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Buk 1/16 Die Wunde des Therapeuten

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Bukumatula 2/2016

Die Wunde des Therapeuten

von
Peter Bolen:

Vorwort

In meinen Ausbildungsseminaren werde ich immer wieder gefragt, was die Voraussetzungen für den Beruf eines Psychotherapeuten sind.

Diese Fragen beziehen sich nicht auf die Intelligenz des Kandidaten, seine Lebenserfahrung, die Zugehörigkeit zu einem Heilberuf oder auf einen akademischen Grad. Diese Voraussetzungen sind in Österreich seit 1992 im Rahmen des Psychotherapiegesetzes ausführlich in den Richtlinien des Bundeministeriums für Gesundheit festgelegt.

Der Hintergrund dieser Fragen ist die Befürchtung, selbst vielleicht nicht ausreichend psychisch gesund zu sein, um anderen Menschen helfen zu können. Es besteht die Idealvorstellung von einem Therapeuten, dass er sich in einem völligen psychischen Gleichgewicht befindet und damit ein Vorbild für seine Patienten darstellt. Nur ein gesunder Therapeut wäre in der Lage, Kranke zu behandeln.

Es ist das Wissen um eine innere seelische Wunde, welches die Befürchtungen bezüglich der Eignung zum Psychotherapeuten nährt. Gleichzeitig finden wir häufig Kritik an Psychotherapeuten, wenn bekannt wird, dass sie selbst manchmal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Es handelt sich hier um ein grundsätzliches Missverständnis bezüglich des idealen Therapeuten. So wie das Wort „Ideal“ sich von dem griechischen und lateinischen Wort idea, Idee ableitet, ist es eine Erscheinung, die auch als bloßer Schein täuschen kann. Dieser Schein verführt uns dann zu idealisieren und auch zu entwerten.

Ich werde in diesem Artikel ausführen, dass diese seelische Wunde, die der Therapeut in sich trägt, überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, dass er sich für andere seelisch verwundete Menschen interessiert, sie versteht und das Bedürfnis hat, ihnen zu helfen.

Einen Mythos dieses verwundeten Therapeuten stellt die antike Sage von Chiron dar. Chiron war am Knie unheilbar verwundet worden, konnte sich aber selbst nicht heilen – bei gleichzeitiger Fähigkeit andere heilen zu können und darüber selbst Erlösung zu erfahren.

Ich stelle hier die Hypothese auf, dass Chiron nur heilen konnte, weil er verwundet war und werde dieses Thema im Weiteren ausführlich darstellen.

Natürlich ist es ein Teil der psychotherapeutischen Ausbildung, sich dieser Wunde bewusst zu werden und sie wenn möglich zu heilen. Sonst würde das Heilen anderer Menschen auf Kosten der eigenen psychischen Gesundheit gehen, wie ich noch ausführlich beschreiben werde.

Dieser Beitrag ist vor allem für Psychotherapeuten und verwandte Heilberufe gedacht. Er birgt einiges theoretische Wissen, aber vor allem eine rund fünfunddreißig jährige Erfahrung als Psychotherapeut und Arzt.

Laxenburg im Sommer 2014

Immer wenn ich in diesem Artikel die männliche Form des Wortes Therapeut oder Patient/Klient verwende, ist damit auch die weibliche Form gemeint. Aufgrund der leichteren Lesbarkeit wurde diese Schreibform gewählt. Als Arzt verwende ich die Bezeichnung Patient, für nichtärztliche Psychotherapeuten ist er durch das Wort Klient zu ersetzen.

Die Funktion des Therapeuten

„Therapeut“ leitet sich vom Griechischen Wort therapeutés ab, welches so viel wie: der Diener, der Aufwartende, der Wärter oder der Pfleger bedeutet. Der Begriff wurde im antiken Griechenland für die Person verwendet, die den Pilger, der zum Orakel nach Delphi wanderte, begleitete, um ihn zu unterstützen und für sein leibliches und seelisches Wohl zu sorgen.

Keinesfalls ist der Therapeut, in dem Sinne, wie wir das Wort in der Psychotherapie verwenden, ein Führer oder ein Lehrer, der den Hilfesuchenden aufgrund seines Wissens belehrt, oder ihm Handlungsanweisungen gibt. Dafür verwenden wir heute die Worte Beratung, Training, oder Coaching.

Wenn nun der Patient versucht die Therapie ins oberflächliche Plaudern zu lenken oder auf andere Weise – im Sinne einer Abwehr – den Ablauf des Prozesses umzulenken oder zu verwässern, wird der Therapeut natürlich nicht einfach schweigen oder zustimmen. Er wird etwa fragen: „Haben Sie im Augenblick nicht auch das Gefühl, dass wir uns im Gespräch mehr an der Oberfläche befinden? Dass Sie nicht mehr in Kontakt zu Ihren Gefühlen, wie noch vor einigen Minuten, stehen?“ Der Therapeut nützt seine Wahrnehmung, um den Klienten und sein Verhalten zu spiegeln und ihm zu helfen von selbst zu erkennen, wo er sich in seinem Prozess befindet und was er tut. In dem Augenblick, in dem der Patient wahrnimmt, wie er seinen eigenen Heilungsprozess behindert, verändert er von selbst sein Verhalten. Er braucht dazu keine Anweisung oder eine Belehrung.

Pointiert ausgedrückt können wir auf die Frage: „Wer führt in der Therapie, der Patient oder der Therapeut?“ antworten: „Natürlich führt der Patient, aber nicht die Neurose des Patienten!“

Ich verwende den in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen nicht mehr verwendeten Begriff „Neurose“. Dort wurde Neurose durch das Wort „Persönlichkeitsstörung“ ersetzt. Natürlich ist der Begriff Neurose in dem Sinne veraltet, als er wörtlich übersetzt „nichtentzündliche Schwellung von Nerven“ bedeutet, was der Vorstellung der alten Psychiatrie entsprach, dass seelische Leiden etwas mit organischen Veränderungen des Nervensystems zu tun haben.

Seit Sigmund Freud hat der Begriff Neurose eine spezifische Bedeutung erlangt, in dem Sinne, dass bestimmte seelische Erkrankungen mit einer seelischen Traumatisierung in der Kindheit zusammenhängen. Der ICD Code (internationale Klassifizierung psychischer Störungen) nimmt bei der Einteilung von psychischen Erkrankungen keinen Bezug mehr auf die Ursache der Störung. Kritisch sei hier angemerkt, dass bei jeder Änderung des ICD Begriffe wie etwa „Angststörung“ – früher „Angstneurose“, immer mehr unspezifisch ausgeweitet werden, so dass der Verdacht besteht, mehr Verschreibungsmöglichkeiten für bestimmte Psychopharmaka zu finden.

Die Aufgabe des Therapeuten ist es also, seine Wahrnehmung dem Patienten zu vermitteln, ihn zu spiegeln, damit er durch seine eigene erweiterte Wahrnehmung selbstregulativ Veränderung erfährt. Der Begriff „Selbstregulation“ ist ein zentraler Begriff in der Körper-psychotherapie. Wilhelm Reich nannte dieses Phänomen „Selbstorganisation“. Seine Hypothese war: Wenn der Patient wahrnimmt, wie er sich selbst blockiert, verändert sich sein Leiden von selbst in Richtung psychischen Gleichgewichts.

