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Bukumatula 4/1997

Wilhelm Reich und die Philosophie, Teil 1

Szenen aus dem Buch der „Traumvater“ von Peter Reich, zusammengestellt von
Eberhard Krumm:

Abstract

„Wilhelm Reich und die Philosophie“

Teil 1: Klärung des Verhältnisses von Reich zur Philosophie seiner Zeit, Anwendung seiner in „Äther, Gott und Teufel“ geübten Wissenschaftskritik auf die Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis Kant.

Teil 2: Die Krise der Philosophie von Hegel bis Heidegger, die Anknüpfungspunkte von Dialektik, Lebens- und Existenzphilosophie an Reichs erkenntnis-theoretischen Begriff der orgonomischen Denktechnik als Ausgangspunkt einer Revolution der Philosophie.

Biographische Notiz zum Autor:

Eberhard Krumm M.A., *7.3.1959, studierte Philosophie, Geschichte und klassische Philologie an den Universitäten Mainz und Köln. Nach Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und als wissenschaftlicher Referent im bundesdeutschen Ministerium der Finanzen ist er seit 1990 Gymnasialprofessor an der HEBO-Privatschule Bonn.

Ausgehend von seiner Ausbildung zum Beratungslehrer 1992/93 bei der Psychoanalytikerin Annette von Mühlendahl, Köln und insbesondere seiner eigenen Vegetotherapie bei dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien 1994/95, beschäftigt sich der Autor mit den pädagogischen und philosophischen Dimensionen des Lebenswerks von Wilhelm Reich. In verschiedenen deutschen Fachzeitschriften veröffentlichte Eberhard Krumm bislang Beiträge zur Suizidprävention und Suchtprophylaxe in Schulen und in der Festschrift für Leo Haupts „Streiflichter Neuerer Geschichte“ (Köln, 1992) den Aufsatz: „Hitler, Saddam Hussein und die List der Vernunft“.

Eberhard Krumm

Wilhelm Reich und die Philosophie

(Vanessa Kuttig gewidmet) – Teil 1

Titel mit dem Wörtchen „und“ in der Mitte sind stets mit Vorsicht zu betrachten, weil allzu oft durch die harmlose Konjunktion Dinge oder Menschen in einen Zusammenhang gebracht und in einem Atemzug genannt werden, die nicht zusammen gehören. Tucholsky hat das in seiner Satire „Hitler und Goethe“ zum Goethejahr 1932 trefflich vorexerziert. Damit mein folgender Essay zum Reichjahr 1997 nicht zur Satire wird, erfordert es die intellektuelle Redlichkeit zu klären, wie das „und“ im Titel gemeint ist.

Ich werde mich in diesem Aufsatz in erster Linie auf Wilhelm Reichs Buch „Äther, Gott und Teufel“ beziehen, das 1949 veröffentlicht wurde und bis vor kurzem nur in Form eines Raubdrucks erhältlich war, aus dem ich auch zitiere. Zusammen mit „Cosmic Superimposition“ (1951) und „Der Christusmord“ (1953) gehört „Äther, Gott und Teufel“ zu den wichtigsten und ausführlichsten Abhandlungen im Spätwerk Reichs. Die drei genannten Bücher zeichnen sich meines Erachtens dadurch aus, dass Reich darin seine jahrzehntelangen Bemühungen und Forschungen in den verschiedensten wissenschaftlichen Einzeldisziplinen in einen übergeordneten – philosophisch zu nennenden? – Zusammenhang stellt.

Die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, in denen Reich als – in meinen Augen! – DER herausragende Forscher und Entdecker dieses Jahrhunderts jenseits aller Nobelpreise Hervorragendes geleistet hat, hat David Boadella in seinem Vortrag „The four faces of Wilhelm Reich“ anlässlich der Eröffnung des, Reich aus Anlass seines 100. Geburtstags gewidmeten, 6. EABP-Kongresses in Wien im Palais Ferstel am 8. Mai 1997 deutlich umrissen und ausgeführt: Medizin, Psychologie, Biophysik und Soziologie.

Die Entdeckungen und Forschungen Wilhelm Reichs in diesen vier Einzeldisziplinen sind geeignet, ihm in jeder einzelnen einen hervorragenden Rang zu sichern. In der Medizin als Entdecker der Krebsbiopathien und wirksamer Heilmethoden. In der Psychologie als Begründer der Vegetotherapie und damit der ursprünglichsten Form von Körperpsychotherapie, die als erste Therapieform die ganzheitliche, seelische, körperliche und geistige Heilung des Menschen und damit sein Glück ins Auge fasst, sein ungetrübtes vitales Lust- und Glücksempfinden.

Das von der Vegetotherapie angestrebte Ziel ist ein fundamental anderes als das der Psychoanalyse, der es nach Freuds eigenen Worten lediglich angelegen ist, das „neurotische Elend in normales Unglück“ zu verwandeln. In der Biophysik wurde Reich zum Entdecker der Entstehung des organischen Lebens aus anorganischem, der Bione, der Plasmazuckung, der kosmischen Orgonenergie und der Möglichkeiten natürlicher Wetterbeeinflussung.

Die Soziologie bereicherte Reich durch seine bestechende Analyse der Dynamik des Faschismus und der kapitalistischen sexuellen Zwangsmoral. Diese Vielschichtigkeit und Komplexität des wissenschaftlichen Wirkens Reichs ist um so erstaunlicher, als er sich in jeder dieser Wissenschaften profunde Kenntnisse aneignete. Während er Medizin und Psychologie an der Wiener Universität bzw. bei Sigmund Freud auf die übliche Weise studiert hatte, erwarb sich Reich seine biologischen, physikalischen und soziologischen Kenntnisse autodidaktisch, dies weit über das dilettantische Maß des „Mitreden-Könnens“ in diesen Disziplinen hinaus.

