologie beharrt darauf, dass das Trauma von einem bestimmten Ereignis ausgelöst wurde, und es wird an den Klienten appelliert, dieses Problem zu bearbeiten. Aber der Wert dieser Theorie ist meines Erachtens nach fragwürdig. Ein Beispiel: Eine Person kann in dem Sinn überreagieren, wie „ein Tropfen das Fass zum überlaufen bringt“, z.B. ein Amokläufer, der wahllos auf Leute schießt, weil er einen Strafzettel für Falschparken erhalten hat.

    Man geht nicht hinaus und erschießt Leute, weil man einen Strafzettel für Falschparken erhalten hat. Hier sind andere Faktoren involviert. Wenn es etwas gibt, das den Organismus scheinbar traumatisiert hat, ist es wichtig funktionell abzuschätzen, ob dieses spezielle Ereignis das Verhalten geprägt hat, oder ob es nicht vielleicht eine Anhäufung von verschiedenen Erlebnissen über eine gewisse Zeitspanne hinweg war.

    Nur ganz selten wird ein Organismus von einem einzigen Ereignis geschockt und traumatisiert. Normalerweise entsteht die Traumatisierung dadurch, dass das System durch Stress über eine Zeit lang so „geschwächt“ wird, dass in einer bestimmten Situation eine „Überreaktion“ erfolgt.

    Akuter Schock, Chronischer Schock und Trauma

    Wie schon erwähnt, ist ein Schock normalerweise von kurzer Dauer. Der Organismus kann geschockt werden und sich dann schnell wieder erholen. Das ist eine gesunde Reaktion. Ich möchte sogar noch weiter gehen und behaupten, dass ein gesunder Organismus zur Kontraktion bei einem Schockerlebnis fähig sein muss, um als gesund zu gelten. Der Organismus sollte imstande sein, Schock zu erfahren, zu überstehen und wieder zu einem inneren Gleichgewicht finden zu können. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts nach einer Schockerfahrung zeigt sich im Muskelsystem, im sympathischen und parasympathischen Funktionieren und im Plasma.

    Aus dieser Unterscheidung ergeben sich nun zwei verschiedene Schockzustände: Der erste ist ein akuter Schock, der eine plötzliche und in erster Linie muskuläre Kontraktion auslöst, die auch mit einer Kontraktion des Plasmas einhergeht. Beides wird sich schnell wieder erholen, wenn der Organismus vor dem Schockerlebnis relativ gut funktioniert hat und der Schock nicht zu dramatisch war. Der zweite Schockzustand hingegen ist eine chronische plasmatische Kontraktion, die den Schock sozusagen „nicht mehr frei gibt“. Diese Kontraktion führt zum ständigen „Festhalten“, im Sinne der Muskelpanzerung, so wie wir sie vom klassischen Reichschen Konzept her kennen.

    Die Muskeln allein können aber eine Kontraktion nicht über Jahre hinweg aufrechterhalten. Ein langzeitiges Festhalten oder Blockieren wird nur dann möglich, wenn sich ein fibröses Unterstützungssystem aus dem kontrahierten Plasma entwickelt. Die Belastung des Plasmas aktiviert das Bindegewebe, das weitere Fasern in und um das Muskelgewebe entwickelt, um das „Festhalten“ zu unterstützen.

    Die muskuläre Reaktion ist ein spontaner Reflex zur Panzerung, der sich von der chronischen Panzerung des Bindegewebes unterscheidet: die Muskeln haben die Fähigkeit schnell kontrahieren zu können und schnell wieder nachlassen zu können. Das Bindegewebe hingegen antwortet auf Stress langsamer. Es braucht Zeit, sowohl bei Anspannung zusätzliche Fasern aufzubauen, als auch diese bei Entspannung wieder abzubauen. Dieser Mechanismus erklärt beides: sowohl die langzeitige Entwicklung von anhaltendem Stress als auch den Grund, den Grund, warum der Organismus einige Zeit braucht, um sich in einen gesunden Zustand zurückverwandeln zu können, sobald die Spannung nachlässt oder wegfällt.

    Ich behaupte also, dass es nicht zu einem anhaltenden Schock und sicherlich zu keinem Trauma kommen wird, wenn es nicht auch zu einer chronischen plasmatischen Kontraktion und einem daraus resultierenden fibrösen Aufbau kommt. Muskuläre und plasmatische Kontraktion sind bei einem Schock normal. Also wird sich beides in einem gesunden Organismus wieder auflösen. Ein Trauma entspricht jedoch einer chronischen Kontraktion.

    Beispiele für Schock und Trauma

    In einer Schocksituation mag das plötzliche Ereignis traumatisierend erscheinen. In begrenztem Maße ist es das auch. Aber ein einzelnes Ereignis ist nur dann traumatisierend, wenn der Organismus schon durch vorangegangenen Stress geschwächt ist. Ein gesunder Organismus könnte dasselbe Ereignis erfahren, sich im Schock kontrahieren, sich dann aber wieder entspannen und davon befreit sein.

    In dem im ersten Teil dieses Artikels angeführten Beispiel eines schizoiden Klienten sprachen wir über dessen Frühstörung durch die Trennung des Säuglings von der Mutter. Ich möchte jetzt gerne verschiedene Interpretationen dieses Ereignisses darstellen, um zu zeigen, dass die Trennung von der Mutter nicht unbedingt das eigentlich traumatisierende Ereignis war.

    Eine Möglichkeit ist die, dass sich das Trauma aus einer Reihe von Stresserlebnissen im Mutterleib entwickelt hat, also schon vor der Geburt und der anschließenden Trennung bestand. Die Lebenslage und Lebensumstände der Mutter hätten für das ungeborene Kind so zerstörerisch sein können, dass es schon vor der Geburt traumatisiert war.

    Oder: das Trauma könnte auch durch Geschehnisse ausgelöst worden sein, die nach der Trennung passiert sind. Die Art und Weise, wie mit der Trennung umgegangen wurde, ist dann bestimmend dafür, ob der akute Trennungsschock chronisch wird und letztendlich den Organismus traumatisiert. Für die Arbeit mit unserem Klienten, dessen Mutter bei der Geburt „verrückt“ wurde und der eine Zeit lang bei einer Tante Aufnahme fand, ergeben sich also einige Fragen: Wie etwa kann das Befinden im Leib einer Mutter sein, die „verrückt“ wurde, als das Kind zur Welt kam? Von diesem Blickwinkel aus könnten wir behaupten, dass der Klient schon vor der Trennung traumatisiert war.

    Es ist möglich, dass die Trennung – außer für einen „falschen“ Grund – keine Auswirkung hatte. Es ist der „falsche“ Grund, weil die vorher schon bestehende plasmatische Kontraktion zeigt, dass der Organismus bereits traumatisiert war. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass ein potentielles Schockerlebnis den Organismus unter Umständen überhaupt nicht in Mitleidenschaft ziehen muss. Das Neugeborene ist sozusagen bereits zu gepanzert, um die Auswirkungen der Trennung spüren zu können.

    In diesem Beispiel widersteht der Säugling erfolgreich der Gefahr, die die Trennung bedeutet, aber unglücklicherweise „widersteht“ er auch beharrlich den „nährenden“ Dingen, die ihm entgegengebracht werden könnten. Die Trennung hätte ihn dann nicht traumatisiert. Wäre er von einer liebevollen Tante aufgenommen worden, hätte es auch passieren können, dass er ihre Fürsorge und anderes „Nährendes“ nicht aufnehmen hätte können. Das ist ein Beispiel dafür, dass ihn die Trennung nicht „geschockt“ hat, weil dem ein früheres Trauma zugrunde liegt.

    Wir könnten auch fragen, welche Art des Bemutterns er nach seiner Geburt von einer Frau erhalten hat, die zum Zeitpunkt der Geburt „verrückt“ wurde. In diesem Fall könnten wir verschiedene Gründe dafür anführen, dass es nicht die Trennung selbst war, die sein Problem ausgelöst hat, sondern die Tatsache, dass er von einer verrückten Mutter aufgezogen wurde. Wäre unser Klient weniger „schizoid“, wenn er länger bei seiner Tante geblieben wäre, anstatt zu seiner Mutter nach ihrer „verrückten“ Phase zurückzukehren?

    Es sieht so aus, als ob die Trennung das schockierende Ereignis sein könnte, aber in Wirklichkeit ist das Traumatisierende oft das, was dem Schockerlebnis folgt. So wie in einer Militäroperation hat der Schock nur dann eine anhaltende Wirkung, wenn es auch zu einer Nachfolgeaktion kommt, also das „System“ noch aus dem Gleichgewicht geworfen und innerlich gestört ist.

    Dasselbe trifft für die Traumatisierung eines Kleinkindes zu. Welche Art der Fürsorge erwartete unseren Klienten zu Hause nach der Trennung? Waren die Verhältnisse nun unterstützend und nährend oder gab es eine Erweiterung und Fortsetzung für den ursprünglichen Grund der Trennung? Zu dieser Tragödie käme noch hinzu, dass das Kind die „Ernährung“ nicht mehr hätte aufnehmen können, auch wenn die Mutter heimgekommen wäre und es ihr möglich gewesen wäre, liebevoll und fürsorglich zu sein.

    Eine erste Interpretation wäre also die, dass das Kind nicht erst durch die Trennung, sondern schon vorher traumatisiert wurde und in einem gewissen Sinn nichts mehr „spüren“ konnte. Das heißt, dass es zu keinem Schockerlebnis kam, weil es schon ein früheres Trauma gab. Eine andere wäre die, dass es nicht die Trennung selbst war, die das Trauma verursacht hat, sondern das, was nach der Trennung geschah. Das wäre eine Traumatisierung nach dem Schock. Ein Schock, der nicht aufgelöst wurde.

    Eine dritte Möglichkeit ist die, dass der Organismus traumatisiert wurde, gerade weil es ein früheres Schockerlebnis gab. In diesem Beispiel überlädt vorangegangener Stress den Organismus, so dass das nächste stressende Ereignis dazu führen könnte, dass „ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt“ und der Organismus traumatisiert wird. Wenn der erwähnte Klient durch schlechte Bedingungen im Mutterleib gestresst wurde, dann könnte er leicht durch die Trennung von der Mutter traumatisiert worden sein, weil sein Abwehrsystem durch die ungünstigen Bedingungen im Mutterleib geschwächt wurde. Hier wird der bereits geschwächte Organismus durch die Trennung geschockt – und bleibt geschockt, traumatisiert.

    In diesen Beispielen wird ein Paradoxon deutlich: Einmal verursacht die Kontraktion eine Art von Stärke, die ein nächstes Schockerlebnis überwinden hilft, während in einer anderen Situation die Kontraktion den Organismus schwächt und ihn so noch empfindlicher macht.

    Zum Überblick können wir folgende Schlüsse ziehen: Der Schock ist eine plötzliche, von außen verursachte Störung des Gleichgewichts des Organismus, die mit einer Kontraktion einhergeht. Muskulatur und Plasma werden kontrahiert. Im Idealfall kehrt die natürliche Spannung zurück, wenn das Schockereignis vorbei ist. Aber Stress kann so lange akkumuliert werden, bis der Organismus permanent davon überflutet ist – das bezeichnen wir als „traumatisiert“.

    Ein Trauma ist die „Langzeitreaktion“ auf Stresssituationen. Ein Trauma ist der psychisch/emotionale Ausdruck der plasmatischen Kontraktion, die vom fibrösen Aufbau des Bindegewebes abhängt. Wir können akuten Schock erleben, der sich auflöst und akuten Schock, der chronisch wird. Wenn er sich nicht auflöst, kommt es zum Trauma.

    Warum sollte sich der eine Schock auflösen und der andere nicht? Wir werden dieses Thema anschließend in unserem „Entwicklungsmodell“ behandeln. Jetzt schon können wir aber vorwegnehmen, dass ein Grund dafür im Zustand des Plasmas vor dem Stressereignis liegt. Die Funktion oder Dysfunktion des Plasmazustands bestimmt die Auswirkungen von Stress. Dabei gibt es drei mögliche Reaktionen:

    1. der Stress geht einfach unbemerkt wieder weg,
    2. der Organismus ist geschockt und der Schock verschwindet wieder,
    3. der Organismus ist geschockt, aber der Schock bleibt, und es kommt zu einer Traumatisierung des Organismus, geht also in eine Langzeitentwicklung über, die vom Gesundheitszustand des Plasmas abhängig ist. Je schlechter sein Zustand vor dem Ereignis ist, desto schlechter wird die Reaktion auf ein stressendes Ereignis sein. Die „Qualität“ (des Plasmas) bestimmt die Erfahrung.- Daraus ergeben sich die Stadien: Stress – akuter Schock – chronischer Schock – Trauma.

    Entwicklungsmodell

    Das Entwicklungsmodell entstammt einer Diskussion über jene Faktoren, die für die Entstehung des schizoiden Zustandes, sowie für die komplexen Wechselwirkungen verantwortlich sind.

    Entwicklungsfaktoren

    Drei Hauptfaktoren wirken bei Schock und Traumatisierung: Physische Erbfaktoren, Zeitpunkt des Ereignisses und die Intensität des Erlebens. Das kann einfach festgestellt werden, aber die Interaktion zwischen diesen drei Faktoren verkomplizieren die Fragestellungen zur Entwicklungsgeschichte immens.

    Um zum Beispiel die Intensität eines Ereignisses bewerten zu können, müssen wir den Zeitpunkt des Geschehens kennen. Dies ist normalerweise der am leichtesten zu bestimmende Faktor. Je früher der Stress einwirkt, um so stärker wirkt er traumatisch. Wir müssen in unseren Überlegungen auch die Erbfaktoren bedenken, obwohl wir heute noch wenig darüber wissen. Außerdem müssen wir etwas über den Zustand des Organismus wissen, bevor das, bzw. die Ereignisse einsetzen und ebenso etwas darüber, was danach passiert.

    Wie wir schon erwähnt haben, muss ein Ereignis den Organismus nicht unbedingt schockieren, wenn der plasmatische Zustand gut, d.h. gesund ist. Wenn jedoch ein Ereignis auf einen, aus früheren Lebenserfahrungen gestressten Organismus einwirkt, hat das Ereignis eine scheinbar stärkere Intensität. Es ist schwierig, die Intensität genau zu beurteilen.

    Außer dem Zeitpunkt des Ereignisses und dem Zustand des Plasmas, hängt die Verarbeitung der Erfahrung davon ab, was unmittelbar nach dem schockierenden Erlebnis passiert. Üblicherweise sind hier die Eltern involviert. Die Art und Weise, wie sie mit der Situation umgehen, hat für das Kind eine Langzeitwirkung. Es wird kompliziert, wenn, wie häufig, die Eltern selbst die Auslöser der negativen Erfahrung sind. Sie befinden sich dann in einer Doppelrolle: einerseits sind sie die Verursacher und andererseits die potentiellen „Wiedergutmacher“ des Problems.

    Als Ergebnis interagiert eine Konstellation von Faktoren unterschiedlicher Kombinationen, die ganz verschiedene Reaktionen des Organismus hervorbringen. So wird verständlich, dass es normalerweise nicht das historische Ereignis selbst ist, das von Bedeutung ist. Es mag immer noch wichtig sein, mit dem auftauchenden Ereignis, das die Ursache des Problems zu sein scheint, zu arbeiten. Aber es muss nicht unbedingt im klassischen Sinn durchgearbeitet werden. Nun können wir das Ereignis in einen sinnvolleren und dynamischeren Zusammenhang stellen, der uns eine tiefere Einsicht – sowohl in den Ursprung als auch für die Bearbeitung des Problems, gibt.

    Der plasmatische Charakter

    Wie schon angedeutet, bestimmt die Kombination dieser verschiedenen Faktoren darüber, ob die Charakterentwicklung auf einer plasmatischen oder einer neuromuskulären Reaktion beruht. Um die Unterschiede aufzuzeigen, werden wir die Entwicklungsgeschichte der zwei Haupttypen darstellen: Der plasmatische Typ (primär und sekundär schizoid) und der kognitiv/neuromuskuläre Typ. Bezeichnenderweise sind reine Charaktertypen selten. Die meisten Menschen sind Mischungen dieser zwei Entwicklungsmöglichkeiten.

    Der rein plasmatische Charaktertyp entspricht dem schizoiden Zustand. Der Organismus zeigt eine Geschichte früher Störungen, die permanent im Plasma in Form einer organismischen Kontraktion verankert ist. Die organismische Abwehr basiert in erster Linie auf dieser Kontraktion. Mit dem frühen Einbruch eines schockierenden Ereignisses, welches nicht aufgelöst werden kann, bleibt der Organismus traumatisiert. Der Organismus hat sich in der ihm einzig möglichen Art verteidigt – mit einer plasmatischen Ganzkörperkontraktion, die chronisch wird.

    Die erste – und in diesem frühen Alter einzige Abwehrmöglichkeit besteht im plasmatischen Rückzug von der Körperperipherie ins Zentrum. Der Organismus hat Angst oder sogar Terror erfahren. Die Kontraktion hält diese Emotionen zurück, damit die Erfahrung abnehmen und nachlassen kann.
    In diesem frühen Entwicklungsstadium kann das Kind nicht davonlaufen. Es kann nicht einmal erkennen, geschweige denn kognitiv verarbeiten, was ihm widerfahren ist.

    Es kann das Geschehene weder konzeptionalisieren noch rationalisieren. Es kann seine Muskulatur noch nicht in einer organisierten Art bewegen, wie es zum Zurückschlagen oder Fortlaufen notwendig wäre, um sich zu schützen. Es kann extreme „Unlust“ empfinden, aber dies ist weder dasselbe noch so effektiv wie eine aggressive Reaktion – etwa einen Gegenangriff zu starten. Es hat also keine andere Verarbeitungs- oder Verteidigungs- bzw. Abwehrmöglichkeit, als die plasmatische Kontraktion.

    Die kognitiv neuromuskuläre Struktur

    Wenn das Kind älter wird, verliert die plasmatische Reaktion an Bedeutung, da sich nun das neuromuskuläre und kognitive System entwickelt. Mit der konstanten Entwicklung beider Systeme hat das Kind nun eine größere Auswahl und mehr Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung – nicht nur für seine Entwicklung, sondern auch für seine Verteidigung (siehe Diagramm 1).

    Allgemein kann man sagen, dass sich der Schizoide in der Zeit zwischen der Empfängnis und dem zweitem Lebensjahr entwickelt. Nach dem zweiten Lebensjahr gewinnt das kognitiv/neuromuskuläre System an Bedeutung, und wir können dann Kombinationen von plasmatischem und kognitiv/neuromuskulärem Zusammenspiel beobachten. Nach dem sechsten Lebensjahr überwiegt normalerweise die kognitiv/-neuromuskuläre Struktur.

    Nichtsdestotrotz sollten wir vorsichtig sein, solch eindeutige Feststellungen zu treffen. Wie schon erwähnt, gibt es viele sich gegenseitig beeinflussende Faktoren, die Stress, Trauma und die sich daraus ergebende Entwicklung des Organismus bestimmen. Die Intensität eines Ereignisses ist ein relativer Begriff und kann aus unterschiedlichen Gründen verschiedene Auswirkungen haben.

    Zwei Dinge sind für ein Kind in seiner Fähigkeit – sowohl in einer gesunden, als auch in einer blockierten Art, sich zu verteidigen, wichtig: Erstens das „Gehenlernen“ und zweitens die Entwicklung einer durchsetzungskräftigen Aggression. Sie sind funktional identisch und sind im physischen, kognitiven und emotionalen Bereich verkörpert.
    Das Gehenlernen ist der Beginn eines Differenzierungsstadiums. Es symbolisiert den Anfang der Beherrschung der Koordination des kognitiv-neuromuskulären Systems.

    Es vermittelt Selbstgefühl, Stärke und Vertrauen in die eigene Kraft. Es die Fähigkeit sich physisch „hinauszubewegen“, die Umwelt zu beeinflussen und die Möglichkeit sich willentlich von gefährlichen Situationen zu entfernen. Das Gehen lernen gibt Kontrolle und Sicherheit. Gleichzeitig entwickelt der Organismus kognitive Fähigkeiten. Das Bewusstsein erweitert sich, sobald das Kind mehr und mehr bemerkt, dass die Welt in einer größeren Distanz zu ihm steht. Nun gibt es die Möglichkeit sich auf etwas hinzuzubewegen und es zu verändern. Es entwickelt ein Gespür für Stärke und Unabhängigkeit.

    Auf der emotionalen Ebene stellt sich derselbe Entwicklungsprozess als durchsetzungskräftige Aggression dar (zu lat. aggredi „auf etwas zugehen“). Wie wichtig es ist zu lernen, wie man seinen Ärger auf ein Objekt richtet, kann nicht genug betont werden. Es handelt sich dabei um das emotionale Äquivalent zum physischen Angreifen oder Flüchten, bzw. dem kognitiven Äquivalent etwas zu verstehen – zu begreifen.

    All diese Phänomene sind in einer geschlossenen organismischen Reaktion organisiert, wenn sich das Kind in Gefahr, z.B. sich angegriffen fühlt. Um sich zu schützen, kann es weglaufen oder angreifen. Es kann die Gefahr sehen. Visuell, im Sinn von vorhersehen und sich darauf vorbereiten. Es kann feindselig werden. Es kann streiten, um sich zu durchzusetzen. Die zunehmenden Kräfte können auf ein Objekt gerichtet und kontrolliert werden oder im eigenen Dienste genutzt werden, um ein unerwünschtes Geschehen zu verhindern. (Versuchen Sie ein zweijähriges Kind gegen seinen Willen in einen Kindersitz zu setzen!)

    Hier beginnt sich das Abwehrsystem von der automatischen vegetativ-plasmatischen Reaktion in Richtung des wachsenden kognitiv/neuromuskulären Systems, das vom Zentralen Nervensystem gesteuert wird, zu verschieben.
    Der Zeitpunkt dieser Akzentverschiebung bedeutet auch eine Änderung der ursprünglichen Instroke-Orientierung in eine Outstroke-Orientierung.

    Es würde an dieser Stelle zu weit gehen, diesen Schritt ganz beschreiben zu wollen, aber ich möchte es trotzdem erwähnen: Von der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, wo das Kind in der Lage ist, die oben beschriebenen Aufgaben zu beherrschen, liegt die organismische Gesamtpulsation immer noch mit ihrem Schwerpunkt auf dem „Instroke“ – der Sammlungsphase, die einen organismischen Organisationsprozess repräsentiert. In einer sogenannten „Übergangszeit“ wird der „Outstroke“ langsam wichtiger und zeigt sich im Gehenlernen, indem es eine größere Anzahl von Objekten in seiner Umgebung bemerkt, etc. All diese Aktivitäten sind Entwicklungsmerkmale des Outstrokes.

    In der Spätadoleszenz und im frühen Erwachsenenalter erreicht dieser seinen Höhepunkt. Der Übergang von der Instroke- zur Outstroke-Dominanz ist gleitend; gleichzeitig kommt es zu einer Verschiebung von einem vorwiegend plasmatischen zu einem vorwiegend kognitiv/neuromuskulären Reaktionsmuster. (Anm.: „kognitiv/neuromuskulär“ wird nachfolgend tlw. als „k/nm“ bezeichnet.) Es ist eine unaufhaltsame Bewegung in Richtung k/nm-Gebrauch, als eine wichtige Kontakt- und Kontrollmöglichkeit sowie der Vermittlungsmöglichkeit des Kindes zwischen sich und der Welt. Wenn vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr die Entwicklung gut läuft, wird das Kind plasmatische und k/nm Reaktionen zu gleichen Teilen einsetzen.

    Jetzt übernimmt die plasmatische Reaktion die Rolle eines Hilfssystems für den Fall, dass das k/nm Verteidigungssystem zusammenbricht. Die erste Möglichkeit zur Verteidigung ist in diesem Stadium die Entwicklung des k/nm Systems, das in der Entstehungszeit aber oft unangemessen ist und noch leicht durch die „Abenteuer des Lebens“ überwältigt werden kann. Das Kind wird dann wieder plasmatisch reagieren. Z.B. versucht das Kind ein „großer Junge“ zu sein, und das mag auch schon bis zu einem gewissen Grad funktionieren. Wenn aber sein k/nm System überwältigt wird, fühlt es sich bedroht und kann plötzlich in ein „Baby“-Verhalten zurückfallen. Es gibt seine neu entdeckte „Männlichkeit“ auf und läuft zu seiner Mutter, um sich trösten zu lassen.

    Sobald das k/nm System gut entwickelt ist, wird es, entsprechend den Möglichkeiten die dem Kind vermittelt wurden, dominieren. Die Entwicklung eines stabilen k/nm Systems ist von der früher stattfindenden Entwicklung des plasmatischen Systems abhängig. Der Gesundheitszustand bzw. die Schwere der Störung, die dem plasmatischen System zugefügt wurde, wird direkt in der Entwicklung des k/nm Systems widergespiegelt. Wenn das plasmatische System relativ gesund und ungestört geblieben ist, hat das k/nm System eine solide Basis, um sich gut entwickeln zu können. Wenn das plasmatische System jedoch traumatisiert wurde, dann ist jede weitere Entwicklung ernsthaft behindert.

    So ist erklärbar, warum klassische Schizoide so „dünn“ sind. Es gab keine Möglichkeit dafür, dass sich die Muskulatur gut entwickelt. Das plasmatische System kontrahiert zum Zentrum hin. Periphere Entwicklung, wie z.B. eine gute Ausbildung des Muskelgewebes findet wegen der starken Kern-Kontraktion nicht statt. Es gibt keinen nach außen gerichteten Energiefluss, der die Muskelentwicklung fördert. Das gleiche gilt emotional. Es gibt kein anhaltendes Strömen vom Herzen weg in Richtung des geliebten Objektes.

    In Fortsetzung der Entwicklung wird ab dem sechsten Lebensjahr das k/nm System beständig dominieren, wenn das plasmatische System nicht gestört wurde. Ist das k/nm System erst einmal gut etabliert, übernimmt es vorrangig den Schutz für den Organismus. Das Kind ist nun in der Lage, Angriffe abzuwehren und Stresssituationen zu verarbeiten, indem es auf das später entwickelte System zurückgreift, um sich gegen tiefgehende Verletzungen auf der plasmatischen Ebene zu schützen.

    Die Vorherrschaft des k/nm Systems zur Verteidigung entspricht dem klassischen Reichianischen Konzept des Muskelpanzers. Aus diesem Prozess heraus entwickeln sich andere Charakterstrukturen, die zunehmend mehr kognitiv-neuromuskulär funktionieren.

    Das folgende Diagramm zeigt die abnehmende Bedeutung des plasmatischen Systems, sobald das kognitiv-neuromuskuläre System zu überwiegen beginnt. Die gestrichelte Linie stellt den plasmatischen Prozess und die durchgehende Linie den kognitiv/neuromuskulären Prozess dar. Es verdeutlicht den gleitenden Übergang von einem plasmatischen zu einem neuromuskulären Funktionieren.

    Dieses Diagramm zeigt, dass ein „echter“ schizoider Prozess durch eine Frühstörung verursacht wird, die sich biologisch in einer systematischen Störung der plasmatischen Funktion zeigt. Mit diesem Schema können Frühstörungen bis zum sechsten Lebensjahr charakterisiert werden.

    Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz.

    Fortstetzung in Bukumatula 5/98

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    Bukumatula 4/1998

    Die biologischen Grundlagen des schizoiden Prozesses, Teil 4

    Fortsetzung von Bukumatula 4/98
    Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
    Will Davis

    Der primär und der sekundär schizoide Charakter – zwei plasmatische Typen

    Von der Geburt an bis zum fünften oder sechsten Lebensjahr ist das sich entwickelnde neuromuskuläre System instabil und die plasmatische Reaktion immer noch bestimmend. Solange das neuromuskuläre System nicht stark genug ist, Stresssituationen alleine zu bewältigen, kontrahiert der Organismus plasmatisch. Das erste Abwehrsystem, das kognitiv/neuromuskuläre, wird so geschwächt, dass das zweite, das plasmatische Abwehrsystem benötigt wird, um den Angriff abzuwehren.

    Deshalb ist es möglich, dass ein schizoider Charakter während dieser Zeit eine plasmatisch-/kognitiv-neuromuskuläre Mischstruktur entwickelt. In diesem Fall bezeichnen wir den Charakter als „sekundär schizoid“ (im Gegensatz zum primär schizoiden Charaktertyp, der noch mehr von der plasmatischen Kontraktion abhängig ist). Abhängig davon, wie man orale-, narzisstische-, Borderline- und symbiotische Strukturen definiert, können diese Charakterstrukturen der sekundär schizoiden Kategorie zugeordnet werden.

    Üblicherweise arbeiten beide Systeme zusammen. Hierbei entsteht eine Mischung, in der das plasmatische System überwiegt – dies wird als sekundär schizoider Prozess bezeichnet. Wird der Organismus z.B. durch einen Angriff gestresst, dann könnte das kognitiv/neuromuskuläre System völlig zusammenbrechen und das plasmatische System kontrahiert bleiben. Im wesentlichen handelt es sich dann um ein primäres schizoides Funktionieren.

    Nachfolgend möchte ich einige Unterschiede zwischen dem primär und dem sekundär schizoiden Charakter anführen:

    1) Primär schizoider Charakter: Die Störung fand sehr früh statt und war schwerwiegend. Er entsteht dann, wenn das plasmatische System das einzig zur Verfügung stehende Abwehrsystem ist. Emotional bewegt er sich mehr am Rande der Angst. Er lebt näher am existentiellen Terror der in ihm wohnt, und die Möglichkeit, dass dieser auch bei geringster Provokation ausbrechen kann, ist groß. Dementsprechend reagiert er auf eine empfundene Bedrohung mit Angst. Er ist nicht imstande sich durch gesunde Aggression zu verteidigen. Der Versuch, Ärger auszudrücken, endet in einem Gefühl der Ohnmacht.

    Er ist physisch und psychisch fragil. Physisch ist dieser Mensch dünner, kleiner und weniger in seinem Körper geerdet. Mystizismus und Erfahrungen „außerhalb des Körpers“ sind unter diesen Strukturen verbreitet. Dies ist leicht verständlich: es ist nicht angenehm in so einem Körper zu „wohnen“.

    2) Sekundär schizoider Charakter: Er lebt in großer Angst, an die er sich aber durch die emotionale und physische Entwicklung, die auf der kognitiv/neuromuskulären Ebene stattgefunden hat, einigermaßen anpassen kann. Dies ist ein Schizoider, dem Aggressionen zur Verfügung stehen. Wie auch der primär Schizoide, weiß er, dass ihm etwas Schreckliches widerfahren ist, aber die Fähigkeit, sich darüber auch zu ärgern unterscheidet ihn von ersterem. Das ist eine Entwicklungsgeschichte, die wir erst Jahre später sehen, weil die Ereignisse zu einem Zeitpunkt stattfanden, als er schon zum Ausdruck von Ärger als Selbstschutz fähig war. Wenn er, was oft vorkommt, eine Bedrohung erfährt, wehrt er sie mit kaltem und scharfem Ärger ab. Er hat einen beißenden und sarkastischen Humor. Es steht ihm eine besser entwickelte Muskelmasse zur Verfügung, womit er Angriffe von außen sowie die innere Erfahrung aufkommender Emotionen – vor allem Angst – besser als der primär schizoide Charakter bewältigen kann. Dieses mehr an physischer Masse gibt dem Körper ein Gefühl von Stärke und Sicherheit.- Er ist besser in seinem Körper „verankert“.

    Die Empfindungen werden im wahrsten Sinne des Wortes durch den längeren Weg durch das Gewebe, verlangsamt. Aufgrund der Muskelmasse trifft ein Angriff nicht direkt das „Innerste“. Es gibt mehr Raum zwischen der Peripherie und dem „Core“. Wenn Angst aufkommt, wird sie von der Muskelmasse verlangsamt und kontrolliert.

    Weil der primär Schizoide so „dünn“ ist, gibt es praktisch keinen „inneren Boden“. Die Peripherie – die äußere Grenze seines physischen und psychischen Seins – befindet sich direkt an seinem Core. Es gibt keine Masse und keinen Raum zwischen dem Core und der Peripherie, um Eindringendes zu filtern. Deshalb wird alles, was von außen mit der Peripherie in Berührung kommt, sofort das Innerste treffen. Das ist die physische Grundlage für seine Probleme mit Vertrauen und/oder Übergriffen. Es erklärt, warum er so verletzbar in dieser Welt lebt.

    Auf der rein physischen Ebene erlebt der muskulär entwickelte sekundär schizoide Charaktertyp anderes. Er kann das von außen auf ihn Zukommende und die von innen aufkommenden Gefühle besser kontrollieren.

    Dies gilt selbstverständlich auch für alle anderen kognitiven und psychischen Strukturen, die zumindest einiges an sekundärer Struktur aufbauen konnten. Wenn ein Kind z.B. lernt sich daran zu erinnern was geschieht, wenn der Vater betrunken nach Hause kommt, kann es sich darauf vorbereiten. Das Verhalten des Vaters wird das Kind immer noch überwältigen, aber um einiges langsamer. Das Geschehen wird besser verarbeitet und weniger schockieren. Das Kind empfindet sich im Recht, auch wenn es den Kampf mit dem Vater verliert, und es kann sich denken, dass es das nächste Mal vielleicht anders sein wird.

    Wir können nun von drei Möglichkeiten der Charakterentwicklung sprechen: von einem vorwiegend plasmatischen Panzerungssystem, von einem vorwiegend kognitiv/neuromuskulären Panzerungssystem und einer Mischung aus beiden.

    Entwicklung bei Spättrauma

    Welchen anhaltenden Effekt kann ein schockierendes Ereignis haben, wenn es in späteren Jahren eintrifft? Obwohl es selten vorkommt, ist es doch möglich, dass sich ein schizoider Zustand erst in einem späteren Lebensabschnitt einstellt. Nur weil schizoides Verhalten sporadisch auftaucht, heißt dies nicht unbedingt, dass es sich auch um eine schizoide Charakterstruktur handelt. Es gibt einen Unterschied zwischen schizoidem Verhalten und schizoidem Charakter.

    1) Die einfachste Erklärung für das späte Auftreten schizoiden Verhaltens ist die, dass es immer schon bestand, aber aufgrund von Kompensation und angepasstem Verhalten nicht erkennbar war. Es war gut verdeckt. Hier würde man ein spezifisches Ereignis, das den Organismus im Erwachsenenalter traumatisiert, leicht mißinterpretieren. Der schizoide Charakter hat sich nicht erst an diesem Punkt entwickelt, sondern erst ein schockierendes Ereignis bringt ihn zum Vorschein.

    Ein Mensch lebt zum Beispiel einen Lebensstil, der schizoide Charakteristika vermeidet oder sogar belohnt. Alle Voraussetzungen, inklusive dem kontrahierten plasmatischen Zustand sind gegeben, aber er ist gut angepasst. Wenn sich dieser Lebensstil ändert, wird sein Verhalten in einem anderen Licht gesehen und erfahren. Models, Athleten oder Schauspieler könnte man als gut angepasste Schizoide bezeichnen. Ihr Erfolg ist von ihrer Jugend abhängig, und sie geraten in großen Stress, wenn sie älter werden. Worüber man in der einen Lebensphase hinweggesehen hat und sogar dazu ermuntert wurde, wird in einer späteren gänzlich unpassend.

    2) Eine zweite mögliche Erklärung ist die, dass der Organismus in einem späteren Lebensabschnitt traumatisiert wird und das schizoide Verhalten nur in bestimmten Lebensbereichen, wie in der Arbeit, der Sexualität, etc., auftaucht. Dies muss sorgfältig beurteilt werden, da es nicht unbedingt Ausdruck einer schizoiden Haltung sein muss, sondern als ein ganz spezifisches Verhalten gesehen werden kann. Es gibt Situationen, in denen jeder „schizoid“ reagieren kann.

    Wir wissen, dass eine wirklich schizoide Reaktion generell eine Ganzkörperkontraktion zur Folge hat. In diesem Fall kommt es aber zu einer lokalen Reaktion, die auf ein Körpersegment begrenzt ist – vergleichbar mit einem „Segment des Lebens“, wie z.B. in Beziehungen zum anderen Geschlecht. Ein Beispiel: Ein Klient erlebte in seiner Adoleszenz ein schockierendes Ereignis, das aber keine ganzkörperliche Kontraktion zur Folge hatte. Das kognitiv/neuromuskuläre System funktionierte und verteidigte den Organismus in bewährter Weise. Dennoch ist es möglich, dass ein Teil des Organismus empfindlicher reagierte,   als es dem   gegenwärtigen Entwicklungsstadium entsprach. Ein Teil könnte dann sozusagen geschockt sein, aber nicht der ganze Organismus.

    Ein anderes Beispiel: Wenn ein gut entwickeltes Mädchen sexuell genötigt wurde, ist es möglich, dass es sich der sexuellen Reifung verschließt. Der Körper entwickelt sich ganz normal bis auf ein Segment – z.B. bleiben ihre Brüste, selbst als Frau, mädchenhaft. Sie wirkt so, als ob es ihr in vielen Lebensbereichen gut ginge, außer im Kontakt zu Männern, da reagiert sie dann sozusagen „schizoid“.

    Schizoides Handeln würde sich also bei näherem Hinsehen auf ein bestimmtes Verhalten begrenzen (z.B. im Kontakt zu Männern). Das „Gespaltensein“ würde sich auf der Verhaltensebene und nicht auf der funktionalen Ebene abspielen. Wenn es sie organismisch auf der funktionalen Ebene getroffen hätte, dann würde man in allen Lebensaspekten Anhaltspunkte dafür finden.

    Auf der Verhaltensebene würde z.B. eine Frau zu bestimmten Zeiten in der Lage sein, Männern zu vertrauen und tiefen Kontakt zulassen können. Sie könnte aber auch immer wieder zutiefst erschreckt werden. Manchmal wäre es möglich einem Mann nahe zu sein und ein anderes Mal überhaupt nicht. Sie selbst hat keine Ahnung warum sich das ändert. In diesem Fall antwortet der Organismus in einer spezifischen Situation so, als ob sie schizoid wäre, aber es ist keine allgemeine Reaktion auf alle Kontakte in ihrem Leben.

    Diese Art schizoiden Verhaltens ist üblicherweise entwicklungsbezogen. Jeder Mensch durchlebt eine bestimmte Entwicklungsphase zum Zeitpunkt des Schocks. Das Mädchen in unserem Beispiel würde mit ihrer neu entdeckten Sexualität „nach außen“ gehen. Als Jugendliche mit ihrer auftauchenden Sexualität, würde sie in diesem Stadium durch einen Angriff stärker verletzt werden als im Erwachsenenalter, wenn sie weiter entwickelt ist und sich sicherer fühlt.

    Die Bedeutung dieser Entwicklungsphase lässt sich anhand eines Kindes darstellen, das die Fähigkeit, auf einer höheren Ebene zu konzeptualisieren, entwickelt hat. Wenn es in diesem Lebensabschnitt einen Schock erlebt, stört das den Entwicklungsverlauf genauso, als würde z.B. der Vater das Zuhause verlassen. Das hätte zur Folge, dass es nie wirklich dahin zurückkehren kann, wo die unterbrochene Entwicklung sich vervollständigen könnte, nachdem sich sein Leben wieder beruhigt hat. Als Erwachsener würde man einfach über sich„hinausgehen“. Man ist aufgefordert, in einer spezifischen, konzeptionellen Weise zu funktionieren, wie z.B. Mathematik zu lernen oder logische Folgerungen aus einer Serie von Fakten zu ziehen. Dies wird gewöhnlich als Lernproblem interpretiert, obwohl das Kind ausreichend intelligent ist. Andererseits ist es dennoch ein Lernproblem. Das Kind hat durch die Störung in einer spezifischen Phase noch nicht „gelernt zu lernen“.