`Von selbst´ bedeutet: Wenn wir uns in einem psychischen Un-gleichgewicht befinden, hat unser Organismus (ich verwende diesen Begriff für die – vorübergehende – Einheit `Körper-Seele-Geist´) die Fähigkeit, von selbst wieder sein Gleichgewicht zu finden. Als Beispiel mag ein banaler Schnupfen dienen, nach einer Woche sind wir ihn, auch ohne Medikamente, wieder los. Ein anderes Beispiel sei eine Schnittwunde: Der Arzt näht die Wunde zu, zusammenwachsen tut sie allerdings von selbst. Nur wenn wir stark aus dem Gleichgewicht kommen, bedarf es des Impulses eines anderen Menschen (des Therapeuten).

Wilhelm Reich konnte seine Hypothese nicht mathematisch darstellen und untermauern. Er starb 1958 im Gefängnis.
1966 bekam ein belgischer Chemiker, Ilia Prigogine, den Nobelpreis dafür, dass er die Selbstorganisation mathematisch nachweisen konnte. Als Beispiel selbstorganisierender, dynamischer und geordneter Systeme dienten ihm die sogenannten `dissipativen Strukturen´. Diese finden in nichtlinearen, nicht offenen Ungleichgewichtssystemen fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht statt.

Diese Entdeckungen haben prägende Auswirkungen auf das Verständnis des Heilungsvorganges. Und zwar nicht nur in der Körperpsychotherapie, sondern in allen psychotherapeutischen Methoden und selbstverständlich auch in der Medizin.

Zusammengefasst: Was heilt?

Die Fähigkeit des Organismus zur Selbstregulation. Den Anstoß dazu gibt die bewusste Wahrnehmung (engl. awareness) des Therapeuten, der die Selbstwahrnehmung des Patienten fördert. Zusätzlich bedarf es zur Heilung noch folgender Faktoren: Der Therapeut schafft einen geschützten Raum, in dem sich der Patient sicher fühlen kann. Ich bezeichne diesen Raum auch als einen `heiligen Raum´. Wenn der Therapeut eine Intervention an einem Kaffeehaustisch machen würde, hätte sie keine heilende Wirkung.

Der Therapeut ist während der Therapie ständig in Kontakt mit seinem Patienten. Kontakt ist auf drei Arten möglich: Mittels der Stimme, über die Augen oder durch Berührung. Besonders die Berührung hat hier eine besondere Bedeutung. Wenn der Patient mit geschlossenen Augen und schweigend auf der Liege liegt und auch der Therapeut gerade schweigt, braucht er zumindest die Berührung, um die Gewissheit zu haben nicht alleine zu sein.

Diese Berührung mache ich meistens mit dem Handrücken am Unterarm des Patienten. Es ist dies eine relativ unspezifische Form des Kontaktes, die nicht gezielt bestimmte Themen triggert. Der Therapeut begleitet den Patienten durch seinen Prozess: Durch Fragen, durch Bestätigungen, durch seine Anteilnahme.

Immer wieder betone ich meinen Schülern gegenüber, dass es nicht darum geht, mit zu leiden, sondern mit zu fühlen. Wenn der Therapeut leidet, hilft das dem Patienten nicht. Diese Haltung steht im Gegensatz zu der christlichen Idee, dass ein Erlöser das Leid der Menschheit durch seinen Tod auf sich genommen hat und sie damit von ihren Leiden erlöst hat.

Leiden wir denn seither nicht mehr?

Hier möchte ich noch einige Gedanken skizzieren, wie wir uns die Heilung früher und frühester seelischer Wunden vorstellen können: Bei dem Wiedererleben der Verletzung, des Traumas, geht es nicht um ein bloßes neuerliches Wiedererleben der alten Verletzung. Dies wäre tatsächlich eine nochmalige Traumatisierung.
Das Erlebnis des Traumas wird in der Therapie in einem neuen Kontext erlebt. Der Patient erlebt das Geschehene diesmal in der Begleitung des Therapeuten neu.

Dieses neue Erlebnis wird zu der alten Erinnerung hinzugefügt, so dass beim nächsten Mal die Erinnerung an das Trauma mit dem neuen Erlebnis der heilenden Begleitung verknüpft wird und daher eine neue Qualität aufweist. Wir nennen diesen Vorgang die `emotional korrigierende Erfahrung´. Warum haben frühe und früheste seelische Verletzungen eine besondere Stellung innerhalb der Psychotherapie? Zunächst müssen wir wissen, dass die frühesten Erinnerungen etwa im dritten Lebensjahr liegen. Vor dem dritten Lebensjahr besitzen wir noch keine Sprache.

Dies bedeutet, dass wir die Themen der Traumatisierung nicht durch bloßes Reden mit dem Patienten erreichen, weil diese sprachlich einfach noch nicht kodiert sind. Erst durch spezifische Berührungen (siehe mein Buch “Emotionale Reintegration, der sanfte Weg“) – mein Zugang sind minimale Bewegun-gen an einem Gelenk – zusammen mit einer bestimmten Atemtechnik können wir diese Themen an die Oberfläche bringen, um sie der Heilung zuzuführen.

Wie können wir uns diese Heilung bildlich vorstellen? Das Trauma ist wie eine Wunde, die zugeklebt mit Verbänden, weiter eitert und Symptome verursacht. Bildlich entfernen wir diese Verbände, lassen die Wunde ans Sonnenlicht kommen, und diese beginnt langsam zu heilen. Allerdings wird die verheilte Wunde niemals die Qualität eines gesunden Gewebes erlangen; sie wird zu einer Narbe. So wie bei körperlichen Narben, die zu schmerzen anfangen können, wenn ein Wetterumschwung stattfindet, bleiben wir an den Stellen unserer emotionalen Narben ein Leben lang empfindlich.

Dies ist eine Behinderung, doch gleichzeitig, wie ich im Folgenden ausführen werde, macht uns erst diese Behinderung für das Leid anderer offen. Eine Besonderheit der frühen und frühesten Störung ist der Abwehr-mechanismus der Abspaltung. Erst ab dem dritten Lebensjahr entwickeln wir reifere Abwehrmechanismen, wie sie die Psychoanalyse oder die Gestalttherapie ausführlich beschreibt.

Abspaltung ist eine Vorgang, den man am besten beschreiben kann als: „Es ist gar nichts geschehen“. Auch als Erwachsene besitzen wir diesen Mechanismus, der ausführlich in Protokollen von Folteropfern beschrieben wurde. Die Opfer erleben sich während der Folter wie „neben sich stehend“, sie distanzieren sich damit von sich selbst und von ihren emotionalen Empfindungen.

Der Fachausdruck in der Psychotherapie dafür ist „Dissoziation“. Es gibt eine Analogie in der somatischen Medizin. Wenn uns eine Wunde zugefügt wird, spüren wir durch den Mechanismus der Abspaltung zunächst keinen Schmerz. In Sekundenbruchteilen produziert unser Organismus morphinähnliche Substanzen, die uns für kurze Zeit Schmerz gegenüber unempfindlich machen.

Natürlich sind diese Verletzungen dennoch als Schock in allen unseren Körperzellen gespeichert und können durch spezifische Berührungen von dort wieder abgerufen werden. Die These der rein zentralen Speicherung von Erlebnissen ist längst überholt. Als bestes Beispiel für die periphere Speicherung dient die lokale allergische Reaktion. Wenn wir durch unsere Haut mit einem Allergen in Kontakt kommen, entsteht sofort eine Rötung oder zusätzlich eine Blase. Diese Reaktion hat mit dem Zentralnervensystem nichts zu tun.