Wer die kürzlich unter dem Titel „Jenseits der Psychologie“ veröffentlichten Briefe und Tagebücher Reichs aus den Jahren 1934-1939 liest, spürt seinen Eifer und die fast kindlich-neugierig-kreative Begeisterung, mit der er sich immer weiter auf dem für ihn wissenschaftlichen Neuland der Biophysik vortastet, wie er, von ihm unbeabsichtigt, ausgehend von der Entdeckung des Orgasmusreflexes, sich innerlich immer weiter gedrängt fühlt, vorzustoßen zu den biologischen Grundlagen des Lebens und dadurch immer tiefer, mittels der Methode von trail and error, auf die Gebiete der Physik und der Meteorologie vordringt. Reich hat sich als Forscher und Autodidakt auch nicht ein Quant geschont.

Vertiefung und Absicherung seiner Überlegungen und empirischen Forschungsergebnisse waren ihm wichtiger als der Ruhm des Tages und die Anerkennung der Fachwelt, obwohl er sich diese sehr wünschte und ersehnte. Ich führe diese Sachverhalte so breit aus, um klar auf den Punkt zu bringen: Wilhelm Reich war, welche Vorbehalte seine Gegner ihm gegenüber auch immer hegen und welche Irrtümer unverpanzerte Wissenschaftler ihm heute nachweisen mögen, ein UNIVERSALGELEHRTER, wie ich neben ihm im 20. Jahrhundert keinen weiteren finde.

Schon im 19. Jahrhundert waren Universalgelehrte vom Rang eines Goethe, Leibnitz, Bacon oder da Vinci unüblich geworden. Im 20. Jahrhundert schreitet der Prozess der Zersplitterung der Wissenschaften, der mit der Renaissance und der Aufklärung einsetzt, unaufhaltsam fort und die Fülle wissenschaftlichen Wissens wird derart immens, dass einem „ernsthaften“ Wissenschaftler nichts anderes übrig bleibt, als sich in kluger Selbstbescheidung zu spezialisieren.

Am Ende des Jahrhunderts finden wir in den Wissenschaften, wie sarkastische Zungen behaupten, nur noch Spezialisten, die immer mehr über immer weniger wissen, bis sie schließlich alles über nichts und nichts über alles wissen. Wir finden kaum noch Wissenschaftler, die über den Rand ihres jeweiligen Fachgebietes hinausblicken, geschweige denn das Bemühen, die eigene Arbeit in einen historisch gewachsenen Gesamtzusammenhang des Lebens und Forschens zu stellen, den Blick für „das Ganze“, wie Reich ihn hatte.

Dass dem so ist, hat seine Ursache wesentlich darin, dass die Philosophie seit der Aufklärung ihre Bedeutung als Grundlage aller Einzelwissenschaften, als Stamm am Baum der Erkenntnis, von dem die Einzeldisziplinen sich wie Äste verzweigen, sich aber vom Saft aus dem Stamm nähren, ohne den sie verdorren würden, als Bindeglied und Bindekitt und Nährboden der Wissenschaften, mehr und mehr eingebüßt hat. Die Philosophen selbst haben kräftig an der Demontage dieser Funktion der Philosophie mitgewirkt, insbesondere diejenigen, die, wie Edmund Husserl (1859-1938), bemüht waren, die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ zu retten.

Zur selben Zeit und am selben Ort, als Reich seine Charakteranalyse und seine Vegetotherapie entwickelte, von der ausgehend er zum Universalforscher der Grundbedingungen kosmischen und menschlichen Lebens werden sollte, forderten Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und ihre als „Wiener Kreis“ mehr oder weniger berühmt gewordenen Kollegen die „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, also den Verzicht auf die universelle Perspektive und die scharfe Begrenzung der Philosophie auf die wissenschaftliche Logik.

Damit hofften sie, die Philosophie als Definitions- und Kontrollinstanz aller anderen Wissenschaften und so auf neue Weise in ihrer alten Rolle wieder etablieren zu können. Dazu war es jedoch notwendig, sich vom Ballast unlogischer, d.h. nicht klar definierbarer oder nur willkürlich definierbarer Begriffe zu trennen. Zu diesen zählen sämtliche Begriffe der Metapyhsik, also solche, die jahrtausendelang zum Kernbestand philosophischer Fragestellungen gehörten wie Freiheit, Schönheit, Liebe, Wahrheit, Glück, Gut, Böse, Sein, Nichts.

Für Alltagsgespräche unter Greisslern und Marktfrauen mögen diese Wörter taugen, in der analytischen Philosophie haben sie, gemäß Wittgensteins Maxime „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, keinen Platz. Dasselbe Schicksal, dass man darüber philosophisch schweigen muss, widerfährt nach dieser Philosophie Reichs Buch „Äther, Gott und Teufel“, dessen Titel schon aus nichts anderem als einer Aneinanderreihung wissenschaftlich undefinierbarer Begriffe der Metaphysik besteht.

Lautete der Titel „Äther, Sprxx und Babib“, wäre dieser nach Auffassung des Wiener Kreises genauso sinnvoll. Indes: Reich selbst weist auf Seite 7 dieses seines Buches dezidiert den Anspruch zurück, mit seinen orgonomischen Forschungen eine Philosophie begründet zu haben: „Ich habe also nicht etwa eine `neue Philosophie´ entwickelt, die neben anderen oder in Zusammenarbeit mit anderen Lebensphilosophien das Lebendige menschlichem Begreifen näher zu bringen versuchte, wie manche meiner Freunde glauben. NEIN, ES LIEGT ÜBERHAUPT KEINE PHILOSOPHIE VOR.(fett/kursiv von Reich).