    3) Ein schizoider Zustand entsteht im späteren Leben, wenn trotz eines gut ausgebildeten und gesunden kognitiv/neuromuskulären Systems dieses überwältigt wird. Schwerer sexueller Missbrauch, Quälerei, Kriegshandlungen, Naturkatastrophen, etc., können Menschen in extreme Situationen bringen. Diese Erfahrungen können den Organismus überwältigen, der dann den Ausweg über das primäre plasmatische Funktionieren nehmen wird – die Kontraktion des gesamten Systems.

    Es gibt Untersuchungen über das Schicksal von amerikanischen Kriegsgefangenen im Koreakrieg. Die Nordkoreaner haben die U.S. Soldaten nicht physisch misshandelt, wurden aber verdächtigt, sie einer „Gehirnwäsche“ unterzogen zu haben. In Gefangenschaft starben etliche von ihnen, obwohl sie ausreichend versorgt waren – sie rollten sich in einer Ecke zusammen und starben. Dies waren junge, starke Männer, die bereits gewaltige Anforderungen während des Krieges bestanden hatten. Aber dann wurde ihre Abwehr systematisch bis zu einem autistischen Stadium hin überwältigt, und sie starben.

    Behandlung

    Die klassischen Reichianischen Techniken, die den Organismus stark aufladen, die Muskelpanzerung angreifen und große emotionale Erleichterung herbeiführen können, sind für Schizoide und auch andere Strukturen in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Die klassischen Ansätze passen am ehesten für „Ich-starke Strukturen“, die den Anforderungen dieser Art von Arbeit gewachsen sind. Bei Schizoiden entspricht die plasmatische Kontraktion dem „Ich-Ersatz“, und dieses „Ich“ zu brechen ist gefährlich.

    Wie schon erwähnt, stehen dem Schizoiden für den Fall, dass sich die Kontraktion lösen sollte, keine Reserven zur Verfügung. Er ist zu „dünn“ und kann zwischen Peripherie und Core nicht unterscheiden. Dies erklärt die Empfindlichkeit und die Verletzbarkeit dieser Menschen. Die Muskulatur ist schwach entwickelt, und äußere wie innere Erfahrungen werden sehr stark und sehr direkt wahrgenommen. Es gibt kein Gewebe, das die Erfahrung „verlangsamt“.

    Für den Schizoiden gibt es weder einen Platz im eigenen Körper noch in der äußeren Welt. Der Körper ist zu dünn und zu kontrahiert. Obwohl er sehr zurückgezogen lebt, hat er nicht wirklich einen Raum, in dem er sich wohl und sicher fühlen kann. Auch wenn er immer wieder nach „Innen“ gehen muss, ist es dort dennoch hohl, dunkel und leer – erfüllt von Ängsten und Zweifeln. Er kann für ein Gefühl von Stärke, Wohlbefinden, etc., nicht auf seinen Körper zurückgreifen.

    Die klassische Reichianische Arbeit ist ausdrucksorientiert. Der Schwerpunkt liegt auf dem Outstroke, was gut für kognitiv/neuromuskuläre Strukturen passt. Mit einer stärkeren Entwicklung der Muskulatur und einer projektiven, peripheren Orientierung, können kognitiv/neuromuskuläre Strukturen die körperlichen Anforderungen, die in der Ausdrucksarbeit verlangt werden, besser erfüllen.

    Schizoide sind nach innen orientiert – unglücklicherweise auf kontrahierte Art. Wenn man bei Schizoiden kathartische Methoden anwendet, arbeitet man ihrem energetischen Funktionieren direkt entgegen. Sich der Welt zu öffnen ist das letzte, zu dem sie bereit sind. Alleine die Idee, die hinter den klassischen Methoden steht, wird schon als Bedrohung der Integrität des Organismus wahrgenommen. So läuft man Gefahr, dass der ursprüngliche Schock im therapeutischen Setting wiederholt wird.

    In der Therapie braucht der Schizoide Sicherheit und nicht Bedrohung. Das Thema „Sicherheit“ ist von ganz zentraler Bedeutung. Seine größten Anliegen sind von existentieller Natur: zu „überleben“, sich sicher fühlen zu können und einen Platz in der Welt zu bekommen. Für den Schizoiden sind Vertrauensfragen das zentrale Thema, auf das er immer wieder auch in zwischenmenschlichen Beziehungen trifft – und besonders auch in der therapeutischen Beziehung.

    Therapeutisch gesehen wird das Anwenden einer Methode, die den Outstroke fördert, das Problem nicht nur aufgrund der Sicherheitsfrage vergrößern, sondern auch deswegen, weil der Schizoide Probleme mit invasivem Verhalten hat.

    Aufgrund fehlender Distanz vom Zentrum zur Peripherie reagiert er überempfindlich.- Kontakt wird im allgemeinen schnell als Angriff empfunden. Der Organismus reagiert mit einer Kontraktion; es tauchen Angst und Ärger auf. Klassische Reichianische Techniken werden von „instrokebetonten“ Menschen als überaus invasiv erlebt.

    Um mit den besonders kontraktiven biologischen und psychischen Vorgängen im Schizoiden effektiver umgehen zu können, habe ich die Points & Positions Arbeit entwickelt. Sie setzt direkt an den Verspannungen des Bindegewebes an, während gleichzeitig der Instroke der Pulsation mobilisiert wird.

    Es geht hier also nicht darum, den Muskelpanzer zu durchbrechen und die zurückgehaltenen Emotionen und Bewegungen zu befreien, sondern um die Remobilisierung des Instrokes. Durch den Kontakt zum wiederhergestellten Energiefluss kann der Schizoide seine eigene Stärke wieder zu erleben beginnen. Gleichzeitig entwickelt er ein Gefühl für Sicherheit, weil wieder Energie in den lang verlorenen, unterentwickelten Kern fließen kann. Nun können wir gleichzeitig mit der physischen und psychischen Struktur des Schizoiden sicher und kontrolliert arbeiten.

    Bevor ich zur Arbeit mit dem Instroke und weiteren Ausführungen zur Points & Positions-Technik komme, möchte ich die Wichtigkeit von Reichs funktionalem Ansatz darstellen.

    Funktionelle Bewertung

    Der wichtigste Aspekt in Reichs Vermächtnis ist seine Differenzierung zwischen Verhalten und Funktionieren. Damit geht die Körperpsychotherapie weit über die Psychologie hinaus.

    Das Funktionieren beruht auf der Organisation und dem Einsatz der Lebensenergie. Es handelt sich um eine spezifische, universelle Aktivität, die auch unter wechselnden Bedingungen – ungeachtet dessen, welche physische oder psychische Form die Lebensenergie annimmt – ,konstant bleibt. Der funktionelle Ansatz ermöglicht die Betrachtung der spontanen Organisation der Lebensenergie in all ihren unterschiedlichen Formen.

    In der Points & Positions-Arbeit bewerten wir die Reaktionen des Klienten laufend funktional und nicht verhaltensbezogen. Wenn ein Klient Schlafprobleme hat und sich die Schlaflosigkeit nach einer Sitzung verschlimmert, müssen wir uns fragen, ob wir den Organismus nicht übererregt haben und er deshalb dem Geschehen nicht folgen kann. Wir erhalten eine pathologische Antwort in dem Sinne, dass das Abwehrsystem überwältigt wird, und – wenn dies länger anhält, werden wir Gegenreaktionen in Form von Muskelanspannungen, Projektionen, negativer Übertragung, etc., erleben. Zusätzlich sollten wir fragen: Haben wir den Outstroke der Pulsation aktiviert, wenn es in dieser Situation vielleicht besser gewesen wäre den Instroke zu mobilisieren?

    Oder „erwecken“ wir den Organismus, indem wir die Kontraktion lösen und er mehr zu strömen und zu pulsieren beginnt? Und in welche Richtung erfolgt der Energiefluss – nach innen oder nach aussen?- Bleibt der Klient vielleicht in der Nacht wach, weil er jetzt fähig ist eine tiefere Pulsation zu tolerieren? Ist er fähig mehr an Erregung zu ertragen, weil sich die Depression aufhellt?- Dies wäre eine Betrachtungsweise, die die funktionale Ebene miteinbezieht.

    Ich bin nicht so sehr am Verhalten oder am Symptom selbst interessiert – in diesem Fall an der Schlaflosigkeit, sondern an der Körpererfahrung. Dies hilft uns zu erkennen, aus welcher Ebene die Erfahrung stammt – aus der Verhaltensebene oder der tieferliegenden funktionalen Ebene. Und sie hilft uns auch zu unterscheiden, ob es sich um eine pathologische oder eine funktionelle Reaktion handelt.

    Funktionell betrachtet würde ich die Aussagen dieses Klienten vorsichtig in Frage stellen. Obwohl er die ganze Nacht fast nicht geschlafen hatte, berichtete er, dass er sich am nächsten Tag ausgesprochen wohl fühlte. Er war sehr aktiv, aber nicht nervös, eher entspannt. Er nützte die Zeit für sich und ließ den Tag nochmals Revue passieren. Der Schlaf war dann tief und erholsam.

    Bei dieser Schlaflosigkeit handelt es sich um eine funktionale Reaktion. Auf der Verhaltensebene wäre die Schlaflosigkeit zunächst ein sich verstärkendes, negatives Symptom. Funktional betrachtet sieht es jedoch so aus, als ob er sich auf einer tieferen Ebene wieder zu „bewegen“ beginnt – jedoch zu viel und zu schnell.

    Ein anderes Beispiel handelt von einer Klientin, die berichtete, dass sie „depressiv“ sei. Sie bliebe immer zu Hause, wolle keine Freunde sehen, wäre müde und mache nichts, außer ganze Abende lang fernzusehen. Als ich sie fragte, wie es ihr mit ihrer „Depression“ ginge, meinte sie, dass sie sich eigentlich wohl fühle, aber ihr Verhalten in Frage stelle. Sie dachte, dass sie nicht soviel zu Hause sein und mehr ausgehen sollte.

    Sie hatte mit einem ihrer Kinder wegen Schulproblemen Sorgen. Als ich sie dazu befragte, meinte sie, dass der Kontakt zu diesem Kind besser als je zuvor wäre und die Schulprobleme sich klärten. Sie berichtete auch, dass die Kontakte zu Freunden, obwohl sie diese weniger oft sehe, befriedigender als je zuvor wären.

    Bei einem depressiven Mensch würde sich die Qualität des Kontaktes nach außen nicht intensivieren. Es liegt etwas anderes vor, was ihre „Depression“ erklären hilft: und zwar die Mobilisierung des Instrokes. Diese Frau ist eine nach außen orientierte Person, die eigentlich viele Interessen hat. Indem nun der Instroke mobilisiert wird, beginnt sie mehr nach innen zu gehen, sie kommt mehr zu sich „nach Hause“. Innerlich schätzt sie diesen Prozess und kann sich ihm anvertrauen. Äußerlich bzw. intellektuell ist sie verwirrt, dass vieles anders ist, als sie es gewohnt ist, und sie denkt, dass sie anders sein sollte. Aber dieser gedankliche Prozess ist nicht mit der funktionalen Ebene verbunden. Der Ursprung liegt auf der Verhaltensebene, auf der „Ich-Ebene“. Sieht man sich ihre „Symptome“ an, könnte man heraushören und sich denken, dass sie depressiv sei. Dies könnte sogar von unserer gemeinsamen Arbeit her stammen und uns veranlassen, das Therapiesetting zu verändern.

    Funktional betrachtet geht es ihr jedoch gut. Die Arbeit zeigt Fortschritte, und wir können damit fortfahren, solange es ihr gut geht.

    Points & Positions Körpertherapie

    Die Points & Positions-Körperarbeit beruht auf der Reichschen Annahme einer Lebenskraft, die einem kreativen Prozess entspricht und psychische und körperliche Prinzipien vereint. Sie basiert auf diesem Verständnis, ist aber nicht auf den emotionalen Ausdruck beschränkt. Ich erachte jedes menschliche Verhalten als Ausdruck eines spezifischen energetischen Prozesses. Meine Arbeit stützt sich auf ein Pulsationsmodell, in dem sowohl physische Berührungen als auch verbale Arbeit von Bedeutung sind.

    Physisch wenden wir sanften Druck auf bestimmte Punkte am Körper an. Und indem man den Körper in eine bestimmte Haltung bringt und dabei wieder sanften Druck ausübt, werden Spannungen gelöst und die Grundpulsation mobilisiert.

    Das systematische Vorgehen erlaubt uns, mit dem Netzwerk- und Informationssystem, das vom Bindegewebe geschaffen wurde, in Kontakt zu treten. Auf diese Art kann der Organismus tief, langsam und sicher berührt werden.

    Auch in der verbalen Arbeit folgen wir der Pulsation durch Fokussieren und Bewusstmachen.

    Es macht keinen Unterschied, ob der Instroke oder der Outstroke remobilisiert wird. Beides wirkt zur rechten Zeit heilsam.

    Verbale Techniken

    Verbal arbeiten wir – wie in der Gestalttherapie nach Perls – hauptsächlich mit Fokussieren und mit dem Bewusstmachen des „Hier und Jetzt“. Wir arbeiten mit dem Klienten daran, dass er sich über Empfindungen, Gefühle und Gedanken bewusst werden kann und dass er sie benennen kann. (Um dazu Joseph Campel zu zitieren: „Wir suchen nicht nach der Bedeutung des Lebens, sondern nach der Erfahrung, lebendig zu sein.“)

    Dies ermöglicht dem Klienten, dass er bewusster an seinem Heilungsprozess teilhaben und Verantwortung dafür übernehmen kann. Der Therapeut nähert sich der Rolle des teilnehmenden Beobachters. Die Bewusstseinsarbeit und das Fokussieren auf das „Hier und Jetzt“ hat auf der psychischen Ebene eine grenzbildende Wirkung.

    Gerade bei Schizoiden ist es wichtig, auch das Körperbewusstsein in die Arbeit mit einzubeziehen, da er keinen direkten Kontakt zu seinem Körper hat. Entsprechend seiner starken Kontraktion spaltet er sich entweder von seinem Körper ab, oder missinterpretiert seine körperlichen Empfindungen und Erfahrungen. Es ist wichtig, ihn sicher „nach Hause“, in seinen Körper zurückzubringen, indem man ihn immer wieder auffordert, seinen Körper zu erspüren und die Empfindungen zu benennen. Es fällt ihm nicht leicht, Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Beurteilungen auseinander zu halten.

    Schizoide sind oft intellektuell bzw. intellektualisierend. Der dünne, kontrahierte Körper erlaubt nur wenig an Pulsation, weil die Lebenskraft von der Peripherie zurückgezogen ist. Das wenige an Pulsation, das er zulassen kann, fließt buchstäblich in den Kopf. Kopf und Augen sind „überladen“, was eine Überentwicklung bzw. Abhängigkeit von diesem Segment zur Folge hat.

    dass der Intellekt überentwickelt ist, hat seine Ursache oft in einem fortschreitenden Panzerungsprozess. Deshalb versuchen wir diesen Aspekt in der Therapie zu umgehen bzw. auszuschalten. Wir verstehen den überentwickelten Intellekt als Ressource oder als einen „verlorenen Freund“. Durch das Bewusstmachen von Körperempfindungen und durch das Fokussieren in der verbalen Arbeit, kann man diese gut entwickelte Eigenschaft zum Vorteil nutzen.

    Man schafft Sicherheit, indem man diesen Menschen hilft, ihre starken Seiten zu nützen. Wir möchten sie nicht bedrohen, indem wir etwas von ihnen verlangen, was sie nicht tun können oder wollen.

    Versucht man einen intellektualisierten Schizoiden „aus seinem Kopf zu bringen“, lässt man ihn alleine und schutzlos, verletzbar und angreifbar zurück. Der Intellekt ist sein wichtigstes psychisches „Erdungssystem“. In die „Höhle des Löwen“ zu gehen und mit dem Löwen Freundschaft zu schließen, hilft ihm, seinen Intellekt mehr als nur zur Verteidigung einzusetzen. Das kann sowohl für den Klienten als auch für den Therapeuten zu einem erfüllenden Erlebnis werden.

    Der Klient bleibt auf sicherem Boden und fühlt sich „gesehen“. Dadurch wird er sich mehr öffnen und die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten können.

    Die Arbeit mit dem Instroke

    Die Entwicklung einer Methode, die den Instroke der Pulsation systematisch mobilisiert, ist ein entscheidender Durchbruch in der Arbeit mit sämtlichen plasmatischen Charaktertypen: mit Schizoiden, Oralen, Borderline- und anderen Angst-Strukturen. Die Methode ermöglicht, das Energiesystem des Organismus sicher und kontrolliert zu mobilisieren. Sie erlaubt die Klienten tief und sicher zu berühren, ohne gleich ihre ganze Angst, Traurigkeit und Wut zu mobilisieren.

    In ihrer Struktur gefangen, verhalten sich diese Menschen kontraktiv. Ursprünglich kontrahierten sie gegen einen tatsächlichen Angriff auf die Integrität ihres Organismus. Später, im Erwachsenenalter, kontrahieren sie sowohl bei tatsächlichen Angriffen, als auch bei Begegnungen, die sie lediglich dafür halten. Hier geht es um ein großes Maß an Angst, an Schrecken, Misstrauen und Verlorenheit. All das ist nicht verschwunden, weil sie es verdrängt haben. Es lebt noch in ihrem Inneren, und auf der Körperebene wissen sie das und fürchten sich davor.

    Das einfache Auflösen der Kontraktion würde zu einer Entlastung führen, geht aber mit der Gefahr einher, dass der Organismus wieder überwältigt wird. Aufgrund fehlender innerer Sicherheit, eines klar definierten Körpers, vertraulicher persönlicher Beziehungen, etc., sind sie schnell überwältigt und kontrahieren noch stärker oder brechen überhaupt zusammen.

    Sowohl der Instroke als auch die Kontraktion sind nach innen gerichtet. Der Instroke der Pulsation unterscheidet sich jedoch von einer Kontraktion dadurch, dass er eine kontinuierliche Bewegung ist. Eine Kontraktion ist das Anhalten einer nach innen gerichteten Bewegung, die eine Blockade („blocking pattern“) erzeugt. Der Instroke ermöglicht ein Verdichten, ein Sammeln und ein Fokussieren. Es ist ein offener Fluss zu etwas hin, während die Kontraktion eine Bewegung von etwas weg ist. Im Status der Kontraktion, der Panzerung, findet sich alles an Angst und Zorn, was sie fühlen können. Der Instroke schließt diese sogenannten „negativen“ Gefühle auch mit ein, ebenso aber ihre Stärken – ihr Potential.

    Die Mobilisierung des Instrokes erlaubt dem Organismus sich langsam und sicher nach innen zu öffnen, ohne das ganze innere Trauma zu aktivieren. Die ursprüngliche Pulsation wird kontaktiert und mobilisiert, nicht die Panzerung. Einmal „innen“ angekommen, fühlen sich Schizoide gefestigt und sicher – sowohl in sich selbst als auch in der Welt. Sie sind dann in einer stärkeren Position und können für sie bedrohliche Situationen besser handhaben. Sie bekommen wieder ein Gefühl von Kraft, das ihnen verloren gegangen ist – und ein Gefühl, wie sie in der Welt sein sollten. Nun sind sie vielleicht getrennt, aber nicht mehr isoliert; sie sind vielleicht zurückgezogen, aber nicht kontrahiert.

    Neben dem nun mobilisierten Gefühl von Sicherheit und Kraft, schafft der Instroke zusätzlich „Raum“. Das gibt dem Schizoiden das Gefühl, einen Platz in der Welt finden zu können. Dies hat eine direkte Wirkung auf die alten Gefühle, keine Existenzberechtigung zu haben und vermindert sie. Nun gibt es einen Ort, wo er hingehen kann, um sich auszuruhen, wo er genährt werden und sich wieder aufladen kann. Diese Menschen verbringen den größten Teil ihres Lebens „fremd“ und „befremdlich“: als Einzelgänger, als Außenseiter, etc. Es ist für sie eine grundlegende Erfahrung, einen sicheren Platz in dieser Welt zu spüren, um ihre existentiellen Ängste überwinden zu können.

    Der Stress, immer „außen in der Welt“ sein zu müssen, ist für kontrahierte Strukturen anstrengend und ermüdend. Wie schon früher festgestellt, brauchen sie so viel Energie, um nicht ganz zu „verschwinden“; es fällt ihnen schwer, sich zu zeigen! Selbst tägliche Routine, wie in die Schule oder zur Arbeit zu gehen, einzukaufen, soziale Verbindungen aufrechtzuerhalten, etc., verlangt vom Organismus etwas zu tun, was Schizoide eigentlich nicht tun wollen: nach außen gehen. Unglücklicherweise kann dasselbe für das therapeutische Setting genauso zutreffen.

    Für eine kontraktive Struktur ist die Bewegung nach innen befriedigend. Ich meine hier nicht eine weitere Kontraktion, sondern das „Nach-innen-Strömen“, um sich auszuruhen und wieder aufzuladen. Sobald es dem unterbrochenen Instroke ermöglicht wird, sich zu vervollständigen, fällt die nächste Auswärtsbewegung leichter. Die Bewegung erfolgt mehr im Sinne eines Strömens nach außen, weniger durch „Pushen“, das zum Handeln drängt. Und dann, gelegentlich und langsam, beginnen sie sogar von sich aus, sich in die Welt hinausbewegen.

    Dies hat zur Folge, dass der früh gefrorene Instroke – die lebenslange Kontraktion – endlich vollendet werden kann und der Klient jetzt sicherer und kontinuierlicher nach außen strömen kann; nicht weil er das muss, sondern weil er es von sich aus will. Es gibt ein eindeutigeres Gefühl sich willentlich von innen nach außen zu bewegen, weil nun die ersehnte Bewegung – der Fluss nach innen, vervollständigt wurde.

    Die Klienten lernen sich selbst zu vertrauen, nicht nur ihrer Kontraktion und ihrer Wut. Vorher waren sie von ihrem physisch und psychisch kontrahierten Zustand abhängig, um sich irgendwie mit einem „Grounding“ und mit Kraft versorgen zu können. Dieses falsche, gefrorene „Grounding“ macht nun Platz für Bewegtes und Lebendiges. Ein Klient hat das einmal so beschrieben: „Es ist, als wäre eine `Sonne´ in mir, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich nicht nach Griechenland fahren muss, um mich dort in die Sonne zu legen, um genug an Wärme für den ganzen Winter zu bekommen. Ich kann sie mir selbst geben.“

    Die Arbeit mit dem Instroke ermöglicht das Gefühl, dass eine Bewegung sicher sein kann, weil die Person das tut, was ihr am vertrautesten ist – sich zurückzuziehen. Es ist hier von Bedeutung, dass sie nach lebenslanger Kontraktion, Steifheit und Gefrorensein wieder in Bewegung kommt. Das Gefühl für Sicherheit war bisher auf seine zurückgehaltene und gefrorene Qualität angewiesen. Nun kann sie beides sein: sicher und beweglich. Die Bewegung nach innen gibt ein klareres und tieferes Gefühl, dem sie vertrauen kann. Es ermöglicht ihr, einen Platz in der Welt und einen Raum zu finden, wohin sie sich zurückziehen kann, wenn sie sich ausruhen, sich wieder aufladen will, oder sich schützen will.

    Es gibt einen weiteren spontanen Prozess, der sich durch die Mobilisierung des Instrokes entwickelt: Wenn eine Person dem „Kern“ in einem Verdichtungsprozess näher kommt, wird es ihr möglich, sich selbst klarer zu erleben auch so zu definieren.

    Vorher hatte die Kontraktion auch die Funktion, Grenzen zu ziehen. Jetzt gibt es ein wahrhafteres Gefühl für das „Selbst“, das sowohl stabiler als auch flexibler als früher ist. Es findet ein formender und gestaltender Prozess statt, der auch die Grenzen klarer definiert. Es entsteht ein Gefühl von größerer Distanz zu anderen – eine angemessene Distanz – wobei aber der Kontakt nicht verloren geht.- Ein Klient erzählte, dass er nach elf Jahren, in denen er mit Absicht dem Haus seines Bruders ferngeblieben war, jetzt ohne Probleme dahin gehen könne. Er identifiziere sich nicht mehr mit ihm: „Ich bin nicht mehr Teil dieses Spiels.“

    Mehr noch: durch die Mobilisierung des Instrokes entsteht eine spezielle Art der Abgrenzung. Der Klient fokussiert seine Achtsamkeit immer mehr auf sich selbst und seinen eigenen Prozess. Er interessiert sich für sich selbst, nimmt sich wahr, definiert sich mehr im Sinne der Beziehung zu sich selbst, als zu anderen. Es entwickelt sich eine intrapsychische Struktur, die von großer Bedeutung sowohl für die Therapie als auch für den therapeutischen Prozess ist. Der Fokus der Therapie wird zur Erfahrung des Selbst in Beziehung zu anderen. Es mag eigenartig klingen, aber der Klient wird sich selbst gegenüber immer neugieriger.

    Aus all dem entwickelt sich ein stärkeres und klareres Gefühl des Selbst. Wegen der frühen Störung war die Entwicklung des Selbst mit der tiefen, ganzkörperlichen Kontraktion in Konflikt geraten. Nun kann der Organismus beginnen, die unterbrochene Entwicklung zu vollenden. Hier geht es also nicht darum, Teile einer Abspaltung wieder zusammenzuführen, sondern um die Vollendung eines Entwicklungsprozesses, der nie stattgefunden hat!

    Es kann nur etwas abgespalten werden, was bereits besteht, so wie das einige Schizoide ganz besonders im emotionalen Bereich tun. Sie werden ihre existentielle Angst, vielleicht ihre Wut, oder sogar ihre Sehnsucht abspalten. Das heißt, dass sich Angst und Wut bereits entwickelt haben, sich der Organismus aber dann davon zu distanzieren versucht.

    Durch den Entwicklungsprozess, der nach der Re-Mobilisation des Instrokes einsetzt, kommt der Klient nun wieder mit den abgespaltenen Teilen in Kontakt. Er erlaubt eine abgebrochene Entwicklung fortzusetzen und ermöglicht dem Organismus zu lernen und Erfahrungen zu machen, die dieser Mensch vorher noch nie gemacht hat: Vertrauen und Liebe geschenkt zu bekommen, Sicherheit und ein Gefühl von Zugehörigkeit in einer Gemeinschaft zu haben.- Mit einem Wort: „Nahrung“.

    Pulsation

    Die Mobilisierung des Instrokes – sowohl über das Bindegewebe als auch durch verbale Arbeit – erfolgt subtil und langsam und erlaubt ein sicheres Vorgehen, so dass der Klient die Kontrolle über seinen eigenen Entwicklungsprozess behält und dafür auch Verantwortung übernehmen kann.

    Wie schon erwähnt, wurde mir klar, dass es für die klassische Reichianische Arbeit Grenzen gibt, weil sie für einige Charaktertypen, einschließlich dem Schizoiden, schwierig und gefährlich sein kann.

    Ein Grund dafür besteht darin, dass sich diese Strukturen energetisch primär in einer kontraktiven Einwärtsbewegung befinden. Sie bewegen sich nicht hinaus in die Welt: Exzessives Atmen, vorgegebene Bewegungen und Töne, explosive Entladung von Emotionen, etc. sind genau dem entgegengesetzt, was diese Menschen tun wollen – es wird von ihnen direkt als Eindringen und als Angriff erlebt.- Nicht dass sie das alles nicht tun wollten, aber sie sind dazu einfach nicht in der Lage.

    Aus noch einem anderen Grund ist dieser Ansatz nicht wirklich hilfreich: er folgt nämlich nicht dem eigentlichen Weg der Lebenskraft. Die Lebenskraft fließt nicht linear, sondern bewegt sich in Art einer pulsatorischen Spirale. Das klassische Modell ist linear. Ein Beispiel: Legen sie sich hin, atmen sie, beginnen sie sich zu bewegen und Töne zu geben, und dann versuchen sie spontane Bewegungen zuzulassen. Die Technik führt sozusagen von Punkt A direkt zu Punkt B. In diesem Modell ist keine Pulsation eingebaut. Die Instroke-Arbeit erlaubt auch die Entwicklung von kleineren pulsatorischen Bewegungen, die sich mit der tieferen organismischen Pulsation verbinden können. Nach einiger Zeit kommt es zu einem Zusammenspiel. Wir setzen Pulsation ein, um mehr Pulsation zu erhalten.

    Zusätzlich schafft der lineare Stil eine Alles-oder-Nichts-Situation, die für Borderline-Strukturen und insbesondere für Schizoide gefährlich ist. Um mit dieser Technik zu arbeiten, ist es notwendig, jegliche Kontrolle aufzugeben. Wenn sich der Klient in der Mitte einer Entspannungsphase befindet und dabei entdeckt, dass er noch nicht dafür bereit ist, ist es für ihn sehr schwierig, sich zurückzuziehen bzw. bis zum Ende weiterzumachen. Der Organismus beginnt abzublocken und sich zu verschließen. Oder es kommt zu einem frühzeitigen Zusammenbruch der Abwehr.

    Die Techniken, die in der European Reichian School verwendet werden, beruhen auf einem stufenweisen Aufbauprogramm, das die Pulsationsbewegung des natürlichen Energieflusses zum Vorbild hat und auf der Reichschen Beschreibung der „Kreiselwelle“ beruht. Es ist eine pulsatorische Kreisbewegung nach vorne und wieder zurück. Wir verwenden dieses Modell sowohl in unserer manuellen Behandlung, als auch in unserer verbalen Arbeit. Beides beruht auf der natürlichen pulsatorischen Bewegung.

    Die Arbeit ist – physisch wie psychisch – eine langsamere und sicherere Methode, als es das Reichsche Entladungsmodell ist. Es fördert die Entwicklung, dass der Klient bewusst im Vertrauen bleiben und, wenn notwendig, auch kontrollieren kann. Diese Kontrolle unterbricht den therapeutischen Prozess nicht, sondern fördert ihn in Wirklichkeit.

    Augen und Pulsation

    Mit den Augen arbeiten wir sehr strukturiert. Die Augen, die Hände und die Füße sind wesentliche Kontaktmöglichkeiten zur Realität. Wie „gegroundet“ eine Person ist – sowohl äußerlich wie auch innerlich, ist ganz wesentlich von einer gesunden Funktion der Augen abhängig. Neben physischen Übungen und dem Berühren von Punkten am Augensegment, verwenden wir prozessorientierte, verbale Übungen, die die Pulsation mobilisieren.

    Vom Betrachten der Segmente her stellen die Atmung und gutes Sehen die ursprüngliche, ganzheitliche Pulsation des Organismus dar. Durch Bearbeiten des Augensegments können wir oft eine tiefe, primäre Pulsation erreichen.- „Wie man sieht, so lebt man.“

    Verbal arbeiten wir mit Bewusstheit und Erfahrung, um Klarheit über den Pulsationszustand der Augen zu gewinnen. Und wir versuchen unter Zuhilfenahme verschiedener Techniken die Pulsation anzuregen.

    Zum Beispiel fühlte ein Klient – zum ersten Mal -, dass er leicht und fröhlich aus den Augen „strömt“. Plötzlich meinte er, dass er vorsichtig sein müsse – und das Strömen und sein Wohlbefinden verschwanden. Und dann bemerkte er, dass dies typisch für sein Leben ist. Auch wenn alles gut läuft, muss er vorsichtig sein. Und mit dieser Vorsicht erstirbt die Möglichkeit, sich mehr auf das Fühlen einzulassen. Obwohl es keinen „wirklichen“ Grund gab, sein Strömen zu unterbrechen, tat er es ganz automatisch.

    Es war für mich interessant von ihm zu hören, dass sein Vorsichtigsein von keinem Gefühl begleitet war. Es war einfach da. Er hat nichts gefühlt, nichts getan, es „passierte“ einfach. Dies ist Ausdruck seines Abspaltens von seinem kontrollierenden Über-Ich. Es geschieht automatisch, es widerfährt ihm einfach, so als ob ihn jemand anderer kontrollierte. Er spürt nicht, dass er sich das nun selbst antut. Es repräsentiert sein „typisches“ Lebensmuster: „Es passiert mir, ich kann nichts dazu tun, ich bin das Opfer.“

    Zusammenfassung

    Meine Absicht in diesem Artikel war, die Rolle des Plasmas und des Bindegewebes und deren Funktionieren als zentrales Element in der Entwicklung des Organismus systematisch aufzuzeigen. Es ist von Vorteil, dass damit das Reichsche Konzept der funktionalen Identität von Psyche und Soma nun auch auf biologischer Ebene nachvollzogen werden kann.

    Diese biologische Betrachtungsweise hilft uns, die Auswirkungen von Frühstörungen, Schock und Trauma, besser zu verstehen. Und sie erlaubt uns im Umgang – nicht nur mit Frühstörungen, sondern mit sämtlichen Charakterstörungen, ein besseres Diagnostizieren, Evaluieren und Behandeln.

    Will Davis
    European Reichian School
    Mas de la Capelle
    Route de St. Come
    F-30420 Sinsans

    Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz

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    Bukumatula 6/1998

    Kinder der Zukunft – Zukunft der Kinder?

    Anmerkungen zu einer Pädagogik nach Wilhelm Reich
    Eberhard Krumm

    (Meinem Lehrer, Univ.Prof.Dr. Richard Wisser, Worms, zum 72. Geburtstag am 5.1.1999 gewidmet.)

    „Der Pädagoge hat nur eine Verpflichtung, seinen Beruf ohne  Rücksicht auf die Mächte der  Unterdrückung des Lebendigen kompromißlos auszuüben und nur das Wohl derer im Auge zu haben, die ihm anvertraut sind.“

    (W. Reich, Die Funktion des Orgasmus, S. 26)

    Als Wilhelm Reich am 3. November 1957 im Gefängnis an seinem gebrochenen Herzen starb, hinterließ er sein Vermögen dem Wilhelm-Reich-Infant-Trust-Fond. Er setzte damit der Nachwelt ein deutliches Zeichen, wie ernst es ihm war mit dem, was er in seinen Schriften immer wieder behauptet hatte: die wichtigste Aufgabe der Menschheit in den kommenden JAHRHUNDERTEN (!) bestehe darin, bei Säuglingen und Kindern durch geeignete Prophylaxemaßnahmen die Ausbreitung der emotionalen Pest zu verhindern.

    Die emotionale Pest sah Reich als die gravierendste Charakterdeformation, die in Form einer immer weiter um sich greifenden Epidemie das traurige Resultat der immer lebensfeindlicheren Zwangserziehung darstellt. Da Reich die Auffassung vertrat, ein einmal krumm gewachsener Baum könne nie wieder ganz gerade gerichtet werden, was als Metapher so zu verstehen ist, dass keine noch so erfolgreiche Psychotherapie im Erwachsenenalter die in der Kindheit erlittenen seelischen Verletzungen völlig zu heilen vermag, sah er in einer orgonomischen Pädagogik eine wesentlich wichtigere Aufgabe als in der weiteren Ausarbeitung orgonomischer Therapie.

    Folgerichtig gab Reich in den 1940er Jahren auf, weiter einzelne Patienten zu behandeln, weil er sich intensiv der orgonomischen Grundlagenforschung widmen wollte. Er konzentrierte sich dabei auf die Biophysik, die Klimaforschung, die Krebspathologien und deren Genese und die Kosmologie; es wird berichtet, dass er sich in seinem letzten Lebensjahr im Gefängnis mit Anti-Schwerkraft-Gleichungen beschäftigt habe. In diese Grundlagenforschung musste eine orgonomische Pädagogik eingebettet sein, besser: auf jener aufgebaut werden.

    Und während Reich sich im Laufe seines Lebens mit fast allen Kollegen, waren diese Psychoanalytiker, Mediziner, Biologen oder Physiker, heillos zerstritt, währte seine wohl innigste und tiefste Männerfreundschaft mit dem Pädagogen Alexander S. Neill (1883 – 1973) trotz mancher Missverständnisse über zwanzig Jahre lang bis zu Reichs Tod.

    Neill hat, und er gibt dies selbst oft genug in seinen Briefen zu, Reich an einigen Punkten seines Weges nicht verstanden oder ihm nicht folgen können, aber er setzte in seiner fälschlicherweise als antiautoritär bezeichneten Privatschule in Summerhill soviel an Reichianischer Theorie um, wie er davon verstand, bis hin zu vegetotherapeutischer Behandlung seiner Schüler und der Anwendung von Orgonakkumulatoren an seiner Schule.

    Neill sah auch seine Grenzen und gestand diese Reich, der Ehrlichkeit über alles schätzte, aufrichtig ein. Es ist daher kaum erstaunlich, dass die beiden Männer sich gut verstanden und sich als Wissenschaftler bei dem beiderseitigen Interesse für das Arbeitsgebiet des jeweils anderen so viel zu sagen hatten.

    Umso erstaunlicher ist, dass vierzig Jahre nach Reichs Tod weltweit keine einzige mir bekannte Schule existiert, die den Namen Wilhelm Reichs trägt und seine brennenden pädagogischen Anliegen in konkreten Schulalltag umsetzt. Neills Schule in Summerhill ist ein Einzelfall geblieben und Summerhill ist trotz aller Nähe zu Reichianischer Theorie keine Reichianische Schule. Man kann sich an dieser Stelle aber fragen, ob sich nicht der Schulalltag an privaten und öffentlichen Schulen in den vierzig Jahren seit Reichs Tod so verändert hat, dass viele Anliegen Reichs nun umgesetzt sind.

    So ist der Unterricht heute viel praxisbezogener und freier als vor vier Jahrzehnten, als noch in den Gymnasien die Fächer Latein und Griechisch und als Methode der Frontalunterricht den pädagogischen Standard bestimmten. Machtmissbrauch und Gewaltstrafen seitens der Lehrer sind tabu, fast überall existieren schulpsychologische Dienste, findet durch Sozialarbeiter oder psychologisch ausgebildete Beratungslehrer an Schulen therapeutische Betreuung und insbesondere auch die von Reich so intensiv geforderte Neurosenprophylaxe statt.

    Man denke nur an die umfangreichen Maßnahmen und erlebnispädagogischen Projekte zur Sucht- und Gewaltprävention, die allerorts stattfinden und von denen man zu Reichs Zeiten nur träumen konnte. Die Schule scheint lebendiger geworden, zu einem Ort, an dem Gefühle sich frei äußern dürfen und ernst genommen werden, so ernst, dass darüber sogar wichtige Zeit für die Sicherung der Leistungsstandards und der Wissensvermittlung geopfert wird. Wie sonst wäre die Warnung des deutschen Bundespräsidenten Herzog in einer öffentlichen Rede zu erklären, die Schulen nicht zu, so wörtlich, „pädagogischen Kuschelecken“ verkommen zu lassen.

    Ist diese ironische Attacke eines Staatsoberhauptes nicht schon Indiz dafür, dass in den Schulen bereits geschieht und vorbereitet wird, was Politiker am meisten fürchten: die Untergrabung starrer staatlicher Strukturen und Autoritäten durch eine neue Erziehung, die statt verkopfter Paukerei nun die natürliche Lebensenergie der Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und sie ermutigt, ihre primären Bedürfnisse nach sozialer Wärme und zärtlichem Körperkontakt spontan selbst am Ort des wissenschaftlichen Lernens zu stillen, was in soziologischer oder pädagogischer Fachterminologie dann Förderung sozialer Kompetenz und emotionaler Intelligenz genannt wird? Findet also vielerorts schon Reich-Pädagogik statt, ohne dass man sie so nennt?