Zu den frühesten Traumen:

Darunter verstehen wir Traumen im Uterus, bei der Geburt und in einem bestimmten Zeitraum nach der Geburt. Je früher ein Trauma stattfindet, umso mehr ist es persönlichkeitsprägend. Und diese frühen Traumen sind nur durch Berührung erreichbar. Gerade deshalb hat die Körperpsychotherapie eine besondere Stellung unter den psychotherapeutischen Verfahren.

Eine Mutter, die durch soziale Umstände, wie etwa dass der Vater das werdende Kind ablehnt, dass sie sich als alleinerziehende Mutter den Umständen nicht gewachsen fühlt oder dass ein Todesfall während der Schwangerschaft eintritt, hat auf Grund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse einen Cocktail von bestimmtem Transmittersubstanzen in ihrem Blutkreislauf. Diese Überträgerstoffe durchströmen die Plazenta und auch den Embryo.

Wenn die Mutter depressiv ist, ist es auch der Embryo. Traumatisch werden natürlich auch Abtreibungsversuche erlebt. Wir wissen, dass der Embryo schon mit drei Wochen Schmerz empfinden kann. Auf Grund dieses Wissens wird in den USA bei Abtreibungen in einigen Staaten vorher ein Schmerzmittel verabreicht. Grundsätzlich hat der Patient, wenn er in Behandlung kommt ein Symptom oder ein Defizit.  Daher ist es wichtig zwischen den Fragen „Was haben Sie?“ oder „Was fehlt Ihnen?“ zu unterscheiden.

Zusammengefasst ist die Funktion des Therapeuten innerhalb eines sicheren Raumes mittels seiner bewussten Aufmerksamkeit und auch die Aufmerksamkeit auf die Reaktionen während der körperlichen Berührung, den Patienten zu spiegeln und ihn durch seinen Prozess zu begleiten, wesentlich. Selbstregulativ kommt es zu einer Balance des Ungleichgewichtes, welches die Symptome verursacht hat. Das wichtige Erleben des Patienten nennen wir das `emotional korrigierende Erlebnis´.

Die Entstehung der Wunde

Ich beginne mit den frühen und frühesten Verletzungen im Leben des Patienten. Deshalb, weil sie von besonderer Bedeutung für die Charakterbildung sind und auch die schwerwiegendsten Symptome erzeugen. Die Schwierigkeit der Behandlung dieser Verletzungen ist die Tatsache, dass sie nicht erinnerbar sind, da sie noch nicht sprachlich kodiert sind und wir vor dem dritten Lebendjahr in der Regel keine Erinnerungen haben. Gespeichert sind sie zentral im Hirnstamm (das Großhirn ist noch nicht reif!) und peripher in allen Zellen des Körpers.

Wir können dieses Echo mit dem Urknall vergleichen, einem Ereignis welches vor dreizehn Milliarden Jahren (berechnetes Alter unseres Universums) geschehen ist und uns mittels bestimmter Instrumente noch immer den Beginn unseres Universums hören lässt. Durch spezifische Berührungen, in meinem Ansatz langsame, passive Bewegungen der Gelenke, triggern wir diese Erlebnisse, und sie tauchen als körperliche und emotionale Schmerzen auf.

Warum ich die Gelenksarbeit verwende hat den Grund, dass zwischen jedem Gelenk und bestimmten Hirnzentren, wo körperlich-emotionale Schmerzen gespeichert sind, eine Verbindung besteht. Es ist die periphere und zentrale Gammaschleife, die als Verbindung fungiert. Auf Details möchte ich hier nicht eingehen, weil ich anderorts ausführlich darüber publiziert habe (s. „Emotionale Reintegration, der sanfte Weg“).

Wir dürfen also nicht erwarten, dass bildliche Erinnerungen auftauchen, sondern es sind emotionale Ausbrüche, die vom Unbewussten selbstregulatorisch balanciert werden, wenn sie in der sicheren Begleitung des Therapeuten erstmals an die Oberfläche treten. Wichtig ist auch zu wissen, dass früheste emotionale Schmerzen nicht von körperlichen Schmerzen unterscheidbar sind.

Für die Zuordnung des Traumas ist die Anamnese wichtig. Die Berichte der Mutter oder anderer Personen über den Ablauf der Geburt des Patienten. Die Mutter ist hier nicht die verlässlichste Auskunftsperson, da sie oft aus Scham, versagt zu haben, Geburtskomplikationen verschweigt.

Warum kommt es zu Geburtskomplikationen?

Im Laufe der Jahrmillionen ist der Kopf des Menschen aufgrund der Zunahme seines Großhirns gewachsen, der Geburtskanal hingegen ist ziemlich gleich groß geblieben. Wer je eine Geburt von Katzen oder Hunden erlebt hat, wird erstaunt sein, wie sechs, sieben Junge ganz leicht in die Welt schlüpfen. Hingegen erleben wir bei der Beobachtung einer menschlichen Geburt ein schmerzliches Drama, welches in jedem Fall ein traumatisches Erlebnis ist. Natürlich können wir Traumen, wenn sie nicht überwältigend sind, balancieren. Wir kommen als plastisches Wesen auf die Welt, welches sich anpassen kann und Strategien des Überlebens mitbringt. Jedoch sei hier angemerkt: Es gibt keine „sanfte Geburt“.

Selbst eine Geburt nach den Erkenntnissen von Frederick Leboyer und dem französischen Gynäkologen Michel Odent ist für das Kind ein dramatisches Erlebnis. Der erste Psychoanalytiker, der auf das Trauma der Geburt hingewiesen hat und die Meinung vertrat, es sei wichtiger als der Ödipuskomplex, war Otto Rank. Freud lehnte die Theorie ab und empfahl Rank eine Psychoanalyse zu machen, da er dessen Verhalten als eine Vaterrivalität ihm gegenüber interpretierte. In der Geschichte der Psychotherapie war es Arthur Janov, der sich mit dem Geburtstrauma intensiv auseinandersetzte.

Er beobachtete in bestimmten Therapiesequenzen, dass die Patienten mit dem Kopf zu schieben begannen, mit den Beinen einen Widerstand suchten, um sich dagegen zu stemmen und danach eine Rotationsbewegung mit dem Kopf machten. Er filmte diese Szenen und zeigte sie Gynäkologen und Geburtshelfern, die ihm bestätigten, dass es sich bei diesen Bewegungen genau um die gleichen handelte, wie sie das Kind während der Geburt macht. Gleichzeitig wurden die Patienten mit einer Flut von körperlichen und emotionalen Schmerzen überschwemmt.

Wir haben als Menschen die Fähigkeit, solche Traumen zu verarbeiten und zu überleben, wenn diese nicht zu überwältigend waren. Sie bleiben als Wunde abgespaltet gespeichert und sind die Ursache beträchtlicher seelischer Symptome im späteren Leben. Eine weitere seelische Wunde im frühen Lebensalter entsteht, wenn die Mutter vom Kind verlangt, das Kind solle sich um die Mutter kümmern und nicht wie im Normalfall umgekehrt.