Also weder behauptet Reich von sich, als Philosoph gelten zu wollen, noch würde er von seinen philosophischen Zeitgenossen des Wiener Kreises als solcher anerkannt werden. Mit anderen Worten: der verbindliche Titel dieses Essays, „Wilhelm Reich und die Philosophie“ ist als Irreführung entlarvt, das „und“ verbindet beide wie Somloer Nockerl mit vierstimmigen Barockmotetten. Man kann das eine essen und das andere dazu hören, aber damit hat es mit den Gemeinsamkeiten ein Ende, und auch dieser Essay könnte daher, mit herzlichem Dank für Ihre Aufmerksamkeit bis hierher, hier enden.

Könnte, tut aber nicht! Denn da klafft noch jener Widerspruch, dass der Mensch Wilhelm Reich durchaus Philosoph in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes war, wenn er auch in keiner neueren philosophischen Tradition steht. Dass er als Gelehrter so universal dachte wie zuletzt vor ihm Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Dass er zu den Vorbildern, denen er sich ausdrücklich (ÄGuT S.6) verdankt, die Philosophen Lange, Nietzsche, Engels und Bergson zählt. Dass er in „Äther, Gott und Teufel“ ein erkenntnistheoretisches, in „Die Funktion des Orgasmus“ ein moralphilosophisches Jahrhundertproblem auf zwei bis vier Seiten einer verblüffenden Antwort zuführt.

Dass seine „orgonomische Denktechnik“, die er in „Äther, Gott und Teufel“ vorstellt, nichts anderes darstellt, als was die Philosophie jahrhundertelang gegolten hat: als Grundlage der Einzelwissenschaften, als Stamm am Baum der Erkenntnis, als Rahmen aller wissenschaftlichen Detailforschung. Ein sehr beweglicher Rahmen, zugegeben, beweglich wie Hegels Dialektik und damit der Lebendigkeit menschlichen Lebens angemessen. Diesen genannten Widersprüchen will dieser Aufsatz weiter nachspüren.

Reichs Wissenschaftskritik und die Aufgabe des Denkens

Wenn Reich, der nichts dagegen hatte, als Mediziner, Psychotherapeut, Biologe, Physiker und Soziologe von Rang zu gelten, es so dezidiert ablehnte, zu den Koryphäen der Philosophie gezählt zu werden, so deshalb, weil er sich nicht nur nicht identifizieren wollte mit dem, was Philosophie in der Ausprägung des Wiener Kreises geworden ist und was er mit dem brutalen, aber treffenden Terminus „mindfuck“ bezeichnet hätte, sondern weil er vehement ankämpfte gegen eine Philosophie, die er nur als Interpretationsmodell der Wirklichkeit kennenlernte, welches aus Angst vor der Wirklichkeit die Wirklichkeit weginterpretiert.

Die beiden Fluchtwege aus der Wirklichkeit lebendiger Gefühle versieht Reich in „Äther, Gott und Teufel“ mit den Etiketten „mechanisch“ und „mystisch“. Ich werde im Folgenden die Berechtigung dieser von Reich vorgenommenen Etikettierung aufzeigen und in einen philosophiegeschichtlichen Bezug stellen, den Reich selbst nicht vorgenommen hat. Aus diesem Bezug wird aber seine Kritik an den „mechanisch-mystischen Strukturen“ einer „maschinell-mystisch bedingten Zivilisation“, die, ebenso wie die im Zerfall befindliche, diese Zivilisation getragen habende Philosophie, in eine lebensbedrohliche Krise geraten ist, verständlich.

Wer Philosophie weder als mechanistisch-logische Analyse von Sprachphänomenen versteht, noch als mystische Spekulation über das Unbegreifliche begreift, sondern als „lebendigen Pulsschlag, der alles auf dem Laufenden hält“, wie der Mainzer Philosoph Richard Wisser dies in seinem 1996 erschienenen Buch „Philosophische Wegweisung“ tut, für den ist Reichs Kritik Ausgangspunkt der Wegweisung eines Auswegs, des Auswegs aus der Krise der modernen Zivilisation und ihrer verpanzerten Denkstrukturen. Und zwar ein philosophischer, weil von der Liebe zum Wissen erarbeiteter – die Liebe, die Arbeit und das Wissen sind die Quellen unseres Lebens, sie sollten es auch beherrschen! Reichs Lebensmotto!- Ausgangspunkt.

Die Philosophie in ihrer akademischen Form vermag, nach meiner Auffassung, diesen Ausweg nicht zu weisen, denn die Philosophie ist am Ende des 20. Jahrhunderts selbst am Ende, sofern sie nicht zu ihrem Ursprung zurück findet. Martin Heidegger (1889-1976), dem Wittgenstein und Carnap allerdings gleichfalls das Recht aberkennen, als Philosoph zu gelten, hat mit seinem 1964 gemachten Ausspruch vom „Ende der Philosophie und der Aufgabe des Denkens“ diesen Weg zurück zum Ursprung aufgewiesen, in einer Form indes, die wegen ihrer Abgrenzung zum mechanistischen Weltbild, wegen ihrer „Kehre“ von der Technik, wieder in die Gefahr des Mystizierens gerät.