    Ich meine: nein! Ich werde im Schlussteil dieses Essays erörtern, wie nach meinem Verständnis Reichianische Pädagogik in ersten Ansätzen praktisch umgesetzt werden könnte. Im Kontrast dazu werde ich mein klares Nein auf die oben gestellte Frage begründen. Ich werde aufzeigen, welche Reichianischen Elemente in heutige pädagogische Praxis und Theorie Eingang gefunden haben.

    Dabei wird deutlich werden, dass der Kern der orgonomischen Forschungen und Erkenntnisse Reichs nach wie vor konsequent verleugnet, ja erbittert bekämpft wird und wir eben deshalb von einer Pädagogik für die Kinder der Zukunft, wie Reich sie sich vorstellte, weiter entfernt sind denn je. Im Hauptteil dieses Essays will ich das theoretische Fundament Reichianischer Pädagogik als Neurosenprophylaxe herausarbeiten, zuvor aber zeigen, wie Reich selbst zu seinen Lebzeiten pädagogisch gewirkt, nicht nur gedacht hat.

    Mit anderen Worten: vorgestellt werden Reich als pädagogischer Praktiker im Detail, Reichs pädagogische Theorie in ihrem Kern, ihrer wesentlichen Essenz, und zum Schluss die Konsequenzen, die sich für einen Pädagogen heute ergeben, wenn er sich der im Motto zitierten Verpflichtung Reichs verpflichtet fühlt, damit Kinder überhaupt noch eine Zukunft haben.

    REICH ALS PÄDAGOGISCHER PRAKTIKER

    Der Philosoph und Pädagoge Jean Jaques Rousseau (1712 – 1778), einer der berühmtesten und fähigsten Denker der Aufklärung, schrieb den Erziehungsroman „Emile“, ein noch heute auf der Pflichtlektüreliste für angehende Lehrer ganz oben stehendes pädagogisches Standardwerk. Seine fünf Kinder gab er ins Waisenhaus. Mit den praktischen Erfordernissen eines Familienalltags mit fünf Kindern sah sich der Denker überfordert. In unserer theoriezentrierten Kultur quittiert man dieses praktische Versagen Rousseaus mit einer ironischen Bemerkung und diskutiert dann seine Theorien mit Eifer und Inbrunst, als ob sie sich nicht eben durch den Urheber derselben selbst diskreditiert hätten.

    Nach Reich jedoch hat in der von ihm angestrebten Arbeitsdemokratie nur derjenige ein Wort mitzureden, der sich auf seinem Arbeitsgebiet nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bewährt hat. Reich zu Folge (Äther, Gott und Teufel, S. 167 ff.) muss sich insbesondere jeder Forscher neben der Frage nach seiner wissenschaftlichen Qualifikation die nach seiner „orgonomischen Potenz und Sensibilität“ gefallen lassen. Ein Pädagoge, der seine Kinder ins Waisenhaus abschiebt, stellt sich, milde gesagt, in ein sehr fragwürdiges Licht. Daher ist es nicht nur legitim, sondern notwendig, vor aller Diskussion um Reichs pädagogische Theorien die Frage nach seiner Bewährung als Vater und Lehrer aufzuwerfen.

    Leider habe ich noch nicht die Gelegenheit gefunden, Peter Reichs Beschreibung seines „Traumvaters“ zu lesen, aber Dr. Eva Reich zeichnet in ihrem 1989 in Berlin gehaltenen Vortrag: Meine Erinnerungen an W.R. (in: J.Fischer, Orgon und Dor, die Lebensenergie und ihre Gefährdung, Berlin 1995, S. 130 – 154) ein Bild ihres Vaters, das ihn menschlich sympathisch macht, und zwar nicht nur trotz, sondern auch wegen seiner offenkundigen Erziehungsfehler.

    So übersah, seiner Tochter zu Folge, Wilhelm Reich auf Grund seiner ideologischen Bindung an den Kommunismus in den zwanziger und dreissiger Jahren die real existierenden Bedürfnisse seiner Kinder. Ähnliche Fehler unterliefen ihm, wenn er mehr als Analytiker denn als Vater handelte. Dies beschreibt Eva Reich sehr anschaulich an einem Beispiel: wie ihr Vater ihren Glauben an Gott und ihre Zuflucht im Gebet, insbesondere in der Zeit, in der das Ehepaar Reich sich unter heftigen Streitereien trennte, als Onanieangst und beginnende Neurose interpretierte und sie entsprechend „behandelte“.

    Eva Reich nennt das „ganz arg, eine schlimme Geschichte“ (a.a.O. S. 138) und kreidet ihrem Vater an, dass er „seine Kinder nach den Theorien behandelt hat und nicht nach dem Instinkt“ (a.a.O. S 136). Dieser Satz sollte jeden Reichianer in Hinsicht auf die Rangfolge von Theorie, Instinkt und Erfahrung sehr nachdenklich stimmen und entsprechende Schlüsse ziehen lassen, ebenso Eva Reichs Aussage, dass ihr Vater in seiner Begeisterung für das theoretische Wissen viel zu früh versuchte, seine Kinder mit politischen und psychoanalytischen Ideen vertraut zu machen, die sie als 4 – 10 Jährige gar nicht begreifen konnten.

    Andererseits beschreibt Eva Reich ihren Vater mit großer menschlichen Wärme dort, wo dieser nach Instinkt handelte und sich dann als sehr fortschrittlicher Vater erwies, der viel Zeit mit seinen Kindern verbrachte, mit ihnen herumalberte und sie mit den Tatsachen des Lebens auf ehrliche Weise vertraut machte. Auch berichtet sie, dass er als Mediziner und Psychotherapeut bei ärztlichen Untersuchungen von Müttern und deren Babys „sehr zart und menschlich“ war und dieses Vorbild so stark auf sie wirkte, dass sie unter diesem Eindruck beinahe Kinderärztin geworden wäre (a.a.O. S. 145).

    Einen Eindruck davon, wie Reich als pädagogischer und therapeutischer Praktiker in den zwanziger Jahren in Wien und 1930 – 1933 in Berlin in den von ihm gegründeten Sexualberatungsstellen wirkte, erhält man durch die kleine, 1929 in Wien publizierte Schrift „Sexualerregung und Sexualbefriedigung“. In deren Anhang beantwortet Reich fünfzig Fragen, wie sie ihm wohl täglich zu Themen wie Onanie, Geschlechtsverkehr der Jugend, Homosexualität, Sexualaufklärung an Schulen etc. gestellt wurden.

    Er antwortet in einfacher, klarer Sprache, die deutlich seine Achtung, seine Ehrlichkeit und sein Ein-fühlungsvermögen gerade im Umgang mit jugendlichen Fragestellern aufzeigen. Manche dieser Fragen werden siebzig Jahre später immer noch gestellt, heute allerdings an Dr. Sommer und sein Beratungsteam in der Jugendzeitschrift „Bravo“ oder ähnlichen Magazinen. Die heutigen Antworten auf Fragen wie „Ist es schädlich, knapp vor dem Samenerguss die Onanie zu unterbrechen?“ (Frage Nr. 8 in Reichs Schrift) unterscheiden sich kaum von denen, wie Reich sie ehedem gab.

    Viele Fragen, die damals wohl mit großer Scheu gestellt wurden, wie „Habe ich (20) das Recht, ein unberührtes Mädchen (17) zur Hingabe zu bewegen?“ (Frage Nr. 29) wirken heute überholt. Auch an dieser Stelle kann man sich fragen, ob Reichianische Beratungs praxis nach siebzig Jahren nicht viel tiefgreifender gewirkt hat als deren theoretisches Fundament, das in „Die Funktion des Orgasmus“ und „Der Einbruch der sexuellen Sexualmoral“ niedergelegt ist.

    Lassen wir diese Frage noch kurz ohne Antwort. Dass es aber Sexualberatung für Jugendliche heute in breitesten Umfang gibt, daran hat die Pionier-tätigkeit Reichs großen Anteil. Aber war das alles, was Reich für seine „Kinder der Zukunft“ erstrebte, dass sie früher und besser sexuell aufgeklärt werden? Ist das schon die „biologische Revolution“, die Reich herbeiführen wollte?

    DER THEORETISCHE KERN REICHIANISCHER PÄDAGOGIK

    Es existiert meines Wissens kein systematisches Grundlagenwerk Reichs zu einer orgonomischen Pädagogik, wie es für die Psychoanalyse Anna Freud (in Band V und VII der deutschen Gesamtausgabe ihrer Werke, Frankfurt/Main 1989) vorgelegt hat. Ich vermag an dieser Stelle nicht zu erklären, warum dies so ist, denn Reich maß der Pädagogik allergrößten Stellenwert bei.

    Umfangreiche, aber unsystematische und stets in einen anderen Kontext eingebundene Bemerkungen zur Pädagogik finden sich in Reichs spätem Werk „Der Christusmord“ von 1953 (1997 beim 2001-Verlag Frankfurt/Main mit einem Kommentar und einem Sachregister von P. Gäng und U. Hausmann in einer sehr schönen Ausgabe wieder aufgelegt, nachdem es jahrelang vergriffen war), sowie in dem von Beverly R. Placzek herausgegebenen Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und Alexander Neill (Zeugnisse einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1989). Im Kern indes hat Reich meines Erachtens den Ausgangspunkt und die Zielrichtung einer orgonomischen Pädagogik im Kapitel VII mit dem Titel „Eine missglückte biologische Revolution“ in „Die Funktion des Orgasmus“ ausgearbeitet (Dt. Ausgabe bei KiWi, Köln 1969, S. 167 – 215).

    Mit Bezug auf dieses Kapitel mag ich die Leser der Bukumatula an dieser Stelle bitten, in diesem Monat der Geburtsstunde Reichianischer Pädagogik zu gedenken: sie erblickte in den Abendstunden des 12.12.1929 im ersten Obergeschoss des Hauses Bergstraße 19 im IX. Wiener Bezirk das Licht der Welt. Vor dem inneren Kreis der Schüler des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, in dessen Wohnung und in dessen Anwesenheit hielt Reich an diesem Abend seinen Vortrag mit dem Titel „Über Neurosenprophylaxe“. Er stellte darin vier Fragen:

    1. Wohin führt das Zuendedenken der psychoanalytischen Theorie und Therapie?
    2. Ist es möglich, noch länger bei den Neurosen einzelner Menschen zu verharren?
    3. Wie ist der Platz beschaffen, den die psychoanalytische Bewegung im gesellschaftlichen Getriebe einzunehmen hat?
    4. Weshalb erzeugt die Gesellschaft die Massen der Neurosen?

    Reichs Antworten auf diese vier Fragen führen konsequent zu einer pädagogischen Theorie, von der Reich damals noch dachte, es werde eine psychoanalytische Pädagogik sein. Er sollte indes an diesem Abend erfahren, dass die Psychoanalyse dabei war, sich mit den Mächten der Unterdrückung des Lebendigen anzufreunden, in Gestalt eines psychoanalytischen Sekundanten, den Sigmund Freud an jenem Abend vorstellte: den Todestrieb.

    Zuvor jedoch zu Reichs Antworten. Sie lauten, sinngemäß und auf die Zielrichtung dieses Essays bezogen, wie folgt:

    Ad 1: schon für das Jahr 1929, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Psychoanalyse als Therapieform noch keine vierzig Jahre bestand, sah Reich auf Grund des enormen Zulaufs zu seinen sexualpolitischen Versammlungen und Sexualberatungsstellen, sowie auf Grund der ihm dort vorgetragenen Fragen und Probleme, siebzig Prozent der Bevölkerung als dringend behandlungsbedürftig an.

    Er sah deutlich, dass bei diesen 70% „Stadtneurotikern“ es sich um wirklich psychisch mehr oder minder kranke Individuen handelte, denen mit einer einmaligen Beratung nicht gedient war. Er sah, dass nicht nur einige Dutzend neurotischer Klein- und Großbürger, wie sie Professor Freuds Praxis bevölkerten, einer Psychotherapie bedurften, sondern zigtausende Frauen und Männer aller Bevölkerungsschichten, dass man also von einem „gesunden Volksempfinden“ oder einem zwar materiell beeinträchtigten, aber ansonsten seine Triebe frei auslebenden Proletariat, das von der viktorianischen Moral und ihrer Heuchelei nicht angekränkelt war, nicht sprechen konnte.

    Bei der langwierigen Behandlungsform der Psychoanalyse und der noch geringen Anzahl ausgebildeter Analytiker bestand auch nicht der Hauch einer Aussicht, dieser Massenneurose in Form von analytischen Einzeltherapien Herr zu werden.

    Daraus folgerte Reich, ad 2: dass die Psychoanalyse nicht länger bei der Erforschung von Einzelphänomenen psychischer Erkrankungen und bei der Einzeltherapie stehen bleiben dürfe. Deshalb durfte ad 3: die Psychoanalyse nicht auf ihren ursprünglichen Ausgangspunkt, die medizinische Neurologie und Psychiatrie beschränkt bleiben. Sie müsse, so Reich, als Wissenschaft in die Grenzgebiete anderer Wissenschaften eindringen und diese mit ihren Erkenntnissen und Schlussfolgerungen vertraut machen.

    Reich dachte hierbei in erster Linie an die Soziologie und an die Pädagogik. Da es sich bei der von ihm diagnostizierten Massenneurose um ein soziologisches Phänomen handelte, bestand ad 4: Reichs Forderung an die Psychoanalyse als Wissenschaft darin, die gesellschaftlichen Faktoren der Entstehung kollektiver Neurosen herauszuarbeiten und, sofern möglich, eine Theorie zu entwickeln, wie nicht nur durch Individualtherapie, sondern eine großflächige Prophylaxe einer zunehmenden Erkrankung der Gesellschaft entgegengesteuert werden könnte.

    Im Kern skizzierte Reich dann in seinem Vortrag, was er drei Jahre später in seinem Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ in Breite ausführen und wofür er, wieder ein Jahr später, in „Massenpsychologie des Faschismus“ ein Beispiel geben sollte: nämlich welche Elemente der Synthese aus sogenannter christlich-abendländischer Kultur und bürgerlich-kapitalistischer Zivilisation die Massenneurose erzeugen und wie sich diese Neurose in politischen Formen ausdrücken kann.

    Auf Grund seiner Lektüre der Forschungen des Anthropologen B. Malinowski über das Geschlechtsleben der Trobriander in der Südsee sah Reich schon 1929, dass die von ihm festgestellte Massenneurose durchaus kein weltweites und insbesondere kein welthistorisches, sondern ein typisch westliches Phänomen waren, ein Produkt aus Sexualunterdrückung und Sexualverdrängung, die umso stärker werden musste, als die Arbeitsbedingungen einer mehr und mehr mechanisierten Gesellschaft immer stärkere Anpassung des Menschen an die technisierten Lebensbedingungen der auf Leistungsdruck und Erfolgszwang beruhenden spätbürgerlich-liberalen Gesellschaft forderten.

    Das unheilvolle Zusammenwirken von sexualfeindlichen Moralvorstellungen und lustfeindlichen Zivilisationsbedingun- gen, die die Denk- und die Handlungsunselbständigkeit des Menschen fördern, wodurch sie indes für die Wirtschaft „funktionsfähiger“ werden, sah Reich als soziologische Kausalfaktoren der Genese einer kranken Gesellschaft. In „Massenpsychologie de Faschismus“ wies er dann schlüssig nach, wie der atavistische Appell an unterdrückte sexuelle und emotionale Sehnsüchte des Menschen von faschistischen „Rettern“ und „Führern“ machtpolitisch ausgenutzt werden konnte.

    Da es gesellschaftliche Faktoren waren, die Reich als Auslöser der Massenneurose ausmachte, war es nur logisch, sie auch auf gesellschaftlicher Ebene zu bekämpfen. Ein gesellschaftliches Wesen aber wird der Mensch auf Grund seiner Sozialisation, sprich seiner Erziehung, und diese ist in unserer abendländischen Kultur schon seit Jahrhunderten keine Privatsache mehr, sondern sie ist gesellschaftlich reglementiert, dies etwa seit dem 16. Jahrhundert.

    Hätte Wilhelm Reich die Studie des Soziologen Max Weber aus dem Jahr 1905 mit dem Titel „Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist“ gekannt, er hätte seine These von der gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklung in der Neuzeit noch eindrucksvoller untermauern können. Zeigt Weber doch auf, dass calvinistischer Puritanismus, kapitalistisches Denken, Leistungsdruck und allgemeine Schulpflicht eine verhängnisvolle Kausalreihe bilden.

    Es ist eines der vielen Paradoxa der abendländischen Geistesgeschichte, dass ein vermeintlicher Fortschritt, nämlich die Aufklärung – die Emanzipation der Menschen von der mystisch-katholischen Bilderwelt des Mittelalters und den durch sie produzierten Ängsten -, dass der Kampf gegen das Analphabetentum breiter Volksschichten einherging mit einer neuen Knechtschaft: der Unterjochung der Triebe unter calvinistische Askese, des Körpers unter den Kopf, der kreativen Tätigkeit unter den Erfolgszwang, das Lernen unter den Leistungsdruck.

    In allen zivilisierten Staaten existiert heute eine Schulpflicht, existieren Lehrpläne, Zensuren und Schulordnungen, werden Menschen als Lehrer nur dann zugelassen, wenn sie einen staatlich reglementierten Ausbildungsgang mit einem Staatsexamen abgeschlossen haben. Ob der examinierte Lehrer sich eine umfassende Geistes- und Herzensbildung jenseits des Fachwissens angeeignet hat, ob er gar weise ist, ob er über persönliche Autorität jenseits von wohlklingenden Titeln wie „Oberstudienrat“ verfügt, das wird nicht hinterfragt. Unsere Lehrpläne zielen auf den Erwerb möglichst vieler kognitiver Kenntnisse, man lernt „ochsen“, sich den „Stoff einzubleuen“.

    Ob man die Stochastik im praktischen Alltag zum Ausfüllen der Lottoscheine je wird brauchen können oder ob man wirklich einen Nutzen davon hat, die Regierungsdaten aller Habsburger nebst ihrer Todesursachen aufzählen zu können, bleibt fragwürdig, aber ungefragt. Die Zensuren und die zwangsweise Unterordnung unter Leistungserwartungen machen Jugendliche in der kreativsten Phase ihres Lebens stumpfsinnig und in der idealistischsten Phase ihres Lebens, der Pubertät, der Phase beginnender Selbstbestimmung ihres Denken und Handelns, gefügig.

    Die Operation mit der Angst vor dem Abgleiten in eine staatlich produzierte Massenarbeitslosigkeit tut das ihre. All dies dient dazu, den Eigenwillen der Jugendlichen zu brechen. Philosophen und Pädagogen redeten diesem Erziehungsziel, das Alice Miller in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ als „schwarze Pädagogik“ charakterisiert hat, jahrhundertelang das Wort. Nur zwei von vielen Beispielen mögen dies illustrieren. Platon (427 – 347 v. Chr.) empfahl, Kinder ab sieben Jahren aus dem individuellen Umkreis ihrer Familien zu entfernen, sie einer uniformen Lagererziehung zu unterziehen und schließlich sogar Heirat und Geschlechtsverkehr staatlich zu regulieren (Politeia 457 c ff.).

    Hegel (1770 – 1831), Vollender des sogenannten „deutschen Idealismus“, forderte von der Erziehung ausdrücklich die Brechung des kindlichen Eigenwillens, „damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgerottet“ werde, wobei man „nicht glauben darf, bloß mit Güte auszukommen“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 174 Zusatz). Erziehern wird mit solchen Ideologien und Theorien das pädagogische Rüstzeug zur Untermauerung eines Nichts an persönlicher Autorität mitgegeben, die umstrahlt wird von der beamteten Staatsaura mit „jeder Menge Minuszeichen im Kugelschreiber“, wie mein ehemaliger Physiklehrer seine Machtmittel so treffend beschrieb.

    Einfühlungsvermögen in die jugendliche Seele, psychologische Kenntnisse oder gar ein gerüttelt Maß Selbsterfahrung, ein Nachweis über ausreichende Fähigkeiten, die eigenen Lebensprobleme halbwegs sinnvoll lösen zu können, ist für Lehramtsanwärter weder im ersten noch im zweiten Ausbildungsgang vorgesehen. Dies war zu Reichs Zeiten so, dies ist noch heute so. Und hier liegen die Wurzeln der pädagogischen Misere. Diese ist jedoch nach Reich die Ursache der soziologischen Fehlentwicklung einer mehr und mehr psychopathischen Gesellschaft.

    Es ist ein Glücksfall, wenn ein Lehrer sich die Erinnerung an die eigene seelische Zerrissenheit seiner Jugend bewahrt hat ohne den Hass zu verspüren, eigene Verletzungen an der ihm anvertrauten Jugend ausagieren zu müssen, der deshalb nach Instinkt und Erfahrung, nicht nach der Theorie zu handeln vermag und somit wirklich das Wohl der ihm anvertrauten Jugendlichen zu achten und zu hegen versteht. Der Normalfall ist jedoch ein anderer. Reich beschreibt ihn in Form einer flammenden Anklage in seiner „Rede an den kleinen Mann“ (S. 61 ff.) an einem Beispiel, das ihm offensichtlich deutlich vor Augen stand, dem Beispiel der „fassförmigen“, orgonomisch völlig verpanzerten Lehrerin.

    Der Gerechtigkeit halber mag ich hinzufügen, dass das, was Reich hier über die „fassförmige Lehrerin“ schreibt, genauso gut auf die sonnengebräunten und anabolikabepackten, ebenso aber völlig verpanzerten Muskelmänner zutrifft, die heute vorzugsweise als Sportlehrer jugendliche Lebendigkeit ersticken. Reich schreibt: „…Erziehung heißt…, wenn man sie ernst nimmt, die Sexualität der Kinder korrekt handhaben.

    Um die Sexualität der Kinder korrekt zu handhaben, muss man selbst erlebt haben, was Liebe ist. (Hervorhebung von Reich, A.d.V.). Du aber bist dick und fassförmig, ungelenk und körperlich abstoßend. Dies allein genügt, dich jeden liebreizenden, lebendigen Körper hassen, tief und bitter hassen zu lassen. Nicht, dass du unförmig und fassförmig bist, mache ich dir zum Vorwurf; nicht, dass du nie Liebe genossen hast…; nicht, dass du die Liebe in den Kindern nicht begreifst, ist dir zum Vorwurf zu machen.

    Aber dass du aus deiner Not, aus deinem zerstörten, fassförmigen Körper, deiner Unschönheit, deinem Mangel an Grazie, aus deiner Unfähigkeit zur Liebe eine Tugend machst und mit bitterem Hass die Liebe in den Kindern erstickst, wenn du zufällig an einer `modernen´ Schule wirkst, dies ist dein Verbrechen…; dass du dich nicht bescheiden in eine kleine Ecke dieses Lebens zurückziehst, sondern diesem Leben deine Hässlichkeit, deine Falschheit, deinen bitteren Hass aufzwingen willst, der sich hinter deinem verlogenen Lächeln verbirgt!“

    Reichs Worte sind deutlich genug: das von ihm korrekt als „Verbrechen“ bezeichnete Handeln findet tagtäglich in Klassenräumen statt. Entsprechend muss hier die Prophylaxe einsetzen. Es muss verstanden werden, wie die orgonomische Verpanzerung, wie die emotionale Pest entsteht und es muss verhindert werden, dass emotional pestilente Lehrer und Lehrerinnen Kindern ihren Hass auf das Leben unter dem Deckmantel von moderner Erziehung aufzwingen wollen – und dazu staatlich lizensiert werden.

    Das richtige Verständnis dieser beiden Faktoren bildet den Ausgangspunkt Reichianischer Pädagogik als Neurosenprophylaxe. Der Blick zurück ermöglicht erst pädagogisch richtiges Handeln nach vorn, für die „Kinder der Zukunft“, die frei und ungepanzert heranwachsen sollen. Aber hier, wo wir nun im Kern der Pädagogik nach Wilhelm Reich angelangt sind, verspüren wir auch die Sprengkraft dieses Atomkerns. Am Kreuzweg vom analytischen Blick zurück und vom orgonomischen Blick nach vorn beginnt auch der Scheideweg von Psychoanalyse und Orgonomie, von Reich und Freud.

    DIE „KERNSPALTUNG“

    Jedes Individuum kommt ungepanzert und voller Lebenslust zur Welt. Die Verpanzerung und damit die systematische Abtötung des lebendigen Kerns des Individuums beginnt erst mit der neurotischen Erziehung durch Eltern, Lehrer und andere Autoritätspersonen der Gesellschaft. Um unseren Lebenskern herum bauen diese Erzieher die Schicht des Freudschen Unbewussten und machen es damit erst zum Unterbewussten, so Reich in seinem VII. Kapitel von „Die Funktion des Orgasmus“.

    Um unseren biologischen Kern, der aus Lebenslust und Glückssehnsucht besteht, formieren sich unsere vielfältigen Gefühle, die wir indes, ebenso wie unseren Lebenskern, zu unterdrücken, zu verdrängen, in Schach zu halten lernen. Lebenskern und Gefühlsleben werden unterbewusst, weil unsere Kultur mit ihren mystischen, d.h. religiös-moralischen, und ihren mechanischen, d.h. soziologisch-ökonomischen Traditionen dies erfordern. In anderen Kulturen, wie etwa bei den Trobriandern, wird diese Forderung nach Triebverzicht und Gefühlsunterdrückung nicht erhoben, entsprechend fehlen in dieser Kultur auch, wie Malinowski und Reich nachgewiesen haben, die Charakteristika der neurotischen Gesellschaftsstörung, wie sie in unserer westlichen Welt vorliegt.

    In Schach gehalten und vom Schachmatt bedroht, wird unsere Lebenslust, unsere Unabhängigkeit sowie unser Gefühlsreichtum durch jenen Firnis normierten Sozialverhaltens, das wir als Höflichkeit, Anstand, zivilisierte Manieren bezeichnen und worauf wir stolz sind. Diese dritte Schicht regelkonformen, kultivierten Verhaltens wird uns als gesellschaftliches Über-Ich anerzogen. Wer es in der Ausgestaltung dieser dritten Schicht um die Gefühlsschicht und den Lebenskern herum zur Perfektion bringt, gilt als wohlerzogen.

    Wir werden erzogen, Leistung zu bringen und zu fragen, was uns ein bestimmtes Verhalten in bestimmten Situationen bringt; ob uns Leistung und unser Verhalten um unsere Menschlichkeit bringen, ob wir uns durch Leistung und angepasstes Verhalten vielleicht letztlich systematisch umbringen, das gilt als äußerst unbequeme Frage, die dem, der sie denkt, kaum gedankt wird. Wir lernen, zu funktionieren, Chefs in den „Hintern“ zu kriechen und danach die Ellenbogen zu gebrauchen, weil man, so Tucholsky, im Berliner Dialekt, „so rasch vajißt, wie man ruff, wie man ruff, wie man ruff-jekommen ist.“

    Wir bilden uns und bilden uns fort, um mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten und bleiben stecken in den Verwicklungen unserer ungelebten individuellen Gefühle und im Gestrüpp unserer Sehnsüchte. Wir lernen, zu lernen und dabei cool zu bleiben, machen locker unseren Schnitt und schneiden uns dabei ins eigene Fleisch. Wir lernen, uns bei Lehrern und anderen Zensurengebern lieb Kind zu machen und verprügeln unsere lieben Kinder, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit dem Frust und den Aggressionen.

    Wir lernen als Jugendliche an langen Schulvormittagen unsere Sexualität in Literaturanalysen auf Klausurpapier zu sublimieren oder in Darstellungen von dominant-rezessiven Erbgängen an Schiefertafeln, um als Erwachsene nach erbrachter Tagesleistung mit dem Sublimationsakt rezessiv im Rausch des Hochprozentigen zu enden oder im Studio bei der Domina mit Schaftstiefeln. Dies sind die Auswirkungen einer Pädagogik, die aus Angst vor den Kräften des Lebendigen, die sich so schwer mit technischer Organisation und angemaßten Autoritätsstrukturen vertragen, systematisch das Lebendige unter der ätzenden Tünche der kulturellen Sozialisation erstickt.

    Denn unter der dritten Schicht sterben die Gefühle und zuletzt auch unser biologisch-psychologischer Lebenskern ab, wir gehen für den Rest unseres Lebens als Scheintote durch die Welt, wenn dieses Werk der Sozialisation gelingt. Die Forderung, die Reich aus dieser Situationsanalyse zieht und an den orgonomisch orientierten Pädagogen richtet, habe ich als Motto diesem Essay vorangestellt.

    Mit seiner soziologischen Analyse und den pädagogischen Konsequenzen, die Reich daraus für den „Platz der psychoanalytischen Bewegung im gesellschaftlichen Getriebe“ zog, brachte er sich an jenem Abend des 12.12.1929 in einen schweren Konflikt mit Sigmund Freud, der letztendlich zum Bruch mit ihm führte. Denn Freud selbst war damals mitten darin, der Psychoanalyse einen kulturbildenden Platz „im gesellschaftlichen Getriebe“ zuzuweisen, allerdings durchaus nicht den des Sandes in demselben.

    Auch für Freud war Psychoanalyse spätestens seit seinem Gradiva-Aufsatz von 1907, allerspätestens seit „Totem und Tabu“ von 1912 mehr als eine medizinische Therapieform. Psychoanalyse als Wissenschaft war für Freud ein Welterklärungsmodell, das in seinem revolutionären Charakter, so betont er am Ende der XVIII. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, dem Kopernikanischen oder dem Darwinschen in nichts nachstand. In seinem 1927 erschienenen Buch „Die Zukunft einer Illusion“ erhob Freud den Anspruch, die Psychoanalyse habe als wissenschaftliches Welterklärungsmodell sogar die Kraft, das mythologisch-religiöse Weltbild ablösen zu können, ohne freilich den metaphysischen Trost der Religion zu spenden.

    Zum Zeitpunkt von Reichs Vortrag arbeitete Freud an seinem 1930 erschienenen Buch „Das Unbehagen in der Kultur“. In diesem Werk behauptet Freud, ausgehend von dem Gegensatz zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip, die Existenz eines eigenständigen, dem Lebens- oder Sexualtrieb dualistisch entgegengesetzten Destruktions- oder Todestriebes. Er benannte diese beiden Triebe nach Gestalten aus der griechischen Mythologie als Eros und Thanatos.

    Freud sah die gesellschaftliche Lage pessimistisch. Darin glich er Reich, nicht aber in den Konsequenzen, die sich aus dieser Sicht ergeben konnten. Freud gab die Forderung des Lebens nach Glück auf und forderte die Anpassung an das Realitätsprinzip, und zwar das bürgerlich-westeuropäische Realitätsprinzip von 1930. Reich hingegen forderte, die gesellschaftliche Realität so zu verändern, dass sie wieder Lebensglück ermöglicht. Freud forderte vom Ich des bewussten Menschen, sein Triebleben mit den Anforderungen des kulturell-moralischen Über-Ichs und der Realität der Gesellschaft zu versöhnen.

    Unter den herrschenden Umständen schien es ihm Glücks genug, das neurotische Elend in „normales Unglück“ zu verwandeln. Dabei sah er ganz klar die zunehmende, kollektive Selbstzerstörung der Menschheit. Indem er an diesem Punkt nicht konsequente Rebellion gegen die „Mächte der Unterdrückung des Lebendigen“ forderte, wie Reich dies tat, sondern versuchte, mit diesen Mitteln zu „kollaborieren“, um „Schlimmeres zu verhüten“, nämlich die mittlerweile erlangte wissenschaftliche Reputation der Psychoanalyse nicht zu gefährden, verließ Freud die Radikalität seines ursprünglichen Forschungsansatzes der sexuellen Ätiologie aller Neurosen. Freud betonte, seine Theorie vom Todestrieb sei eine reine Arbeitshypothese.

    Er hatte jahrzehntelang die Sexualität, die Liebe, das Leben in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gestellt und tapfer gegen alle Versuche verteidigt, den Blick der Psychoanalytiker von diesem Mittelpunkt abzuwenden; er hatte dafür den Bruch mit Adler und Jung und den Fortbestand der psychoanalytischen Vereinigung riskiert. Und nun demontierte Freud das Zentrum seiner Lehre selbst, indem er ohne Not der menschlichen Zestörungswut die Stellung einer eigenständigen Kraft zuwies, die der Lebenskraft ebenbürtig sein sollte.

    Es ist kaum ermessbar, was Freud damit tat: er formulierte das Welterklärungsmodell namens Psychoanalyse von einem holistischen in ein dualistisches um. Ein ähnlicher Vorgang von ähnlicher Tragweite lässt sich meines Erachtens nur in der antiken griechischen Philosophie beobachten. Ging Platon ursprünglich davon aus, das Böse sei nichts als ein Mangel an Gutem, so schuf er in seinem Höhlengleichnis mit seiner scharfen Trennung zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Dinge einen Dualismus, in welchem das Böse mit einem Mal als eigenständige Kraft dasteht.

    Der Interpretationsunterschied ist fundamental: einen Mangel an Gutem kann man gegen Null verkleinern, gegen ein Böses an sich kann man nur ankämpfen oder sich mit ihm arrangieren. Mangel an Gutem ist eine Quantität, Böses „an sich“ eine neue Qualität. Ähnlich steht es mit Eros und Thanatos. Für Reich war Destruktivität nichts als ein Mangel, besser: eine Stauung an frei, lebendig und liebevoll gelebter Sexualität, aber keine eigenständige Triebkraft. Hass war für ihn nichts als gefrorene Liebe, die durch orgonomische Therapie wieder aufgetaut, zum Schmelzen und zum freien Sich-Verströmen gebracht werden kann.

    Im Blick auch auf die pädagogischen Konsequenzen weigerte sich Reich, Freuds neuem Dualismus zu folgen. Denn eine Pädagogik, die davon ausgeht, dass Eros und Thanatos gleichwertige und damit gleich gültige, also auch gleichgültige Triebkräfte sind, wird folgende drei Möglichkeiten haben: Destruktivität erbittert, notfalls mit Gegengewalt, bekämpfen und in Schach halten zu müssen, oder, zweitens, sich mit ihr zu arrangieren, das heißt sie abzumildern und, notfalls mit Suchtstoffen oder Medikamenten, zu betäuben, oder, drittens, im Laissez faire zu enden, weil Destruktivität ja ebenso egal wertvoll oder wertlos ist wie die Lebenslust.

    Destruktivität und Perversion können dann nicht mehr so begriffen werden wie im holistischen orgonomischen Weltbild Reichs, das entsprechend auch nicht drei, sondern nur eine pädagogische Verfahrensweise zulässt: Destruktion und Selbstdestruktion als fehlgeleitete, gehemmte Sexualität zu erkennen und zu heilen, sprich: in gesunde, ausgreifende Kreativität umzuleiten, nachdem die hemmenden Faktoren so gut als möglich beseitigt sind.

    Indem Reich mit seiner Haltung den Bruch mit der Psychoanalyse provozierte, rettete er, welch ein Paradox, für die Kinder der Zukunft die Genialität der ursprünglichen Entdeckung Freuds, der ungeheuren Kraft des Eros, sowie das Bild von der Genialität und Tapferkeit des Menschen Sigmund Freud, der diesen Eros allein über Jahrzehnte gegen den erbitterten Widerstand nicht nur seiner medizinischen Fachkollegen, sondern einer ganzen Gesellschaftsordnung aus den Fesseln jahrhundertealter bigotter Moralbegriffe befreite.

    Freud schließt seine pessimistischen Ausführungen über seine Arbeitshypothese, die alle seine Schüler aber sofort begierig aufnahmen, um eine kleine Wahrheit aus ihr zu machen, die Wahrheit vom Todestrieb, dem Thanatos, der nun an allem Schuld ist, mit einer Bemerkung, die dem „Unbehagen in der Kultur“ doch noch ein Happy End zu verschaffen bestrebt ist: er hoffe, Eros, der Lebenstrieb, werde eine Anstrengung unternehmen, um die Selbstzerstörung der Menschheit aufzuhalten. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, dass Reich es war, der im Namen des Eros diese Anstrengung unternahm, die ihm selbst alles andere als ein Happy End bescherte. Und diese Anstrengung war eine pädagogische, wie ja überhaupt das Wesen der Pädagogik, so schon Platon (Symposion 206 b ff.), in nichts anderem besteht als – Erotik.

    KONKRETE ELEMENTE EINER

    ORGONOMISCHEN PÄDAGOGIK

    Ich denke, es ist, nachdem ich nun ausführlich über den theoretischen Kern Reichianischer Pädagogik und deren Sprengkraft gesprochen habe, klar geworden, dass siebzig Jahre nach seinem Vortrag und vierzig Jahre nach seinem Tod nichts von dem umgesetzt ist, worum es ihm wirklich ging. Denn trotz aller schulpsychologischen Dienste und trotz aller Lehrerfortbildungen bleibt die große Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer „fassförmig“, jetzt nicht im körperlichen Sinne gemeint: Fässer voller Komplexe, deren Inhalt samt Form die Schüler überrollen, wie die bösen Buben von Korinth, die bekanntlich nach solcher Prozedur, in diesem Fall Erziehung genannt, geistig und seelisch „platt gewalzt wie Kuchen sind“.

    Mittels jener unbegrenzten Menge von Minuszeichen in ihren Kulis üben sie Macht über die durchschnittlich 28 Lebensläufe in jeder ihrer Klassen aus und fordern Respekt vor ihrer Autorität, ohne zu wissen, was dies Wort eigentlich meint: dass dieses Wort mit Wagemut zu tun hat, mit Echtheit, unermüdlicher Arbeit an sich selbst, mit Aufrichtigkeit und Verantwortung, nicht nur der Institution Schule oder dem Kultusministerium gegenüber, sondern auch im Sinne jener von meinem Lehrer Richard Wisser so bezeichneten situationellen Verantwortung, die verlangt, in jeder Situation jedem Schüler aufrichtig Rede und Antwort zu stehen. Kinder und Jugendliche bemerken und achten natürliche Autorität und rebellieren gegen angemaßte Autorität, sofern sie noch nicht völlig pestilent verbogen sind.

    Sie stehen in ihrer Rebellion ungeschützt, denn noch existiert keinerlei Verpflichtung für Lehrer, kompromisslos gegen die Mächte der Unterdrückung des Lebendigen, das man sogar zuweilen im Licht des Destruktionstriebes völlig uminterpretieren kann, vorzugehen. Im Gegenteil, ein Lehrer, der dies aus eigenem Antrieb tut, wird sich von Kollegen, dies habe ich am eigenen Leib erfahren, heftigsten Angriffen ausgesetzt sehen. Als solchen Angriff verstehe ich auch die eingangs zitierten Worte des deutschen Bundespräsidenten; es ist ein Angriff auf jene milden Ansätze von Menschlichkeit und emotionaler Wärme im Schulalltag, die selbst schwer neurotische Lehrer und Lehrerinnen durchaus entfalten können, Ansätze, die aber von dem, was Reich für Kinder als angemessen und orgonomisch und psychisch gesund erachtete, weit entfernt sind.