Hans Eberhart Richter hat in seiner Habilitationsschrift „Eltern, Kind, Neurose“ ausführlich darüber geschrieben, welche Formen von krankmachenden Erwartungen Eltern an ihr Kind haben können. Die eben beschrieben Form ist die, dass die Mutter in ihrem Kind ihre eigene Mutter sieht und entsprechend Zuwendung und Aufmerksamkeit von ihrem Kind erwartet. Die große Schwierigkeit von Eltern besteht ja darin, das eigene Kind so zu sehen, wie es ist. Tatsächlich sehen wir unsere Kinder immer durch die Brille unserer eigenen Erwartungen und Befürchtungen.

Zur zeitlichen Zuordnung unserer Wunden: Bis zum dritten Lebensalter besitzt das Kind außer der `Abspaltung´ keine Abwehrmechanismen. Das bedeutet, dass Erziehungspersonen das Kind manipulieren können. Sie geben ihm eine Software ein, die ein Leben lang im Gehirn gespeichert bleiben wird. Zum einen kann das Kind sich nicht dagegen wehren, zum anderen erinnert es sich später nicht einmal, dass es bestimmte Programme in sich gespeichert hat, die sein Verhalten unbewusst bestimmen.

Ungefähr fünfundneunzig Prozent unseres Gehirns sind durch Reflexe und eingegebene Automatismen besetzt. Nur zu fünf Prozent, im sogenannten Frontallappen, sitzt unser „freier Wille“, unsere bewusste Aufmerksamkeit, der uns entscheiden lassen kann, ob unsere Handlungen auch unseren eigenen Vorstellungen entsprechen. Ob wir aus freiem Willen heraus handeln. Die Konsequenz dieser Überlegungen ist dramatisch. Hauptsächlich reagieren wir in unserem Handeln unbewusst, reflexhaft. Besonders wenn wir unter Stress stehen, sind nur die Programme, die Automatismen aktiv und nicht unser Bewusstsein.

Dies ist in bestimmten Situationen durchaus nützlich. Stellen wir uns vor, ein Tiger würde plötzlich vor uns auftauchen. Es wäre nicht praktisch, sich zu überlegen, ob dieses Tier gefährlich ist oder nicht. Oder ob es sich vielleicht um eine Täuschung unserer Sinne handelt. Während wir nachdenken, wären wir schon gestorben. Es geht hier um rasches Handeln. Bewusste Wahrnehmung ist nur in entspannter Haltung möglich. Wie können wir uns aber sicher sein, dass wir dennoch nicht nach einem Programm, sondern nach unserem freien Willen handeln?

Verlassen können wir uns nur auf unsere Gefühle. Wenn wir vor der Entscheidung stehen zu handeln und wir uns ganz sicher sind, dass es korrekt, richtig und in Übereinstimmung zur Moral und staatlichen Gesetzen steht, sollten wir auf unser Gefühl achten. Wenn dieses aufschreit, ist dies ein Zeichen, dass wir nach einem Programm handeln und nicht aus eigener Überzeugung heraus.

Es ist natürlich eine Bürde, alle staatlichen und moralischen Gesetze zu prüfen, bevor wir sie befolgen. Ebenso die verinnerlichten Gebote unserer Eltern. Wir bewegen uns gegen den Strom. Oft werde ich von meinen Patienten gefragt, was das „richtige“ Handeln ist. Leider gibt es kein verlässliches Buch, wo wir das nachlesen können. Selbst staatliche Gesetze können unmoralisch und falsch sein. Denken wir nur an das Naziregime und seine Gesetze. Es hat in dieser Zeit viel Kraft gekostet, sich dagegen zu entscheiden.

Ich bringe hier eine Geschichte aus meinem eigenen Familienkreis. Mein erster Schwiegervater, ein einfacher Eisenbahnarbeiter, ging an jenem Tag am Wiener Heldenplatz vorbei, als sich Hitler durch eine Masse von hunderttausend Menschen feiern ließ. Mein Schwiegervater dachte bei sich: „Kann es denn sein, dass ich als ungebildeter Mensch so klar spüre, dass alle diese Menschen falsch liegen und ich alleine richtig denke?“ Er blieb dennoch bei seiner Entscheidung und ließ sich nicht von der allgemeinen Begeisterung mitreißen.

Die Antwort auf die Frage „In welchem Buch soll ich nachlesen, was richtig ist?“, lautet: „In dem Buch des Lebens, welches Du gerade selbst schreibst!“ Dies ist eine große Verantwortung für uns alle und bedeutet aus unserem Verstand, unserem Herzen und aus unserem Bauchgefühl heraus zu entscheiden. Dennoch bleiben wir immer fehlbar.
Es ist viel leichter im Gesetzbuch, in der Bibel und deren Auslegungen nachzulesen, die Meinung unserer Eltern zu befolgen, als selbst die „richtige“ Entscheidung zu treffen.

Wenn das Kind einmal das vierte Lebensalter erreicht hat, ist es reif genug, sich durch spezifische Abwehrmechanismen zu wehren. Dies geschieht auf psychischer und körperlicher Ebene. Die Körperpsychotherapie beschäftigt sich mit den muskulären Abwehrmechanismen, die Wilhelm Reich den “Muskelpanzer“ genannt hat. Allerdings wissen wir heute, dass die frühen Störungen nicht mit chronischer Verspannung der Skelettmuskulatur auf Traumen reagieren.

Wir haben vor uns, körperlich gesehen, die sogenannten „weichen Strukturen“, wie Will Davis sie einmal genannt hat – im Unterschied zur „harten Struktur“ der klassisch Reichianischen Panzerung. Die therapeutische Herangehensweise ist eine andere, eine sanftere, wie zum Beispiel mein Ansatz der Emotionalen Reintegration. Sie heißt deshalb auch der `sanfte Weg´. Die Wunden, mit denen wir uns weiter beschäftigen werden, entstehen also im ersten, im zweiten und im dritten Lebensjahr. Sie sind für die Fähigkeit, später therapeutisch zu handeln, entscheidend.

Zunächst geht es darum, sich der eigenen Verletzung bewusst zu werden und sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Sich selbst also Hilfe zu holen. Dann können in dem geschützten Raum frühkindliche Situationen nochmals erlebt werden und durch die liebevolle Begleitung des Therapeuten, durch seine Aufmerksamkeit und sein Wissen, selbstregulativ zu heilen beginnen.

Die Rolle der Wunde bei der Partnerwahl

Ganz bedeutend ist die Wunde bei der Wahl eines Partners. Instinktiv wird eine Partnerin oder ein Partner gesucht, der der fordernden Mutter gleicht. In der Hoffnung, endlich so gesehen und geliebt zu werden, wie man wirklich ist. Diese Wahl sieht wie eine Falle aus, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt. Auch bei ausreichender Therapie bleiben jene Menschen, die Ähnlichkeiten mit dem Charakter der Mutter tragen, anziehend und attraktiv, obwohl sich in solchen Beziehungen das frühe Drama des Kindes wiederholt.

Er oder sie gibt und kümmert sich um den Partner oder die Partnerin, bekommt aber wieder nicht die Wertschätzung noch die Fürsorge, die ersehnt wird. Man kommt sich durch den Partner ausgenützt vor, es kommt nichts zurück. Dennoch bleibt die Hoffnung, dieses Verhalten könnte sich einmal ändern – und trotz allem bleibt man in der trostlosen Beziehung hängen.