Und doch ist das, was Heidegger mit der „Aufgabe des Denkens“ meint nicht ganz und gar unähnlich dem, was Reich in „Äther, Gott und Teufel“ als seine orgonomische, funktionelle Denktechnik vorstellt. Denn nicht die mechanistischen oder mystischen Weltbilder, die Philosophen entworfen haben, sind der Ursprung der Philosophie, sondern jenes ganzheitliche, aus der Emotion gespeiste, ganz dem zu Erkennenden offen zugewandte Denken, von dem Heidegger auf der ersten Seite seiner Vorlesung aus dem Jahre 1951 „Was heißt denken?“ spricht: „Das Bedachte ist das mit einem Andenken Beschenkte, beschenkt, weil wir es mögen. Nur wenn wir das mögen, was in sich das zu-Bedenkende ist, vermögen wir das Denken.“

Der eigentliche Sinn der Philosophie

Der Ursprung der Philosophie im abendländischen Denken wird in allen mir bekannten philosophiegeschichtlichen Darstellungen bei den Griechen, und zwar bei den Vorsokratikern ausgemacht. Deren erkenntnishaftes Streben richtet sich in erster Linie auf die Suche nach einem Urprinzip des Lebens: Thales von Milet fand solches im Wasserstoff, Anaximander im Wirbel (sehr ähnlich Reichs „Cosmic Superimposition“), Demokrit in den Atomen, Empedokles von Agrigent in den Mischungen der vier Urelemente, Heraklit im antagonistischen Gegensatz der Lebensfunktionen. Die Vorsokratiker dachten weder mechanistisch noch mystisch in dem von Reich gemeinten Sinne.

Ihre Erkenntnis- und Denkmethoden sind denen Reichs sehr ähnlich, entsprechend auch ihre Ergebnisse, die sie natürlich nicht mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium überprüfen konnten, das Reich zur Verfügung stand.Am Beginn ihres Forschens und Denkens steht das Staunen, ihr Weg, ihre Methode, ist das empirische Prüfen und Beweisen ihrer Annahmen, ihr Ziel die Erklärung der Gesetze des Lebens, wie es sich zeigt. Insbesondere Heraklit und Anaximander stießen dabei auf ebenso erstaunliche Paradoxe wie Reich in seiner Bionenforschung. Aber schon bald traten neben den vorsokratischen Naturforschern und Philosophen die „kleinen Männer“ auf, die Reich in seinem Buch „Rede an den kleinen Mann“ (1947) so treffend beschrieben hat. Diese Wissenschaftler nannten sich „die Wissenden“, „Sophisten“ (Sophia = griechisch: die Weisheit).

Den Sophisten kam es weniger auf das ernsthafte Forschen an als darauf, mit ihrem Wissen Geld zu machen, und sie bedienten sich dazu der Rhetorik und geschickter Werbetricks. Wissenschaft wurde ihnen zum Denkmodell und Sprachspiel, mittels dessen sie die Wirklichkeit nach Belieben auslegten; noch heute bezeichnet das englische Adjektiv „sophisticated“ jenes spitzfindige Denken, das die Köpfe verwirrt und das Offensichtliche in sein Gegenteil verkehrt.

Gegen diese Sophisten und ihre Weisheit des Wissens begründet Sokrates (469-399 v.Chr.) seine Weisheit des staunenden Nicht-Wissens, das er Philosophie nennt (philein = griech.: lieben; Philosophie = Liebe zur Weisheit). Philosophie im Gegensatz zur Sophie bedeutet, dass ich das Wissen nie sicher in der Tasche als Besitz verfügbar habe, sondern dass ich dieses Wissen umwerben muss wie eine schöne Frau und von ihm im Innersten ergriffen, berührt, elektrisiert werden kann. Sokrates´ berühmtester und meist falsch zitierter Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ verteidigt den staunenden und zweifelnden Blick auf die Wirklichkeit und die Demut vor der Fülle des Wissbaren.

Der Satz des Sokrates lautet korrekt: „Ich weiß, dass ich nicht – nicht nichts! – weiß“, und zwar: „peri ton megiston“, also hinsichtlich der größten Dinge, der wirklich wichtigen Fragen, kenne ich mich nicht aus. Jedes Kind kann wissen, dass zwei mal zwei vier ergibt, aber auf die Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Welchen Sinn hat mein Dasein?, auf diese Fragen wissen auch die Klügsten nichts, sondern können nur glauben oder glauben zu wissen. Diese Fragen lassen sich lediglich durch hingebungsvolles, demütiges, liebendes, sehnsüchtiges Forschen an der Sache mehr und mehr erhellen.

Und es kann geschehen, dass ich, wie Sokrates, Giordano Bruno oder Wilhelm Reich für diese Liebe zur Weisheit, die mit der Freiheit des Fragens nach der Wahrheit einhergeht, bereit sein muss, ins Gefängnis zu gehen und mein Leben zu opfern. Diese geistige Haltung und nichts Geringeres steht hinter dem ursprünglichen Begriff von Philosophie, und in dieser Hinsicht ist Wilhelm Reich ein Philosoph ersten Ranges.

Die „mystische“ Tradition der Philosophie

Sokrates´ Schüler Platon (427-347 v.Chr.) litt unter der Begrenzung unseres Wissens so sehr, oder, anders formuliert: seine Sehnsucht, doch mehr über die größten Dinge, für die Sokrates bereit war, sein Leben zu geben, die „ewigen Wahrheiten“ und Gewissheiten wissen zu wollen, war so groß, dass er die Spannung nicht aushielt, die Spannung des Unterwegs-Seins auf etwas zu, das sich mir doch immer wieder entzieht und das ich nicht sicher festhalten kann.