    Auch die umfangreiche und durchaus einfühlsame Sexualaufklärung, wie sie im Biologieunterricht und in vielen Jugendzeitschriften betrieben wird, ist allenfalls im Detail das, was Reich unter „Förderung des Lebendigen“ als Ziel seiner Pädagogik begriff. Denn Reich begreift unter Sexualität bekanntlich, was indes auch viele, viele Reichianer vergessen haben, weit mehr als Sextechniken und Lustgestöhn oder die erektive und ejakulative Potenz beim Mann. Nicht umsonst spricht Reich in dem zitierten Abschnitt aus der „Rede an den kleinen Mann“ davon, dass der Pädagoge, der den Namen verdient, selbst die Liebe erlebt haben muss, um die Sexualität der Jugendlichen korrekt zu handhaben.

    Reich wurde nicht müde zu betonen, dass die genitale Umarmung und der Orgasmusreflex nur bei völliger emotionaler Offenheit und vertrauensvoller Hingabe an den Partner möglich ist. Während aber Kinder und Jugendliche heute in Bezug auf die „technische“ Ausführung des Sexualaktes weitaus aufgeklärter sind als zu Reichs Zeiten und auch bei immer liberaleren und aufgeklärten Eltern immer freiere Möglichkeiten finden, jugendliche Sexualität ohne Scham und Scheu zu leben, während Lehrer bei Klassenfahrten, statt nächtliche Zimmerkontrollen durchzuführen, Kondome verteilen, jedes Kinderzimmer und jede Jugendherberge also auf dem besten Wege ist, zu einer abendländischen Bukumatula im Sinne der Trobriander zu werden, währenddessen findet eine emotionale Verarmung und Vernachlässigung der Jugend statt, die in der Geschichte ihres Gleichen sucht. Cool sein gilt als chic, von der Palette der Gefühle sind der Hass und die Sentimentalität, allenfalls die Sehnsucht übrig geblieben und die nur deshalb, weil die Spice-Girls sie besingen und die Protagonisten von „Gute Zeiten-Schlechte Zeiten“ sie vorspielen.

    Ich überzeichne hier bewusst, denn ich beobachte in der Tat eine enorme Verrohung unter Jugendlichen im Alltag, eine mehr und mehr zunehmende Gefühlslosigkeit und Gleichgültigkeit oder Sprachlosigkeit gegenüber Gefühlen. Ein Leser, der Jugendliche bittet, ihm spontan ein Dutzend Gefühle nur mit den entsprechenden Begriffen wie Angst, Zorn, Zärtlichkeit, Freude, Liebe, Trauer etc. zu nennen, wird sein blaues Wunder erleben. Damit korreliert der zunehmende Alkohol-, Cannabis- und Extacykonsum unter Jugendlichen, von härteren Drogen ganz zu schweigen.

    Unsere Gesellschaft ist zur Suchtgesellschaft geworden, diese Entwicklung hat Reich in ihrem ganzen Ausmaß noch gar nicht absehen können. Und „positive“ Leitbilder, an denen Jugendliche sich heute orientieren, sind auch zumeist solche, die das coole Image des Narzissten pflegen und dahinter ihre Gefühlsarmut verstecken. Der antrainierte Waschbrettbauch und der knackige Po zeigen an, dass der Penis wohl ebenso hartgesotten ist wie die Bauch- und Backenmuskulatur, der Muskeleigner jedoch starke Gefühle ebenso effektvoll abzuschmettern vermag wie ein Waschbrett einen Tennisball. Sprechen Sie einmal mit solch gut gebauten, durchtrainierten Leitbildern über das Wort Hingabe. Es war für Reich ein zentraler Begriff.

    Sehe ich nicht allzu schwarz? Ist, wenn schon nicht der Schulalltag menschenfreundlicher geworden ist als zu Zeiten Reichs, wenn schon die Sexualaufklärung an Schulen am Kern dessen vorbeigeht, was Reich darunter verstand, aber nun doch immerhin frei und ungehindert stattfindet, ist nicht zumindest ein drittes großes Anliegen Reichs verwirklicht, das der Selbstregulation des natürlichen Organismus? Werden nicht Jugendliche mit Montessori-Pädagogik oder dem seit kurzem schwer in Mode gekommenen konstruktivistischen Ansatz nach Watzlawick zu immer mehr Selbständigkeit und Mündigkeit geradezu spielerisch hingeführt? Lernen Jugendliche nicht mehr als je zuvor, ihr Lernen selbst zu organisieren, wie Reich dies vom freien, lustvoll lebenden Menschen beschrieb?

    Hat nicht die „antiautoritäre“ Erziehung seit den Achtundsechzigern einiges in dieser Hinsicht verändert? Nein, auch da mag ich alle Illusionen dämpfen, denn Reich selbst forderte in puncto Selbstregulierung schon zu Lebzeiten dazu auf, weil er spürte, dass sich „fortschrittliche“ Pädagogen auf diesen Begriff stürzen würden wie auf die Perle in der Auster, um die Schale, in die sie eingebettet ist, nämlich die orgonomische Theorie, dann achtlos wegzuwerfen. Am 29.02.1956 schreibt Reich an Neill: „Es wäre sehr nützlich, wenn Du die Begeisterung über die gegenwärtigen Möglichkeiten der Selbstregulierung…etwas dämpfen könntest. … Andernfalls wird daraus eine neue, verhängnisvolle Religion der `Selbstregulierung´ OHNE echte VERÄNDERUNG der TIEFENSTRUKTUR DES MENSCHEN, die dann weitere 2000 Jahre ihre tödlichen Wirkungen ausüben wird.“ (Zeugnisse einer Freundschaft S. 574; Majuskel-Hervorhebungen von Reich selbst.)

    Die gesellschaftlichen Bedingungen sind eher ungünstiger geworden als zu Reichs Lebzeiten. Die Massenseuche der Suchterkrankungen etwa war noch gar nicht absehbar, obwohl sich bereits 1935 wenige hundert Meilen von Reichs späterem Wirkungsort Rangeley, Maine in Akron, Ohio die Anonymen Alkoholiker formierten. Reich nennt im „Christusmord“ die Umkrempelung der Pädagogik zur Neurosenprophylaxe eine „Jahrhundertaufgabe“. Die angeführte Briefstelle zeigt, dass das Ausweichen vor der pädagogischen Hauptaufgabe, der Veränderung der Tiefenstruktur des Menschen, die Fehler von Jahrhunderten auf Jahrtausende hin projiziert. Was also ist zu tun, was kann JETZT getan werden, um den mühsamen und langwierigen Prozess der Entpanzerung der Menschheit endlich in Gang zu setzen?

    Zu allererst: anfangen müssen WIR, die wir noch mit dem Panzer und sämtlichen darin eingezwängten neurotischen Charakterstrukturen groß geworden sind. Wer sonst soll es tun? Wer je als Pädagoge die Gnade erfahren durfte, durch eine körperorientierte Therapie oder Fortbildung auch nur den Hauch einer Ahnung davon zu erhalten, was Befreiung der Lebensenergie und des Gefühlsausdrucks aus körperlichen Muskelverspannungen und pseudomoralischen Verkrustungen bedeutet oder bedeuten kann, ist aufgerufen, dieses Wissen, diese Erfahrung in praktisches Handeln umzusetzen, kompromisslos das Lebendige und dessen freie Entfaltung zu beschützen.

    Er wird dies gerne tun und den Mächten der Unterdrückung des Lebendigen rücksichtslos entgegentreten, nicht nur obwohl, sondern gerade weil er die Narben der eigenen Verkrustungen, den krumm gewachsenen Stamm des Baumes noch spürt, wenngleich die Krone nun dem Licht entgegenstrebt. Der krumm gewachsene Baum muss die zarten, jungen Bäumchen beschützen, damit sie nun gerade heranwachsen können und er wird sich neidlos an diesem Anblick erfreuen können. Der orgonomisch orientierte Pädagoge von heute ist in derselben Position wie Moses, der das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt, zwar sieht und den Weg dorthin in etwa kennt, es selbst aber nicht mehr betreten wird, denn der Weg ist länger als ein Menschenleben.

    Aus dieser Lagebeschreibung heraus möchte ich, der ich mich Reichs Forderungen und Folgerungen ganz und gar verpflichtet weiß, sieben Nahziele für die pädagogische Praxis von heute formulieren, quasi als anfängliche Wegweiser für die ersten Schritte auf dem jahrhundertelangen Weg:

    1. Ich unterstütze nachdrücklich die Anregung von Dr. Eva Reich (in: Meine Erinnerungen an W.R. a.a.O. S. 147): „Jedes Kind sollte einen Kurs in Orgonomie haben.“ Ein solcher Kurs muss ausgearbeitet werden und an Schulen gelehrt werden können, so wie es etwa an den High-Schools in den Philippinen das Fach „menthal health“ gibt.
    2. Das oberste Ziel, die Entelechie dieses Orgonomiekurses, ist klar zu formulieren und im Auge und im Bewusstsein zu behalten, auch wenn es Jahrhunderte dauern wird, es zu erreichen. DAS Ziel der pädagogischen Orgonomie ist die Veränderung der Tiefenstruktur des Menschen, die Befreiung des Lebenskerns von falschen Normen des Sozialverhaltens, die Befreiung der unterdrückten, verdrängten und fast abgetöteten Gefühle. Als Präventionskurs hat orgonomische Pädagogik jedem neuen Versuch einer wie immer gearteten neuen Verpanzerung entgegenzuwirken.
    3. Es müssen Wilhelm-Reich-Privatschulen gegründet werden, die sich diesem Erziehungsziel verschreiben und an denen die Orgonomiekurse gelehrt werden, denn staatliche Schulen werden damit mit Sicherheit nicht beginnen.
    4. An diesen Schulen müssen Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, die über körpertherapeutische Selbsterfahrung verfügen und so in die Lage versetzt wurden, ihre Lebensenergie und ihren Gefühlsausdruck frei zu setzen. Die deshalb über persönliche Autorität verfügen und sich nicht auf irgendeine Amtsautorität berufen müssen. Die über freie, emotionale, menschliche Ausstrahlung, über Echtheit, Geradlinigkeit und Mitgefühl ihre Schülerinnen und Schüler auch auf emotionaler Ebene erreichen. Die deshalb Freund, Helfer, Ratgeber, Beschützer, Wissensvermittler sein können und keine Drillmeister sein müssen. Die sich und auch ihren Schülern ihre Charakterstrukturen und Charakterverbiegungen offen eingestehen und dazu stehen können und ihr Verhalten somit immer wieder kritisch hinterfragen und hinterfragen lassen. Die aber aus dieser Ehrlichkeit und Selbstachtung heraus auch in Liebe Grenzen setzen. Die durch ihr praktisches Vorbild und durch Selbstdisziplin wirken und damit praktische Anleitung zur Selbstregulierung geben. Die mehr mitteilen als urteilen, die Beziehungen schaffen, um erziehen zu können. Die nicht neidisch darauf sind, dass durch dieses, ihr Wirken, ihren Schülerinnen und Schülern ein freieres Leben ermöglicht wird, als sie selbst es führen konnten. Dies alles ist nur durch permanente körpertherapeutische Supervision möglich.
    5. Solange die Massenneurose und die emotionale Pest noch weiter um sich greifen und das Hauptziel in weiter Ferne liegt, ist darauf zu achten, nicht ohne Not Kompromisse einzugehen. Damit meine ich folgendes: die Veränderung der Tiefenstruktur ist ein schmerzhafter therapeutischer Prozess, der nicht ohne Mühsal, Schweiß und Tränen verläuft. Es wäre eine Lüge, die sich bitter rächen würde, Selbstregulierung ohne Körpertherapie, sexuelle Befreiung ohne emotionale Öffnung als Heilmittel gegen die Neurose zu proklamieren. Im Gegen-teil: solange Jugendliche durch Politik, TV, die Drogenmafia und in erster Linie durch rat- und hilflose Eltern und Lehrer, die sich an keinerlei metaphysischen Werten mehr orientieren, immer mehr emotional verpestet werden, ist Arbeit an den äußeren Strukturen gefordert. Das bedeutet: pädagogisches Arbeiten mit dem Nahziel, die Selbstwahrnehmung, den Selbstausdruck, die Selbstbeherrschung, das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler zu stärken. An dieser Stelle greift das Motto eines Buchtitels von Alexander Neill: „Herzen, nicht Köpfe in die Schulen“. Schule muss, meines Erachtens, auch pädagogische Kuschelecke sein, die ermutigt, Herzgefühle zu äußern. Und zum Ja in der Liebe gehört auch das Nein in Liebe, also die pädagogische Fähigkeit, liebevoll Grenzen zu setzen und Grenzen spüren zu lassen, klar zu sein, von Schülern auch Disziplin zu fordern, um ihre Selbstdisziplin zu fördern. Denn ohne solche Disziplin und innere Stärke kommen sie nicht in die Lage, sich gegen Einflüsse der emotionalen Pest abzugrenzen. Auf den ersten Blick mag meine Forderung nach emotionaler Öffnung und gleichzeitig struktureller Disziplin paradox wirken, vielleicht mag sogar der Verdacht aufkommen, damit würde einer weiteren Verpanzerung Vorschub geleistet. Wenn ich Reichs letzte Briefe an Neill richtig verstehe, ist das Gegenteil der Fall.
    6. Auch in einer Reichianischen Schule wird es Fachunterricht geben, aber unter einem orgonomischen Gesichtspunkt. Der Fachunterricht darf nicht in einer unzusammenhängenden Anhäufung und Vermittlung von Detailwissen bestehen, sondern wird Wissen als eine Grundfunktion unseres Lebens betrachten, als dessen dritten Quell; vor dem Wissen steht die Arbeit, vor der Arbeit die Liebe.
    7. Aus allen Berichten über Reichs letzte Lebensmonate im Gefängnis geht hervor, dass er in jener Zeit nach „Häfen für das Leben“ verlangte und seinem Sohn Peter die Kraft des Gebetes nahe zu bringen versuchte, also ganz im Gegensatz zu seinen Erziehungsgrundsätzen seiner Tochter Eva zwanzig Jahre früher gegenüber. Dieser Wandel in Reichs Leben vom kommunistischen Atheisten über den agnostizistischen Wissenschaftler zu einem Mann des Glaubens, der sich, wie im „Christusmord“ erkennbar ist, in der Gestalt Christi geborgen und erkannt fand, ist meines Erachtens noch nicht genügend gesehen worden. Auch Eva Reich berichtet in ihrem schon erwähnten Vortrag sowie in ihrem neuen Buch „Lebensenergie durch sanfte Bioenergetik“ (München 1997) von der Kraft, die sie, insbesondere für ihre therapeutische Arbeit, aus ihrem Glauben an Jesus Christus und aus dem Gebet bezieht. Ich sehe an dieser Haltung Reichs selbst, sowie seiner Tochter, die sein Werk fortführte, die mit ihrer für Kinder und Säuglinge so besonders geeignete Form der Schmetterlingsmassage ein elementares pädagogisches Mittel der Neurosenprophylaxe entwickelt hat, dass ohne die Verankerung im Glauben und in den Werten eines diese Welt und ihre emotionale Verwüstung transzendierenden Glaubens als des Vertrauens auf den Gott, der „Weg, Wahrheit und Leben“ ist, eine so schwere Arbeit wie die an der pädagogischen Umstrukturierung der Menschheit menschenunmöglich ist.

    SCHLUSS

    Was wir tun, ist immer Stückwerk. Der Reichianische Pädagoge von heute ist vergleichbar dem Maurer, der siebzig Jahre nach Grundsteinlegung des Kölner Doms Stein auf Stein fügte, wissend, den Bau, dessen Bild er aus den Konstruktionsplänen erschließen konnte, nie vollendet in der Wirklichkeit vor sich zu sehen. Er baute auf einer Schutthalde römischer Relikte. Erst 524 Jahre später stand die Kathedrale in der Pracht da, in der wir sie seit 150 Jahren wahrnehmen. Die Dombauhütte ist unermüdlich beschäftigt, immer wieder Details auszubessern und zu erneuern. Der Dom wird nie wirklich vollendet sein.

    Ich wünsche uns diesen Mut, diese Vision, diese Unverdrossenheit, unter dem Wirrwarr aus Ziegeln, Brettern, Nägeln und Seilen, im Schweiß unseres Angesichts, oft auch einsam und unter dem Gelächter derer, die da höhnen „wozu das Ganze, ist doch eh´ wurscht!“ dennoch lust- und vertrauensvoll Stein auf Stein zufügen und immer wieder zu prüfen, ob das Fundament noch steht: Die Funktion des Orgasmus, wie Reich sie bestimmt hat. Und, da die Lebenenergie, einem Wort Alexander Lowens zu Folge, der Schwerkraft entgegenwirkt, immer wieder zu prüfen, ob die Richtung des Baues für die Kinder der Zukunft, deren Zukunft so ungewiss ist, noch stimmt: entgegen dem Zeitgeist, der das Flache liebt, schlank, gotisch, schwerelos und elegant – nach oben!

    Biographische Notiz: Eberhard Krumm * 07.03.1959 arbeitet als Lehrer für Philosophie und Geschichte an einer Privatschule in Bonn. Er hat sich als Beratungslehrer bei der psychoanalytischen Kinder- und Jugend-lichentherapeutin Annette von Mühlendahl, Köln, und dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien, aus- und weitergebildet. Er betreibt eine private Lebens- und Erziehungsberatungspraxis für Jugendliche und deren Eltern in Bonn. In Bukumatula 4 und 5/97 erschien vom selben Autor der Aufsatz „Wilhelm Reich und die Philosophie“.

    Der Autor dankt an dieser Stelle herzlich Christiane und Manuela Keßelheim für die aufmerksame Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anregungen für die Textgestaltung, sowie Wolfram Ratz für die geduldige und interessierte Begleitung in der Entstehung und Endfassung des Essays.

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    Bukumatula 1/1997

    20 Variationen über den Vater, Wilhelm Reich

    Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    Das Buch ist vergriffen. Und dies ist, so meine ich, auch gut so. Es zu beschreiben und Szenen herauszugreifen bedarf der Behutsamkeit, um nicht erneut Anlass dafür zu geben, dass die persönlichen Eigenarten, ja auch die Schwächen dieses großen Mannes benutzt werden, um sich nicht mehr weiter mit seinen bahnbrechenden Werken beschäftigen zu müssen und sie als Taten eines Wahnsinnigen abtun zu können.

    Das Buch hat die widersprüchlichsten Reaktionen in mir wachgerufen. Wut bei den Szenen der Zerstörung – da, wo die Agenten der Food and Drug Administration die Vernichtung der Orgon-Akkumulatoren veranlassten, Empörung und Schmerz über die Überforderung des Sohnes, welcher als einziger „Soldat“ an der Seite Reichs stand (und dies im Alter von 10 -13 Jahren), Trostlosigkeit und Trauer.

    Am nachhaltigsten jedoch traf mich die Einsamkeit. Einsam war er. Dieser Doktor Reich, wie er sich auch von langjährigen Mitarbeitern nennen ließ. Einsam in der Jugend, zum Zeitpunkt seines Wiener Studiums, wo er sich weder in einer Familie aufgehoben fühlte, noch verwandte Seelen in seinem Bekannten- und Freundeskreis fand. Und einsam in den letzten Lebensjahren, die er auf der Ranch in Orgonon und im kleinen Kreis von noch verbliebenen Mitarbeitern verbrachte. Von diesen erzählt Peter Reichs Buch.

    Es ist ein Buch über Reich und es ist ein Buch über den Sohn, seine Beziehung zum Vater, über die Liebe zwischen den beiden und die Treue des Sohnes. Es dient, so scheint es, der Aufarbeitung der Bürde, allein an der Seite dieses großen Mannes gewesen zu sein. Es beschreibt, in Romanform gehalten, das Erleben des kleinen Jungen und im letzten Abschnitt das Ringen des bereits Erwachsenen, sich aus der Beeindruckung durch den Vater zu lösen und auf die Welt zu kommen.

    Das Thema:

    Mein Vater war Psychiater. Als wir nach Maine zogen, kaufte er ein großes Gelände und nannte es Orgonon. Er entdeckte die Orgonenergie, die eine „biologische Energie“ ist. Er führte eine Unzahl Experimente darüber durch, und es kamen viele andere Ärzte und Wissenschaftler, um dabei mitzuhelfen. Der erstaunlichste Apparat war der Akkumulator. Er ähnelte einer Kiste, und wenn man sich hineinsetzte, fühlte man sich gleich wohler. Ich war damals glücklich.

    1. Szene: Zusammensein

    Die Green Lantern hatte eine große Orgel, die auf einem Podest nahe der hölzernen Bar mit der Spiegelrückwand stand, und rote, gelbe und grüne Lichter wanderten in Kreisen über den Organisten hinweg, so dass sein Gesicht ständig die Farbe wechselte. Der Scheinwerfer schien durch bunte Scheiben, und sein Licht wurde im Spiegel hinter der Bar reflektiert, kreuz und quer durch den ganzen Essraum, als schiene es auf Daddy und mich, während wir an unserem Lieblingstisch saßen. Daddy lächelte mich an, als er an seinem Lieblingsdrink, einem Manhattan, nippte.
    „Möchtest du die Kirsche?“ Er hielt die Frucht am Stiel und rührte seinen Drink damit um; sie verschwamm bei der kreisenden Bewegung im Glas. Daddy vergaß nie, mir die Kirsche aus seinem Manhattan zu geben.

    2. Szene: Den Himmel fühlen

    Das erste, was Daddy sagte, als er und Eva in Tucson ankamen und ich ihm meinen neuen Stetson gezeigt hatte, war, dass wir alle in einer unverkrampften Weise fühlen und beobachten müssten; so wie wir immer eine Weile warteten und den Himmel beobachteten, um zu sehen, was dort war und was wir fühlten, ehe wir den Wolkenbrecher einsetzten. Um ihn benutzen zu können, musste man nämlich wissen, wie der Himmel sich anfühlte, und auf diesem Gebiet entwickelten wir einiges Geschick. Wenn wir uns bisweilen an einem Tag allesamt nicht wohl fühlten, auch wenn wir weit voneinander entfernt waren, fanden wir später heraus, dass eine Atombombe gezündet worden war oder ein EA-Angriff stattgefunden hatte.

    Die EA-Angriffe und die Atomexplosionen fielen mit schädlichem DOR zusammen; wir konnten das sagen, weil wir jedesmal, wenn der Himmel hässlich graubraun war und die Leute sich schlecht fühlten oder elend aussahen, feststellten, dass eine Bombe explodiert war. Der Wolkenbrecher bewirkte, dass die Atmosphäre und das Wohlbefinden der Leute sich besserten.

    3. Szene: Wolkenbrechen

    Ich kurbelte den Wolkenbrecher herum und fuhr gleichzeitig die Röhren aus. Im Unterbau des Wolkenbrechers klickten die Gänge beim Herumdrehen. Wir begannen im Westen, weil die Orgonenergie von West nach Ost strömt, und wenn wir einen Eingriff vornehmen, unterstützen wir auf diese Weise den Energiestrom. Daddy hatte uns angewiesen, niemals im Osten zu beginnen, da dann der Energiestrom unterbrochen wird und Stürme auftreten.

    Die Röhren des Wolkenbrechers schwenkten in östliche Richtung, die Gummistöpsel baumelten hin und her.
    „Gut. Alles klar. Und jetzt zurückdrehen, aber langsam.“ Die Räder knirschten langsamer, und ich führte den Strom behutsam gen Süden. Ich glaube, wir schwenkten deshalb nach Süden, weil es dort wärmer ist; schwenkten wir nach Norden, bestünde die Gefahr, dass es kälter würde. Aber manchmal ziehen wir auch in nördlicher Richtung.

    4. Szene: Die Eishöhle

    An jenem Tag war die Schneekruste unglaublich fest. Sie war so dick, dass man sogar darauf herumlaufen konnte. Nach dem Abendessen, als es dunkel war, rannte ich hinaus und begann einen Tunnel zu graben, der die Kruste unterhöhlte. Innen, an den Seiten, war der Schnee weich. Ich lief ins Haus zurück und holte mir eine Taschenlampe, damit ich besser vorankam, und darum erinnere ich mich auch so genau daran.

    Es war einfach phantastisch in diesem weißen Schneetunnel mit den kalten glitzernden Schneewänden, die mich umfingen, als ich ihn ausschippte. Ich erinnere mich, dass von draußen ein Geräusch an mein Ohr drang. Es schneite, und unter der Lampe über der Tür erkannte ich meinen Vater und meine Mutter, die im Hauseingang standen, mir zusahen und über mich lachten. Ich muss gerade daran denken, dass dies wohl zu den schönsten Erinnerungen zählt, die ich habe, wie ich da in dem Loch steckte und mein Vater und meine Mutter darüber lachten, was ich für ein Gesicht zog, als ich zu ihnen hinübersah.

    5. Szene: Eine Prophezeiung

    Ich entfaltete den letzten Brief, den ich von Daddy erhalten hatte. Er schrieb, es bestehe die Chance, dass er am 7. November bedingt aus der Haft entlassen werde, und er würde mich dann von der Schule abholen, und wir könnten ins Howard Jonson´s essen gehen. Ich hoffte, er würde während des Silentiums kommen, dann könnte ich durchs Fenster beobachten, wie sein großer Chrysler 300 die lange, schattige Auffahrt heraufrollte. Es würde ein herrliches Gefühl sein, hinauszulaufen und ihn zu umarmen.

    Im letzten Sommer, den wir zusammen in Maine verbracht hatten, waren wir einmal spazieren gegangen und dann zur unteren Hütte zurückgekommen. Er sagte, dass die schwerste Schlacht noch bevorstünde, und ich müsse sehr stark sein, denn vielleicht müsse er ins Gefängnis. Dann blieb er an der Hintertür stehen und sagte: „Peter, wenn ich ins Gefängnis gehen muss, werden sie meinen, es sei ein Sieg für sie. Aber letzten Endes werden wir siegen. Aber du musst auch wissen, dass ich, falls ich ins Gefängnis muss, vielleicht nicht lebend wieder herauskomme. Du verstehst?“

    6. Szene: Doktoren

    Die Männer und Frauen saßen auf den langen, braunen Bänken aus Holz, die Tom gebaut und die ich ihm hatte anstreichen helfen. Die Lichtung war halbwegs rund, mit Bäumen rings herum, die Schatten spendeten. Das Gras war weich und grün bis auf die Stellen, wo zwischen den Bäumen hindurch der Pfad zum Laboratorium führte, aber es war ein langes Gras und legte sich um die Beine der Bänke und die Füße der Leute, so dass es aussah, als wären sie ebenfalls im Boden verwurzelt. Einige von ihnen musste ich mit „Doktor“ anreden, weil sie das auch waren. Manche waren „Mister“, aber einige hatten nur einen Namen, wie etwa Mickey.

    Zu den Doktoren gehörten Dr. Baker, ein wichtiger Mann, Dr. Raknes aus Norwegen mit seinem komischen Akzent, Dr. Hoppe aus Israel, der mit einem Wasserflugzeug gekommen und an unserem Anleger gelandet war, Dr. Willie aus Texas, der einen Stern an seinem Zaun hatte, und Dr. Duval, dessen Tochter Sally heißt; Dr. Tropp ist warmherzig und fett, und Dr. Wolfe ist nicht da.

    Neill kommt aus Summerhill. Andere Doktoren haben Namen, die wir immer aneinandergereiht aufsagen. Dann waren noch Mammi und Helen und Eva und Gladys und Lois und Grethe da, die sich auch Notizen machten. Manche von ihnen arbeiteten im Laboratorium mit den Mäusen. Die Mäuse lebten in einem besonderen Haus, in besonderen Mäusekäfigen. Sie waren alle weiß. Daddy stand in seinem weißen Mantel vor mir und redete, wie immer, über Energie.

    Mammi sah, wie ich durch das Blattwerk linste, und lächelte. Sie winkte mit der Hand, so dass es niemand sehen konnte, und bedeutete mir mit Lippenbewegungen: „Geh weg.“ Als ich den Kopf schüttelte, schüttelte sie auch den Kopf und sagte: „Sei still.“ Also legte ich mich ins Gras und schaute den Leuten zu, wie sie lauschten und sich Notizen machten, während Daddy redete. Er redete viel, wenn im Sommer die Doktoren zu Konferenzen kamen. Sie kamen, um etwas über seine Entdeckungen zu erfahren, und die waren wichtig.

    7. Szene: Der Soldat an der Seite

    „Ja“, sagte er, „wir befinden uns mitten in einem kosmischen Krieg. Peeps, du musst sehr tapfer und sehr stolz sein, denn wir sind die ersten Menschen, die mit Raumschiffen einen Kampf auf Leben und Tod führen. Wir wissen jetzt, dass sie unsere Atmosphäre zerstören. Vielleicht benutzen sie dazu Orgonenergie als Treibstoff, vielleicht stoßen sie auch DOR als Abgas aus. Wie dem auch sei, wir sind die einzigen, die begreifen, was sie in unserer Atmosphäre anrichten, und wir können sie mit ihren eigenen Waffen bekämpfen.

    Die Luftwaffe kann nur irreführende Berichte über die fliegenden Untertassen herausgeben und ohnmächtig hinter ihnen herjagen, wohingegen wir nach ihren eigenen Funktionsprinzipien gegen sie vorgehen, mit der Orgonenergie. Wir bekämpfen das Feuer mit dem Feuer, und deshalb werden wir gewinnen. Wir arbeiten mit dem Wissen der Zukunft.“ Er schlug mir auf die Schulter. „Und du, Peeps, bist wohl das erste Kind jener Generation der Zukunft.“

    8. Szene: Küsse

    „Hast du eigentlich eine Freundin?“ fragte er. Er wollte immer wissen, ob ich eine Freundin hätte und ob wir einander küssten und berührten. Er sagte immer: „Hab keine Angst, du kannst es mir ruhig sagen.“ So kam es, dass wir viel darüber redeten, weshalb man mich nicht habe beschneiden lassen und wie das bei anderen Kindern sei. In der Schule war ein Mädchen, das war sehr hübsch, und wir schauten uns manchmal verstohlen an, aber wir hatten uns nicht geküsst. Na ja“, sagte ich, „da ist ein Mädchen, das mag ich, aber wir gehen nicht aus oder so was.“ Es verwirrte mich, darüber zu reden, und eigentlich machte es mir viel Spaß, Schülerlotse zu sein und Jojo zu spielen.

    9. Szene: Die Wahrheit und die Angst davor

    „Der Hass und die Angriffe gegen mich begannen schon vor langer Zeit, als ich gezwungen war, Deutschland, Österreich, Dänemark und Norwegen zu verlassen. Schon seit jenen Jahren verbreiteten Leute, die Angst haben vor dem, was ich ihnen zu sagen habe, das Gerücht, ich sein von Sinnen. Auch hier in Amerika hat man mich aus den Berufsverbänden ausgesperrt und, wie du weißt, von seiten der Regierung unablässig attackiert. Du weißt auch, dass man befohlen hat, noch diese Woche einige meiner Bücher zu verbrennen.

    Ich kann nicht begreifen, wie so etwas möglich ist, und dennoch geschieht es laufend. Seltsame Dinge haben sich in diesem Lande zugetragen: das Verschwinden des Orgonmotors, die Einstein-Affäre, die Luftwaffe … das alles weist auf eine unglaubliche Verschwörung hin. Es ist einfach beängstigend. Sie würdigen meine Arbeit keines Blicks, ihre Angriffe richten sich gegen meine Person. Peeps, kein Mensch wehrt sich in dieser Weise, wenn er nicht selbst vor Angst fast stirbt; und sie haben Angst – Angst vor der Wahrheit der kosmischen Orgonenergie.

    Sie haben Angst vor dem Leben. Aber was immer auch passiert, Peeps, ich werde mich nicht beirren lassen, ich werde meine Arbeit nicht einstellen. Egal, was passiert, die Arbeit muss weitergehen. Nichts kann die Wahrheit aufhalten. Kein Gesetz kann der wissenschaftlichen Forschung Einhalt gebieten. Das ist der Grund, warum wir kämpfen, und das ist auch der Grund, weshalb ich vielleicht sterben muss. Die Wahrheit ist tödlich, und sie wissen, dass ich recht habe. Die Pest, die die Seele und das Gefühl zerstört, kann töten.

    Auch vor Gericht habe ich versucht, meine Erkenntnisse darzulegen, aber sie hörten mich nicht an. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass ein Gerichtshof sich kein Urteil über die grundlegenden Prinzipien der Wissenschaft anmaßen darf, doch sie lehnten es ab, die wahren Probleme ins Auge zu fassen. Es ist daher bedeutungslos, dass sie mich für schuldig befunden haben, denn selbst wenn die Berufung abgelehnt wird, bleiben wir Sieger.“

    10. Szene: AAAaaaaaaahh

    Als das Trampeln aufhörte und das Weinen aufhörte, war seine Hand verschwunden und die Schnur in meinem Magen mit ihr, und als ich ausatmete, hatte ich das Gefühl, als segelte ich wie ein schwarzes Segelboot auf einem schwarzen Fluss mit der Strömung in den Abend hinein, das Kielwasser glitzerte und breitete sich aus, ganz hinunter, bis in meine Beine.

    Ich atmete, atmete. Ich spürte seine Hand wieder sanft auf meinem Magen, er fragte: „Ist dein Leib jetzt weich? Du solltest immer darauf achten, dass er weich bleibt.“ Und seine Finger drückten an der Stelle, wo der Atem von selbst ein und aus geht, wie ein schwarzes Boot, das immer geschmeidiger dahinsegelt. Er lächelte mir zu. Seine Hand glitt von meinem Nacken zu meinen Knien, nur kitzelte es jetzt überhaupt nicht mehr. Es fühlte sich nur beruhigend und sanft an, und der Atem segelte zusammen mit der Hand, strömte.

    „Gut Peeps. Jetzt atme.“
    Ganz von selbst atme ich. „Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhh“, tiefer und tiefer, bis es sich in meinen Beinen rührte, genau wie durch Daddys Hände.
    Daddy sagte: „Aaaaaaaaaaaaaahh. So ist’s gut. AAAaaaaaaaaaaaaaaahh.“
    „Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahh.“
    Und dann atmeten wir beide gleichzeitig und sogen den Duft des Heus ein.
    „Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahh.“

    11. Szene: Ilse Ollendorf-Reich

    Er wollte immer erreichen, dass ich alles verstand, und ich strengte mich an; ich musste es verstehen, weil es sonst niemanden gab, aber ich verstand nicht, warum er Mammi anschreien musste, und warum die Tränen aus dem einen Auge auf den Kopf der Frau fielen, und die Tränen aus dem anderen Auge auf das Schriftstück tropften und auf der Seite kleine, gekräuselte Beulen hinterließen.

    „Sieh mich an, Peeps“, sagte er und nahm mich in die Arme, bis ich weinte. Er machte auch ein trauriges Gesicht, und ich liebte ihn auch. Es war so traurig, als das Labor leer war und Mammi und Daddy miteinander stritten. Ich sehnte mich danach, sie glücklich zu sehen. Er berührte mein Haar, und seine Hand fühlte sich gut an.

    12. Szene: Verschwörung

    „Es wird sich bald entscheiden, ob ich ins Gefängnis muss oder nicht. Ich meine schon, dass der Berufung stattgegeben wird, denn die Verhandlung hat, glaube ich, deutlich gezeigt, worum es uns geht. Es ist eine regelrechte Verschwörung gegen mein Projekt im Gange, Peter. Irgendwo stört es irgend jemanden, wenn meine Arbeit über Orgonenergie weitergeht. Mir ist zwar recht unklar, warum, obwohl mir so langsam ein Licht aufgeht. Du musst begreifen, dass ich vielleicht umkommen werde. Jemand könnte versuchen, mich umzubringen.“

    Er hielt inne und schaute mich ernsthaft an. „Peeps, lauf nicht weg, lass du mich nicht auch noch im Stich.“
    Alle ließen sie uns im Stich. Am Tage der Verhandlung schickten sie mir ein Grußtelegramm. Darin nannten sie mich einen Leutnant. Ich wäre gern bei der Verhandlung dabei gewesen, aber ich musste in die Schule gehen.
    Der Grund der Anklage war, dass alle vor der Orgonenergie Angst hatten. Sie sagten, Daddy dürfe es keinem Menschen mehr erlauben, Akkumulatoren zu benutzen. Aber Daddy hielt sich nicht daran, und daher versuchten sie jetzt, ihm etwas Böses anzutun. Ich will tapfer sein.

    „Was auch immer geschehen mag, ich möchte, dass du tapfer bist und dein eigenes Leben lebst. Aus diesem Grund ist es besser für dich, wenn du während dieser Zeit bei deiner Mummy lebst und ein Internat besuchst. Es ist wichtig für dich, Freunde um dich zu haben und in einer Atmosphäre aufzuwachsen, die nicht so spannungsgeladen ist. Du musst dein eigenes Leben leben. Und was immer mir auch zustößt, du musst stets tapfer sein.“

    Ich presste mich so fest an ihn, dass wir beide den Druck des Fernglases spüren konnten. Am liebsten hätte ich geheult, aber dazu war jetzt keine Zeit. Wir mussten gefasst sein.

    13. Szene: Der Leuchte-im Dunkeln-Ring

    „Daddy! Daddy! Schau! Ich habe diesen Cowboyring mit einem Geheimfach bekommen, genau wie der Lone Ranger! Schau!“ Ich ging um den Schreibtisch herum und zeigte ihm den Ring.
    Er nahm den Ring und betrachtete ihn. Er runzelte die Stirn.
    „Wo ist das Geheimfach“ fragte er und steckte seinen Federhalter in den Ständer zurück.
    Ich lehnte mich zu ihm hinüber und ließ den Sattelknopf zurückgleiten.
    „Schau. Es soll im Dunklen leuchten, und man kann Botschaften darauf schreiben. Hier, mach mit den Händen eine dunkle Höhle, dann siehst du’s. Ich möchte damit Botschaften senden. Ist dir vielleicht klar, wie man darauf schreiben kann?“
    Er sah sich den Sattel eine Weile lang an und schob den Knopf vor und zurück. Dann machte er eine Höhlung mit den Händen, aber sie war nicht dunkel genug.
    „Hast du es im Dunkeln leuchten sehen?“
    „Na klar. Ich war gerade im Keller unten, und da hat es richtig hell geleuchtet. Komm mit runter.“
    „Wo hast du es her?“
    „Erinnerst du dich nicht? Vor langer Zeit war es auf der Rückseite einer Cheerios-Schachtel, und Mammi gab mir fünfzig Cents, damit ich sie mit dem Gutschein auf der Schachtel einschicken konnte. Erst gestern ist er mit der Post gekommen … ich hab’s dir nur bis jetzt noch nicht zeigen können.“
    Er sah mich ernst an und hielt den Sattel so, dass seine Finger auf den aufgemalten Steigbügeln lagen. Der Sattel war wirklich hübsch. „Komm doch bitte mit ins Kämmerchen“, sagte ich. „Du wirst sehen, es funktioniert tatsächlich.“
    „Peeps, es tut mir leid, aber du kannst ihn nicht behalten.“
    „Was?“ Er ließ den Sattel in seine Handfläche fallen. „Aber ich habe ihn doch gerade erst bekommen. Ich will ihn für die Kavallerie benutzen, um Botschaften über die Indianer zu senden!“
    „Es tut mir leid, du kannst den Sattel nicht behalten, und das ist mein letztes Wort.“
    „Aber Daddy, es tut mir leid wegen gestern abend. Ich wollte nicht albern sein und dich ärgern.“
    „Nicht deswegen, Peeps. Diese Leuchte-im Dunkeln-Substanz kann dir schaden. Sie kann sehr gefährlich sein. Wir bereiten gerade ein Experiment vor, um diese Sachen besser verstehen zu können. Es tut mir leid. Ich weiß, als Spielzeug gefällt es dir, aber wir müssen es beseitigen. Ich werde Mister Ross bitten, es zu vergraben.“
    Er drückte den Knopf der Sprechanlage.
    „Mister Ross? Mister Ross, bitte kommen Sie in mein Arbeitszimmer.“
    „Es vergraben? Daddy, warte doch. Vielleicht können wir das Leuchte-im Dunkeln-Zeugs herausholen und den Ring behalten. Mir macht es nichts aus, wenn er nicht im Dunklen leuchtet.“
    Tränen in meinen Augen ließen Daddy vor meinem Blick verschwimmen, und ich wischte mir mit dem Arm über das Gesicht.
    Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir sehr leid, mein Sohn, aber ich befürchte, der ganze Ring könnte verseucht sein.“

    14. Szene: Die Eltern

    Nach dem Abendessen wollte ich Mammi überraschen; darum sagte ich, ich würde abwaschen, und sie könne dann abtrocknen. Sie und Daddy unterhielten sich gerade angeregt, und ich wünschte mir, sie würden sich lange miteinander unterhalten und dabei glücklich sein, daher wusch ich das Geschirr. Als ich mit dem Spülen fertig war, unterhielten sie sich immer noch; daher begann ich, das Geschirr abzutrocknen.