Die beschriebene Suche nach einem Partner, der mütterliche Züge trägt, bezieht sich nur auf frühe Störungen. Es ist die Mutter, die in den ersten drei Lebensjahren für die Ausbildung des Selbstgefühls und des Selbstwertes entscheidend ist. Im idealen Falle ist die Mutter dem Kind zugewandt, sie spiegelt das Kind und stützt sein Selbstwertgefühl.
Daher entsteht bei einem Fehlen dieser Zuwendung, aus welchem Grunde auch immer, ein emotionales Defizit und fehlendes Selbstvertrauen. Es ist von Bedeutung, wonach der Therapeut beim Erstgespräch frägt. „Was fehlt Ihnen?“ bezieht sich auf Defizite, „Was haben Sie?“ bezieht sich auf Symptome.

Wenn die Traumatisierung nach dem dritten Lebensjahr erfolgt ist, entstehen die in der Körperpsychotherapie so genannten „harten Strukturen“. Also der masochistische Charakter, der psychopathische (in der Psychoanalyse der narzisstische Charakter), der rigide und der hysterische Charakter. Ich setze das Verständnis dieser Begriffe voraus, empfehle sonst mein Buch „Emotionale Reintegration“. Diese Charakterstrukturen werden sich eher einen Partner suchen, der, zumindest in wesentlichen Punkten, dem Charakter des Vaters entspricht.

Ist die Situation bei der Partnersuche also hoffnungslos? Nein! Ich habe folgende Vorstellung von einer Lösung dieser schwierigen Aufgabe, die zu einer liebevollen und partnerschaftlichen Beziehung führen kann: Wir als hilflose Helfer, suchen uns einen Partner mit ähnlichen Wesenszügen der Mutter, um durch neuerliches Durchleben des Beziehungsdramas – diesmal aber mit den Fähigkeiten eines Erwachsenen, und das ist der Unterschied zum hilflosen Kind – das Thema aufzulösen.

Ist dies ohne Therapie überhaupt möglich?

Ich glaube schon. Überlegen wir uns, wie viel Prozent der Menschen weltweit in Psychotherapie gehen. Es ist ein verschwindend kleiner Anteil, wenn wir zum Beispiel den asiatischen Kontinent, Ozeanien oder Afrika betrachten.
Bedeutet dies, dass alle diese Milliarden Menschen verloren sind und nur unglückliche Beziehungen führen können?
Meine Vorstellung über den Sinn einer Beziehung ist die Möglichkeit aneinander und miteinander zu lernen, also aneinander zu wachsen und die Defizite der Kindheit, wenn sie auch nicht aufzulösen, sie jedoch durch die neue emotional korrigierende Erfahrung in der Partnerschaft zu relativieren.

All diese Überlegungen gelten für die heilende Funktion einer geglückten Beziehung. Wenn die Partnerwahl auf einen Menschen fällt, der zu sehr der Mutter ähnelt, muss die Beziehung scheitern: lediglich eine gewisse Ähnlichkeit lässt hoffen, dass es zu einer Heilung kommt. Wenn es um die therapeutische Heilung der Wunde geht – und das ist die Voraussetzung, um selbst therapeutisch zu arbeiten – bedarf es mehr. Eine gründliche Durcharbeitung des Themas ist notwendig.

Damit ist gemeint, dass es in der Therapie zunächst um das Verstehen der Zusammenhänge geht – das berühmte „Aha-Erlebnis“. Aber damit ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Alice Miller spricht über den therapeutischen Prozess folgendermaßen: Zunächst erkennt der Patient, was er tut und warum er es tut. Beim nächsten Mal, wenn er in eine ähnliche Situation kommt, erkennt er die Falle, fällt aber dennoch wieder hinein.

Das nächste Mal erkennt er die Falle rechtzeitig, fällt aber wieder hinein. Letztlich kann er vor der Falle stehen bleiben und sich entscheiden, aufgrund seiner Ressourcen als Erwachsener, einen anderen Weg einzuschlagen. Jetzt kommt die Pointe: Wenn der Patient sich in einer Krise befindet, fällt er in die Falle, so als ob er noch nie die Zusammenhänge verstanden hätte. Es handelt sich also um einen Prozess, bis der Patient auch in Krisen gelernt hat, anders zu entscheiden, als sein Programm ihn leitet. Die Psychoanalyse nennt diesen Prozess „Durcharbeiten“.

Mir fällt dazu der Spruch von Konrad Lorenz, dem berühmten Verhaltensforscher, der den Nobelpreis für Physiologie erhalten hat, ein: „Gehört ist nicht zugehört – zugehört ist nicht verstanden – verstanden ist nicht einverstanden – einverstanden ist nicht durchgeführt und durchgeführt ist nicht beibehalten!“

Was beeinflusst unsere Berufswahl zum Therapeuten?

Wenn wir Medizinstudenten im ersten Semester im Anatomiesaal beobachten, können wir ziemlich genau voraussagen, ob der betreffende Student später Chirurg, Zahnarzt, Orthopäde oder aber Internist, Kinderarzt oder Psychiater wird.
Wenn keine innere Wunde besteht, entwickelt sich kein Interesse beim späteren Arzt, sich den Rest seines Lebens die seelischen Probleme anderer Menschen anzuhören. Erst die Erfahrung der eigenen frühen Wunde macht diese Menschen empfindsam für das seelische Befinden ihrer Patienten.

Es entsteht ein Verstehen des Anderen auf unbewusstem Wege. Wir können körperpsychotherapeutisch auch von `somatischer Resonanz´ sprechen. Beim Erkennen der Wunde des Gegenübers beginnen wir die eigene Wunde zu spüren. Das Vorhandensein einer eigenen Wunde lässt Studenten Psychologie, Psychotherapie, Theologie und Sozialberufe studieren. Dieses Hingezogen sein zu leidenden Menschen geschieht zunächst unbewusst.

Der Betroffene erzählt zum Beispiel in der eigenen Therapie, dass er verwundert ist, dass sich Menschen aus seiner Umgebung mit psychischen Problemen gerade an ihn wenden würden. Es ist diesen Personen eher unangenehm, sich als Klagemauer zu sehen oder schlimmstenfalls als Mistkübel fremder Sorgen. Sie besitzen ja noch kein Werkzeug, mit dieser Gabe sorgsam umzugehen. Es fehlt am Beginn noch völlig das Verständnis, warum sie wie ein Magnet für seelische Probleme anderer wirken und leiden oft darunter.

Alice Miller hat in ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes“ ausführlich beschrieben, was mit einem Kind geschieht, welches den Auftrag der Mutter in sich trägt, sich um die eigene Mutter kümmern zu sollen, anstatt umgekehrt. Es entwickelt so etwas wie eine `Antenne´, mit der es sofort fühlt, wenn die Mutter etwas braucht. Diese Antenne wird zu dem Werkzeug, welches auch im Erwachsenenalter erhalten bleibt und uns spüren lässt, was unser Gegenüber braucht.

Solange wir uns allerdings dieser Begabung nicht bewusst sind, um sie therapeutisch zu nützen, sind wir selbst Opfer dieser Fähigkeit. In dem Sinne, als wir anderen zwanghaft helfen, ohne uns selbst helfen zu können. Wir fühlen uns von den Menschen ausgebeutet und missbraucht, bei gleichzeitiger Sehnsucht, selbst einmal mit unseren Schmerzen gesehen zu werden.

Wolfgang Schmidbauer nannte in seinem großartigen Buch diese Per-sonen „Die hilflosen Helfer“.