Aus dieser, in ihrer emotionalen Unsicherheit bedrohlichen und mit Sehnsucht hochgeladenen Wirklichkeit, wählte Platon den „mystischen“ Ausweg: er dachte sich zu dieser unvollkommenen, vergänglichen, stets in Bewegung befindlichen Welt mit ihren Unwägbarkeiten eine ideale Welt, ewig, perfekt und unwandelbar, hinzu. Diese Welt beschrieb er als die eigentlich reale, die wirklich greifbare Welt wurde dadurch irreal; very sophisticated, diese Wendung, nur ist Platons Motiv, die Sehnsucht nach dem Vollkommenen, ein völlig anderes als das der Sophisten mit ihrer Gier nach Geld und Macht.

Von jener jenseitigen Welt der Ideen, die Platon konstruierte, war unsere diesseitige Welt in seinem Verständnis nur abgeleitet. Das vergängliche und wandelbare und unsichere Leben in dieser Welt mit seinen Werten steht zur ewigen Welt der Ideen im selben Verhältnis wie der Schatten zum Licht: das Licht ist das Wahre, der Schatten nur Schein, das Licht kann ohne Schatten sein, aber nicht umgekehrt. Die Ausbildung dieser, rein theoretischen, Ideenlehre ist Platons große philosophische Leistung. Sie ist kein so aberwitziger „mindfuck“, als sie nach meiner bisherigen Darstellung den Anschein hat. Denn wiewohl Platon fast 2350 Jahre tot ist, leben seine Ideen, ewig und unwandelbar, weiter.

Der Philosoph Günther Anders (1902-1993) behauptet in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ sogar, mit der Erfindung der Atombombe 1945 habe erst das wahrhaft platonische Zeitalter begonnen, der Sieg der Idee oder des Rezepts über die Sache. Gemeint ist: selbst wenn alle Regierungen der Welt sich entschlössen, die Atomwaffen von heute auf morgen abzuschaffen, kann doch die Idee, die Bauanleitung der Bombe, von der jede reale Bombe nur ein Abbild ist, nicht mehr abgeschafft werden. „Was einmal gedacht worden ist, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ – dieser Satz Dürrenmatts kennzeichnet Segen und Fluch des Platonismus. Das Beispiel mit der Atombombe macht deutlich, warum Platons Ideenlehre, die eben nicht nur eine „mystische“, sondern auch eine „mechanistische“ Seite hat, alles andere als fauler Zauber ist, so sehr sie auch sonst der mystischen Verzauberung des Theoretischen gegenüber dem banal Praktischen Vorschub geleistet hat.

Platons Ideenlehre hattte immense Folgen, sie bestimmt bis heute das philosophische Denken. Nach der von Platon begründeten, im Akazienwäldchen (= griech.: akademos) vor Athen gelegenen Schule, nennen sich bis heute sämtliche wissenschaftlich gebildeten Menschen Akademiker. Ich habe keine Ausführungen Reichs über Platon gefunden, aber Nietzsche, den Reich sehr schätzte, nach meinem Empfinden am meisten unter allen Philosophen, hat klar kenntlich gemacht, was Platons Philosophie bewirkte: zum einen die Verlagerung des Schwerpunktes philosophischen Forschens in ein imaginäres Jenseits, aus der Physik in die Metaphysik – dieser Begriff wiederum stammt von Platons Schüler Aristoteles (384-322 v.Chr.), der den Weg seines Lehrers, mit einer anderen Methode, fortsetzte – mit Reichs Worten gesprochen: die Mystifizierung des Denkens.

Zum anderen, und damit einhergehend, die Abwertung des vergänglichen, irrationalen, körperlichen Lebens zugunsten des ewigen, rationalen, rein geistigen Lebens. Der Begriff der „platonischen Liebe“ macht dies in besonderer Weise evident. Platon definiert in seinem Dialog „Symposion“ die menschliche Liebe als „die Sehnsucht, im Schönen zu zeugen“ (Symposion, 207a ff). Diese Sehnsucht richtet sich auf Überwindung der Sterblichkeit. Die Zeugung im körperlich Schönen verschafft dem Menschen eine kurzzeitige, das individuelle Leben überdauernde Unsterblichkeit im Andenken der gezeugten Kinder und Kindeskinder, die von seiner Existenz Zeugnis ablegen.

Der Lehrer jedoch, der nicht im körperlich Schönen, sondern mittels seiner Lehren im seelisch Schönen, den aufnahmebereiten Seelen seiner Schülerinnen und Schüler zeugt, bleibt für alle Zeiten durch seine Lehren unsterblich; jede Unterrichtsstunde ist ein geistiger Zeugungsakt. Der kinderlose Platon hat dies am eigenen Leib bewiesen. Entsprechend dem Konzept der platonischen Liebe und der Ausrichtung auf das Geistig-Ideele schlechthin, lehrt Platon die Unterdrückung der Triebe und die Zügelung der Gefühle durch den Geist; seine entsprechenden Ausführungen im IV. Buch seines Werkes über den Staat, „Politeia“, zeigen erstaunliche Parallelen, allerdings auch Gegensätze zum Seelenmodell Freuds.