    Mammi fragte: „Bist du soweit, dass ich kommen und abtrocknen kann?“
    „Noch nicht“, antwortete ich und ließ etwas Wasser laufen, damit es sich anhörte, als sei ich noch beim Spülen. Es machte mich richtig glücklich, sie so miteinander reden zu hören.

    Die Bestecke machten eine Menge Lärm, darum musste ich sie Stück für Stück abtrocknen. Es muss wohl recht leise gewesen sein, denn Mammi rief: „Soll ich nicht doch langsam rüberkommen und abtrocknen?“

    „Nö, ich bin noch nicht soweit.“ Ich versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht. Sie konnten es ohnehin nicht sehen, da ich mich schnell umdrehte. Es gab mir ein wohliges Gefühl, sie am Feuer sitzen und plaudern zu sehen.

    15. Szene: Die Zerstörung

    „Daddy, Sie sind hier. Einer ist ein U.S. Marshal, und die beiden anderen sind -“
    „Ja. Ich weiß. Geh und sage ihnen …“
    Draußen rutschte die Sonne langsam von dem großen Blechrumpf des schwarzen Autos. Es setzte sich in Bewegung. Es konnte doch unmöglich den Berg hinaufrollen. Daddys Stimme wand sich, und die Sonne glitt über das Heck des Autos hinweg und fiel in Wolken von Staub und Tränen.
    „Daddy! Sie haben nicht gewartet!“
    Tränen trübten meine Stimme und benetzten den Hörer, auf dem sie kleine, glänzende Flecke hinterließen. Das Auto verschwand um die Ecke des Labors, den Berg hinauf.
    „Daddy! Sie kommen rauf! O Daddy, o Gott, sie haben nicht gewartet, sie kommen rauf, Daddy, sie kommen rauf!“
    Die Sicherheitstür schlug bereits zu, noch bevor der Hörer auf den Boden knallte. Schon peitschte mir Gras an die Beine, als ich den Berg hinaufrannte. Das ganze Feld war verschwommen, und bei jedem Ausatmen brüllte ich laut uhn, um mir das Laufen bergauf zu erleichtern.
    ….. „Ja, Doktor Reich, der Befehl lautet, dass die Angelegenheit heute bereinigt und erledigt werden muss, an Ort und Stelle in Orgonon. Glauben Sie mir, es tut mir persönlich natürlich leid, Herr Doktor.“
    „Schon gut. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen. Wir müssen alle unsere Pflicht tun, nicht wahr?“
    Der Marshal versuchte zu lächeln. „Ganz richtig, Herr Doktor Reich!“
    „Na dann. Wie sollen wir denn vorgehen?“
    Daddy hielt einen Bleistift in der Hand. Er drückte den Radiergummi auf die Tischplatte, ließ Zeigefinger und Daumen am Stift hinuntergleiten, packte den Radiergummi und drehte den Stift flink um und stieß ihn mit der Spitze auf den Tisch. Tick. Dann ließ er erneut seine Finger bis zur Bleistiftspitze gleiten und wiederholte das ganze Spielchen. Tock. Noch einmal und noch einmal. „Sollen wir es mit unseren bloßen Händen tun?“
    Er lächelte und wandte sich Bill und Tom zu. Bill lachte laut auf und nickte. Tom grinste und scharrte mit den Füßen. Die beiden Männer räusperten sich verlegen und beobachteten interessiert, wie der Bleistift auf und nieder tanzte.
    „Na ja. Herr Doktor Reich, wir werden doch sicherlich irgend etwas finden. Sie werden doch wohl einen Hammer, `ne Säge, Hacke, Axt …“
    ….. Tom ging zum Lastwagen hinüber und nahm die Äxte von der hinteren Klappe. Er reichte eine Bill und eine mir.
    Wir standen mit den Äxten in der Hand vor dem Haufen, als Daddy die Veranda verließ. Er schlenderte langsam über die Wiese, wobei er die drei Männer scharf fixierte. Sie standen zusammen, reckten ihre Hälse und lüfteten die Kragen ihrer Hemden.
    „Gut“, sagte Daddy. „Fangt an.“
    Ich schwang die Axt, wie Tom es mich gelehrt hatte: Meine linke Hand habe ich unten am Ende des Stiels, die rechte gleitet hinauf, und gleichzeitig schwinge ich die Axt über meine rechte Schulter. Dann reiße ich ganz schnell die linke Hand hinunter, wobei die rechte den glatten hölzernen Stiel ganz hinuntergleitet, bis sie mit der linken zusammentrifft. Während der ganzen Zeit rolle ich, dem Schwung folgend, die rechte Schulter und drehe meine Hüfte nach links.
    Die Blätter blinkten in der Sonne und gruben sich tief in das Celotex, die Stahlwolle und das Blech ein; in den Seitenteilen der Akkumulatoren blieben tiefe Schnitte zurück. Tom und Bill schwangen ihre Äxte ebenfalls, so dass wir alle zusammen in der Sonne schwangen: Tschang, tschang, tschang.
    ….. Daddy sagte: „Jetzt reicht´s, Mister Ross.“
    Tom wandte sich von dem Haufen ab und stellte sich neben mich. Die Teile auf dem Haufen waren zu Kleinholz verarbeitet, die Stahlwolle hing grau und flockig aus der Umrahmung.
    Daddys Stimme war meist laut, fast ein Brüllen, aber jetzt war sie nicht laut, jetzt war sie hart und scharf.
    ….. „Wie steht’s mit den Büchern? Nicht alle Bücher sind in New York! Hier gibt es auch noch ein paar, die Sie verbrennen können! Warum eigentlich nicht?“
    „Nein. Bitte Doktor Reich!“ Die Männer versuchten ihm zu entkommen, aber dann hätten sie geradewegs in den Wald flüchten müssen; daher versuchten sie, seitwärts zu ihrem Auto zu gelangen. Einer von ihnen zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Stirn. Er blickte zum Himmel auf. Der andere befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Der Marshal versuchte, Daddys Blick standzuhalten, aber seine Augen senkten sich immer wieder von selbst.
    ….. „Verzeihen Sie, Doktor Reich. Bitte.“
    „O ja. Ich werde Ihnen verzeihen. Natürlich.“ Er trat zur Seite, und der Mann drängte an ihm vorbei und schlüpfte ins Auto.
    Daddy ging herum und blickte ihn durchs Fenster an.
    Der Fahrer lehnte sich heraus. Sein Gesicht war ganz bleich.
    „Doktor Reich. Mir … mir tut es leid.“
    „Ja. Ihnen tut es leid. Selbstverständlich. Tut es uns nicht allen leid? Auf Wiedersehen, meine Herren. Eines Tages werden auch Sie begreifen lernen.“

    16. Szene: Eva Reich

    Das Auf und Ab in der Diskussion um das Werk Reichs und seine Problematik veranlasste Eva zu einer Haltung, die sie als „übernatürliche Abkehr“ von den Machtkämpfen bezeichnete. Sie arbeitete hart, um die jungen Leute und Armen im gesamten Bundesstaat Maine für Geburtenkontrolle und sexuelle Aufklärung zu gewinnen, aber sie wehrte sich standhaft dagegen, in die Querelen um das Vermächtnis ihres Vaters hineingezogen zu werden.

    „Das sind die typischen Machtkämpfe nach dem Tod des Kaisers“, sagte sie einmal, als ein Problem des Erbrechts diskutiert wurde. „Die grundlegenden wissenschaftlichen Prinzipien sind weitaus wichtiger als die Machtkampfstrategien.“ Der Kern des Werkes, sagte sie, würde persönlichen Auseinandersetzungen überleben.

    17. Szene: Wut

    „Peter.“ Er brüllte regelrecht. Ich richtete mich auf und versuchte, einen schläfrigen Eindruck zu machen.
    „Was denn?“
    Sein Gesicht war puterrot, und ich fühlte, wie seine Augen brannten. Mammi stand neben der Lampe im Arbeitszimmer.
    „Sieh mich an!“
    Der Teppich in der Bibliothek leuchtete rot. Wenn ich jetzt doch nur in dem roten Sessel säße, in dem wir meist saßen, wenn wir uns den Lone Ranger im Radio anhörten, statt hier auf der Couch, dann würde er mich sicherlich nicht so zornig anblicken.
    „Sieh mich an! Hast du etwa vor allen den Narren gespielt?“
    Wenn ich meine Augen fest zusammenkneife, sehe ich oft eine gelbe Welle oder ein Funkeln. Ich kniff sie zusammen, aber nur ein glitzerndes Viereck tauchte auf. Es war falsch, bei der Filmvorführung den Zauberer zu spielen.
    „Sieh mich an! Hast du etwa meinen Film gestört?“
    Es war falsch, weil ich zu laut gelacht habe, und Mammi hat immer gesagt, wer zu laut lacht, dem kommen hinterher die Tränen.
    Ich blickte auf. Sein Gesicht verschwamm unter meinen Tränen, und seine Augen langten zu und schlugen mich.
    „Oh, Daddy.“
    Ich stand auf und lief zu ihm hinüber, ich schlang die Arme um ihn und weinte bitterlich. Er fühlte sich warm an und der Duft seines Hautöls drang durch sein grobes Hemd. Daddy, Daddy, Daddy, Daddy.
    Er stand mitten in der Bibliothek, während ich laut schluchzte, dann beugte er sich zu mir herab, nahm mich auf und hielt mich in seinen starken Armen.

    18. Szene: Tom Ross

    Tom Ross hatte das alles mit durchgestanden, und nun blieb er hier, ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Während der ganzen Jahre, die er dort allein ohne jegliche Hilfe werkelte, muss er immer wieder im Geiste die Ereignisse durchgegangen sein und sich Gedanken über die beteiligten Menschen gemacht haben, denn im Laufe der Zeit, als die Besucher zahlreicher nach Orgonon kamen, nahmen seine Geschichten an Zahl und Umfang zu.

    Er erzählte ruhig und mit liebevoller Bewunderung von Dem Doktor; seine Geschichten berichteten von der Fairness, der Aufrichtigkeit, der Phantasie und auch den Fehlern des großen Mannes. Klugerweise weigerte sich Tom jedoch, in jene läppischen Tonbandgeräte zu sprechen, die manche Besucher bei sich führten.

    Es ist nicht ohne Ironie, dass Tom Ross 1966 zu den ganz wenigen Leuten zählte, die über Den Doktor etwas zu sagen wussten. Viele der übrigen Mitarbeiter – sowohl mit als auch ohne Akzent -, die die amerikanischen Jahre Des Doktors geteilt hatten, verharrten schweigend und grübelten über die Zeit mit Reich.

    19. Szene: Das Gefängnis

    Die Bundesstrafanstalt Lewisburg war groß und öde. Man wurde durch eine Schleuse aus zwei verschlossenen Türen eingelassen, so dass immer Gitterstäbe zwischen einem selbst und allem, was man sah, waren. In der Haupthalle waren die Decken hoch, und Schatten fielen auf den gebohnerten Boden.

    Beim Eingang standen alte Glasvitrinen voller Geldbörsen und Kämme, die die Gefangenen angefertigt hatten, um sich ein Taschengeld zu verdienen. Inmitten der großen Halle stand ein Pult, an dem man sich in die Besucherliste eintrug, und dann wandte man sich nach links, und Schritte folgten einem durch die Halle.

    Am Ende der Halle befand sich ein großer Raum mit Stühlen und Sofas, die so angeordnet waren, dass der Gefangene auf dem Stuhl vor dem Tisch saß und die Besucher ihm gegenüber auf dem Sofa. Die Sofas waren mit glattem, grünen und rotem Kunststoffmaterial bezogen. Beim Eingang war ein freier Platz, auf dem eine schwarze Gummimatte lag. Das war eine Art Auslauf für Umarmungen und Zärtlichkeiten.

    Entlang der Wände waren Wachen postiert. Daddy trug eine blaue Uniform, nur war sie aus Drillich, und sein Gesicht sah traurig aus. Ich besuchte ihn zusammen mit Aurora. Daddy sagte, sie wollten in der Gefängniskapelle heiraten. Im Gefängnis hatte er angefangen, in die Kirche zu gehen, und er sandte mir Gebete und ein Blatt aus der Kirchenzeitung, auf dem die „Betenden Hände“ von Dürer abgebildet waren.

    Wir sprachen leise miteinander. Er fragte mich nach der Schule, und ich sagte ihm, da sei alles in Ordnung. Er fragte mich nach Mädchen, und ich sagte ihm, da wäre ein Mädchen in Maine gewesen, als ich im Sommer bei Bill und Eva war. Ihre Brust habe genau in meine Hand gepasst, und ich hätte dabei ein Gefühl gehabt, als liefe ich durch Gras. Er sprach nicht viel über sich selbst, aber er sagte, er habe von einem anderen Häftling gehört, man habe vermutet, er – Daddy – sei in seiner Zelle umgebracht worden, aber aus irgendeinem Grund sei das nicht geschehen.

    Als die Besuchszeit um war, umarmten wir uns auf der langen Gummimatte, und ein Wärter führte ihn zu einer vergitterten Tür am Ende des Raums ab. Wir schauten ihm nach. Nachdem der Wärter die Gittertür geschlossen hatte, drehte sich Daddy in seinem blauen Hemd um, sein Blick wanderte durch den ganzen Raum, und er schaute mich an, und dann winkte er und war hinter den Gittern verschwunden. Schritte folgten uns den ganzen Weg zurück durch die Halle.
    „Es war in Ordnung“, sagte ich. „Irgendwie traurig.“

    20. Szene: Der Tod

    Sheffield ist eine hübsche kleine Stadt auf dem Land, und wir wohnten in einer kleinen Wohnung im obersten Stockwerk eines großen, alten Neuengland-Hauses direkt an der Route 7. Ed und ich hatten viel Spaß miteinander, und an Halloween, dem Abend vor Allerheiligen, gingen wir sogar von Haus zu Haus und bettelten um Süßigkeiten. Die Abende verbrachten wir damit, Hausarbeiten für Oakwood zu machen oder fernzusehen. Am Morgen des 3. November, einem Sonntag, läutete das Telefon; Mammi nahm ab. Von dem Schlafzimmer aus, das ich mit Ed teilte, hörte ich, wie sie sagte: „Hallo? Ja. Wie bitte?“ Dann wurde ihre Stimme plötzlich gespannt und schrill. „Wann? Oh, mein Gott. Oh, mein Gott.“
    Ich rannte ins Wohnzimmer und lauschte. Sie weinte ins Telefon und sagte: „Oh, mein Gott. Oh, mein Gott.“ Ich schaute sie an.
    „Mammi, was ist los?“ Sie schüttelte den Kopf. „Oh, mein Gott.“
    Sie war in die Couch gesunken und hielt weinend den Hörer.
    „Hat es was mit Daddy zu tun?“
    Sie nickte, wankte hin und her und weinte in den Hörer.
    „Ist er tot?“
    Sie nickte, oh, mein Gott.

    Der Vormittag ging nur schleichend vorbei, und ich betrachtete durch die Doppelfenster eine verschwommene Welt. Draußen erweckte es nicht den Anschein, als müssten sich die Bäume bewegen, aber sie taten es, ließen die letzten Blätter auf Weg und Rasen fallen und lautlos ihre Zweige hin und her federn. Es war traurig zu sehen, wie ein Fenster so viele Bewegungen erstarren ließ.

    Sein Herz hatte ausgesetzt, und am Morgen hatten sie ihn gefunden, nachdem er sich beim Namensaufruf nicht gemeldet hatte. Ich hätte gern gewusst, ob er beim Sterben aufgewacht war oder ob ihn der Tod im Schlaf ereilt hatte.

    21. Szene: Das Begräbnis

    Der Tag des Begräbnisses war grau verhangen, und ich trug einen schwarzen Anzug und einen roten Schlips, und der Fußboden war rot. Tom hatte den Linoleumboden gewachst, so dass er glänzte und die Sohlen daran haften blieben. Bill und Dr. Baker richteten die Beerdigung aus, und es geschah alles in dunklen Schatten auf dem Linoleum. Draußen war der Boden mit gelben und roten Blättern übersät, und ich ging unter eine nässetropfende Kiefer, um mit dem Fuß in den Nadeln herumzustochern und nach etwas zu suchen, das ich dort – meiner Erinnerung nach -vergraben hatte.

    Auf den Nadeln standen glänzende Wassertropfen. Wir holten einen Plattenspieler, um das Ave Maria und andere Stücke spielen zu können, und der Aufkleber auf der Platte war rot, aber nicht so rot wie der Fußboden. In der Mitte des Bodens stand matt kupferfarben der Sarg. Draußen blies der Wind, und es nieselte. Ich beobachtete einen Augenblick lang die Wolken, aber der Boden war so rot. Dr. Baker stand auf, um etwas zu sagen, und seine Füße sanken ins Linoleum ein. Meine Schuhe drehten sich um und rannten auf dem Teppich die Treppe hinauf, wo der Teppich weich und purpurn und rauh an meinen Händen und Wangen war, meinen brennenden Wangen. Ich lag lange auf dem Boden des Arbeitszimmers und flüsterte: komm zurück, komm zurück, und als ich aufstand, war ein roter Fleck im Teppich.

    Draußen fuhr mir der Wind kühl über Wangen und Haar, und es bewegten sich, von hochgezogenen Schultern notdürftig gegen den Novemberwind geschützt, viele Gesichter umher. Der Wind blies, und jemand stand auf dem Grab und machte sich bereit, den Sarg hinabzulassen. An der Wand der Grabstätte lehnte eine große Sperrholzplatte, mit der das Grab abgedeckt werden sollte. Sie war gelb und wurde vom Wind fast umgeblasen. Ich hielt sie aufrecht, als der Sarg hinabgelassen wurde. Ich wollte Daddys Rasiermesser hineinlegen, damit er sich rasieren konnte. Dann kamen einige Männer und nahmen die Sperrholzplatte. Sie ächzten, als sie die Abdeckung auf das Grab hoben. Dann legten sie einen Teppich über die Platte und stellten Daddys Büste darauf. Der Teppich war rot.

    Das Thema: Aria

    Daddy ist ein Wissenschaftler. Er ist noch eine Menge anderer Dinge und hat viele Bücher geschrieben. Und er war ein Psychiater oder Psychoanalytiker, ich kann einfach die vielen Dinge mit Psycho nicht auseinanderhalten. Er ist auch ein Lehrer, und all jene Leute, die vor der Leinwand sitzen, sind nur gekommen, um von ihm zu lernen, da er doch die Lebensenergie entdeckt hat.

    Danach

    „Gab es einen Ort zu dem ich laufen konnte, ohne in den Film meines Vaters verwickelt zu werden?“
    Diese Frage stellt sich der 26-jährige Autor, wachgerufen durch die Dreharbeiten zu einem Film von Makavejev über seinen Vater.
    Die Frage verfolgt ihn in seiner Berufslaufbahn, welche eine militärische Ausbildung einschließt. („Ich bedaure, dass er mir eine Beziehung zu militärischer Autorität vermittelt hat, die mit seiner Väterlichkeit in Einklang stand – aber nicht zu seiner Grundhaltung passte.“)
    Sie begleitete ihn ebenso bei den vielen von ihm praktizierten Übungen um seine „Hartleibigkeit“ zu lösen. „Ist das nicht nur ein weiterer autoritärer Befehl, ein Kommando, dem ich allzu bereitwillig gehorche? Kann ich denn nichts aus eigenen Stücken tun?“
    Und in seinen Beziehungen zu Frauen: „Mir zu gestatten, eine Frau zu lieben, hätte bedeutet, all diese Angst zu teilen. Es hätte bedeutet, mit ihr zu teilen, wer ich bin, und dazu war ich meinem Vater zu ergeben.“

    Aufgeweckt wie aus einem Traum beginnt Peter Reich sich schmerzvoll bewusst zu werden, wie schwierig eine normale Lebensführung für ihn war. Die im Buch beschriebenen Szenen spiegeln eine Überforderung des Jungen wider, eine Überforderung der einzige Gefährte zu sein, der „tapfere Soldat“ an Reichs Seite, der Eingeweihte, welcher das Wissen mit den Kameraden nicht teilen durfte, überfordert auch mit dem Wunsch, ihn nicht im Stich zu lassen, ihm die Treue zu halten. Und – Reichs Entdeckungen zu begreifen.

    „Und solange ich nicht besser unterrichtet bin über das, was die Wissenschaft über die Lebensenergie nicht weiß, habe ich keine andere Wahl, als das zu glauben, was ich als Kind erlebt habe. Ich glaube, mein Vater hat vom Lebensprozess mehr begriffen, als die meisten Leute emotional akzeptieren können. Mich selbst eingeschlossen. Ich muss noch viel aufarbeiten, aber ich laufe immer noch davor weg.“
    Wo er wohl angekommen ist, der jetzt 52-jährige Peter Reich?

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    Bukumatula 2/1997

    Die biologischen Grundlagen des schizoiden Prozesses, Teil 1

    Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
    Will Davis

    Wilhelm Reich beschrieb die Muskelpanzerung als neuromuskuläre, kontraktive Reaktion auf physischen und psychischen Stress. Die anhaltende Kontraktion führt zur Entwicklung des psychischen und somatischen Charakters.

    Während des kontrahierten Zustandes und der offensichtlich negativen Auswirkungen stellt sich nun die Frage, was diese Kontraktion denn genau ist. Wenn wir eine Faust machen und dann versuchen unseren Arm ca. 20 Minuten lang oder sogar kürzer vom Körper wegzuhalten, werden wir herausfinden, dass dies nicht ohne spezielles Training möglich ist. Den Theorien Reichs entsprechend kontrahieren wir unsere Muskeln zwanzig Jahre oder länger. Wie ist das möglich? Wenn der Festhalteprozess eine muskuläre Aktivität ist, warum ermüdet der Muskel dann eigentlich nicht?

    Die reichianische Theorie behauptet auch, dass wir unsere Gefühle unterdrücken und jahrelang durch Muskelanspannung zurückhalten können. Wenn dies so wäre, könnten wir uns beim Arzt ein Muskelrelaxans besorgen. All unsere unterdrückten Gefühle würden frei und wir bräuchten nicht in jahrelanger Psychotherapie an uns zu arbeiten. Wir wissen auch, dass Relaxantien keine Gefühle auslösen, wenn sie zur Muskelentspannung eingesetzt werden. Was also hält diese Gefühle zurück, wenn die Muskulatur entspannt ist?

    Schizoide werden generell als die Struktur gesehen, die physisch am meisten kontrahieren und psychisch starr sind. Allgemein werden sie als dünn und klein beschrieben. Wenn sie so kontrahiert sind und ihre Muskulatur so schwach ausgebildet ist, was hält dann all die Gefühle zurück?

    Es gibt auch den Gedanken, dass Kontraktionen im Gehirn spezifische psychische Störungen verursachen. Jedoch gibt es keine Muskulatur im Gehirn. Was kontrahiert sich da? Reich behauptet aufgrund der beobachteten Störungen, dass die verspannte Muskulatur an der Schädelbasis den freien Energiefluss ins Gehirn verhindert.

    Dies könnte so sein. Wir denken auch, dass Kontraktionen im Gehirn stattfinden können und die Frage, was sich kontrahiert, sowie die vorhergehenden Fragestellungen, können dennoch so beantwortet werden, wie Reich es gelehrt hat. Es handelt sich um eine plasmatische Kontraktion in Gestalt des Bindegewebes. Es sind nicht die Muskeln selbst die blockieren, sondern es ist eine chronische Kontraktion des plasmatischen Systems, die der Struktur als auch der Funktion des Bindegewebes entsprechen. Die stärkste und klarste Form der Kontraktion ist im schizoiden Prozess zu erkennen.

    In diesem Artikel geht es darum, Reichs Konzept der plasmatischen Kontraktion und des muskulären Panzers von einer biologisch/ funktionalen Perspektive aus zu beleuchten. Wir werden herausfinden, dass die plasmatische Kontraktion und der muskuläre Panzer – obwohl sie miteinander verknüpft sein, bzw. sich überdecken können – sich grundsätzlich voneinander unterscheiden und daher besonderes Verständnis und entsprechende therapeutische Interventionen erfordern. Üblicherweise sind reine Charaktertypen seltener anzutreffen als Mischtypen.- Die Beziehung von Bindegewebe und Muskulatur ist gut dokumentiert. Es ist gut möglich, diese zwei anatomisch und funktionell unterschiedlichen Gewebe zu trennen, um die Ursache für den Charakterpanzer – sowohl physisch wie psychisch – klarer darzustellen und unser Verständnis dahingehend zu vertiefen, wie dieses Phänomen zu sehen, bzw. zu behandeln ist.

    DER SCHIZOIDE CHARAKTER

    Der „rein“ schizoide Charakter entsteht aus einem kontrahierten plasmatischen Prozess, und nicht aus einer neuromuskulären Panzerung. Andere Strukturen (phallische Strukturen, Wutstrukturen, psychopathische Strukturen) repräsentieren das andere Ende eines gleitenden Kontinuums und die eher traditionelle Idee, dass die kontrahierte Muskulatur blockiert und hält. Als Folge nehmen wir einen eher extremen Standpunkt ein, wenn wir sagen, dass alle anderen Charakterstrukturen mehr miteinander zu tun haben, als der schizoide Charakter mit irgendeiner anderen.

    Das heißt, wir qualifizieren, indem wir auf vorher gesagtes verweisen, nämlich, dass die meisten Strukturen Mischstrukturen sind. Wenn wir jedoch klassische Strukturen betrachten, können wir beobachten, dass hier im wesentlichen zwei verschiedene Prozesse ablaufen. Es geht um einen qualitativen, nicht um einen quantitativen Unterschied. Beim Schizoiden arbeiten andere Kräfte, und diese müssen verstanden werden, damit wir lernen, besser damit zu arbeiten.

    Das Hauptcharakteristikum des Schizoiden ist eine Frühstörung mit physischen und psychischen Schockthemen, die sich durch ihre Biographien ziehen. Dieses Thema wird in Teil 2 genauer erklärt. Hier präsentieren wir einen allgemeinen Überblick des schizoiden Zustandes – physisch, emotional und psychisch -, damit wir eine Grundlage für weitere Diskussionen anbieten können. Die vorliegende Tabelle beschreibt die Hauptcharakteristika des Schizoiden. Wir können diese Tabelle während der Diskussion als einen allgemeinen Überblick über den Verlauf des schizoiden Prozesses verwenden.

    TABELLE 1

    SCHIZOIDE CHARAKTERISTIKA – physisch/emotional/psychisch

    Physisch

    • eingefroren, paralysiert, kontrahiert
    • röhrenförmiger Körper, vertikale Linie des Körpers
      • wenig Raum und Platz
      • unterentwickelte Muskulatur
      • keine periphere Entwicklung – die Lebenskraft fließt aufgrund der frühen Kontraktion nicht bis in die äußere Peripherie
    • physisch kalte Peripherie
      • auch emotional kalt
    • aus der Kontraktion heraus falsches Gespür für Stärke, das einen falschen Sinn für Grounding schafft
      • stimmt für inneres und äußeres Grounding
    • Versuch des Körpers, den Schaden zu limitieren
      • Lyse – Paralyse Lyse
        • Lyse (griech.: zu schnelle Auflösung). Paralyse des Organismus, um die Auflösung aufzuhalten – sein mögliches Ver-
          schwinden aufzuhalten.
    • sehnige Qualität im Gewebe (entsprechend der Überentwicklung von Fasern, Sehnen und Bändern)
      • drahtig/sehnig
      • spröde
    • trotz lockerer Gelenke steif
      • wenn sportlich: Probleme in den Gelenken, Bändern und Sehnen und nicht in der Muskulatur
    • Neigung zu Arthritis und Rheumatismus
      • unspezifische Bindegewebsbeschwerden im ganzen Körper
    • Abdomen und abdominelle Probleme
      • kann einen flachen, gespannten Bauch haben oder einen über weichen Bauch mit weichen Organen, die Beschwerden machen, wenn die tiefe Bauchmuskulatur stark kontrahiert ist
      • Essstörungen, Verdauungsprobleme, Appetitlosigkeit
      • unspezifischer Abdominalschmerz
        • manchmal spezielle phys. Lokalisation erst nach Jahren
      • stählerner Kloß/Stein/Kontraktion/Härte im Bauch
        • Symptome können im Bauchbereich wandern, können verschwinden und erneut auftauchen.
      • Morbus Crohn
    • vorstehende untere Rippen durch Zwerchfellkontraktion verursacht
    • steife Wirbelsäule
      • Erektoren und Rotatoren
      • die Rotatoren an den Wirbelkörpern sind steif
        • so gesehen sind die Spinalmuskeln eher peripher
      • wenn diese nachgeben – wenn sie zu schnell entspannen – gibt es nichts, worauf sie sich stützen können
    • Augen und Sehen
      • oft mehr als scharfsichtig
      • Fähigkeit zum „Klarsehen“ im Sinne von verstehen (Verständnis, Wissen)
      • der Augenausdruck wie der eines Falken
        • „objektiv“
        • Augen stark, aber audruckslos/kalt/gehalten
        • laserartig durchdringender und stechender Blick
        • Tunnelblick – keine Peripherie wie im Körper – eng und röhrenartig
      • paranoid
        • Angst und Ärger zeigen sich, wenn sich der schizoide Zustand herausentwickelt
      • Embryonalstadium – Ektoderm.
        • Haut, Nerven, Gehirn, Augen – alle Kontakt- und Empfindungsfunktionen

    Psychisch/Emotional

    • Längerer Kontakt kann nicht gehalten werden, weil
      • sie zu kontrahiert sind; sie sich in sich selbst zurückziehen und sich dort festhalten. Es kostet Anstrengung nach außen zu gehen
      • kein Pulsationsfluß aus dem Core in die Peripherie und zurück
        • die Rückkoppelungsschleife, die durch diese Pulsation geschaffen wurde, ist oft unverbunden
          • eingeschränktes Erleben
          • muss sich auf Interpretationen der Wahrnehmung verlassen
    • große Sehnsucht nach direktem Kontakt, der üblicherweise unbefriedigt bleibt und so in Enttäuschung und Verletzung führt, dann in Ärger und weiter in Ressentiments und Verbitterung
    • Begehren wird mit Bedürfnis verwechselt
      • wird oft als „oral“ fehldiagnostiziert
      • Bedürfnis entspricht Schwäche; sie fürchten bedürftig zu wirken
    • ziehen Einzelkontakte Gruppen vor
      • Einzelgänger
      • in erster Linie auf sich selbst bezogen
        • ist sich selbst der beste Freund
      • will nicht „dazugehören“ und einer von vielen sein
      • möchte „besonders“ sein
      • weiß und sieht, was andere nicht tun
      • in gewisser Hinsicht zutiefst mit dem Kern verbunden
        • sie sind ihrem Kern nahe
      • wahnhafte Vorstellungen
      • spirituell, mystisch
      • oft wird Fremdheit mit Einzigartigkeit verwechselt
        • wird unbewusst aber absichtlich „anders“ sein, um als einmalig gesehen zu werden
    • Probleme mit Vertrauen
      • Kontraktion ist zu innerem Grund geworden
    • Probleme mit Angriffen
      • bezogen auf Vertrauensangelegenheiten
      • Gereiztheit durch Übergriffe aller Art
        • Berührung
        • Geräusche
        • Kontakt
        • spontanes Verhalten
    • keinen Platz in der Welt (emotionale Entsprechung: kein Platz im Körper);
      • fühlt sich als „Fremder in einem fremden Land“
    • Existentielle Probleme:
      • Terror
        • Zorn/Wut – Ungerechtigkeit – Empörung,
      • „das Unvorstellbare ist mir widerfahren“
      • Ärger wird nicht als solcher gesehen. Er ist durch das tiefe, unbewusste Gefühl der Verletzung gerechtfertigt
      • Ärger/Zorn ist in gewisser Weise eine positive Reaktion eine Mischung aus Zorn und Terror ist ebenso möglich
    • intellektuell und intellektualisiert
      • Energie schießt in den Kopf wegen der „Korridorqualität“ des Körpers
      • röhrenähnlicher Körper; keine andere Möglichkeit sich auszubreiten, als sich aufwärts zu bewegen
        • kein peripherer Fluss
      • der Intellekt ist nicht unbedingt nur eine Verteidigung,
      • er ist eine Erdung im mentalen Bereich, obgleich auf falschem Grund
      • rigide Persönlichkeit/Überzeugungen (entsprechend der Zerbrechlichkeit und Sprödigkeit im Körper)
      • die Rigidität ist der innere Grund im psychischen Bereich wenn sich herausstellt, dass ihre Wahrnehmung auf der intellektuellen Ebene falsch ist, bricht ihre Welt zusammen. Sie verlieren ihren Boden und zerbrechen daran
      • existentielle Angst im psychischen (mentalen) Bereich
    • Alles oder Nichts-Prinzip. Kein Pulsationsrhythmus
      • keine wirkliche, direkte Körpererfahrung
      • keine zwischenmenschliche Vertrauensbeziehungen
      • allesamt verloren
      • wie ein Gummiband, das zerreißt, wenn es überdehnt wird („snapping“)
      • abgespalten
      • erst keine oder nur begrenzte Reaktion und dann Überreaktion wahrscheinlich
    • überfokussiert
      • Laserqualität
        • zieht eins dem anderen vor
        • Intensität
      • wiederum röhren- oder tunellartige Qualität
    • ausdruckslos/kalt
      • explosiv, wenn sie einmal „platzen“
      • mögliche Emotionslosigkeit, weil sie plasmatisch funktionieren – unterhalb des emotionalen Levels.
      • auch Bindegewebe ist weniger stark innerviert und vaskularisiert weniger sensibel/“kaltblütig“
    • öfters ungleiche Beziehungen
      • sie wissen etwas, was der andere nicht weiß
      • Überlegenheit ist Teil ihrer Besonderheit
    • kann sich zur Spontaneität von Hysterikern hingezogen fühlen
      • Sehnsucht nach Freiheit
      • ähnlich wie die mystische, kosmische Sehnsucht
    • selbstgerechter Ärger
      • verbunden mit der Empörung über die ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit
      • Ungerechtigkeit – Selbstgerechtigkeit
        • Entrüstung, Verachtung, abweisend
      • sie haben nicht nur mehr als recht – sie sind selbstgerecht
        • sie sind unangreifbar im Streit, über die Argumente hinausgehend
        • in ihren Argumenten, in der Haltung, die sie einnehmen, gibt es keinen Platz für weitere Ideen oder Beiträge; das ist ihre Rigidität, ihr innerer psychischer Boden.
        • ihr gesamtes System könnte zertrümmert werden und sie würden auseinanderfallen
        • so wie es keinen physischen Platz gibt, so gibt es keinen Platz für sie in der Welt und deshalb keinen Platz für Unstimmigkeit in ihrer Logik.

    EINE PARADOXE STRUKTUR

    Der Schizoide weist verschiedene Widersprüche auf. Campbell´s Psychiatrisches Wörterbuch beschreibt „schizoid“ als einen ungenauen Begriff, der von verschiedenen Autoren unterschiedlich benutzt wird. Ich finde den Schizoiden als den am besten getroffenen der Charakterstrukturen – und den faszinierendsten, trotz der auftretenden Schwierigkeiten. Wir wollen aber zuerst die Probleme ansehen, die Widersprüchlichkeiten, die so deutlich das schizoide Funktionieren repräsentieren.

    Paradoxe:

    emotionslos dennoch dünnhäutig
    leicht verletzbar
    sehr gespannt
    alleine/einsam dennoch fähig zu tiefem
    Kontakt mit sich selbst – und zu anderen
    starr/rigid/spröde dennoch zusammenhangslos
    vollständiges Verlorensein
    auseinanderfallen
    abgespalten
    dünn/schmal dennoch unverwüstlich/stark
    kontrahiert/kontaktlos dennoch näher beim Kern als andere
    tiefes Verstehen

    Wie können wir diese komplexe und konfuse Struktur verstehen? Wie ist es möglich beides zu sein: physisch aufgelöst und trotzdem so kontrahiert? So distanziert und zurückgezogen und trotzdem zu stärksten und womöglich gefährlichen Ausbrüchen von Zorn und schrecklicher Angst
    fähig?

    Unser Verständnis des schizoiden Prozesses basiert auf den zwei reichianischen Themen der plasmatischen Kontraktion und der funktionellen Herangehensweise. Das Plasma-System ist die physische, biologische Manifestation von Reichs funktionaler Herangehensweise und damit können wir beides vertiefen, sowohl das Verstehen dieses Charakters, als auch das Grundwissen unserer Konzepte von klarem, einfachem biologischen Funktionieren.

    WAS IST PLASMA?

    In der Darstellung der in allen lebendigen Organismen vorkommenden Pulsation, schrieb Reich über die wellenförmigen Bewegungen der Amöbe und beschrieb den Fluss der Bewegungen. Ebenso beschrieb er wie das Plasma bei lustvoller Erregung nach außen strömt und bei angst- und schmerzvoller Erregung kontrahiert.

    Zunächst aber: Was ist Plasma? Gray’s Anatomie-Lexikon beschreibt die Haupteigenschaften ähnlich dem von Eiweiß. Es ist zähflüssig, klebrig, amorph und extrem erneuerungsfähig; es kann sich von einer Lösung in ein Gel, in ein Kristall und wieder zurück in eine Lösung bringen lassen. Seine Erneuerungsfähigkeit zeigt sich ebenso in seiner erstaunlichen Eigenschaft, Flüssigkeit abzugeben und wieder aufzunehmen, um dann seine ursprüngliche Form nach Zuführung von Flüssigkeit wieder anzunehmen. (Darin liegen auch die unglaublichen Veränderungen, die wir durch unsere Arbeit an Körper und Psyche beobachten können und darin liegt einige Hoffnung für die Körperpsychotherapie.)

    Des weiteren findet man in Gray´s Lexikon über Plasma, dass es vitale Eigenschaften hat und innere Kräfte: Bewegung, Ausdehnung, Wachstum, Anziehungskraft für die Nahrungsaufnahme. Es ist die physische Grundlage für Leben. (Es ist von nicht geringer Bedeutung, dass diese Eigenschaften Reichs Beschreibung des Orgons und seiner Funktion im Lebendigen ähnlich sind.)