Das Wort „Trauma“ bedeutet körperliche oder seelische Verletzung. Wir unterscheiden zwischen frühen und frühesten Traumen und Traumen ab dem dritten Lebensjahr. Außerdem gibt es Traumen im Erwachsenenleben, die als „posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnet werden.

Frühe Traumen bezeichne ich als Traumen vor dem dritten Lebensjahr. Früheste Traumen sind seelische Verletzungen vor, während und nach der Geburt. Bereits im Uterus bekommt der Embryo mit, was seine Mutter emotional empfindet. Wenn sie leidet, leidet der Embryo, wie im vorigen Kapitel besprochen, mit.

Die Wunde kann nicht von selbst heilen. Dazu wäre es notwendig, die dazugehörigen Emotionen zuzulassen. Wir wissen, dass Säuglinge als Reaktion auf massiven psychischen Stress sterben können. Deshalb spalten sie ja als Schutzmechanismus die Verletzung ab. Bereits in den 1930er Jahren beobachtete Rene Spitz an Säuglingen in Waisenhäusern viele spontane Todesfälle, obwohl die Säuglinge hygienisch und ernährungsmäßig bestens versorgt waren. Die fehlende emotionale Zuwendung war zu viel Stress, um überleben zu können.

Unser Unbewusstes – ich meine nicht das Unterbewusste im Freudianischen Verständnis, einen Ort wo alle verdrängten Traumen gespeichert sind, sondern unser großes Potential an psychischen und seelischen Reaktionen, welches uns zur Verfügung steht, ohne dass wir uns seiner bewusst sind, dieses Unbewusste ist und bleibt ein Kind. Entsprechend verhält es sich auch bezüglich der Verarbeitung früher und frühester Traumen. Es traut sich nicht die Emotionen hochkommen zu lassen, ohne die eine Heilung nicht möglich ist, obwohl diese Emotionen – Arthur Janov nannte sie den Urschmerz – die starke Tendenz haben, an die Oberfläche zu treten.

Neurologisch gesehen verwenden wir große Gehirnareale, um diesen Urschmerz zu unterdrücken. Aus Angst, diese überwältigenden seelischen Schmerzen nicht ertragen zu können, wählen wir entweder eher ein Abreagieren dieses inneren Druckes, etwa durch eine Arbeitswut („workoholic“), oder durch extremen Sport, manchmal auch durch Promiskuität. Eine Form der emotionslosen Abreaktion mit vielen Sexualpartnern, ohne die Fähigkeit Gefühle wie Hingabe oder Liebe zuzulassen. Ein anderer Weg, den Urschmerz unterdrückt zu halten, ist die Dämpfung durch Drogen wie Alkohol, Cannabis, Heroin oder ähnliche Suchtmittel.

Die Heilung der Wunde

Die Wunde selbst ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns für den Beruf des Therapeuten entscheiden. Um ihn aber ausüben zu können, bedarf es einer gründlichen Reflexion durch eine Therapie. Sonst sind wir die hilflosen Helfer, die selbst mitleiden, ohne wirklich helfen zu können. Es geht ja in der Therapie nicht um direktives Handeln, es geht nicht darum, Ratschläge zu geben oder Anweisungen zu erteilen.

Es geht ausschließlich um bewusste Wahrnehmung, die des Therapeuten und die des Klienten. Wir als Therapeuten besitzen ja kein Werkzeug bei unserer Arbeit. Unser Werkzeug sind wir selbst. Ich bezeichne den unbehandelten Therapeuten gerne als einen Rohdiamanten, der erst geschliffen werden muss. Dann erst besitzt er viele Facetten, in denen sich der Patient auch spiegeln kann.

Ich hoffe durch diese Überlegungen Therapeuten, oder denjenigen Personen, die diesen Beruf anstreben, etwas Verständnis über diese grundlegenden Gegebenheiten im therapeutischen Feld mitzugeben und bin auch gerne zu einer theoretischen Auseinandersetzung oder Bereicherung durch eigene Erfahrungen bereit.

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Kontaktadresse:
office@peterbolen.at
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    Bukumatula 1/2016

    Ursprung von „Liebe, Arbeit und Wissen

    von
    Peter Bolen:

    Dies ist das Motto aus dem Vorsatzblatt der meisten deutschen Ausgaben von Reichs Büchern, die ab 1966 erschienen sind (zit. aus: „Die sexuelle Revolution“, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main. Erstmals in englischer Sprache gedruckt in: „The Function of the Orgasm“; Orgone Institute Press, Rangeley, ME/USA, 1942).

    Mich hat dieses Motto auf meinem Lebensweg begleitet.

    Heute bin ich über dieses Zitat neuerlich gestolpert, es stammt allerdings aus dem Jahre 300 vor unserer Zeitrechnung!

    An meinem Lebensabend beschäftige ich mich mit meinen jüdischen Wurzeln und studiere Hebräisch, Althebräisch und Aramäisch.

    Es gibt in der jüdischen Religion die Tora. Tora (auch Thora, Torah; Betonung auf „a“, in jiddisch Tojre, auch Tauroh; von hebräisch ‏תּוֹרָה‚ Gebot, Weisung, Belehrung, von jarah‚ `unterweisen´) ist der erste Teil des Tanach, der hebräischen Bibel. Sie besteht aus fünf Büchern, weshalb sie im Judentum auch chamischa chumsche tora‚ `Die fünf Fünftel der Tora´ genannt wird. Die griechische Bezeichnung ist Pentateuch (Πεντάτευχος). In den deutschen, christlichen Bibelübersetzungen sind dies die Fünf Bücher Mose.

    Bei der Tora handelt es sich um eine schriftliche Überlieferung. Daneben gibt es aber auch eine mündliche Überlieferung, die Mischna. Die Mischna (hebr. ‏מִשְׁנָה‎, „Wiederholung“) ist die erste größere Niederschrift der mündlichen Tora und als solche eine der wichtigsten Sammlungen religionsgesetzlicher Überlieferungen des rabbinischen Judentums, aufbauend auf der Kodifizierungsleistung der Tannaim. Die Mischna bildet die Basis des Talmud.

    Darin, bzw. im Buch von Michel Krupp „Einführung in die Mischna“ (Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Frankfurt/Main und Leipzig 2007) lese ich auf Seite 91 folgende Sätze: „Aus der Zeit vor den fünf Gelehrtenpaaren kennt die Tradition zwei Männer: Der erste ist Shimon der Gerechte. Entweder handelt es sich bei ihm um den bei Josephus, Ant.XII 43 erwähnten Hohepriester gleichen Namens (um 300 v.u.Z.) oder seinen Enkel Shimon II (um 220 v.u.Z.) Josephus Ant.XII 224, Sir 50,1-21.“

    Der Kernspruch jedenfalls lautet:

    Auf drei Dingen ruht die Welt, auf der Tora, auf der Arbeit (avoda) und auf der Liebe (ahava).“

    Mit Tora ist das Wissen über die Tora gemeint, das Wort avoda kann mit `profane´ Arbeit oder Gottesdienst übersetzt werden, ahava kann auch als Liebestätigkeit übersetzt werden.

    Eine nicht zufällige Übereinstimmung dieser zwei Zitate. Reich war Jude und kannte aus seiner Kindheit die Inhalte der jüdischen Religion.

    Vielleicht kann diese kleine Forschungsreise in die jüdische Vergangenheit für die Leser der Schriften Wilhelm Reichs von Interesse sein.