Als Ursprung allen Lebens sah Platon die „Idee des Guten“. Diese war leicht mit den religiösen Vorstellungen von Gott, die ewige Welt der Ideen leicht mit religiösen Jenseitsvorstellungen in Einklang zu bringen. Die Integration des Platonismus in das Christentum vollzog Augustin von Hippo (354-430 n.Chr.). Die Körperfeindlichkeit Platons fand ihr Pendant in der Leibfeindlichkeit des Apostel Paulus, der, nach Reichs Interpretation in „Der Christusmord“, gezwungen war, zu tun, was Platon aus freien Stücken tat, nämlich die Körperlichkeit vehement zu bekämpfen, auch wenn dadurch der Irrweg der körperlich-charakterlichen Verpanzerung der Menschheit zu einer breiten Straße ausasphaltiert wurde.

Paulus bekämpfte Sex und Körperlichkeit, um den spirituellen Gehalt des Christentums zu retten und die Botschaft Jesu von der allumfassenden göttlichen Liebe davor zu bewahren, so Reich, zu einer „Bordellreligion“ zu degenerieren, die den permissiven Geschlechtsverkehr eines jeden mit jedem propagiert. Böse Zwischenfrage: Wo bleibt Reichs Apostel heute, der den spirituellen Gehalt seiner Orgonomie, bei gleichzeitigem Abbau der Verpanzerung der Menschheit, rettet?

Die Philosophie Platons und seines Schülers Aristoteles, der mit seinen Ausführungen über Gott als den „unbewegten Beweger“ und Urgrund allen Seins den ersten Gottesbeweis lieferte, dem noch viele folgen sollten, blieben im gesamten Mittelalter der fest vorgeschriebene Rahmen wissenschaftlichen Forschens in einem vom geistigen Gehalt des Katholizismus und der politischen Macht der katholischen Kirche bestimmten Europa. Aus der „Liebe zur Weisheit“ wurde die „Magd der Theologie“. Als mit der Renaissance Gestalten wie Giordano Bruno (1542-1600) oder Galileo Galilei (1564-1642) aus diesem Rahmen aus zu brechen versuchten, wurden sie von der Inquisition zum Tode verurteilt.

Bruno starb auf dem Scheiterhaufen, Galilei rettete sein Leben, indem er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerrief. Mit beiden hat Reich sich sehr stark identifiziert, entsprechend vehement und scharf ist sein Urteil über jenes mystische, emotionell pestilente Denken, das den Tod dieser Wissenschaftler bzw. ihre öffentliche Entehrung zur Folge hatte.

Die Philosophie Platons begründet, wie wir gesehen haben, die – in Reichs Begriff – „mystizistische“ Tradition in der abendländischen Philosophie. Sie prägt mit ihrer scharfen Dichotomie zwischen Jenseits-Diesseits, Rational-Irrational, der Idee des Guten-Welt des Bösen, Geist-Körper, später die christliche Theologie und mit der christlichen Theologie die Geisteswelt des Mittelalters. Als mit der Reformation und der Renaissance sich die Philosophie wieder von der Bevormundung durch die Theologie emanzipiert und damit das Zeitalter der katholisch-platonisch-aristotelischen Vorherrschaft über das Geistesleben zu Ende geht, sehen sich die Philosophen dem Zwang zur Neuorientierung ausgesetzt. Sie gehen dabei hinter das Christentum in die griechisch-heidnische Antike zurück, nicht aber hinter Platon.

Die „mechanistische“ Tradition der Philosophie

Nachdem Luther, Erasmus, Calvin, Kepler, Kopernikus, Galilei und Bacon bisher unzweifelhafte Wahrheiten demontiert hatten, war wieder Platz für den philosophischen Zweifel, den Platon ja beseitigt hatte mit seinen ewigen Gewissheiten. In seiner radikalen Form formulierte diesen Zweifel Rene‘ Descartes (1596-1650). Er stellte nicht, wie man hätte erwarten können, die Konstruktion der metaphysischen Ideenwelt, die zur Selbstversklavung der Philosophie unter die Theologie geführt hatte – und damit den menschlichen Geist – in Frage.

Er kehrte nicht zum Ausgangspunkt der Philosophie, der Fragestellung der Vorsokratiker nach dem Ursprung des Lebendigen und der Bedeutung des Lebens zurück. Dafür war die Abwertung des körperlich Lebendigen und die seelische Verpanzerung der Menschheit nach 2000 Jahren Platonismus und 1500 Jahren Stoizismus offenbar schon zu weit fortgeschritten. Nein, im Ozean des Zweifels blieb Descartes nur eine einzige Gewissheit: dass sein Geist es war, der da zweifelte. Und nur über diese Tätigkeit, diese mechanische Funktion seines Geistes, vergewisserte sich Descartes seiner selbst.

Nicht sein Pulsschlag, nicht seine regelmäßig wiederkehrenden Atemzüge, nicht sein Tastsinn, verschafften ihm Gewissheit über seine Existenz, sondern allein der Gedanke, dass er sich dachte. COGITO, ERGO SUM! – „Ich denke, also bin ich“, ist die berühmte Formel Descartes´, und mit dieser Formel setzt er eine neue Dichotomie in die Welt an Stelle der alten platonischen: den Dualismus zwischen res cogitans (= der denkenden Sache, dem Geist) und der res extensa (= der ausgedehnten Sache, der Natur).

Beides bleibt rein weltimmanent, unberührt von der Sehnsucht nach einem Jenseits. Beides bleibt rein sachlich, das Persönliche wird völlig sekundär, dafür sorgt schon allein Descartes´ Wortwahl. War in der Philosophie Platons der Körper mit seiner irrationalen Triebhaftigkeit noch etwas Gefährliches, das es mittels des Geistes im Zaum zu halten galt, so wird in der Philosophie des Descartes der Körper zum rein mechanischen, passiven Werkzeug des Geistes, für denselben ohne Belang.