    Was hier besonders ins Auge sticht ist die letzte dieser Eigenschaften, die physische Grundlage des Lebens. Das Plasma ist die früheste, die primäre Lebenssubstanz. Primär in dem Sinne, dass es sich früh in der Entfaltung des Lebens vor Millionen Jahren entwickelt hat, und es ist primär in dem Sinne, dass es sich in jedem von uns 12 Tage nach der Empfängnis entwickelt.

    Es ist „the soup of life“. Es ist das Meer, in dem alle von uns und unsere getrennten Teile treiben. Es ist der Ort der Existenz, der Raum, in dem wir leben können.

    Man betrachte das Meer vom Grund bis zur Oberfläche mit all den verschiedenen Formen von Leben – Pflanzen und Tieren, mikro- und makroskopisch. Sie alle werden durch das Medium unterstützt, welches wir Meer nennen. Sie werden nicht nur unterstützt, sondern es wird ihnen ein Raum gegeben, ein Raum, in dem sie existieren können.

    Das Plasma ist das innere Meer, in dem wir „treiben“. Jeder einzelne Teil unseres Körpers ist darin eingetaucht, ganz umgeben von dieser Halbflüssigkeit. Tatsächlich ist jede einzelne Zelle mit dieser Halbflüssigkeit gefüllt. Sie ist überall vorhanden und als Folge sind alle psycho-somatischen Funktionen direkt davon abhängig. Und so wie alle Lebensformen im Ozean durch Umweltverschmutzung negativ beeinflusst werden, werden unsere ganzen Lebensfunktionen gestört, wenn unser Plasma „verschmutzt“ wird. Für den Körperpsychotherapeuten ist die bedeutsamste Form der Verschmutzung die chronische Kontraktion. Und die früheste, stärkste und tiefste Kontraktion ist der schizoide Zustand.

    DAS PLASMA ALS ABWEHRSYSTEM

    Die Geschichten von drei verschiedenen KlientInnen helfen uns die Bedeutung von Plasma und seine Rolle in der Entwicklung des schizoiden Charakters zu verstehen. Ich hatte einen Klienten, der berichtete, dass seine Mutter bei seiner Geburt unfähig war ihn in der ersten Stunde im Arm zu halten, weil die Mutter meinte, dass er ihrem Vater zu ähnlich sah. Ein anderer Klient berichtete, dass seine Mutter bei der Geburt „verrückt“ wurde und er einige Monate lang von einer Tante versorgt wurde, bis es der Mutter wieder besser ging. Eine Klientin erzählte, dass sie – drei Monate alt – von der Familie an einen „anderen Ort“ gebracht wurde und erst nach einem Jahr wieder in die Familie zurückkehren konnte.

    Alle diese Geschichten haben eine frühe Trennung mit einer als wahrscheinlich anzunehmenden Kontraktion und einem Trauma zum Thema. Jede Geschichte ist einzigartig. Die Fakten sind unterschiedlich, Täter und Opfer sind unterschiedlich und die Gründe für jeden Fall sind andere. Und somit haben wir drei Individuen. Aber auf einer tieferen Ebene, und ich denke, es ist die tiefste Ebene, ist alles dasselbe. Auf der psychosomatischen Ebene ist für jedes Individuum seine bzw. ihre Geschichte persönlich von Bedeutung. Aber für den Organismus selbst sind die Unterschiede nicht von Bedeutung. In allen drei Fällen war die Antwort dieselbe: eine plasmatische Kontraktion. Jeder dieser Klienten hat seine eigene Strategie entwickelt – seine Charakterstruktur – um mit seiner persönlichen Vergangenheit umzugehen. Aber auf der ganz primären Ebene ist die Strategie die gleiche – die chronische plasmatische Kontraktion; eine Verschmutzung des Meeres des Lebens. Psychosomatisch sehen wir eine Vielfalt von speziellen Verhaltensformen, die entwickelt wurden, um mit der eigenen Geschichte umzugehen, wie jedes Individuum für sich die Situationen gemeistert hat. Auf der funktionellen Ebene sind alle drei dasselbe: eine frühe plasmatische Kontraktion.

    Die Strategie der plasmatischen Kontraktion entsteht aus einem ganz einfachen Grund. Es ist die einzige Strategie des Fötus und des Neugeborenen. Es ist in diesem frühen Stadium das einzige zur Verfügung stehende Abwehrsystem.

    Betrachten wir die Amöbe. Sie hat kein Muskelsystem und kein psychisches System, soweit wir wissen. Im Gegensatz dazu bilden diese zwei Systeme – Psyche und Soma – die Basis für das menschliche Abwehrsystem – sowohl für das gesunde als auch das neurotische. Ohne Muskeln anspannen zu können, um zu kämpfen oder zu flüchten, ohne den psychischen Apparat des Egos, ohne verstehen und vorwegnehmen von Situationen, ist die Amöbe schutzlos, ausgenommen der Fähigkeit, sich bei drohender Gefahr zusammenzuziehen. Alles was sie tun kann, um sich zu schützen, ist zu kontrahieren.

    Das gleiche gilt für den Fötus und das Neugeborene. Solange ein Kind seine Muskulatur nicht willkürlich in Bewegung setzen kann, kann es diese Systeme nicht abrufen, um sich zu verteidigen. Ohne zurückschlagen zu können, die Augen verdecken oder weglaufen zu können, ist es – außer durch plasmatische Kontraktion – gänzlich hilflos.

    Das trifft auch auf den psychischen Bereich zu. Solange das Kind die Situation nicht einordnen kann, solange es kein stabiles Ego, keine Eigenwahrnehmung bzw. Planungsfähigkeit besitzt, bleibt ihm nur die plasmatische Kontraktion – der Rückzug aus dem Kontakt – um sich zu schützen.

    Gleiches gilt auch für den emotionalen Bereich. Solange das Kind keine wütende Antwort geben kann, ist es emotional unfähig, sich zu schützen. Angst – Kontraktion – ist alles, worauf es sich berufen kann.

    Als Folge dieser frühen plasmatischen Kontraktion, also solange das Kind ansonsten schutzlos ist, sehen wir das typische Verhalten eines erwachsenen Schizoiden im psychischen und somatischen Bereich. Und die Art und Weise, wie wir das verstehen können, wird über die Funktionen des Bindegewebes deutlich.

    FUNKTIONEN DES BINDEGEWEBES

    Bindegewebe ist ein allgemeiner Begriff für die verschiedenen Arten von Gewebe, die auf verschiedenen plasmatischen Stadien beruhen. Das Plasma ist die Basis dieser Gewebe. Ein heute gebräuchlicher Ausdruck für Plasma ist auch „Grundsubstanz“. Wie vorher schon erwähnt, kann das Plasma oder die Grundsubstanz sich in unterschiedlichen Stadien der Konsistenz befinden – als Lösung, als Gelatine, als Kristall. Innerhalb dieser Grundsubstanz gibt es verschiedene Arten von Zellen und Fasern. Die Zusammensetzung dieser verschiedenen Zellen und Fasern und die Konsistenz der Grundsubstanz bestimmen, welche Arten von Gewebeverflechtung wir vorfinden: Faszien, Knorpel, Sehnen, Bänder, Schleimhäute; auch Knochen und Blutplasma sind Bindegewebe.

    Zuerst wollen wir uns die Hauptfunktionen der verschiedenen Arten von Bindegewebe ansehen und sie dann mit den psychischen und somatischen Eigenschaften des Schizoiden vergleichen.

    Das Wort Plasma, stammt aus dem Griechischen und bedeutet: kneten, formen, bilden. Nicht überraschend, denn eine der Hauptfunktionen des Bindegewebes ist das Schaffen von Gestalt und Raum.

    In Forschungen wurde beschrieben, dass beim Eintauchen eines Tieres in Säure sich alles außer dem Bindegewebe auflösen würde. Wenn man das Tier wieder herausnimmt, hat es immer noch die gleiche Form wie zuvor. Von außen würde es gleich aussehen. Und von innen auch. Wir könnten nach innen spähen und den Platz für das Herz sehen, die Lungen – alle inneren Organe. Es wäre, als ob noch alles dort wäre, aber nicht sichtbar. Alle Blutgefäße, Nervenscheiden und serösen Membrane wären intakt, ebenso die Knochen. Das Bindegewebe umgibt den Körper direkt unter der Haut und gibt ihm sein äußeres Erscheinungsbild. Ebenso schafft es alle Formen und Räume im Inneren, so dass jedes Organ, buchstäblich jede Zelle ihr eigenes Zuhause, ihren eigenen Platz hat.

    Zusätzlich verbindet, verkapselt und trennt das Bindegewebe verschiedene Teile des Körpers. (Hier sehen wir wieder ein Paradox – etwas das gleichzeitig sowohl trennt als auch verbindet.)

    Es ist klar, dass das Bindegewebe seinen Namen von einer verbindenden Funktion hat. Seine primäre Rolle ist das Zusammenhalten. Es ist der „Klebstoff“ der getrennten Teile des Körpers. Es ist das, was uns zusammenhält. (Bei Überforderung löst sich der Klebstoff bei Schizoiden.) Als Folge dieser verbindenden Funktion gibt es ein vernetztes System im ganzen Körper. Jeder Teil des Körpers ist direkt mit allen anderen Teilen des Körpers durch das Bindegewebe im allgemeinen und die Faszien im besonderen verbunden.

    Ida Rolf hat herausgestrichen, dass, wenn man an einer Stelle eines Pullovers zieht, man die Falten als Linien der ausstrahlenden Spannung zu den anderen Teilen des Materials sehen kann. Entsprechend dem Netzwerksystem des Bindegewebes gilt das gleiche auch für den menschlichen Körper. Wird ein Teil des Körpers einer Spannung ausgesetzt, sind alle anderen Teile in unterschiedlichem Maße davon betroffen.

    Eine weitere Funktion hat das Bindegewebe, indem es dem Körper die aufrechte Haltung gibt, unterstützt, sie verstärkt; denken wir dabei an den vertikalen linien-/röhrenförmigen Körper eines klassischen Schizoiden.

    Außerdem schützt es die Integrität des Organismus gegen äußere und innere Störungen. Für Körperpsychotherapeuten würde das beides einschließen: sowohl physischen als auch psychischen Schaden.

    Die Integrität des Organismus hat mit dem Sich-sicher-fühlen in der Welt zu tun. Wenn diese Funktion im Schizoiden zusammenbricht, löst das direkte existenzielle Not aus. Wegen des frühen Traumas ist die Integrität des Organismus bedroht. Plasmatische Kontraktion taucht auf und das Bindegewebe kann seine Funktion des Schützens der Integrität des Organismus nicht wahrnehmen. Er fühlt sich Gefahren ausgesetzt. Es entsteht eine Hintergrundangst, die Angst zu „verschwinden“. Das Griechische kennt ein Wort dafür: Lyse. Es bedeutet das plötzliche, zu schnelle Auflösen eines Systems. Paralyse – Lähmung – ist ein Versuch des Organismus, mit dieser Auflösung, dem rapiden Verschwinden, umzugehen. Deshalb die gefrorene, paralysierte Qualität des Schizoiden. Es ist eine korrekte Anpassung – eine verzweifelte Anpassung – an eine sehr ungesunde und gefährliche Situation.

    Aus diesem Grund entstehen beim Schizoiden sehr schnell existentielle Fragen. Lebe ich in dieser Welt? Und wenn, dann wo? Wo ist mein Platz in dieser Welt? (Die mystischen Schizoiden fragen sich noch selbst: „Möchte ich in dieser Welt leben?“)

    Der Versuch, den Schizoiden aus seinem gefrorenen, paralysierten Status gewaltsam herauszuholen, ist gefährlich. Auf der organischen Ebene wissen sie das. Das ist es, warum wir so viel Widerstand und Vermeidungsverhalten in der Körperarbeit sehen. Die Techniken wurden entwickelt, um „nieder- oder durchzubrechen“. Schizoide wissen, dass sie bei einer Arbeit mit solch einem Ansatz in Gefahr von Auflösung stehen.

    FUNKTIONELLE GEMEINSAMKEITEN DES BINDEGEWEBES UND DES SCHIZOIDEN PROZESSES

    Die nachfolgende Aufstellung zeigt die Verwandtschaft der Funktionen des Bindegewebes und des psychischen und somatischen Verhaltens von Schizoiden.

    TABELLE 2

    GEMEINSAMKEITEN VON BINDEGEWEBE UND VON SCHIZOIDEN
    Funktionen des Bindegewebes schizoides Verhalten
    frühe Entwicklung im Organismus festigt sich gegenüber Eindringen/Störungen frühe Störung im Organismus plasmatische Kontraktion erst Abwehrhaltung
    unterstützt den Organismus Kontraktion bedeutet
    Geerdet sein
    Innerer Grund
    Lähmung
    schützt die Integrität des Organismus kontrahiert, um nicht zu verschwinden
    Lyse/Paralyse
    erschafft Aufrechtsein Vertikallinie des Schizoiden
    schafft Raum und Platz kein Raum, kein Platz in der Welt
    dehydriert trocknet aus
    re-hydriert setzt „Fleisch“ an, füllt aus
    kristallisiert schwach/zerbrechlich
    sehnig gespannt
    belastungsfähig drahtig, sich nicht leicht unterkriegen lassen
    Netzwerksystem Ganzkörperkontraktion
    „snapping“ – alles oder nichts ;“snapping“ – fällt auseinander, von nichts bis zu viel
    unter Spannung röhrenähnlich
    entwickelt Parallellinien Vertikallinie des Körpers
    wenig Gefäß- und Innervation kalt, distanziert, kontaktlos
    wenig Wahrnehmung
    wenig Reaktion
    separiert/ verkapselt/verbindet isoliert/einsam/getrennt
    steuert Stoffwechsel unterernährt

    Wenn wir uns diese Aufstellung ansehen, können wir beginnen, die funktionelle Verwandtschaft von Bindegewebe und dem Schizoiden zu verstehen.

    (Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz)

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    Bukumatula 6/1995

    Psychoanalyse und Körperarbeit

    Peter Geißler:

    Die Frage, ob und auf welche Weise Psychoanalyse und Körperarbeit kombinierbar sind, beschäftigt mich seit einigen Jahren. Sie wurde für mich erstmals wirklich relevant, als ich mir gestattete, die Grundpositionen und Axiome der Bioenergetischen Analyse, meiner psychotherapeutischen Heimat, zu hinterfragen.

    Bis dahin war ich der Meinung, die oben gestellte Frage sei nicht diskussionswürdig, weil der Name „Bioenergetische Analyse“ sowieso verdeutlicht, daß es um beides geht: um Psychoanalyse und um Körperarbeit. In der Tat werden in der therapeutischen Praxis, insbesondere von Kollegen, die psychoanalytische Vorerfahrung besitzen, Übertragung und Widerstand als klinische Phänomene beachtet und mehr oder weniger bearbeitet. Allerdings existiert bisher keine von einem Bioenergetischen Analytiker niedergeschriebene Theorie der Technik, in welcher deutlich wird, Wie sich diese Integration tatsächlich vollzieht. Darüber hinaus werden in der Ausbildung zum Bioenergetischen Analytiker psychoanalytische Inhalte randständig vermittelt, sodaß sie für jene Kollegen, die keine ausgedehnte psychoanalytische Vorerfahrung haben – und dies ist das Gros der werdenden Bioenergetiker – gar nicht in differenzierter Form erfaßbar werden können.

    Zu fordern sind daher theoretische Diskussionen unter Bioenergetischen Analytikern und Publikationen, die die offenen Fragen aufzeigen und handlungsleitende Hypothesen anbieten. Dabei könnte verdeutlicht werden, was mit dem Wort „Analyse“ eigentlich gemeint sein könnte. Geht es um die Analyse des Körpers, um Körpermechaniken, geht es um Beziehungsanalyse, Übertragungsanalyse, oder worum sonst? Diese Fragen beschäftigen uns innerhalb der DÖK (Anm. des Hrsg.: Deutsche und Österreichische Gesellschaft für Körperbezogene Psychotherapie – Bioenergetische Analyse) allmählich mehr und mehr, wobei die Diskussionen bisher stark personalisiert wurden, so daß die inhaltliche Ebene stark verquickt ist mit gruppendynamischen Prozessen, was die inhaltliche Suche nach Klarheit nicht gerade vereinfacht. Möglicherweise ist eine solche Entwicklung aber unausweichlich, wenn Grundpositionen hinterfragt werden.

    Nicht nur die Bioenergetiker beschäftigt die Kombination von Psychoanalyse und Körperarbeit. Auch aus dem Lager der Psychoanalytiker mehren sich Artikel und Bücher, die dieses Ziel anvisieren. Neben den bereits bekannten Schriften von Tilmann Moser und Günter Heisterkamp möchte ich noch folgende Autoren erwähnen: Peter Fürstenau, Jörg Scharff und Gisela Worm. Unter dem Einfluß der Säuglingsforschung, die bestimmte psychoanalytische Theorien erschüttert, zeichnet sich eine Neuauflage der „Technikdebatte“ in der Psychoanalyse ab. Neuauflage deswegen, weil Psychoanalytiker wie Ferenczi, Balint und Winnicott seinerzeit wichtige Beiträge in Richtung der Einbeziehung des realen Körpers in die Psychoanalyse bereits geleistet haben, diese jedoch vom Mainstream der Psychoanalytiker nicht aufgegriffen wurden.

    In Österreich sind mir zwei Psychoanalytiker bekannt, die die Einbeziehung des Körpers in die Psychoanalyse thematisieren. Klaus Rackert, Psychoanalytiker im WPS (Wiener Psychoanalytisches Seminar), stark beeindruckt von der Säuglingsforschung, spricht von „zwei Techniken“ der Psychoanalyse: „Bei der Frage nach der richtigen psychoanalytischen Technik scheiden sich seit jeher die Geister. Sie ist der Grund für schmerzvolle Ausgrenzungen und Dissidententum. Intellektuelle Einsicht oder (korrigierende) emotionale Erfahrung – oder beides? Diese Fragestellung hat große Sprengkraft in sich.“ (1)

    Und dann begründet er, worin diese Sprengkraft besteht: „Zur Diskussion stehen nichts weniger als die wichtigsten Grundpositionen der Psychoanalyse: die reine Lehre und die Abgrenzung zu anderen Schulen als Versuch Identität zu wahren, die Krankheitslehre, die Metapsychologie, die Ausbildung. Nicht zuletzt geht es auch um die Frage der Effizienz der psychoanalytischen Therapie.“ (2)

    Und weiter: „Psychoanalyse ist in Österreich vor dem Gesetz vielen anderen Psychotherapieformen gleichgestellt. Die Zeit elitären Gehabens ist damit zu Ende. Es ist für die Psychoanalyse als Theorie und therapeutische Praxis eine Überlebensfrage, sich ohne Tabus der Technikdebatte zu stellen und die Suche nach einer lebendigen und offenen psychoanalytischen Antwort aufzunehmen.“ (3)

    Der zweite Psychoanalytiker ist Ranefeld, der in den letzten Jahren eine Erweiterung des psychoanalytischen Zugangs praktisch versucht, indem er in sitzend durchgeführten Analysen vermehrtes Augenmerk der nonverbalen Kommunikation des Klienten schenkt. Ausgehend von der Feststellung, daß die Darstellung des Selbst zum größten Teil nonverbal, mittels Mimik, Gestik, Körperhaltungen und Habitus erfolgt, konzentriert er seine therapeutische Aktivität – ähnlich wie seinerzeit Reich in der Phase der Charakteranalyse – auf die nonverbalen kommunikativen Signale des Klienten. Er meint sogar, daß einiges dafür spricht, daß die Beachtung dieser Kommunikationsebene entscheidend für das Gelingen oder Mißlingen einer Therapie ist (4).

    Worin liegt nun eigentlich die Schwierigkeit, Psychoanalyse und Körperarbeit zu kombinieren? Ohne auf diese Komplexe Thematik systematisch eingehen zu wollen, möchte ich lediglich einige Punkte anreißen:

    Die Psychoanalyse – speziell im klassischen Setting – konzentriert alle Bemühungen darauf, die unbewußten Wünsche des Klienten im Hier und Jetzt – in der Übertragung – deutlich werden zu lassen. Damit dieses Unterfangen gelingen kann, ist es erforderlich, daß sich der Psychoanalytiker als reale Person weitgehend heraushält und sich ganz auf den Prozeß des Klienten zentriert, in der Absicht, unbewußt auftauchendes Material mittels der Gegenübertragung szenisch zu verstehen und zu deuten. Jeder Eingriff des Analytikers in den beschriebenen Prozeß wird als Störung des Übertragungsraums erachtet.

    Die Einbeziehung des real-energetischen Körpers mittels aktiver körperbezogener Interventionstechniken stört daher den Übertragungsraum. Sie bringt dort Realität ins Spiel, wo es um die Aufhellung symbolischer Bedeutungen gehen soll. Die psychoanalytische Abstinenz, ebenso wie bestimmte Rahmenbedingungen und Regeln (freies Assoziieren des Klienten, gleichschwebende Aufmerksamkeit und technische Neutralität des Therapeuten) schaffen Bedingungen, unter denen Unbewußtes erst bewußt werden kann.

    Durch aktive Techniken wird der Arbeitsrahmen immer wieder verändert, die Rolle des Therapeuten erfährt unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Ist der Therapeut in seiner psychoanalytischen Position hauptsächlich Vermittler und Übersetzer von unbewußten Bedeutungen, so wird er im Rahmen von Körperarbeit zum Anleiter, zum Arrangeur von Übungen und Aufgabenstellungen oder sogar zum realen Interaktionspartner.

    Folgende Kriterien sind meines Erachtens wichtig, wenn man sich überlegt, wie Körperarbeit den psychoanalytischen Übertragungsraum verändert:

    • Das Ausmaß der Involvierung des Therapeuten als reale Person
    • Das Ausmaß der Aktivität des Therapeuten
    • Die Art seines Rollenverständnisses
    • Der Umgang mit der Gegenübertragung und Formen der Gegenübertragung
    • Das Ausmaß an förderlicher Suggestion durch den Therapeuten
    • Form und Ausmaß der Regression des Klienten
    • Die Manifestationen der Übertragungsspannung im therapeutischen Prozeß

    Anhand einer vorläufigen Systematik von „Körperarbeit“ will ich versuchen, auf die obenstehenden Kriterien einzugehen und Anregungen zur Diskussion zu liefern. Zur Beantwortung der Frage, wo denn Körperarbeit eigentlich beginnt, unterscheide ich verschiedene „Grade“ von Körperarbeit:

    1. Grad: Körperwahrnehmung

    Der Körper des Klienten wird wahrnehmungsmäßig in den therapeutischen Prozeß einbezogen. Die Rolle des Therapeuten ist weiterhin eine grundsätzlich psychoanalytische, das heißt, er bleibt als reale Person weitgehend draußen. Er konzentriert lediglich das vom Klienten spontan und unbewußt dargebrachte Material auf die nonverbale Signalebene. Der Grad seiner Aktivität ist mit jenem in einem analytischen Setting vergleichbar. Die Gegenübertragung wird wie in der Psychoanalyse szenisch ausgewertet, indem unbewußte Rollenzuschreibungen gespürt, erkannt und schließlich in Schritten gedeutet werden; sie ist jedoch um körperliche Signale erweitert. Das Ausmaß an Suggestion ist vergleichbar mit jenem im psychoanalytischen Setting, denn auch in diesem hat der Therapeut eine Auswahl aus dem dargebotenen Material zu treffen und handelt dadurch bis zu einem gewissen Grad suggestiv. Die Entfaltung der Regression vollzieht sich langsam und kontinuierlich innerhalb der Übertragung, sie wird nicht durch aktive Interventionen forciert oder getieft. Der Klient allein bestimmt das Tempo des Einlassens in die Übertragungsregression. Der Therapeut folgt ihm dabei.

    2.Grad: Fokussieren und verstärken spontan einsetzender Haltungen und/oder Bewegungen des Klienten

    Der Körper des Klienten wird nicht nur wahrnehmungsmäßig einbezogen, sondern es wird zusätzlich mit Bewegungen und Haltungen mittels aktiver Hilfestellungen des Therapeuten weitergearbeitet. Ausgangspunkt sind – oft kleine – Bewegungen bzw. Haltungen des Klienten, die spontan im Übertragungsgeschehen auftauchen und als solche letztlich auch gedeutet werden. Der Therapeut verläßt vorübergehend die psychoanalytische Grundhaltung, indem er konkrete Anweisungen und Handlungsaufforderungen ausspricht. Wie seinerzeit schon bei Ferenczi und Balint verläßt der Therapeut den vertrauten sprachlich-symbolischen Boden und arbeitet mit dem Körper als Mittel zur Förderung des Verständnisses der ÜbertragungsGegenübertragungs-Dynamik. Die mit derartigen Interventionen einhergehende Involvierung des Therapeuten als reale Person ist gering und dadurch auftretende Störungen des Übertragungsraumes sind ebenso vernachläßigbar, wenn derartige Interventionen sparsam, gezielt und indiziert eingesetzt werden. Milde Suggestion durch den Therapeuten (z.B. in Form von Ermutigung und Wiederholung von Bewegungen, Aufforderung zu vertiefter Atmung usw.) spielt zweifelsfrei eine Rolle; ohne suggestive Stützen sind körperliche Interventionen schwer vorstellbar; sie bleiben „stecken“ und man kann dann an der Analyse des Widerstandes weiterarbeiten. Die Übertragung wird durch derartige Interventionen entweder aktiviert, oder es tauchen im Zuge einsetzender regressiver Phänomene neue Übertragungsfacetten auf. Die Aktivierung bestimmter Körperteile kann jeweils verschiedene Übertragungsfacetten in Gang setzen. Dies erschwert, verhindert aber nicht eine relativ ungestörte Entwicklung und systematische Untersuchung der Übertragung.

    3. Grad: Körperübungen und Aufgabenstellungen

    Der Therapeut fordert zur Einnahme bzw. Durchführung von Haltungen und Bewegungen auf; er bietet aktive explorative Körperarbeit an, ohne körperlichen oder mit körperlichem Streß, wobei kennzeichnend ist, daß der Übergang zum Körper zwar nicht vollständig aus dem Prozeß herausg&öst ist, jedoch auch nicht eine logische Fortführung der Übertragungsentwicklung bildet. Er wird nicht so sehr als Mittel eingesetzt, um die Übertragung zu verdeutlichen, sondern als Mittel, um körperliche Blocks und Widerstände aufzuzeigen. Diese beinhalten zwar auch einen Übertragungsanteil, er steht aber nicht im Vordergrund des Durcharbeitens. Das induzierende Element durch den Therapeuten ist größer als bei Grad 2, der experimentelle Charakter steht im Vordergrund. Er wird vom Bioenergetiker in der Einzeltherapie teilweise dann eingesetzt, wenn verbale Widerstandsbearbeitung unfruchtbar erscheint (5). Von Vorteil ist dabei häufig, daß über den Körper neues Material auftaucht. Die Rolle des Therapeuten besteht im Anleiten von Übungen oder Aufgabenstellungen und im Ansprechen von Abweichungen. Die Regression kann sich im Zuge von Körperübungen spontan und rasch vertiefen, sodaß ein Einstieg in tiefe Gefühlsschichten möglich ist. Kathartische Gefühlsentladungen sind keine Seltenheit, vor allem, wenn Streßpositionen vorgeschlagen werden. Der Therapeut dient dann von seiner Rolle her als haltgebendes (z.B. bei tiefem Weinen) oder limitierendes (z.B. bei aggressiven Impulsen) Objekt. Der Grad seiner Involvierung wächst dadurch an.

    4. Grad: Körperliche Interaktion

    Der Therapeut bringt seinen realen Körper in die Interaktion mit ein. In kleinen Dosen hat dies schon Bahnt vorgeschlagen, indem er die Auffassung vertrat, daß bei Klienten mit einer Grundstörung (prägenitales Identitätsniveau) derartige Befriedigungsmomente eine grundsätzliche Neuorientierung des Klienten, einen Neubeginn, auslösen können. Die Involvierung des Therapeuten ist eine beträchtlich größere als bisher, und die Gegenübertragung nimmt auch andere Formen an. Dies kann man bei Tilmann Moser gut nachlesen (6). Die Gegenübertragung wird zwar noch immer durch Rollen definiert, die mit Hilfe szenischer Phantasien erfaßbar sind, gleichzeitig spielen aber auch Gefühlsansteckungsprozesse eine Rolle, ähnlich wie bei projektiver Identifikation. Insbesondere bei intensiven Formen der Berührung und des Halts und während starker symbiotischer Übertragungen ist es meiner Erfahrung nach von der Gegenübertragung her schwer, sich als konturiert und abgegrenzt zu erleben, weil der „symbiotische Sog“ durch den Klienten sehr stark sein kann. Inwieweit hier Therapeutenvariablen eine Rolle spielen, möchte ich an dieser Stelle nicht untersuchen. Das Ausmaß der Regression des Klienten während körperlicher Interaktion mit dem Therapeuten ist häufig groß. Durch den befriedigenden Charakter derartiger Interaktionen werden häufig „Gestalten geschlossen“, anders als im potentiell eher frustrierenden psychoanalytischen Setting, in dem die Übertragungsspannung von Stunde zu Stunde anhält. Allerdings ist es nicht zulässig, vom erfolgreichen Schließen von Gestalten und der Tiefung des Erlebens – beides ist für den Klienten verständlicherweise zunächst befriedigend – auf die grundsätzliche und langfristige Wirkung einer Therapie zu schließen. Viele Therapien arbeiten zwar mit der Übertragung, ihre Wirkung gründet sich jedoch gerade darauf, daß sie unbewußt bleibt. (7).

    Wie ich versuche herauszuarbeiten, bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen einer eindeutig analytischen und einer eindeutig körperpsychotherapeutischen Grundhaltung und Zugangsweise, welche Handlungen regelmäßig in die Arbeit mit einbeziehen. Daß hier Übergänge und Überschneidungen möglich sind, hat sich bereits gezeigt; es ändert aber nichts an der grundlegenden Verschiedenheit der Ausgangspositionen. Die Übergänge, die beispielsweise Tilmann Moser gefunden hat und auch praktiziert, eignen sich überwiegend für Klienten mit eindeutig prägenitalen Anteilen. Eine lohnenswerte, aber bisher kaum aufgegriffene Perspektive besteht in forscherischer Aktivität, um den Indikationsbereich von Körperarbeit genauer zu definieren und mit Hilfe qualitativer Einzelfallforschung oder empirisch-analytischer Studien exakt nachzuweisen.

    Weil ich trotz psychoanalytischer Grundorientierung die Körpererfahrung dennoch für wichtig und für einen eigenen Wirkfaktor halte, habe ich mich in der letzen Zeit für eine Aufgabenaufteilung entschlossen. Ich arbeite therapeutisch mit Setting-Kombinationen, ausgehend von der Ansicht, daß ein einziges Setting, aufgrund der oben beschriebenen Widersprüchlichkeiten, beides – die genaue Beziehungsanalyse und die Körper-Selbst-Erfahrung – nicht oder nur sehr schwer leisten kann. Die Anforderungen an den Therapeuten sind so verschieden, daß sie in einem einzelnen Setting schwierig vereinbar sind oder aber im Klienten Rollenkonfusionen darüber auslösen, wie der Therapeut nutzbar ist. Manches Mal helfen Deklarationen des Therapeuten solche Konfusionen aufzuhellen, doch bleibt das grundsätzliche Risiko erhalten. Manches Mal werden – als unbewußter Ausweg aus diesem Dilemma -unbewußt positive Kollusionen zwischen Klient und Therapeut eingegangen, die jedoch die Durcharbeitung wichtiger Themen -vor allem aggressiver und sexueller – behindern und vor allem die Auflösung der Übertragung sehr erschweren.

    In der kontinuierlichen Einzelarbeit – für gewöhnlich eine oder zwei Wochenstunden – steht die schrittweise Bewußtmachung unbewußter Beziehungsangebote des Klienten im Vordergrund. Die Einsicht in unbewußte Wünsche wird dadurch vermittelt, daß man sie eben nicht befriedigt, sondern Schritt für Schritt herausarbeitet. Gerade die Frustration macht es möglich, daß der Klient seine unbewußten Erwartungen und Wünsche entdecken kann.

    Ich fokussiere die Körperebene in der Einzeltherapie nur dann, wenn ich eine klare Indikation dafür feststellen kann, z.B. zur Aktivierung der Übertragung oder zur Demonstration von Widerstand (8); insgesamt geschieht dies aber selten, die therapeutische Arbeit bewegt sich ganz überwiegend im sprachlichen Bereich. Ich folge jedoch dem Klienten, wenn er von sich aus seinen Körper exploriert. Auf diese Weise kommt der Körper auch zur Sprache. Wenn es im Prozeß darum geht, das Spüren des Klienten zu fördern und dies auf dem Wege empathischen Folgens und analytischer Deutungen trotzdem mißlingt, kann es vorkommen, daß ich den Klienten anrege, sich auf körperliche Haltungen, auf die Atmung usw. zu zentrieren, in der Hoffnung, daß über den Körper ein Spüren möglich ist. Wenn mir körperliche Signale des Klienten auffallen, die die Übertragung verdeutlichen helfen, weise ich auf diese hin.

    Darüber hinaus empfehle ich die gelegentliche Teilnahme an
    Gruppenseminaren, die körperliche Selbst-Erfahrung anbieten.
    Die Gruppe mit ihrer regressionsfördernden Wirkung ist ein guter Stimulator für tiefe körperlich-emotionale Erlebnisse, die man in der Einzeltherapie nachbearbeiten und mit Übertragungsentwicklungen verknüpfen kann. Diese Verknüpfung ist wichtig und bildet die Voraussetzung dafür, daß die Selbsterfahrung eine andauernde Wirkung entfalten kann. Kernberg geht von einem Ineinandergreifen von Selbst- und Objekt-Repräsentanzen aus (9). Die Selbstrepräsentanzen können via Selbsterfahrung in Gruppen aktiviert werden, die Objektvorstellungen schälen sich während kontinuierlicher Einzelarbeit heraus. Den Arbeiten von Daniel Stern zufolge (10) ist das Erleben des Kern-Selbst eine eigene, die psychische Struktur organisierende Erfahrung. Um solche Erfahrungen zu machen, bedarf es aktiver und suggestiver Hilfen und häufig auch viel an Zeit. Diese Bedingungen lassen sich in der Gruppe besser erfüllen als in der Einzeltherapie.

    Mein Ziel war es, mit diesen sehr fragmentarischen Ausführungen Diskussionsstoff für all jene Kollegen zu liefern, die sich für die Integration von Psychoanalyse und Körperarbeit interessieren.

    Literaturstellen:

    Rückert, K.: Ausschreibung des Workshops „Einsicht oder emotionale Erfahrung – gibt es zwei Techniken in der Psychoanalyse?“ anläßlich des Weltkongresses 1996, Auszug aus dem Text

    siehe unter (1)

    siehe unter (1)

    Ranefeld, J.: Vortrag zum Thema „Aug in Aug“, 13.6.1995, Wien

    Pechtl, W.: Interview mit Waldefried Pechtl, in: GEISSLER, P. (Hrsg.): Psychoanalyse und Bioenergetische Analyse. Im Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Integration, Frankfurt 1994

    Moser, T.: Formen der Gegenübertragung in der psychoanalytisch orientierten Körperpsychotherapie, in: HOFFMANNAXTHELM, D (Hrsg.): Der Körper in der Psychotherapie, Oldenburg 1991

    siehe unter (4)

    Körperarbeit und Körpererfahrung in der analytischen körperbezogenen Psychotherapie; wird erscheinen in: Energie & Charakter, Heft 12, 1995

    Kernberg, 0.: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt 1987

    Stern, D.: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1992

    Hinweis des Herausgebers:

    Zu diesem Thema erschien von Peter Geissler im letzten Jahr das Buch „Psychoanalyse und Bioenergetische Analyse“ – Im Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Integration; mit Beitragen von Tilmann Moser, Waldefried Pechtl, Sander Kirsch, Eva Kammerer-Pinck, Jaques Berliner.

    Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt/M, 1994, 225 S., br.; DM 69.-. ISBN-Nr.: 3-631-47260-9

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    Bukumatula 3/1997

    Myron war Myron …

    Fortsetzung von Bukumatula 2/97
    Nachruf aus Anlaß des Ablebens von Myron Sharaf am 13. Mai 1997
    von Heiko Lassek

    Myron Sharaf war einer von wenigen persönlichen Studenten Wilhelm Reichs. Bis heute hat er an der Harvard Medical School, einer der angesehensten Universitäten der Welt, Vorlesungen und Seminare über Psychiatrie gehalten, daneben eine Assistenzprofessur für Kunst innegehabt und täglich Patienten in seiner Praxis gesehen. Über zehn Jahre arbeitete er an der Biographie über seinen Lehrer und Ausbilder. Mit Sharafs Biographie über Wilhelm Reich war zum ersten Mal im deutschen Sprachraum ein Erfassen der Größe, Tragweite und Widersprüchlichkeit des Gesamtwerkes und der Persönlichkeit Wilhelm Reichs möglich geworden.

    Ich lernte Sharaf 1984 in München auf einer internationalen Konferenz kennen, in deren Rahmen er seine Biographie vorstellte, die in den USA gerade erschienen war. Aus diesem Zusammentreffen entwickelte sich durch mehrmals jährlich stattgefundene gegenseitige Besuche eine tiefe Freundschaft, die bis heute andauerte. Als Myron 1986 zum ersten Mal für einen mehrwöchigen Aufenthalt nach Berlin kam (dies war seitdem Tradition und führte auch zu zahlreichen Privatbesuchen) gab er einen Workshop für erfahrene Therapeuten.

    Mir – und wie sich später herausstellte – allen Teilnehmern erging es so, dass nach der ersten Stunde eigentlich jeder nach einer Möglichkeit suchte, aus dem Raum zu kommen; derart präzise, brillant und auch scharf benützte Sharaf Methoden der Vegetotherapie, Techniken der Psychoanalyse und des Psychodramas in der konkreten Arbeit. Innerhalb von zwei Minuten war er auf dem Punkt, der in der Entwicklung des jeweiligen Klienten noch nie bearbeitet worden war. Erst im Verlauf des Wochenendes wurden seine ungeheure menschliche Wärme und sein tiefer Humor in der Arbeit offenbar. In den folgenden Jahren wurde Berlin zum Zentrum seiner Arbeit.

    Myron war Myron – eine einzigartige Kombination aus älterem Universitätsprofessor, Schüler und Mitarbeiter Wilhelm Reichs und erklärtem Humanisten alter Schule. Ein Wochenende mit ihm und einer Gruppe war wie ein Schauen von unzähligen Filmen, in denen die Teilnehmer die Hauptrolle spielen, mit Humor und Tiefe die Verschiedenheit, Einzigartigkeit ihres persönlichen Lebens und das Gemeinsame, was alle Menschen miteinander verbindet, erschauen, erfahren und erfühlen konnten.

    Ende März 1997 waren wir anlässlich der Feier des Bostoner Goethe-Instituts zum einhundertsten Geburtstag von Wilhelm Reich das letzte Mal für eine Woche zusammen. Auf der in einer wunderschönen Atmosphäre, mit vielen geladenen Gästen abgehaltenen Feier, hielt Myron einen seiner besten mir bekannten Vorträge über seine Zeit mit Reich in Anwesenheit von fast allen Familienangehörigen (Ilse Ollendorf, Lore Reich, Peter Reich und deren Kinder).