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    Bukumatula 2/2016

    Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern

    Herausgeber: Thomas Harms, Psychosozial-Verlag; Gießen, 2016
    Buchrezension von
    Beatrix Teichmann-Wirth:

    „Alles ist nutzlos bis auf die Säuglinge. Sie müssen zum unverdorbenen Protoplasma zurück.“ (Wilhelm Reich)

    „Die Schädigung erfolgt genau da, gleich am Anfang, gleich nach der Geburt. Da erfolgt die Disponierung für alles Weitere. Das `Nein´, der Trotz, die Wunschlosigkeit, die Meinungslosigkeit, die Unfähigkeit, irgendetwas zu entwickeln. Die Leute sind stumpf. Sie sind stumpf, tot, uninteressiert. Und dann entwickeln sie ihre Pseudokontakte, Ersatzfreuden, Ersatzintelligenz, oberflächliche Sachen, die Kriege, usw. Das geht sehr weit….“ meinte Wilhelm Reich zu Eissler, 1952. (Teichmann-Wirth in Bukumatula 2/94)

    Diese Not am Lebensanfang greift Thomas Harms als Herausgeber im vorliegenden Buch auf. Die von namhaften Experten verfassten Artikel zeigen verschiedenste Wege auf, wie diese Not zu lindern, beziehungsweise zu verhindern ist. Es ist ein wissenschaftliches und sehr umfangreiches Buch. Und es ist ein auf die Arbeit mit Säuglingen und Eltern fokussiertes Buch.

    Und es ist viel mehr als das, weshalb ich es auch TherapeutInnen, ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen und Großeltern ans Herz legen mag. Zeigt es doch auf, wie wesentlich ein gelingender Start ins Leben – von Anbeginn an – ist. Und es beschreibt wie Leben funktioniert, in seiner Essenz und wie es in seinem Funktionieren gestört werden kann. All diese Feinheiten der Beziehung von Leben zu Leben werden in berührender Weise in den Beispielen aus der Praxis beschrieben.

    Für TherapeutInnen ist es deshalb so wesentlich, weil es die kleinen, zarten körperlichen Regulations- und Austauschprozesse in den Mittelpunkt rückt, welche sich ja immer auch in der Arbeit mit erwachsenen KlientInnen ereignen und welchen gegenüber den Inhalten, den verbalen Mitteilungen, allzu oft zu wenig Beachtung geschenkt wird.

    Das Buch hat aber auch das eigene innere Kind in mir berührt, jenes Kind, das ganz und gar nicht sanft geboren wurde, im Gegenteil – in ein gleißendes Licht gewaltsam herausgeholt und gleich mal an den Füßen gepackt, Kopf unter hängend, mit einem kräftigen Klaps auf den Hintern zum Schreien gebracht wurde. Welch eine Begrüßung!
    So kann ich mit meinem ganzen Organismus nachempfinden, was Wilhelm Reich in seinem Gespräch mit Eissler 1952 über die Folgen einer derartigen Geburt in eindrücklicher Weise beschreibt: „Und was geschieht mit ihnen? Sehen Sie sie sich an. Sie können nicht sprechen. Sei weinen nur. Was sie tun ist, daß sie zurückschrecken. Sie ziehen sich zusammen, gehen in sich, fort von der hässlichen Welt. …. Es weint nur. Und endlich gibt es auf. Es gibt auf und sagt `Nein´!“ (Reich, zit. in Bukumatula 2/94, S.15)

    Seitdem hat sich viel verändert, Frauen werden in ihrer Schwangerschaft von Hebammen begleitet, sie können für gute Bedingungen sorgen, wo und mit wem die Geburt stattfinden soll. Sie können ihren Mann mitnehmen, müssen die Geburt nicht mehr flach auf dem Rücken liegend, also in einer entkräftigenden Position ertragen – es gibt Sprossenwände, Gummibälle, Gebärstühle und damit mehr Selbstwirksamkeit und Einflussnahme auf den Geburtsprozess.

    Dennoch – trotz der wertvollen Arbeit, welche durch Eva Reich, Leboyer und andere in Bezug auf eine wirklich Sanfte Geburt auch in Europa geleistet wurde, fehlt es meiner Ansicht nach oftmals nach wie vor am Wesentlichen – an einem wirklich kontaktvollen, ungetrennten, resonierenden “In Empfang nehmen“ des kleinen Menschenkindes.

    So handelt es sich auch in den vielen Beispielen aus der Praxis im vorliegenden Buch oftmals um engagierte, auf der Ebene des Bewusstseins sehr gut vorbereitete Eltern, welche jedoch durch Stress in der Schwangerschaft, durch Traumatisierungen rund um die Geburt oder ein Überwältigtsein von dem nicht zu beeinflussendem Schreien des Säuglings, bzw. durch eigene Geburts- und frühkindliche Erfahrungen, welche teilweise gar nicht bewusst sind, aus dem vegetativen organismischen Kontakt gehen und damit keinen Halt mehr geben können, womit die Spirale der Not seinen Ausgang nimmt. Diese Verletzungen zu überwinden, die Selbstregulationsfähigkeit wieder herzustellen und damit wieder einen strömenden, haltgebenden Kontakt zu ermöglichen ist Ziel all der Ansätze, welche im Buch vorgestellt werden.

    In allen Ansätzen spielt – wie schon im Titel angesprochen – der Körper eine entscheidende Rolle, in allen wird auf die Triangulierung geachtet, und es findet eine Pendelbewegung der Aufmerksamkeit vom Baby zu den Eltern statt. Alle beziehen Erkenntnisse aus der modernen Bindungs-, Trauma- und Gehirnforschung mit ein.

    In einem einführenden Beitrag zu den theoretischen Grundlagen, der Praxis und den Anwendungen in der Eltern-Kind-Psychotherapie stellt Harms folgende Kernpunkte der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit Eltern und Babys vor, welche in allen Ansätzen – mit unterschiedlicher Gewichtung, zum Tragen kommen:

    Punkt 1: Der Körper als Referenzpunkt der Eltern-Säuglings-Psychotherapie:

    Gelingende und nicht gelingende Interaktionen spiegeln sich in spezifischen Körperfunktionen und -qualitäten wider. Die Feinfühligkeit zeigt sich im Körperlichen beispielsweise in einem seufzenden Atemzug der Mutter, im Klang der Stimme ebenso wie in der Zartheit der Berührung.

    Bindungs- und Regulationsprozesse sind im Körper verwurzelt. In der Körperpsychotherapie wird in einem „bottom-up“-Vorgehen z.B. auf die Stress- und Spannungszustände, welche die Beziehungs- und Resonanzfähigkeit einschränken direkt über Interventionen wie Berührung, Ateminterventionen und Imagination eingewirkt. Im Gegensatz zu Ansätzen, welche durch Verhaltensbeobachtung das Beziehungsgeschehen erkunden, ist es in der Körperpsychotherapie das subjektiv-verkörperte Erleben der frühen Beziehung zum Kind, das erkundet wird.

    Basis ist hier das theoretische Fundament Wilhelm Reichs: die muskuläre, bzw. in den neoreichianischen Ansätzen, die Gewebepanzerung und deren emotionale Funktion. Diese Körperinformationen sind leitend für das therapeutische Handeln; auch die Atmung ist sowohl diagnostisch als auch therapeutisch zentral. Die Körperberührung ist ein anderes Instrument, um der Mutter zu ermöglichen, wieder Halt in sich selbst zu finden und damit auch dem Baby Sicherheit zu vermitteln.