Verstand Platon und insbesondere sein berühmtester späterer Interpret Plotin (204-270 n.Chr.) unter Meditation den ekstatischen Aufschwung des Geistes zur mystischen Vereinigung mit der Idee, so wird Meditation bei Descartes und seinem späteren Interpreten, dem schon genannten Edmund Husserl, zur reduktionistischen Schau der allem Persönlichen entkleideten Phänomene an sich. Übrig bleibt der Philosophie in diesem Denken die skeptisch-rationale Suche nach unbezweifelbaren Gewissheiten, mittels derer es möglich werden sollte, diese Welt besser in den Griff zu bekommen.

Die Philosophie des Descartes erwies sich als ebenso attraktiv und mächtig, wenn nicht gar attraktiver als die Philosophie Platons für die von der Fülle und Kraft des Lebendigen verängstigten und verunsicherten Menschen, denen nach dem mystischen Ausweg nun der mechanistische aufgezeigt wurde. Der Rationalismus Descartes´ beeinflusst das gesamte Zeitalter der Aufklärung. Wie an Platon auch, kam an ihm keiner der späteren Philosophen vorbei, sei es, dass sie sich an seiner deduktiven Denkmethode orientierten, wie Leibnitz (1646-1716) oder die induktive Methode wählten wie Locke (1632-1704). Es war der „Alles-Zermalmer“ Immanuel Kant (1724-1804), der die letzten Reste des platonischen Mystizismus zermalmte, sprich: aus dem Reich der Philosophie in das Reich des Glaubens verbannte.

Und es war derselbe Kant, der den Rationalismus eines Leibnitz und den Empirismus eines Locke, beide herkommend vom maschinistischen Denken Descartes´, in eine Synthese brachte. Kants Ziel war es, den Menschen „den Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu eröffnen, und er fand diesen Ausgang aus der Unmündigkeit keinesfalls im Mund, im Timbre der menschlichen Stimme, also etwas Körperlichem, sondern in der Kritik, also im Denken. Schon die Titel von Kants drei Hauptwerken: „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ zeigen, dass es Kant um das Denken und nichts als das Denken geht.

Sein Motto: „Sapereaude!“ wird in aller Regel mit: „Wage, (selbständig) zu denken“ übersetzt. Mit diesem Motto wurde Kant zum Inbegriff der Aufklärung. Dabei bedeutet das lateinische Verb „sapere“ erst in zweiter Linie „wissen, denken“, in erster Bedeutung heißt es „schmecken, riechen“. Der „homo sapiens“ ist einer, der weiß, nachdem er geschmeckt hat; in der oralen Phase eignen wir uns unser gesamtes Wissen durch das Schmecken und Riechen an. Aber mit: „Wage es zu schmecken!“ lässt sich im mechanistischen Denken – im mystizistischen auch nicht – kein Staat machen. Durch Schmecken und Riechen lässt sich „nur“ geniessen. Wissen hingegen ist Macht. Was faul ist am Zauber Platons und faul an der Klarheit der Aufklärung, lässt sich durch das reine Denken schwer erklären, wohl aber intuitiv erriechen und erschmecken.

Es ist wahrscheinlich, so meine ich, kein Zufall, dass zeitgleich mit Kants Kritiken, die das Denken ungemein erhellen, die Dampfmaschine und der mechanische Webstuhl das Licht der Welt betreten. Das industrielle Zeitalter beginnt, die Unterordnung des Lebens unter die Maschine. Und so, wie die Philosophie Platons und Aristoteles´ die Knechtung des vitalen körperlichen Lebens durch die politisch-geistige Macht der katholischen Kirche im Mittelalter begünstigen, so begünstigen die Theorien eines Descartes und eines Kant, dem zudem das unvergleichliche Verdienst zukommt, in der Moral den Begriff des „Glücks“, an dem Platon, Aristoteles und das ganze Mittelalter als Ziel ethischen Handelns eisern festgehalten hatten, durch den Begriff der Pflicht ersetzt zu haben, die Knebelung der natürlichen Lebendigkeit durch die Macht der Maschinen und des maschinellen Produktionsprozesses.

Ich gestatte mir an dieser Stelle eine persönliche Zwischenbemerkung: ich halte mit Reich die mystizistische wie die mechanistische Interpretation der Welt auf rein „kopfiger“ Basis für große Irrwege der Menschheit. Ich bemerke, dass Reich aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Vorbildung dem Mystizismus ablehnender gegenüber steht als dem Maschinellen. Ich finde jedoch das in der Philosophie von Descartes angerichtete Übel unvergleichlich schlimmer als die von Platon zu verantwortenden Folgen.

Philosophen gegen Mystik und Mechanik

Eine weitere Zwischenbemerkung: der Gang der Darstellung philosophiegeschichtlicher Entwicklungen ist, der räumlichen Begrenzung des Essays und der Länge des Denkweges angemessen, ein Gang im prestissimo, vieles wird übergangen. Der Blick des Wanderers ist zudem ein sehr subjektiver, vieles wird übersehen. Mir geht es darum, zu zeigen, wie Reichs Wissenschaftskritik in „Äther, Gott und Teufel“, die in erster Linie eine Kritik an der Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und der Psychologie ist, eine sehr philosophische Dimension hat und auf die Philosophie als Fundamentalwissenschaft vom menschlichen Denken ohne weiteres anwendbar ist.