    In Wien, im Mai 1997, eröffnete er mit anderen Kollegen zusammen die Gedenkfeier der Europäischen Körperpsychotherapieorganisationen. Danach kam er – einen Tag früher als geplant – nach Berlin, das er in zahlreichen Interviews als seine zweite Heimat bezeichnete. Wir sprachen an seinem letzten Abend lange telefonisch über Freunde und die vergangene Konferenz – er hatte fast alle alten Bekannten dort noch einmal wiedergesehen.

    Am nächsten Abend wollten wir essen gehen. Zwischen 9.15 und 9.40 Uhr verließ Myron diese Existenz auf die vorstellbar friedvollste Weise: auf einen Patienten wartend, lag er wie schlafend ohne Zeichen eines überraschenden Ereignisses auf der Behandlungsliege seines Therapiezimmers. In den folgenden Stunden versammelten sich viele seiner Berliner Freunde schweigend um ihn bis zum späten Nachmittag.

    „Warum sind keine Reichianer im Himmel? Auf dem Weg zum Himmel gibt es eine Kreuzung mit zwei Straßenschildern. Auf dem ersten steht: „Weg zum Himmel“, auf dem zweiten steht: „Vorlesungen über den Weg zum Himmel“. Aus diesem Grund findet man keine Reichianer im Himmel.“
    (Myron Sharaf im Juni letzten Jahres.)

    Myron ist sicher den anderen Weg gegangen. Wir vermissen Dich als Freund und Lehrer. Deine Menschlichkeit und Dein Humor bleiben unvergesslich mit uns.

    Heiko.

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    Bukumatula 3/1997

    Die biologischen Grundlagen des schizoiden Prozesses, Teil 2

    Fortsetzung von Bukumatula 2/97
    Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
    Will Davis

    Frühe Entwicklung

    Das Plasma und das schizoides Stadium tauchen früh in der Entwicklung des Organismus auf. Um sich gegen traumatische Erlebnisse zu stabilisieren, unternimmt der Organismus als erstes den Versuch, plasmatisch zu kontrahieren – für einen Säugling ist dies die einzige Möglichkeit, sich zu beschützen. Somit ist der kontrahierte Zustand – die Paralyse – der einzige Schutz des Organismus gegen auftretende Störungen.

    Das Bindegewebe sorgt für Stabilität, Halt, Schutz und Raum

    Das Bindegewebe schützt die Integrität des Organismus. Trauma und Schock bedrohen die Integrität und werden als existentielle Gefahr erlebt. Das hat – als Abwehr gegen die Lyse, gegen die Angst sich aufzulösen, gegen das Verschwinden – eine Paralyse zur Folge. Zu diesem frühen Zeitpunkt gibt es für das Baby keine Möglichkeit zu verstehen, begrifflich zu erfassen oder zu verbalisieren, was passiert. Die einzige Zuflucht für den Organismus besteht darin, sich in sich selbst zurückzuziehen.

    Da der schizoide Charakter in seinem Leben so viel an Zeit und Energie aufwendet nicht zu „verschwinden“, hat er große Schwierigkeiten „sich zu zeigen“, z.B. in seiner Unfähigkeit, Kontakt über eine längere Zeit hinweg aufrecht zu erhalten. Dasselbe Thema zeigt sich auch in der Unfähigkeit des Schizoiden, einen „Platz in der Welt“ zu finden. Beide Themen, Kontakt zu halten und einen „Platz“ zu finden, machen es ihm unmöglich, nahe Langzeitbeziehungen herzustellen. Diese Unfähigkeit verstärkt sein Misstrauen und seine Schwierigkeit präsent zu sein, hier in der Welt zu sein. Und so entsteht ein Circulus vitiosus; das eine Thema geht in das andere über.

    Das Gefühl von „Hier gibt es keinen Platz für mich“, ein Fremder in einem fremden Land zu sein kommt auch daher, weil es das Bindegewebe ist, das Form und Raum im Körper schafft. Wenn das Gewebe plasmatisch kontrahiert, kann es seine eigentliche Funktion nicht mehr erfüllen. Der Schizoide leidet an dem zweifachen Aspekt dieses Problems: keinen Raum und keine Form zu haben.

    Er leidet daran „dünn zu sein“, ohne wirklich eine „Peripherie“ zu haben.- Die Peripherie ist nahe am Core. Es gibt fast keinen physischen Raum zwischen dem Zentrum des Körpers und der Peripherie. Wenn wir eine phallische Struktur mit weit hervortretendem Brustkorb oder die „Vollheit“, die man beim masochistischen oder hysterischen Charakter findet, betrachten, können wir ausreichend Raum zwischen der Haut und dem Zentrum – der Peripherie und dem Core – erkennen.

    Im Körper eines Schizoiden existiert dieser Raum nicht. Der Schizoide ist bereits im Inneren seines kontrahierten, zurückgezogenen Zustandes, und da gibt es keinen Platz mehr.

    Um es auf den Punkt zu bringen: die innere Erfahrung dieses Menschen ist die von Angst, Dunkelheit und Gefahr. Wer möchte schon da drinnen bleiben? Deswegen „verlässt“ er seinen Körper oft. Deswegen wird der Körper „verloren“. Er verliert den Kontakt nicht nur zu anderen, sondern auch zu sich selbst.- Wenn er aber Kontakt zum eigenen Körper hätte, welche Erfahrung würde er dann machen? Welche Rückmeldung würde er in bezug auf seine Lebensqualität erhalten?- Deshalb bleibt er oft lieber mit der Wahrnehmung seiner Erlebnisse – mit der Idee davon, statt mit dem Erlebnis selbst, allein.

    Wenn man in der Therapie keine „Durchbruchstechniken“ anwendet, um die Kontraktion zu öffnen, kann dieser Zustand eine Änderung erfahren. Mit der „Points and Positions“-Arbeit kann man den „Instroke“, das „Nach-innen-gehen“, die sammelnde Phase der Pulsation, mobilisieren. Indem wir den Einwärtsfluß ermöglichen, wird das Verlangen nach mehr Schutz unterstützt. Damit kann die Kontraktion behutsam gelöst werden, ohne existentielle Angst zu mobilisieren. Es entsteht ein Prozess der Sammlung und der Zentrierung. Klienten berichten dann von einem Gefühl einer „inneren Sonne“, von einem warmen Raum, den sie aufsuchen können, etc. Sie haben ihre Beziehung zu sich selbst verändert.

    Andererseits – und das ist der zweite Aspekt der plasmatischen Kontraktion, leidet der Schizoide daran, dass er nicht „hinaus“ kann. Er wendet so viel an Zeit auf, nur um „hier“ zu bleiben, dass ihm nur wenig Energie bleibt, hinaus in die Welt zu gehen, um sich Raum zu schaffen, einen sicheren, abgesteckten Platz zu schaffen, wo er leben und Zeiten von Stress und Gefahr überstehen kann. Arbeit, langwährende Freundschaften, Liebesbeziehungen, Familie, alle äußeren sozialen Verhaltensweisen, die für uns eine Welt schaffen, in der man leben kann, sind für ihn nicht wirklich verfügbar.

    Die Beziehung zwischen Bindegewebe und Muskulatur

    Die schizoide Kontraktion ist eine Frühstörung. Als Folge davon ist die spätere Muskelentwicklung, die man bei anderen Strukturen beobachten kann, stark verändert, da schizoide Charaktere einen eingeschränkten Fluss der Lebensenergie in die Peripherie haben. Entwicklungsgeschichtlich bildet sich die Muskulatur später aus, als das Kind zu greifen, zu stehen, zu gehen und zu laufen lernt. Wegen der Kontraktion ist der Fluss gestört, die Peripherie bleibt unterentwickelt.

    Folglich erfüllen auch die Muskeln ihre Funktion nicht. Das Bindegewebe muss nun einen Großteil der protektiven Muskelfunktion übernehmen. Dazu bieten sich zwei Möglichkeiten an:

    Jeder Muskel, wie auch jedes Organ ist umgeben von einer dünnen, transparenten Hülle, der „Bindegewebshaut“. Diese Haut ist dazu da, jeden Muskel und jedes Organ zu umhüllen, um es vom benachbarten Gewebe zu trennen. Zusätzlich bietet jede Haut eine gleitende Oberfläche, die jedem Muskel und jedem Organ freie Beweglichkeit in seinem eigenen Raum erlaubt – vor und zurück, nach oben und unten, bezogen auf das umgebende Gewebe. Wenn Muskeln oder Organe unter Spannung gesetzt werden, verbinden sich diese „Häute“, sie verkleben und verbinden sich zu Muskelgruppen, um größeren Widerstand gegen die wachsende Spannung bieten zu können. Es bilden sich große, unnatürliche Muskelgruppen, die zu unbeholfenen Bewegungsabläufen führen. Eine ähnliche Funktionsbeeinträchtigung findet in den Organen statt.

    Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass das Bindegewebe der Muskulatur zu Hilfe kommt, indem es im Muskel selbst eine fibröse Verdichtung aufbaut. In die Muskelmasse verwoben sind lange Bindegewebsfäden, die sich am Muskelende vereinigen und Sehnen bilden. Diese Sehnen erstrecken sich über die Muskelmasse und setzen – wie auch der Muskel selbst – am Knochen an und fixieren ihn an seinem Platz.

    Wenn ein Muskel übermäßig angespannt wird, werden die Bindegewebsfasern zur Unterstützung aufgerufen. Das Bindegewebe beginnt sich im Muskel auszubreiten. Diese Fasern entwickeln und vereinigen sich parallel in Richtung der Spannung. Sie bilden Bündel, die aussehen und sich anfühlen wie lange, dicke Stränge. Diese tiefliegenden Faserbündel helfen den Muskel zu stärken, so dass er mit der verstärkten Spannung zurechtkommt.

    Diese Bindegewebsverdichtung ist das, was wir als „Härte“ in der Muskulatur verspüren. Sie ermöglicht es, unsere Muskeln nicht nur 20 Minuten, sondern 20 Jahre anzuspannen. Unter chronischem Stress entwickelt sich das Bindegewebe mehr und mehr und verstärkt so die Haltefunktion der Muskeln, was ein Kontrahieren, Schützen, Blockieren und eine eventuelle Panzerung ermöglicht.

    Auch deswegen können Muskelrelaxantien weder blockierte Gefühle, die im Gewebe gehalten sind, befreien, noch haben sie einen Einfluss auf den Stützapparat, der sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Die Bindegewebsvermehrung hält die blockierten Gefühle zurück, auch wenn die Muskulatur entspannt ist.

    Das Auflösen der Bindegewebskontraktion

    Es ist interessant, dass in der Arbeit mit Methoden, die zur Entspannung kontrahierter Muskulatur entwickelt wurden – tatsächlich aber auch den Bindegewebsapparat entspannen – Gefühle auftauchen können. Rolfing – die Arbeit mit direktem, kräftigem Druck auf die Muskulatur und das dazugehörende Bindegewebe – wird gelegentlich Emotionen freisetzen. Aus diesem Grund haben Therapeuten, die mit „Points and Positions“ arbeiten, auch eine Technik der Osteopathie übernommen. Es ist eine sanfte Art mit Druck zu arbeiten, wie sie z.B. in der Physikotherapie angewandt wird; es besteht nicht die Absicht, Gefühle zu mobilisieren. Wir haben diese Technik, die entwickelt wurde, um auf der neuromuskulären Ebene zu wirken, so verändert und weiterentwickelt, dass sie auch auf der plasmatischen Ebene angewandt werden kann. Das Ergebnis ist eine tiefe Befreiung von blockierten Bewegungen, Empfindungen und Gefühlen, die Bewusstheit schafft. (Davis, Energy&Charakter, April 1985)

    Diese Technik ist in der Arbeit mit Schizoiden überaus wirkungsvoll. Es ist ein langsamer, nicht bedrohlicher Entspannungsprozess, mehr im Sinne von Schmelzen als von Nieder- oder Durchbrechen.

    Wenn Muskelrelaxantien das Bindegewebe nicht beeinflussen und den Muskeln nicht zu wirklicher Entspannung verhelfen, stellt sich die Frage, warum einige Techniken Ergebnisse zeigen, die ursprünglich unbeabsichtigt waren.

    Wie schon früher erwähnt, ist die Geschmeidigkeit des Bindegewebes, seine erstaunliche Fähigkeit, Form und Zustand zu verändern und sich unter passenden Umständen wieder in den vorherigen Zustand zurückzubilden, eine Hoffnung für die Körperpsychotherapie.- In erster Linie werden Körpertherapeuten mit der Plastizität des Bindegewebes arbeiten, indem sie Druck darauf ausüben. Das Plasma wird unter dem Druck „schmelzen“ und sich den neuen Umständen entsprechend restrukturieren. (Anmerkung: Im therapeutischen Setting ist die richtige Anwendung von Druck der Faktor, der die stressenden Bedingungen so verändert, dass sich das Bindegewebe auch an die neue Umgebung anpassen kann.)

    Als Folge dieser Intervention, wird die zusätzlich gebildete fibröse Verdichtung im vorher gestressten Muskel zu „schmelzen“ beginnen und langsam verschwinden. Das zusätzliche Stützsystem des Bindegewebes, das vom gestressten Muskel benötigt wird, wird reabsorbiert, da die Spannung nachgelassen hat und das Hilfssystem nicht weiter benötigt wird.

    Die sehnige Qualität – Warum?

    Wie schon vorher im Abschnitt über die physischen Charakteristika der Schizoiden erwähnt, hat ihr Gewebe eine sehnige Qualität, die durch die fibröse Verdichtung entsteht. Je stärker ein Muskel angespannt ist, desto mehr Stränge und Faserbündel werden sich entwickeln. Bei einer anderen Charakterstruktur, z.B. einer mit gut ausgeprägter Muskulatur, trägt die Entwicklung der Fasern dazu bei, dass die Muskelmasse von kräftiger, konturierter und oft harter Qualität ist.

    Aber stellen wir uns eine solche fibröse Veränderung vor, wenn wenig Muskelmasse vorhanden ist: Wir sehen dann den schizoiden Körper – lang, dünn und sehnig. Aufgrund einer früh eingetretenen Traumatisierung ist der Organismus belastet. Hier wurden invasive traumatische Ereignisse erlebt, bevor die Muskulatur zur Abwehr eingesetzt werden konnte. Somit ist es nicht erstaunlich, dass sich keine großen und harten Muskelgruppen entwickeln konnten; der Fluss in die Peripherie ist minimiert. Wenn das Kind heranwächst, entwickeln sich zunehmend die langen fibrösen Gewebsstränge, die dem Körper die sehnige, strangige Qualität und seine drahtige, straffe Stärke verleihen.

    Wenn nun das Trauma sehr früh eintritt, hat das den klassischen schizoiden Zustand zur Folge. Bei einer späteren Traumatisierung und/oder wenn ein weniger heftiges Trauma, dafür aber chronisch besteht – sogenannte Traumahäufung – werden wir eine Mischung mit einiger Muskelentwicklung von starker, fibröser Qualität vorfinden. Das Kind hätte etwas mehr energetischen Fluss in die Peripherie und die Muskulatur könnte sich so wenigstens ein bisschen stärker entwickeln.

    In diesen Fällen werden wir eine schizoide Struktur vorfinden, deren existentielle Angst durch aggressives Verhalten maskiert sein wird. Dieses Kind war in der Lage, Ärger zu entwickeln und zu mobilisieren, sowohl zum Schutz, als auch zur Entwicklung seiner Abwehr. Wenn es sich gefährdet fühlt und Angst verspürt, können wir ein Ausagieren, ein Ungerechtigkeits-Rache-Thema beobachten, wie ich das schon in der Beschreibung der Emotionalität des Schizoiden erwähnt habe.

    In bezug auf ein Entwicklungskontinuum können wir uns nun folgendes überlegen: Wenn der Organismus gestresst wird, nachdem das neuromuskuläre System sowie primäre psychische Strukturen sich entwickelt haben, bildet sich das fibröse System weniger stark aus. Die Fasern spielen hier eine sekundäre Rolle für das Muskelgewebe. Wir haben ein primäres Abwehrsystem, das auf der neuromuskulären Funktion beruht.

    Dieser Strukturtyp – dessen Entwicklungsgeschichte auf späteren Ereignissen basiert – ist eine sogenannte „kognitiv-neuromuskuläre“ Struktur, z.B. eine phallische oder psychopathische Struktur. Menschen, die ihr neuromuskuläres und psychisches System gut genug entwickelt haben können diese Systeme im Verteidigungsfall sofort abrufen. Ihr Schutzsystem funktioniert sowohl auf der psychischen, als auch auf der somatischen Ebene.

    Wenn jedoch kaum Muskelgewebe vorhanden ist und wenig Möglichkeit bestand, psychische Strukturen zu entwickeln, bevor das Trauma einsetzte – wie das im klassischen schizoiden Stadium der Fall ist – übernimmt das Bindegewebe die Rolle der Muskulatur. Wir haben dann eine plasmatische Struktur, jemanden, der zu seiner Verteidigung plasmatisch reagieren wird.

    Von der Dehydrierung zur Rehydrierung

    Das Bindegewebe hat die Fähigkeit zu dehydrieren und zu rehydrieren. Es verhält sich genauso wie ein Schwamm. Wenn wir einen nassen Schwamm ausdrücken, wird er nachgeben, und das Wasser wird herausrinnen. Und wenn wir ihn austrocknen lassen, wird er eine andere Form annehmen. Auch in trockenem Zustand können wir ihn drücken, aber er wird die veränderte Form beibehalten. Wenn man erneut Wasser zufügt, nimmt er seine ursprüngliche Form wieder an.

    Plasma – und deshalb auch das Bindegewebe – reagiert genauso. Unter Druck geht der notwendige Feuchtigkeitsgehalt verloren. Es kommt zu einer Verhärtung, ja sogar zu einer Kristallisation. Unter veränderten Bedingungen, die wir im therapeutischen Setting schaffen können, wird es rehydrieren und seine ursprüngliche Gestalt wieder annehmen.

    Der dehydrierte Zustand hat eine ausgetrocknete, kühle, „alte“ Qualität. Ebenso ausgetrocknet und zurückgezogen – im Sinne von leblos – ist die Qualität des Schizoiden. Aber unter den richtigen therapeutischen Bedingungen kann der hydrierte Zustand wieder hergestellt werden. Wir können beobachten, wie der Schizoide wieder „gefüllt“ wird. Alle anderen Strukturen wirken „größer“ und von oben nach unten weniger gedrückt.

    Wenn der Schizoide rehydriert, ergibt sich ein anderer, vollerer Eindruck. In der Arbeit kann das dann so aussehen, als hätte er an Gewicht zugelegt; tatsächlich wiegt er das gleiche. Ein gutes Beispiel ist folgendes: Mir erzählte einmal eine Klientin, dass sie sich fühle, als trüge sie einen großen, weiten Mantel, den sie vorher nicht anhatte. Sie hatte mehr Substanz, fühlte sich geschützter und wärmer. Es gab Schutz zwischen ihr und der Welt.- Themen, die nicht von geringer Bedeutung für einen schizoiden Menschen sind.

    Das Netzwerksystem und das „Alles oder Nichts-Prinzip“

    Der kristalline Zustand des dehydrierten Bindegewebes lässt uns den Schizoiden gefroren und brüchig erscheinen. Es ist die Qualität der Zerbrechlichkeit, die für uns von speziellem Interesse ist. Eine Eisschicht oder eine Glasscheibe zerbricht anders als Holz. Holz spaltet sich, die Stücke brechen auseinander, einige Stücke spalten sich vom Ganzen und manche bleiben trotzdem verbunden. Es ist sogar möglich, dass das Stück im wesentlichen intakt bleibt. Anders ist es bei Glas. Man kann nicht ein Stück abbrechen, ohne zu riskieren, dass die ganze Struktur auseinander fällt. Das ist das „Alles oder Nichts-Prinzip“.

    Man kann auf ein Stück Holz wiederholt und kräftig schlagen. Erst werden Kerben entstehen und dann werden sich Teile abspalten.- Auf Glas kann geschlagen werden, ohne dass vorerst etwas passieren muss. Keine Schrammen, keine Stücke. Wenn man jedoch mit mehr Kraft zuschlägt, steigt der Druck bis zu dem Punkt, wo es ganz zerbricht.

    Ein schizoider Mensch kann mit Stress bis zu diesem Punkt kommen, ohne dass eine Reaktion sichtbar wäre – er zeigt sich bis dahin unbeeindruckt, so als ob er davon nicht betroffen wäre. Wenn dieser Punkt aber überschritten wird, bricht sein gesamtes System zusammen und die Reaktion kann überwältigend sein. Er „zerbricht“ und verliert sich gänzlich.

    Diese Total-Reaktion des Schizoiden hat mit dem früher erwähnten Netzwerksystem zu tun. Beim Fötus und Säugling sprachen wir über die plasmatische Kontraktion entsprechend der frühen Traumatisierung; sie ist ganzkörperlich. Beobachten wir eine Amöbe, der Schwachstrom zugeführt wird, oder einen Säugling, der erschreckt wird. In beiden Fällen kontrahiert der ganze Körper.

    Dieser Reaktionstyp bildet sich zeitlich vor der physischen und psychischen Differenzierungsfähigkeit und bevor sich die Segmente entwickeln. Der Organismus kann nur kontrahieren, und zwar überall und zur gleichen Zeit. Ähnlich einer Amöbe: sie kann nicht erkennen, was passiert und um welche Art von Gefahr es sich handelt. Sie ist neurologisch, muskulär und psychisch nicht genügend entwickelt, um differenziert reagieren zu können.

    Der plasmatische kontraktive Zustand ist eine Ganzkörperreaktion. Wenn diese Kontraktion nachgibt, also das Abwehrsystem zusammenbricht, gibt es nichts mehr, was hält – kein Ersatzsystem, das noch helfen könnte, alles wird überflutet, nichts hält mehr. Das ist die Gefahr für die schizoide Struktur – darin schließen wir auch Borderline-Strukuren ein.- Der totale Kollaps wird durch den Zusammenbruch des Netzwerks verursacht. Auf der plasmatischen Ebene wird jeder Input das gesamte System beeinflussen. Der Zusammenbruch ist die Lyse; die Existenz des Organismus ist in Gefahr. Er muss als Ganzes reagieren, um seine Existenz zu bewahren.

    Trennung, Verkapselung und Containment

    Wie schon erwähnt, sind die Funktionen des Bindegewebes die des Trennens, des Einkapselns und des Haltens. Dies sind alles gesunde und erwünschte Funktionen. Aber der schizoide Zustand ist ein extremer Bindegewebszustand – ebenso extrem wie das Funktionieren und Verhalten des Schizoiden. Was unter gesunden Bedingungen eine erwünschte Trennung und „Zurück-Haltung“ war, wird nun zu Isolation und Verzweiflung.

    Der Schizoide ist jetzt so getrennt, dass er unfähig ist, Kontakt mit der Welt aufzunehmen. Er wird zum Einzelgänger, nicht aus freier Wahl, wie man aus Clint Eastwoods „High Plains Drifter“ schließen kann, sondern aus der Not heraus. Es gibt keine Wahl mehr, bestenfalls nur Resignation, die er vielleicht zu akzeptieren vorgibt.

    Hier wird die klassisch schizoide Charakteristik des Einzelgängers – distanziert und unnahbar – deutlich. Er ist innerlich gefangen und erscheint der Welt als emotionslos, reizbar, uninteressiert, als jemand, der niemanden braucht. Gerade hier liegen auch die Gründe für sein Besonderssein, seine Fremdartigkeit, seine Sehnsucht und seine Mystik.

    Die Bedeutung des Bindegewebes für den Stoffwechsel

    Der letzte Punkt in der Tabelle über „Ähnlichkeiten“ betrifft den Stoffwechsel. Wir werden kurz einen Aspekt dieses wichtigen Zusammenspiels betrachten. Das Plasma oder die „Grundsubstanz“ ist der halbflüssige Zustand, der alle Gewebe bis hin zur Zellebene umgibt.

    Diese Halbflüssigkeit ist der „Ozean“, von dem vorher schon die Rede war, und von dem jede Zelle in allen Teilen unseres Körpers umgeben ist. Es ist das Medium, das jede Zelle mit Nährstoffen versorgt und Verbrauchtes entsorgt. Wenn dieser „Ozean“ durch Gifte und Dehydration, Kontraktion und Infektion „verschmutzt“ wird, kann er der Funktion des Nährens und des Reinigens der Zellen nicht mehr nachkommen. Der Stoffwechsel ist herabgesetzt und beeinflusst dadurch die Nahrungsaufnahme.

    Der Schizoide repräsentiert den unterernährten Zustand – physisch wie auch psychisch. Die plasmatische Kontraktion lässt nur ungenügend Nährstoffe in den Organismus gelangen. Ebenso verhindert sie die Selbstreinigung des Organismus, z.B. sich von Giften zu befreien. Das trifft nicht nur für die physische Nahrung wie Essensaufnahme, Wärme, etc. zu, sondern auch für die psychische und emotionale Nahrung wie Berührung, Fürsorge und Liebe.- Berührung wird zum Eindringen. Fürsorge wird zum Versuch zu bemuttern, der erfahrungsgemäß schon einmal nicht so gut funktioniert hat. Liebe wird zum Konzept.

    Um die funktionelle Verwandtschaft zwischen dem Bindegewebe und dem Schizoiden noch mehr zu verdeutlichen, können wir nachfolgende Tabelle betrachten. Hier können wir den Unterschied zwischen einem gut funktionierenden plasmatischen Zustand – wie z.B. bei einer Amöbe – und einem schlecht funktionierenden – wie bei einem Schizoiden – sehen.

    TABELLE 3

    PLASMATISCHE REAKTION
    gut funktionierend schlecht funktionierend
    AMÖBE SCHIZOIDER
    amorph rigide
    stabile Prozessstruktur steif
    ständige Reorganisation überstrukturiert
    pulsierend, wogend gehalten, eingefroren, kontrahiert, gelähmt
    spontan nicht spontan
    sich anpassend versucht zu kontrollieren
    flexibel rigide
    einheitlicher Fluss gelegentlich fließend
    organisiert greift nicht nach außen,
    kontaktvolle Bewegung (Fluss)nach außen und wieder zurück vermeidet Berührung und berührt werden; narzisstisch

    ENTWURF EINER FUNKTIONALEN CHARAKTEROLOGIE

    Wir können nun die funktionellen Charakterkriterien weiterentwickeln, indem wir zwischen einer primär plasmatischen Charakterstruktur, wie sie der Schizoide repräsentiert, und einer Charakterstruktur, deren Abwehrsystem auf einer kognitiv-neuromuskulären Reaktion beruht, unterscheiden.

    Die weitere Betrachtung soll die Unterschiede dieser beiden Reaktions-Strukturen hervorheben. Dabei ist es aber wichtig zu wissen, dass sie jeweils das entgegengesetzte Ende eines Kontinuums repräsentieren. Es ist möglich auf diesem Kontinuum auf- und abzufahren, um die verschiedenen Charakterstrukturen mit unterschiedlichen Mischungen von plasmatischen und neuromuskulären Reaktionen zu verstehen. Wir werden unterscheiden zwischen solchen, die vorrangig ein plasmatisches und solchen, die vorrangig ein neuromuskuläres Abwehrverhalten einsetzen. Beide wählen unterschiedliche Systeme als eine erste Antwort auf Bedrohung, um sich zu schützen. Dies ist unser Hauptkriterium zur Differenzierung.

    Die bisherige Auseinandersetzung mit diesem Thema hat uns gezeigt, dass, abhängig vom Zeitpunkt des Traumas, der Organismus auf zwei verschiedene Arten reagieren kann. Wenn das Kind älter ist, es schon gehen kann, etwas sprechen kann und fähig ist, Zorn objektbezogen zu mobilisieren, wird es auch fähig sein, diese verschiedenen Funktionen in sein Abwehrverhalten mit einzubeziehen. Nerven und Muskeln werden zur Verteidigung eingesetzt. Das Sich-schützen basiert auf einem (gesunden) Funktionieren des Zentralen Nervensystems.

    Wenn jedoch im Gegensatz dazu die Störung zu einem früheren Zeitpunkt auftritt, stehen dem Fötus oder dem Kleinkind diese neuromuskulären Reaktionen, die von einem minimalen Entwicklungsstand des Zentralen Nervensystems abhängig sind, nicht zur Verfügung. Das System, das dann unter Stress aufgerufen wird, ist das unwillkürlich funktionierende Vegetative Nervensystem. Das ist die plasmatische Antwort. Es gibt hier keine Muskeln, die kontrahiert werden könnten, und es ist keine psychische Struktur zur Verteidigung verfügbar. Auch die Amöbe bewegt, nährt und reproduziert sich und kontrahiert ohne Muskeln oder psychischen Apparat.

    Weitere Unterscheidungen folgen aufgrund dieser Besonderheiten. Zum einen hat das Zentrale Nervensystem (ZNS) sowohl eine willkürliche als auch eine unwillkürliche Komponente. Das Vegetative Nervensystem (VNS) funktioniert unwillkürlich.

    Diese Unterscheidung ist von Tragweite für unser Bewusstsein bzw. das Unbewusste. Das VNS funktioniert jenseits der Bewusstheit, jenseits von konzeptionellem Verständnis und erster Verbalisierung. Es ist nicht so leicht wie das ZNS durch willkürliche und kognitive Aktivitäten zugänglich. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Entscheidung, welche therapeutische Intervention gesetzt werden soll, wann und zu welchem Zweck; und natürlich auch für das Verständnis, auf welcher Ebene unsere Intervention im Organismus wirkt.

    Die neuromuskulär dominierte Struktur ist eine spätere Entwicklungserscheinung, sowohl in der Geschichte der Evolution als auch in der Geschichte des menschlichen Organismus. Die Wichtigkeit und Bedeutung der Entwicklung des Bindegewebes kann nicht genug hervorgehoben werden. Leben existiert seit Millionen von Jahren, noch bevor je Knochen oder Muskeln auftauchten.

    Und es dauerte noch ein ganze Weile länger, bevor sich psychische Strukturen entwickelten. Es gab Leben, schon lange bevor es Gedanken, Emotionen, das Ego und Nerven, Knochen und Muskeln gab. Sogar heute repräsentieren wir Menschen nur einen ganz kleinen Teil des Lebens an sich. Es gibt mehr Lebensformen in unserem Magen – ohne Muskeln, ohne Ego und ohne Mutterprobleme – als alle Menschen, die je gelebt haben! Unsere Probleme mit unserer Sexualität sind ziemlich unbedeutend angesichts der Geschichte des Lebens!

    Die Arbeit auf der plasmatischen Ebene ist die unmittelbare und tiefe Arbeit am Leben selbst. Eine weitere Unterscheidung ist die, dass die plasmatische Reaktion eine ganzkörperliche Reaktion ist. Wenn wir den Körper eines klassischen Schizoiden betrachten, sehen wir Einförmigkeit – er ist lang und dünn. Es ist wenig oder überhaupt nichts von der klassischen Reichianischen Segmentierung zu erkennen, die die neuromuskuläre Struktur dominiert.

    Der Körper der neuromuskulären Struktur dagegen lässt sich gut in Segmente teilen. Die Entwicklung der Segmente hängt davon ab, welcher Körperteil vorrangig zum „Fest-Halten“ aufgerufen wurde, und das wiederum ist davon abhängig, welches Thema in der Entwicklung des Kindes zu diesem Zeitpunkt von Bedeutung war:
    Selbstbehauptung, Genitalität, Trennung, Symbiose, etc.

    So wie der Körper des Schizoiden sich nicht differenziert darstellt, so trifft selbiges auch auf den psychischen Bereich zu. Hier sehen wir weniger ein Zusammenbrechen aufgrund konkreter persönlicher Themen wie bei der neuromuskulären Struktur, vielmehr herrscht ein einziges Thema, vielleicht noch ein zweites vor: Angst um die eigene Existenz und möglicherweise die Wut über die Verletzung des Rechts auf die eigene Existenz. Alle schizoiden Verhaltensweisen sind auf diese zwei Themen zurückzuführen. Auch die unterschiedlichen individuellen Strategien, die die vorher erwähnten drei Klienten entwickelten, wurzeln in diesen Themen.

    Eine andere Unterscheidung hat zu tun mit dem Bindegewebe und der Muskelfunktion. Wir sagten schon früher, dass das Bindegewebe chronisch angespannten Muskeln zu Hilfe kommt, indem es sich gewaltsam durchsetzt. Muskeln haben die Fähigkeit schnell zu reagieren; sobald keine Gefahr mehr besteht, können sich sehr schnell wieder entspannen. Auf der plasmatischen Ebene trifft das auch zu, aber es trifft nicht auf das Bindegewebe zu. Die Bildung von unterstützendem zusätzlichem Bindegewebe geschieht nicht so plötzlich wie eine muskuläre Kontraktion.

    Die Muskeln werden als Antwort auf akute Stresssituationen eingesetzt. Das Bindegewebe als Antwort auf chronische. Sobald sich die Muskeln entspannen, restrukturiert sich das Bindegewebe. So wie es eine gewisse Zeit braucht, um sich zu entwickeln, so braucht es auch mehr Zeit als die einfache Entspannung der Muskelfasern, sich wieder zu restrukturieren.

    Die Implikationen für das therapeutische Handeln sind bedeutsam. Für eine vom Bindegewebe dominierte Struktur sollte der Prozess des Loslassens langsamer sein. Diese tiefen, frühen plasmatischen Störungen zu schnell anzugehen heißt, den Organismus zu überfordern. Es gibt kein unterstützendes Abwehrsystem, er bricht zusammen.

    Hier ist die Grenze des Versuchs in der Körperarbeit, die Abwehr zu „durchbrechen“. Bei neuromuskulär dominierten Strukturen kann das Durchbrechen von Widerständen schneller und mit weniger Risiko angegangen werden, obwohl das, unserer Meinung nach, nicht unbedingt wirkungsvoller ist. Es besteht dabei weniger die Gefahr, dass der Organismus überschwemmt und überfordert wird. Da aber die meisten Strukturen Mischtypen sind, kann, sobald das neuromuskuläre Abwehrsystem durchbrochen ist, das plasmatische System zusammenbrechen, woraus ernsthafte Probleme und potentiell gefährliche Situationen entstehen können. Das ist besonders in der Arbeit mit Schizoiden und mit Borderline-Strukturen ein Risiko. Das langsamere, schmelzende Modell der Wiederherstellung des Bindegewebes ist für diese Struktur – ebenso wie für alle anderen Strukturen – in jedem Falle vorzuziehen.

    In Tabelle 4 sind die Unterschiede zwischen dem kognitiven/ neuromuskulären und dem plasmatischen Kontinuum zusammengefasst.

    TABELLE 4

    Kognitives/neuromuskuläres Kontinuum – Plasmatisches Kontinuum

    Der schizoide Prozess ist eine ursprünglich-plasmatische Reaktion, die – in unterschiedlichem Maß – allen Charakterstrukturen zugrunde liegt.

    kognitive/neuromuskuläre Reaktion plasmatische Reaktion
    Nerven und Muskeln Bindegewebe
    willkürliche Muskulatur unwillkürliches Bindegewebe
    bewusst/kognitiv unbewusst/automatisch
    Zentrales Nervensystem Vegetatives Nervensystem
    spätere evolutionäre Entwicklung frühe Entwicklung
    lokalisierte/segmentierte Reaktion ganzkörperliche Reaktion
    sofortige Reaktion chronische Reaktion
    entspannt restrukturiert

    In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Ähnlichkeiten der Funktionen des Bindegewebes und des Abwehrsystems anhand des schizoiden Charakters aufzuzeigen.

    Ein später erscheinender Beitrag wird „Schock und Trauma“ zum Thema haben und wird ein Entwicklungsmodell zum Verständnis der Beziehung zwischen Bindegewebe und Muskelpanzerung enthalten. Weiters werden wir die Behandlung von Schizoiden durch das Verstehen der Funktionen von Plasma und Bindegewebe vorstellen.

    (Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz)

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    Bukumatula 4/1997

    Wilhelm Reich und die Philosophie, Teil 1

    Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
    Eberhard Krumm:

    Abstract

    „Wilhelm Reich und die Philosophie“

    Teil 1: Klärung des Verhältnisses von Reich zur Philosophie seiner Zeit, Anwendung seiner in „Äther, Gott und Teufel“ geübten Wissenschaftskritik auf die Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis Kant.

    Teil 2: Die Krise der Philosophie von Hegel bis Heidegger, die Anknüpfungspunkte von Dialektik, Lebens- und Existenzphilosophie an Reichs erkenntnis-theoretischen Begriff der orgonomischen Denktechnik als Ausgangspunkt einer Revolution der Philosophie.

    Biographische Notiz zum Autor:

    Eberhard Krumm M.A., *7.3.1959, studierte Philosophie, Geschichte und klassische Philologie an den Universitäten Mainz und Köln. Nach Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und als wissenschaftlicher Referent im bundesdeutschen Ministerium der Finanzen ist er seit 1990 Gymnasialprofessor an der HEBO-Privatschule Bonn.

    Ausgehend von seiner Ausbildung zum Beratungslehrer 1992/93 bei der Psychoanalytikerin Annette von Mühlendahl, Köln und insbesondere seiner eigenen Vegetotherapie bei dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien 1994/95, beschäftigt sich der Autor mit den pädagogischen und philosophischen Dimensionen des Lebenswerks von Wilhelm Reich. In verschiedenen deutschen Fachzeitschriften veröffentlichte Eberhard Krumm bislang Beiträge zur Suizidprävention und Suchtprophylaxe in Schulen und in der Festschrift für Leo Haupts „Streiflichter Neuerer Geschichte“ (Köln, 1992) den Aufsatz: „Hitler, Saddam Hussein und die List der Vernunft“.

    Eberhard Krumm

    Wilhelm Reich und die Philosophie

    (Vanessa Kuttig gewidmet) – Teil 1

    Titel mit dem Wörtchen „und“ in der Mitte sind stets mit Vorsicht zu betrachten, weil allzu oft durch die harmlose Konjunktion Dinge oder Menschen in einen Zusammenhang gebracht und in einem Atemzug genannt werden, die nicht zusammen gehören. Tucholsky hat das in seiner Satire „Hitler und Goethe“ zum Goethejahr 1932 trefflich vorexerziert. Damit mein folgender Essay zum Reichjahr 1997 nicht zur Satire wird, erfordert es die intellektuelle Redlichkeit zu klären, wie das „und“ im Titel gemeint ist.

    Ich werde mich in diesem Aufsatz in erster Linie auf Wilhelm Reichs Buch „Äther, Gott und Teufel“ beziehen, das 1949 veröffentlicht wurde und bis vor kurzem nur in Form eines Raubdrucks erhältlich war, aus dem ich auch zitiere. Zusammen mit „Cosmic Superimposition“ (1951) und „Der Christusmord“ (1953) gehört „Äther, Gott und Teufel“ zu den wichtigsten und ausführlichsten Abhandlungen im Spätwerk Reichs. Die drei genannten Bücher zeichnen sich meines Erachtens dadurch aus, dass Reich darin seine jahrzehntelangen Bemühungen und Forschungen in den verschiedensten wissenschaftlichen Einzeldisziplinen in einen übergeordneten – philosophisch zu nennenden? – Zusammenhang stellt.

    Die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, in denen Reich als – in meinen Augen! – DER herausragende Forscher und Entdecker dieses Jahrhunderts jenseits aller Nobelpreise Hervorragendes geleistet hat, hat David Boadella in seinem Vortrag „The four faces of Wilhelm Reich“ anlässlich der Eröffnung des, Reich aus Anlass seines 100. Geburtstags gewidmeten, 6. EABP-Kongresses in Wien im Palais Ferstel am 8. Mai 1997 deutlich umrissen und ausgeführt: Medizin, Psychologie, Biophysik und Soziologie.