Dies trotz und mit Reichs klarer Abgrenzung zur klassischen Philosophie und in Anerkennung seiner eigenen Ansicht, dass Kritik keine neue Philosophie schafft. Eingefleischte Platoniker, Aristoteliker, Cartesianer oder Kantianer werden gegen meine Darstellung der Philosophiegeschichte von Thales von Milet bis Kant im prestissimo und im Licht des Reichschen Schemas „mystisch-mechanistisch“ manche berechtigte Einwände vorbringen können. Daran wird sich die Gegenfrage anschließen: halten diese Einwände dem Erkenntniskriterium der orgonomischen Denktechnik, das Reich entwickelt hat und auf das ich noch zu sprechen kommen werde, Stand?

Ist die Geschichte der Philosophie, weitere Frage, wirklich eine Geschichte der zunehmenden Charakterpanzerung der Philosophen, einer immer klarer sich ausprägenden Schizophrenie, erwachsend aus der immer größer werdenden Abspaltung des Fühlens vom Denken, der immer weiter auseinander klaffenden Dichotomie von Körper und Geist? Ich meine: Ja! Ich meine weiter: ihre Klimax hat diese Geschichte in der Gestalt und der Philosophie Immanuel Kants erreicht. Mit seinen Nachfolgern Fichte (1762-1814) und dem schon erwähnten Hegel beginnt der Kampf um die Wiederentdeckung des Körpers in der Philosophie. Ein bis heute andauernder, mühseliger und zäher Kampf, weil die im Schutz der körperfeindlichen Traditionen der Philosophie sicheren Denker das lang gehaltene Terrain natürlich erbittert verteidigten – und auch nach wie vor in der Überzahl sind.

Zwischen Platon und Kant gab es auch durchaus einige Philosophen, die den Verrat am Körper nicht mitmachten oder so weit als möglich gut zu machen versuchten. Unter „ernsthaften“ Philosophen gelten diese bestenfalls als Außenseiter, in aller Regel als bloße „Schriftsteller“, die man nicht ernst nehmen muss. Ich nenne zwei: Epikur (341-270 v.Chr.) und Blaise Pascal (1623-1662). Epikur erklärte den Ursprung des Lebens wieder auf vorsokratische Weise durch Anlehnung an das Atmomodell Demokrits.

Die Bedeutung des Lebens sah er darin, zum höchstmöglichen Maß an Lebensgenuss und Lebenslust zu gelangen. Unerlässliche Vorbedingung der Genussfähigkeit war ihm die Freiheit von Angst. Das Gefühl Angst nahm Epikur für einen Philosophen ungewöhnlich ernst. Seine Methode der Therapie von Angstneurosen steht denen der systemischen Therapie oder der Verhaltenstherapie in nichts nach. Als höchste Lust empfand Epikur die Ataraxie, die innere Gelassenheit.

Sie ist die Frucht von Selbstakzeptanz und Selbstdisziplin, die einen zum Genuss körperlicher und geistiger Freuden befreien. Alles wunderbar nachzulesen in seinem nur zehn Abschnitte umfassenden Brief an Menoikeus. Die Ausgabe der Schriften Platons umfasst sechs dicke Bände, die erhaltenen Schriften Epikurs sind in einem Reclambändchen erhältlich, das nicht dicker ist als eine Scheibe Geselchtes in einem Wiener Heurigenlokal. Ich betone: erhaltene Schriften, denn das Meiste von Epikur ist untergegangen oder vernichtet worden.

Die Mönche des Mittelalters, deren Geduld und Hingabe im immer neuen Abschreiben der antiken Codices wir die Überlieferung der Schriften Platons und Aristoteles´ oder der Stoiker verdanken, saßen wahrscheinlich oft genug mit Krämpfen über Sätzen wie: „Der in sich unbeschwerte Mensch ist auch dem anderen keine Last“ (Epikur: Lehrsatz 79), oder: „Die Tugenden sind ursprünglich verwachsen mit dem lustvollen Leben und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar“ (Brief an Menoikeus, DL X, 131). Wenig Mystik ist in diesen Sätzen.

Blaise Pascal, der wegen seiner Untersuchung der Kegelschnitte als Mathematiker berühmt geworden ist – als Philosoph wäre er wahrscheinlich „vergessen“ worden – verteidigte gegenüber seinem Zeitgegossen Descartes und dessen mechanistischer Logik die „raison du coeur“, die „Logik des Herzens“, die ihm wichtiger und reiner ist als die Logik des Verstandes.

Pascals kleine Schrift „Pensees“, „Gedanken“, ebenfalls nicht umfangreicher als das Gesamtwerk Epikurs, enthalten so erstaunliche Sätze wie: „Beschreibung des Menschen: Abhängigkeit, Wunsch nach Unabhängigkeit, Bedürfnisse“ (Nr. 69), oder: „Zweierlei unterrichtet den Menschen über seine Natur: der Instinkt und die Erfahrung“ (Nr. 124), oder: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier und das Unglück will, dass, wer den Engel will, das Tier macht“ (Nr. 154). Wenig Zutrauen zur Mechanik ist in diesen Sätzen.

Reich hätte an Epikur und Pascal seine Freude gehabt, hätte er ihr Werk kennen gelernt. Hätte er es kennen lernen können? Natürlich, wer sucht, der findet, insbesondere der Universalgelehrte. Wie leicht man fündig wird, werden Sie, liebe Leserinnen und Leser dieses Aufsatzes unschwer erkennen, wenn Sie in den Vorlesungsverzeichnissen philosophischer Fakultäten Ausschau halten nach Übungen über Kant und Wittgenstein und im Vergleich über Epikur und Pascal.- Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg!

Fortsetzung in BUKUMATULA 5/97

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