    Die Entdeckungen und Forschungen Wilhelm Reichs in diesen vier Einzeldisziplinen sind geeignet, ihm in jeder einzelnen einen hervorragenden Rang zu sichern. In der Medizin als Entdecker der Krebsbiopathien und wirksamer Heilmethoden. In der Psychologie als Begründer der Vegetotherapie und damit der ursprünglichsten Form von Körperpsychotherapie, die als erste Therapieform die ganzheitliche, seelische, körperliche und geistige Heilung des Menschen und damit sein Glück ins Auge fasst, sein ungetrübtes vitales Lust- und Glücksempfinden.

    Das von der Vegetotherapie angestrebte Ziel ist ein fundamental anderes als das der Psychoanalyse, der es nach Freuds eigenen Worten lediglich angelegen ist, das „neurotische Elend in normales Unglück“ zu verwandeln. In der Biophysik wurde Reich zum Entdecker der Entstehung des organischen Lebens aus anorganischem, der Bione, der Plasmazuckung, der kosmischen Orgonenergie und der Möglichkeiten natürlicher Wetterbeeinflussung.

    Die Soziologie bereicherte Reich durch seine bestechende Analyse der Dynamik des Faschismus und der kapitalistischen sexuellen Zwangsmoral. Diese Vielschichtigkeit und Komplexität des wissenschaftlichen Wirkens Reichs ist um so erstaunlicher, als er sich in jeder dieser Wissenschaften profunde Kenntnisse aneignete. Während er Medizin und Psychologie an der Wiener Universität bzw. bei Sigmund Freud auf die übliche Weise studiert hatte, erwarb sich Reich seine biologischen, physikalischen und soziologischen Kenntnisse autodidaktisch, dies weit über das dilettantische Maß des „Mitreden-Könnens“ in diesen Disziplinen hinaus.

    Wer die kürzlich unter dem Titel „Jenseits der Psychologie“ veröffentlichten Briefe und Tagebücher Reichs aus den Jahren 1934-1939 liest, spürt seinen Eifer und die fast kindlich-neugierig-kreative Begeisterung, mit der er sich immer weiter auf dem für ihn wissenschaftlichen Neuland der Biophysik vortastet, wie er, von ihm unbeabsichtigt, ausgehend von der Entdeckung des Orgasmusreflexes, sich innerlich immer weiter gedrängt fühlt, vorzustoßen zu den biologischen Grundlagen des Lebens und dadurch immer tiefer, mittels der Methode von trail and error, auf die Gebiete der Physik und der Meteorologie vordringt. Reich hat sich als Forscher und Autodidakt auch nicht ein Quant geschont.

    Vertiefung und Absicherung seiner Überlegungen und empirischen Forschungsergebnisse waren ihm wichtiger als der Ruhm des Tages und die Anerkennung der Fachwelt, obwohl er sich diese sehr wünschte und ersehnte. Ich führe diese Sachverhalte so breit aus, um klar auf den Punkt zu bringen: Wilhelm Reich war, welche Vorbehalte seine Gegner ihm gegenüber auch immer hegen und welche Irrtümer unverpanzerte Wissenschaftler ihm heute nachweisen mögen, ein UNIVERSALGELEHRTER, wie ich neben ihm im 20. Jahrhundert keinen weiteren finde.

    Schon im 19. Jahrhundert waren Universalgelehrte vom Rang eines Goethe, Leibnitz, Bacon oder da Vinci unüblich geworden. Im 20. Jahrhundert schreitet der Prozess der Zersplitterung der Wissenschaften, der mit der Renaissance und der Aufklärung einsetzt, unaufhaltsam fort und die Fülle wissenschaftlichen Wissens wird derart immens, dass einem „ernsthaften“ Wissenschaftler nichts anderes übrig bleibt, als sich in kluger Selbstbescheidung zu spezialisieren.

    Am Ende des Jahrhunderts finden wir in den Wissenschaften, wie sarkastische Zungen behaupten, nur noch Spezialisten, die immer mehr über immer weniger wissen, bis sie schließlich alles über nichts und nichts über alles wissen. Wir finden kaum noch Wissenschaftler, die über den Rand ihres jeweiligen Fachgebietes hinausblicken, geschweige denn das Bemühen, die eigene Arbeit in einen historisch gewachsenen Gesamtzusammenhang des Lebens und Forschens zu stellen, den Blick für „das Ganze“, wie Reich ihn hatte.

    Dass dem so ist, hat seine Ursache wesentlich darin, dass die Philosophie seit der Aufklärung ihre Bedeutung als Grundlage aller Einzelwissenschaften, als Stamm am Baum der Erkenntnis, von dem die Einzeldisziplinen sich wie Äste verzweigen, sich aber vom Saft aus dem Stamm nähren, ohne den sie verdorren würden, als Bindeglied und Bindekitt und Nährboden der Wissenschaften, mehr und mehr eingebüßt hat. Die Philosophen selbst haben kräftig an der Demontage dieser Funktion der Philosophie mitgewirkt, insbesondere diejenigen, die, wie Edmund Husserl (1859-1938), bemüht waren, die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ zu retten.

    Zur selben Zeit und am selben Ort, als Reich seine Charakteranalyse und seine Vegetotherapie entwickelte, von der ausgehend er zum Universalforscher der Grundbedingungen kosmischen und menschlichen Lebens werden sollte, forderten Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und ihre als „Wiener Kreis“ mehr oder weniger berühmt gewordenen Kollegen die „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, also den Verzicht auf die universelle Perspektive und die scharfe Begrenzung der Philosophie auf die wissenschaftliche Logik.

    Damit hofften sie, die Philosophie als Definitions- und Kontrollinstanz aller anderen Wissenschaften und so auf neue Weise in ihrer alten Rolle wieder etablieren zu können. Dazu war es jedoch notwendig, sich vom Ballast unlogischer, d.h. nicht klar definierbarer oder nur willkürlich definierbarer Begriffe zu trennen. Zu diesen zählen sämtliche Begriffe der Metapyhsik, also solche, die jahrtausendelang zum Kernbestand philosophischer Fragestellungen gehörten wie Freiheit, Schönheit, Liebe, Wahrheit, Glück, Gut, Böse, Sein, Nichts.

    Für Alltagsgespräche unter Greisslern und Marktfrauen mögen diese Wörter taugen, in der analytischen Philosophie haben sie, gemäß Wittgensteins Maxime „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, keinen Platz. Dasselbe Schicksal, dass man darüber philosophisch schweigen muss, widerfährt nach dieser Philosophie Reichs Buch „Äther, Gott und Teufel“, dessen Titel schon aus nichts anderem als einer Aneinanderreihung wissenschaftlich undefinierbarer Begriffe der Metaphysik besteht.

    Lautete der Titel „Äther, Sprxx und Babib“, wäre dieser nach Auffassung des Wiener Kreises genauso sinnvoll. Indes: Reich selbst weist auf Seite 7 dieses seines Buches dezidiert den Anspruch zurück, mit seinen orgonomischen Forschungen eine Philosophie begründet zu haben: „Ich habe also nicht etwa eine `neue Philosophie´ entwickelt, die neben anderen oder in Zusammenarbeit mit anderen Lebensphilosophien das Lebendige menschlichem Begreifen näher zu bringen versuchte, wie manche meiner Freunde glauben. NEIN, ES LIEGT ÜBERHAUPT KEINE PHILOSOPHIE VOR.(fett/kursiv von Reich).

    Also weder behauptet Reich von sich, als Philosoph gelten zu wollen, noch würde er von seinen philosophischen Zeitgenossen des Wiener Kreises als solcher anerkannt werden. Mit anderen Worten: der verbindliche Titel dieses Essays, „Wilhelm Reich und die Philosophie“ ist als Irreführung entlarvt, das „und“ verbindet beide wie Somloer Nockerl mit vierstimmigen Barockmotetten. Man kann das eine essen und das andere dazu hören, aber damit hat es mit den Gemeinsamkeiten ein Ende, und auch dieser Essay könnte daher, mit herzlichem Dank für Ihre Aufmerksamkeit bis hierher, hier enden.

    Könnte, tut aber nicht! Denn da klafft noch jener Widerspruch, dass der Mensch Wilhelm Reich durchaus Philosoph in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes war, wenn er auch in keiner neueren philosophischen Tradition steht. Dass er als Gelehrter so universal dachte wie zuletzt vor ihm Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Dass er zu den Vorbildern, denen er sich ausdrücklich (ÄGuT S.6) verdankt, die Philosophen Lange, Nietzsche, Engels und Bergson zählt. Dass er in „Äther, Gott und Teufel“ ein erkenntnistheoretisches, in „Die Funktion des Orgasmus“ ein moralphilosophisches Jahrhundertproblem auf zwei bis vier Seiten einer verblüffenden Antwort zuführt.

    Dass seine „orgonomische Denktechnik“, die er in „Äther, Gott und Teufel“ vorstellt, nichts anderes darstellt, als was die Philosophie jahrhundertelang gegolten hat: als Grundlage der Einzelwissenschaften, als Stamm am Baum der Erkenntnis, als Rahmen aller wissenschaftlichen Detailforschung. Ein sehr beweglicher Rahmen, zugegeben, beweglich wie Hegels Dialektik und damit der Lebendigkeit menschlichen Lebens angemessen. Diesen genannten Widersprüchen will dieser Aufsatz weiter nachspüren.

    Reichs Wissenschaftskritik und die Aufgabe des Denkens

    Wenn Reich, der nichts dagegen hatte, als Mediziner, Psychotherapeut, Biologe, Physiker und Soziologe von Rang zu gelten, es so dezidiert ablehnte, zu den Koryphäen der Philosophie gezählt zu werden, so deshalb, weil er sich nicht nur nicht identifizieren wollte mit dem, was Philosophie in der Ausprägung des Wiener Kreises geworden ist und was er mit dem brutalen, aber treffenden Terminus „mindfuck“ bezeichnet hätte, sondern weil er vehement ankämpfte gegen eine Philosophie, die er nur als Interpretationsmodell der Wirklichkeit kennenlernte, welches aus Angst vor der Wirklichkeit die Wirklichkeit weginterpretiert.

    Die beiden Fluchtwege aus der Wirklichkeit lebendiger Gefühle versieht Reich in „Äther, Gott und Teufel“ mit den Etiketten „mechanisch“ und „mystisch“. Ich werde im Folgenden die Berechtigung dieser von Reich vorgenommenen Etikettierung aufzeigen und in einen philosophiegeschichtlichen Bezug stellen, den Reich selbst nicht vorgenommen hat. Aus diesem Bezug wird aber seine Kritik an den „mechanisch-mystischen Strukturen“ einer „maschinell-mystisch bedingten Zivilisation“, die, ebenso wie die im Zerfall befindliche, diese Zivilisation getragen habende Philosophie, in eine lebensbedrohliche Krise geraten ist, verständlich.

    Wer Philosophie weder als mechanistisch-logische Analyse von Sprachphänomenen versteht, noch als mystische Spekulation über das Unbegreifliche begreift, sondern als „lebendigen Pulsschlag, der alles auf dem Laufenden hält“, wie der Mainzer Philosoph Richard Wisser dies in seinem 1996 erschienenen Buch „Philosophische Wegweisung“ tut, für den ist Reichs Kritik Ausgangspunkt der Wegweisung eines Auswegs, des Auswegs aus der Krise der modernen Zivilisation und ihrer verpanzerten Denkstrukturen. Und zwar ein philosophischer, weil von der Liebe zum Wissen erarbeiteter – die Liebe, die Arbeit und das Wissen sind die Quellen unseres Lebens, sie sollten es auch beherrschen! Reichs Lebensmotto!- Ausgangspunkt.

    Die Philosophie in ihrer akademischen Form vermag, nach meiner Auffassung, diesen Ausweg nicht zu weisen, denn die Philosophie ist am Ende des 20. Jahrhunderts selbst am Ende, sofern sie nicht zu ihrem Ursprung zurück findet. Martin Heidegger (1889-1976), dem Wittgenstein und Carnap allerdings gleichfalls das Recht aberkennen, als Philosoph zu gelten, hat mit seinem 1964 gemachten Ausspruch vom „Ende der Philosophie und der Aufgabe des Denkens“ diesen Weg zurück zum Ursprung aufgewiesen, in einer Form indes, die wegen ihrer Abgrenzung zum mechanistischen Weltbild, wegen ihrer „Kehre“ von der Technik, wieder in die Gefahr des Mystizierens gerät.

    Und doch ist das, was Heidegger mit der „Aufgabe des Denkens“ meint nicht ganz und gar unähnlich dem, was Reich in „Äther, Gott und Teufel“ als seine orgonomische, funktionelle Denktechnik vorstellt. Denn nicht die mechanistischen oder mystischen Weltbilder, die Philosophen entworfen haben, sind der Ursprung der Philosophie, sondern jenes ganzheitliche, aus der Emotion gespeiste, ganz dem zu Erkennenden offen zugewandte Denken, von dem Heidegger auf der ersten Seite seiner Vorlesung aus dem Jahre 1951 „Was heißt denken?“ spricht: „Das Bedachte ist das mit einem Andenken Beschenkte, beschenkt, weil wir es mögen. Nur wenn wir das mögen, was in sich das zu-Bedenkende ist, vermögen wir das Denken.“

    Der eigentliche Sinn der Philosophie

    Der Ursprung der Philosophie im abendländischen Denken wird in allen mir bekannten philosophiegeschichtlichen Darstellungen bei den Griechen, und zwar bei den Vorsokratikern ausgemacht. Deren erkenntnishaftes Streben richtet sich in erster Linie auf die Suche nach einem Urprinzip des Lebens: Thales von Milet fand solches im Wasserstoff, Anaximander im Wirbel (sehr ähnlich Reichs „Cosmic Superimposition“), Demokrit in den Atomen, Empedokles von Agrigent in den Mischungen der vier Urelemente, Heraklit im antagonistischen Gegensatz der Lebensfunktionen. Die Vorsokratiker dachten weder mechanistisch noch mystisch in dem von Reich gemeinten Sinne.

    Ihre Erkenntnis- und Denkmethoden sind denen Reichs sehr ähnlich, entsprechend auch ihre Ergebnisse, die sie natürlich nicht mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium überprüfen konnten, das Reich zur Verfügung stand.Am Beginn ihres Forschens und Denkens steht das Staunen, ihr Weg, ihre Methode, ist das empirische Prüfen und Beweisen ihrer Annahmen, ihr Ziel die Erklärung der Gesetze des Lebens, wie es sich zeigt. Insbesondere Heraklit und Anaximander stießen dabei auf ebenso erstaunliche Paradoxe wie Reich in seiner Bionenforschung. Aber schon bald traten neben den vorsokratischen Naturforschern und Philosophen die „kleinen Männer“ auf, die Reich in seinem Buch „Rede an den kleinen Mann“ (1947) so treffend beschrieben hat. Diese Wissenschaftler nannten sich „die Wissenden“, „Sophisten“ (Sophia = griechisch: die Weisheit).

    Den Sophisten kam es weniger auf das ernsthafte Forschen an als darauf, mit ihrem Wissen Geld zu machen, und sie bedienten sich dazu der Rhetorik und geschickter Werbetricks. Wissenschaft wurde ihnen zum Denkmodell und Sprachspiel, mittels dessen sie die Wirklichkeit nach Belieben auslegten; noch heute bezeichnet das englische Adjektiv „sophisticated“ jenes spitzfindige Denken, das die Köpfe verwirrt und das Offensichtliche in sein Gegenteil verkehrt.

    Gegen diese Sophisten und ihre Weisheit des Wissens begründet Sokrates (469-399 v.Chr.) seine Weisheit des staunenden Nicht-Wissens, das er Philosophie nennt (philein = griech.: lieben; Philosophie = Liebe zur Weisheit). Philosophie im Gegensatz zur Sophie bedeutet, dass ich das Wissen nie sicher in der Tasche als Besitz verfügbar habe, sondern dass ich dieses Wissen umwerben muss wie eine schöne Frau und von ihm im Innersten ergriffen, berührt, elektrisiert werden kann. Sokrates´ berühmtester und meist falsch zitierter Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ verteidigt den staunenden und zweifelnden Blick auf die Wirklichkeit und die Demut vor der Fülle des Wissbaren.

    Der Satz des Sokrates lautet korrekt: „Ich weiß, dass ich nicht – nicht nichts! – weiß“, und zwar: „peri ton megiston“, also hinsichtlich der größten Dinge, der wirklich wichtigen Fragen, kenne ich mich nicht aus. Jedes Kind kann wissen, dass zwei mal zwei vier ergibt, aber auf die Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Welchen Sinn hat mein Dasein?, auf diese Fragen wissen auch die Klügsten nichts, sondern können nur glauben oder glauben zu wissen. Diese Fragen lassen sich lediglich durch hingebungsvolles, demütiges, liebendes, sehnsüchtiges Forschen an der Sache mehr und mehr erhellen.

    Und es kann geschehen, dass ich, wie Sokrates, Giordano Bruno oder Wilhelm Reich für diese Liebe zur Weisheit, die mit der Freiheit des Fragens nach der Wahrheit einhergeht, bereit sein muss, ins Gefängnis zu gehen und mein Leben zu opfern. Diese geistige Haltung und nichts Geringeres steht hinter dem ursprünglichen Begriff von Philosophie, und in dieser Hinsicht ist Wilhelm Reich ein Philosoph ersten Ranges.

    Die „mystische“ Tradition der Philosophie

    Sokrates´ Schüler Platon (427-347 v.Chr.) litt unter der Begrenzung unseres Wissens so sehr, oder, anders formuliert: seine Sehnsucht, doch mehr über die größten Dinge, für die Sokrates bereit war, sein Leben zu geben, die „ewigen Wahrheiten“ und Gewissheiten wissen zu wollen, war so groß, dass er die Spannung nicht aushielt, die Spannung des Unterwegs-Seins auf etwas zu, das sich mir doch immer wieder entzieht und das ich nicht sicher festhalten kann.

    Aus dieser, in ihrer emotionalen Unsicherheit bedrohlichen und mit Sehnsucht hochgeladenen Wirklichkeit, wählte Platon den „mystischen“ Ausweg: er dachte sich zu dieser unvollkommenen, vergänglichen, stets in Bewegung befindlichen Welt mit ihren Unwägbarkeiten eine ideale Welt, ewig, perfekt und unwandelbar, hinzu. Diese Welt beschrieb er als die eigentlich reale, die wirklich greifbare Welt wurde dadurch irreal; very sophisticated, diese Wendung, nur ist Platons Motiv, die Sehnsucht nach dem Vollkommenen, ein völlig anderes als das der Sophisten mit ihrer Gier nach Geld und Macht.

    Von jener jenseitigen Welt der Ideen, die Platon konstruierte, war unsere diesseitige Welt in seinem Verständnis nur abgeleitet. Das vergängliche und wandelbare und unsichere Leben in dieser Welt mit seinen Werten steht zur ewigen Welt der Ideen im selben Verhältnis wie der Schatten zum Licht: das Licht ist das Wahre, der Schatten nur Schein, das Licht kann ohne Schatten sein, aber nicht umgekehrt. Die Ausbildung dieser, rein theoretischen, Ideenlehre ist Platons große philosophische Leistung. Sie ist kein so aberwitziger „mindfuck“, als sie nach meiner bisherigen Darstellung den Anschein hat. Denn wiewohl Platon fast 2350 Jahre tot ist, leben seine Ideen, ewig und unwandelbar, weiter.

    Der Philosoph Günther Anders (1902-1993) behauptet in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ sogar, mit der Erfindung der Atombombe 1945 habe erst das wahrhaft platonische Zeitalter begonnen, der Sieg der Idee oder des Rezepts über die Sache. Gemeint ist: selbst wenn alle Regierungen der Welt sich entschlössen, die Atomwaffen von heute auf morgen abzuschaffen, kann doch die Idee, die Bauanleitung der Bombe, von der jede reale Bombe nur ein Abbild ist, nicht mehr abgeschafft werden. „Was einmal gedacht worden ist, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ – dieser Satz Dürrenmatts kennzeichnet Segen und Fluch des Platonismus. Das Beispiel mit der Atombombe macht deutlich, warum Platons Ideenlehre, die eben nicht nur eine „mystische“, sondern auch eine „mechanistische“ Seite hat, alles andere als fauler Zauber ist, so sehr sie auch sonst der mystischen Verzauberung des Theoretischen gegenüber dem banal Praktischen Vorschub geleistet hat.

    Platons Ideenlehre hattte immense Folgen, sie bestimmt bis heute das philosophische Denken. Nach der von Platon begründeten, im Akazienwäldchen (= griech.: akademos) vor Athen gelegenen Schule, nennen sich bis heute sämtliche wissenschaftlich gebildeten Menschen Akademiker. Ich habe keine Ausführungen Reichs über Platon gefunden, aber Nietzsche, den Reich sehr schätzte, nach meinem Empfinden am meisten unter allen Philosophen, hat klar kenntlich gemacht, was Platons Philosophie bewirkte: zum einen die Verlagerung des Schwerpunktes philosophischen Forschens in ein imaginäres Jenseits, aus der Physik in die Metaphysik – dieser Begriff wiederum stammt von Platons Schüler Aristoteles (384-322 v.Chr.), der den Weg seines Lehrers, mit einer anderen Methode, fortsetzte – mit Reichs Worten gesprochen: die Mystifizierung des Denkens.

    Zum anderen, und damit einhergehend, die Abwertung des vergänglichen, irrationalen, körperlichen Lebens zugunsten des ewigen, rationalen, rein geistigen Lebens. Der Begriff der „platonischen Liebe“ macht dies in besonderer Weise evident. Platon definiert in seinem Dialog „Symposion“ die menschliche Liebe als „die Sehnsucht, im Schönen zu zeugen“ (Symposion, 207a ff). Diese Sehnsucht richtet sich auf Überwindung der Sterblichkeit. Die Zeugung im körperlich Schönen verschafft dem Menschen eine kurzzeitige, das individuelle Leben überdauernde Unsterblichkeit im Andenken der gezeugten Kinder und Kindeskinder, die von seiner Existenz Zeugnis ablegen.

    Der Lehrer jedoch, der nicht im körperlich Schönen, sondern mittels seiner Lehren im seelisch Schönen, den aufnahmebereiten Seelen seiner Schülerinnen und Schüler zeugt, bleibt für alle Zeiten durch seine Lehren unsterblich; jede Unterrichtsstunde ist ein geistiger Zeugungsakt. Der kinderlose Platon hat dies am eigenen Leib bewiesen. Entsprechend dem Konzept der platonischen Liebe und der Ausrichtung auf das Geistig-Ideele schlechthin, lehrt Platon die Unterdrückung der Triebe und die Zügelung der Gefühle durch den Geist; seine entsprechenden Ausführungen im IV. Buch seines Werkes über den Staat, „Politeia“, zeigen erstaunliche Parallelen, allerdings auch Gegensätze zum Seelenmodell Freuds.

    Als Ursprung allen Lebens sah Platon die „Idee des Guten“. Diese war leicht mit den religiösen Vorstellungen von Gott, die ewige Welt der Ideen leicht mit religiösen Jenseitsvorstellungen in Einklang zu bringen. Die Integration des Platonismus in das Christentum vollzog Augustin von Hippo (354-430 n.Chr.). Die Körperfeindlichkeit Platons fand ihr Pendant in der Leibfeindlichkeit des Apostel Paulus, der, nach Reichs Interpretation in „Der Christusmord“, gezwungen war, zu tun, was Platon aus freien Stücken tat, nämlich die Körperlichkeit vehement zu bekämpfen, auch wenn dadurch der Irrweg der körperlich-charakterlichen Verpanzerung der Menschheit zu einer breiten Straße ausasphaltiert wurde.

    Paulus bekämpfte Sex und Körperlichkeit, um den spirituellen Gehalt des Christentums zu retten und die Botschaft Jesu von der allumfassenden göttlichen Liebe davor zu bewahren, so Reich, zu einer „Bordellreligion“ zu degenerieren, die den permissiven Geschlechtsverkehr eines jeden mit jedem propagiert. Böse Zwischenfrage: Wo bleibt Reichs Apostel heute, der den spirituellen Gehalt seiner Orgonomie, bei gleichzeitigem Abbau der Verpanzerung der Menschheit, rettet?

    Die Philosophie Platons und seines Schülers Aristoteles, der mit seinen Ausführungen über Gott als den „unbewegten Beweger“ und Urgrund allen Seins den ersten Gottesbeweis lieferte, dem noch viele folgen sollten, blieben im gesamten Mittelalter der fest vorgeschriebene Rahmen wissenschaftlichen Forschens in einem vom geistigen Gehalt des Katholizismus und der politischen Macht der katholischen Kirche bestimmten Europa. Aus der „Liebe zur Weisheit“ wurde die „Magd der Theologie“. Als mit der Renaissance Gestalten wie Giordano Bruno (1542-1600) oder Galileo Galilei (1564-1642) aus diesem Rahmen aus zu brechen versuchten, wurden sie von der Inquisition zum Tode verurteilt.

    Bruno starb auf dem Scheiterhaufen, Galilei rettete sein Leben, indem er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerrief. Mit beiden hat Reich sich sehr stark identifiziert, entsprechend vehement und scharf ist sein Urteil über jenes mystische, emotionell pestilente Denken, das den Tod dieser Wissenschaftler bzw. ihre öffentliche Entehrung zur Folge hatte.

    Die Philosophie Platons begründet, wie wir gesehen haben, die – in Reichs Begriff – „mystizistische“ Tradition in der abendländischen Philosophie. Sie prägt mit ihrer scharfen Dichotomie zwischen Jenseits-Diesseits, Rational-Irrational, der Idee des Guten-Welt des Bösen, Geist-Körper, später die christliche Theologie und mit der christlichen Theologie die Geisteswelt des Mittelalters. Als mit der Reformation und der Renaissance sich die Philosophie wieder von der Bevormundung durch die Theologie emanzipiert und damit das Zeitalter der katholisch-platonisch-aristotelischen Vorherrschaft über das Geistesleben zu Ende geht, sehen sich die Philosophen dem Zwang zur Neuorientierung ausgesetzt. Sie gehen dabei hinter das Christentum in die griechisch-heidnische Antike zurück, nicht aber hinter Platon.

    Die „mechanistische“ Tradition der Philosophie

    Nachdem Luther, Erasmus, Calvin, Kepler, Kopernikus, Galilei und Bacon bisher unzweifelhafte Wahrheiten demontiert hatten, war wieder Platz für den philosophischen Zweifel, den Platon ja beseitigt hatte mit seinen ewigen Gewissheiten. In seiner radikalen Form formulierte diesen Zweifel Rene‘ Descartes (1596-1650). Er stellte nicht, wie man hätte erwarten können, die Konstruktion der metaphysischen Ideenwelt, die zur Selbstversklavung der Philosophie unter die Theologie geführt hatte – und damit den menschlichen Geist – in Frage.

    Er kehrte nicht zum Ausgangspunkt der Philosophie, der Fragestellung der Vorsokratiker nach dem Ursprung des Lebendigen und der Bedeutung des Lebens zurück. Dafür war die Abwertung des körperlich Lebendigen und die seelische Verpanzerung der Menschheit nach 2000 Jahren Platonismus und 1500 Jahren Stoizismus offenbar schon zu weit fortgeschritten. Nein, im Ozean des Zweifels blieb Descartes nur eine einzige Gewissheit: dass sein Geist es war, der da zweifelte. Und nur über diese Tätigkeit, diese mechanische Funktion seines Geistes, vergewisserte sich Descartes seiner selbst.

    Nicht sein Pulsschlag, nicht seine regelmäßig wiederkehrenden Atemzüge, nicht sein Tastsinn, verschafften ihm Gewissheit über seine Existenz, sondern allein der Gedanke, dass er sich dachte. COGITO, ERGO SUM! – „Ich denke, also bin ich“, ist die berühmte Formel Descartes´, und mit dieser Formel setzt er eine neue Dichotomie in die Welt an Stelle der alten platonischen: den Dualismus zwischen res cogitans (= der denkenden Sache, dem Geist) und der res extensa (= der ausgedehnten Sache, der Natur).

    Beides bleibt rein weltimmanent, unberührt von der Sehnsucht nach einem Jenseits. Beides bleibt rein sachlich, das Persönliche wird völlig sekundär, dafür sorgt schon allein Descartes´ Wortwahl. War in der Philosophie Platons der Körper mit seiner irrationalen Triebhaftigkeit noch etwas Gefährliches, das es mittels des Geistes im Zaum zu halten galt, so wird in der Philosophie des Descartes der Körper zum rein mechanischen, passiven Werkzeug des Geistes, für denselben ohne Belang.

    Verstand Platon und insbesondere sein berühmtester späterer Interpret Plotin (204-270 n.Chr.) unter Meditation den ekstatischen Aufschwung des Geistes zur mystischen Vereinigung mit der Idee, so wird Meditation bei Descartes und seinem späteren Interpreten, dem schon genannten Edmund Husserl, zur reduktionistischen Schau der allem Persönlichen entkleideten Phänomene an sich. Übrig bleibt der Philosophie in diesem Denken die skeptisch-rationale Suche nach unbezweifelbaren Gewissheiten, mittels derer es möglich werden sollte, diese Welt besser in den Griff zu bekommen.

    Die Philosophie des Descartes erwies sich als ebenso attraktiv und mächtig, wenn nicht gar attraktiver als die Philosophie Platons für die von der Fülle und Kraft des Lebendigen verängstigten und verunsicherten Menschen, denen nach dem mystischen Ausweg nun der mechanistische aufgezeigt wurde. Der Rationalismus Descartes´ beeinflusst das gesamte Zeitalter der Aufklärung. Wie an Platon auch, kam an ihm keiner der späteren Philosophen vorbei, sei es, dass sie sich an seiner deduktiven Denkmethode orientierten, wie Leibnitz (1646-1716) oder die induktive Methode wählten wie Locke (1632-1704). Es war der „Alles-Zermalmer“ Immanuel Kant (1724-1804), der die letzten Reste des platonischen Mystizismus zermalmte, sprich: aus dem Reich der Philosophie in das Reich des Glaubens verbannte.

    Und es war derselbe Kant, der den Rationalismus eines Leibnitz und den Empirismus eines Locke, beide herkommend vom maschinistischen Denken Descartes´, in eine Synthese brachte. Kants Ziel war es, den Menschen „den Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu eröffnen, und er fand diesen Ausgang aus der Unmündigkeit keinesfalls im Mund, im Timbre der menschlichen Stimme, also etwas Körperlichem, sondern in der Kritik, also im Denken. Schon die Titel von Kants drei Hauptwerken: „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ zeigen, dass es Kant um das Denken und nichts als das Denken geht.

    Sein Motto: „Sapereaude!“ wird in aller Regel mit: „Wage, (selbständig) zu denken“ übersetzt. Mit diesem Motto wurde Kant zum Inbegriff der Aufklärung. Dabei bedeutet das lateinische Verb „sapere“ erst in zweiter Linie „wissen, denken“, in erster Bedeutung heißt es „schmecken, riechen“. Der „homo sapiens“ ist einer, der weiß, nachdem er geschmeckt hat; in der oralen Phase eignen wir uns unser gesamtes Wissen durch das Schmecken und Riechen an. Aber mit: „Wage es zu schmecken!“ lässt sich im mechanistischen Denken – im mystizistischen auch nicht – kein Staat machen. Durch Schmecken und Riechen lässt sich „nur“ geniessen. Wissen hingegen ist Macht. Was faul ist am Zauber Platons und faul an der Klarheit der Aufklärung, lässt sich durch das reine Denken schwer erklären, wohl aber intuitiv erriechen und erschmecken.

    Es ist wahrscheinlich, so meine ich, kein Zufall, dass zeitgleich mit Kants Kritiken, die das Denken ungemein erhellen, die Dampfmaschine und der mechanische Webstuhl das Licht der Welt betreten. Das industrielle Zeitalter beginnt, die Unterordnung des Lebens unter die Maschine. Und so, wie die Philosophie Platons und Aristoteles´ die Knechtung des vitalen körperlichen Lebens durch die politisch-geistige Macht der katholischen Kirche im Mittelalter begünstigen, so begünstigen die Theorien eines Descartes und eines Kant, dem zudem das unvergleichliche Verdienst zukommt, in der Moral den Begriff des „Glücks“, an dem Platon, Aristoteles und das ganze Mittelalter als Ziel ethischen Handelns eisern festgehalten hatten, durch den Begriff der Pflicht ersetzt zu haben, die Knebelung der natürlichen Lebendigkeit durch die Macht der Maschinen und des maschinellen Produktionsprozesses.

    Ich gestatte mir an dieser Stelle eine persönliche Zwischenbemerkung: ich halte mit Reich die mystizistische wie die mechanistische Interpretation der Welt auf rein „kopfiger“ Basis für große Irrwege der Menschheit. Ich bemerke, dass Reich aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Vorbildung dem Mystizismus ablehnender gegenüber steht als dem Maschinellen. Ich finde jedoch das in der Philosophie von Descartes angerichtete Übel unvergleichlich schlimmer als die von Platon zu verantwortenden Folgen.

    Philosophen gegen Mystik und Mechanik

    Eine weitere Zwischenbemerkung: der Gang der Darstellung philosophiegeschichtlicher Entwicklungen ist, der räumlichen Begrenzung des Essays und der Länge des Denkweges angemessen, ein Gang im prestissimo, vieles wird übergangen. Der Blick des Wanderers ist zudem ein sehr subjektiver, vieles wird übersehen. Mir geht es darum, zu zeigen, wie Reichs Wissenschaftskritik in „Äther, Gott und Teufel“, die in erster Linie eine Kritik an der Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und der Psychologie ist, eine sehr philosophische Dimension hat und auf die Philosophie als Fundamentalwissenschaft vom menschlichen Denken ohne weiteres anwendbar ist.

    Dies trotz und mit Reichs klarer Abgrenzung zur klassischen Philosophie und in Anerkennung seiner eigenen Ansicht, dass Kritik keine neue Philosophie schafft. Eingefleischte Platoniker, Aristoteliker, Cartesianer oder Kantianer werden gegen meine Darstellung der Philosophiegeschichte von Thales von Milet bis Kant im prestissimo und im Licht des Reichschen Schemas „mystisch-mechanistisch“ manche berechtigte Einwände vorbringen können. Daran wird sich die Gegenfrage anschließen: halten diese Einwände dem Erkenntniskriterium der orgonomischen Denktechnik, das Reich entwickelt hat und auf das ich noch zu sprechen kommen werde, Stand?

    Ist die Geschichte der Philosophie, weitere Frage, wirklich eine Geschichte der zunehmenden Charakterpanzerung der Philosophen, einer immer klarer sich ausprägenden Schizophrenie, erwachsend aus der immer größer werdenden Abspaltung des Fühlens vom Denken, der immer weiter auseinander klaffenden Dichotomie von Körper und Geist? Ich meine: Ja! Ich meine weiter: ihre Klimax hat diese Geschichte in der Gestalt und der Philosophie Immanuel Kants erreicht. Mit seinen Nachfolgern Fichte (1762-1814) und dem schon erwähnten Hegel beginnt der Kampf um die Wiederentdeckung des Körpers in der Philosophie. Ein bis heute andauernder, mühseliger und zäher Kampf, weil die im Schutz der körperfeindlichen Traditionen der Philosophie sicheren Denker das lang gehaltene Terrain natürlich erbittert verteidigten – und auch nach wie vor in der Überzahl sind.

    Zwischen Platon und Kant gab es auch durchaus einige Philosophen, die den Verrat am Körper nicht mitmachten oder so weit als möglich gut zu machen versuchten. Unter „ernsthaften“ Philosophen gelten diese bestenfalls als Außenseiter, in aller Regel als bloße „Schriftsteller“, die man nicht ernst nehmen muss. Ich nenne zwei: Epikur (341-270 v.Chr.) und Blaise Pascal (1623-1662). Epikur erklärte den Ursprung des Lebens wieder auf vorsokratische Weise durch Anlehnung an das Atmomodell Demokrits.

    Die Bedeutung des Lebens sah er darin, zum höchstmöglichen Maß an Lebensgenuss und Lebenslust zu gelangen. Unerlässliche Vorbedingung der Genussfähigkeit war ihm die Freiheit von Angst. Das Gefühl Angst nahm Epikur für einen Philosophen ungewöhnlich ernst. Seine Methode der Therapie von Angstneurosen steht denen der systemischen Therapie oder der Verhaltenstherapie in nichts nach. Als höchste Lust empfand Epikur die Ataraxie, die innere Gelassenheit.

    Sie ist die Frucht von Selbstakzeptanz und Selbstdisziplin, die einen zum Genuss körperlicher und geistiger Freuden befreien. Alles wunderbar nachzulesen in seinem nur zehn Abschnitte umfassenden Brief an Menoikeus. Die Ausgabe der Schriften Platons umfasst sechs dicke Bände, die erhaltenen Schriften Epikurs sind in einem Reclambändchen erhältlich, das nicht dicker ist als eine Scheibe Geselchtes in einem Wiener Heurigenlokal. Ich betone: erhaltene Schriften, denn das Meiste von Epikur ist untergegangen oder vernichtet worden.

    Die Mönche des Mittelalters, deren Geduld und Hingabe im immer neuen Abschreiben der antiken Codices wir die Überlieferung der Schriften Platons und Aristoteles´ oder der Stoiker verdanken, saßen wahrscheinlich oft genug mit Krämpfen über Sätzen wie: „Der in sich unbeschwerte Mensch ist auch dem anderen keine Last“ (Epikur: Lehrsatz 79), oder: „Die Tugenden sind ursprünglich verwachsen mit dem lustvollen Leben und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar“ (Brief an Menoikeus, DL X, 131). Wenig Mystik ist in diesen Sätzen.

    Blaise Pascal, der wegen seiner Untersuchung der Kegelschnitte als Mathematiker berühmt geworden ist – als Philosoph wäre er wahrscheinlich „vergessen“ worden – verteidigte gegenüber seinem Zeitgegossen Descartes und dessen mechanistischer Logik die „raison du coeur“, die „Logik des Herzens“, die ihm wichtiger und reiner ist als die Logik des Verstandes.

    Pascals kleine Schrift „Pensees“, „Gedanken“, ebenfalls nicht umfangreicher als das Gesamtwerk Epikurs, enthalten so erstaunliche Sätze wie: „Beschreibung des Menschen: Abhängigkeit, Wunsch nach Unabhängigkeit, Bedürfnisse“ (Nr. 69), oder: „Zweierlei unterrichtet den Menschen über seine Natur: der Instinkt und die Erfahrung“ (Nr. 124), oder: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier und das Unglück will, dass, wer den Engel will, das Tier macht“ (Nr. 154). Wenig Zutrauen zur Mechanik ist in diesen Sätzen.

    Reich hätte an Epikur und Pascal seine Freude gehabt, hätte er ihr Werk kennen gelernt. Hätte er es kennen lernen können? Natürlich, wer sucht, der findet, insbesondere der Universalgelehrte. Wie leicht man fündig wird, werden Sie, liebe Leserinnen und Leser dieses Aufsatzes unschwer erkennen, wenn Sie in den Vorlesungsverzeichnissen philosophischer Fakultäten Ausschau halten nach Übungen über Kant und Wittgenstein und im Vergleich über Epikur und Pascal.- Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg!

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