    Punkt 2: Therapeutische Unterstützung des Babyschreiens:

    Durch Körperberührung und achtsame Beobachtung von Körperprozessen ermöglicht man es den Eltern z.B. in der Emotionalen Ersten Hilfe nach Harms auch bei andauerndem Schreien des Kindes in einem haltenden Modus zu verbleiben.

    Punkt 3: Einbezug der prä- und perinatalen Dimensionen menschlicher Entwicklung:

    Prä- und perinatale Traumatisierungen finden in der heutigen Säuglings- und Köperpsychotherapie übereinstimmend als wesentliche ätiologische Faktoren für Regulationsstörungen zwischen der Geburt und dem dritten Lebensjahr große Beachtung.

    Punkt 4: Körperpsychotherapeutische Arbeit mit dem Baby:

    Im Gegensatz zu analytischen bzw. verhaltenstherapeutischen Ansätzen, wo sich die therapeutischen Interventionen an die Eltern richten, wird in den Körperpsychotherapien direkt mit den Säuglingen gearbeitet. Die klinische Erfahrung zeigt, dass das Baby durch seine Bewegungen und Körperpositionen seine Geburtsgeschichte und die Geschichte der Schwangerschaft ausdrückt. Der Therapeut kann hier unterstützend sein, indem er beispielsweise durch Widerstand auf die Fußsohlen eine Möglichkeit gibt, dass das Baby in einer Art Neuinszenierung den Weg durch den Geburtskanal „schafft“.

    Grundlegende Werkzeuge in der Säuglings-Körperpsychotherapie sind zu allererst die achtsame Körperwahrnehmung zur Erkundung von elterlichem Körper- und Affekterleben während des Stresserlebens. Durch die konsequente Hinwendung zum Körpererleben erfolgt der Aufbau von verstärkter Selbstanbindung der Eltern – und ist damit die Basis, um auch in stressreichen Situationen bei sich zu bleiben und damit Halt und Sicherheit zu geben.
    Der Atem wird auch zur Stärkung der Entspannungsfähigkeit genutzt.

    Dies geschieht durch eine Betonung der Ausatmung, wodurch eine Anregung des parasympathischen Nervensystems erfolgt. Zum anderen unterstützt die Hinwendung der Aufmerksamkeit zur Atmung die Innenwahrnehmung der Eltern und dient auch als Frühwarnsystem, um festzustellen, wann durch den Verlust des Kontaktfadens zur Atmung auch die Selbstanbindung und damit die haltgebende Präsenz verloren geht. Die Aufmerksamkeit auf die Bauchatmung hat bei Harms einen besonderen Stellenwert.

    Körperberührung als Sicherheitsaufbau: In traumatriggernden Situationen, wie das z.B. das Schreien eines Kindes ist, wirkt eine gemeinsam von Eltern und Therapeut gewählte Stelle am Körper, an dem eine Berührung erfolgt wie eine Sicherheitsstation, von welcher ausgehend der Kontakt zu sich und zum Kind bekräftigt wird. Auch kann der Therapeut über den körperlichen Kontakt feststellen, wenn der Bindungsfaden dünner wird oder sogar abreißt. Über die Rückmeldungen der Klienten kann sukzessive selbst wahrgenommen werden, wenn der Nabelschnurkontakt zum Kind verloren geht.

    Bindungsstärkung durch Imagination: Durch die Imagination von gelingenden Beziehungsmomenten ist es möglich, dieses Erleben zur Ressource zu machen und diese sodann über die Bauchatmung in die belastende Situation, z.B. abends beim Schlafengehen „hineinzunehmen“.

    Harms unterteilt die im Buch vorgestellten Ansätze in 6 Subgruppen:

    • pränatal-psychologische Konzept
    • neoreichianische Konzepte
    • psychoanalytische Konzepte
    • tanz- und bewegungstherapeutische Ansätze
    • interaktionale und videogestütze Konzepte
    • sonstige – im engeren Sinne körpertherapeutische Ansätze wie Craniosacrale Osteopathie und Tomatis.

    Ich werde im Folgenden auf die einzelnen Artikel ausführlicher eingehen, da die Unterschiede aber auch die Besonderheiten und auch die Atmosphäre des jeweiligen Ansatzes sich erst durch eine genauere Beschreibung zeigen.

    1) Pränatal-psychologische Konzepte:

    In der Einführung in die Geschichte der pränatal-psychologischen Sichtweise auf die Eltern-Säuglings-Psychotherapie durch Ludwig Janus wird deutlich, dass hier das Erleben vor die Deutung und das (kognitive) Verstehen gestellt wird. Dazu gehört vor allem die Beachtung von Körperempfindungen und Befindlichkeiten. Durch die empathische Begleitung kann ein, wie Janus sagt „Nach- und zu Ende-Erleben“ von überfordernder Belastung stattfinden. Diese Einfühlung ist körpernah, weshalb eine körperpsychotherapeutische Kompetenz der Therapeuten unbedingt erforderlich ist. Konkrete Ansatzweisen, um die prä- und perinatalen Verletzungen zu überwinden und zu integrieren, werden im Anschluss in den Beiträgen von Appleton, Bücher, Käppeli, Stulz-Koller und Renggli vorgestellt.

    Appleton bringt bereits im Titel seines Beitrags „Jedes Baby hat eine Geschichte zu erzählen“ zum Ausdruck, dass entgegen früherer Anschauung, wonach Babys sich an nichts erinnern können und auch keinen Schmerz empfinden, sehr wohl über die Körpererinnerungen das Geburtsgeschehen und sogar pränatale belastende Ereignisse repräsentiert sind. Der Geburtsverlauf wird von Appleton mit psychischen Themen verknüpft. So ist z.B. der Abstieg des Babys in den Beckeneingang bei noch geschlossenem Muttermund mit den Themen „Anfänge“ und „Ausweglosigkeit“ verbunden, während im letzten Geburtsabschnitt, der mit der Geburt des Kopfes beginnt, die Themen „Exponierung“, „Trennung“ und „Invasion“ angestimmt werden.

    Als Psychotherapeutin finde ich es sehr interessant, dieses Wissen um die prägenden frühen Erfahrungen zur Verfügung zu haben, um verstehen zu können, wo die tieferen Ursachen für ein andauerndes Gefühl der Ausweglosigkeit liegen können. In Bezugnahme auf Terry Larimore und Graham Farrant gehen diese prägenden Erfahrungen sogar bis zur Einnistung zurück – das ist ein Hinweis darauf, dass das Bewusstsein nicht bloß ein Phänomen des Gehirns ist, sondern auch Zellen, Gewebe und sogar Feldern innewohnt. (Chamberlain, 2013, zit. aus Appleton, S.56)

    Babys erzählen diese Geschichten in „nicht willkürlichen, nicht zufälligen Bewegungen“, in der sogenannten Babykörpersprache. In Videos von Thomas Harms kann man beispielsweise eindrucksvoll sehen, wie die Babys durch wiederholte Bewegungen versuchen, aus einem Feststecken heraus zu kommen. Die Babykörpersprache ist oft mit einem Schreien verbunden, dem Erinnerungsweinen – im Unterschied zum Bedürfnisweinen, einem Weinen aufgrund eines unerfüllten Bedürfnisses (Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Müdigkeit, Überstimulation, etc.). Das Baby erzählt hier seine (traumatische) Geschichte. Diese Unterscheidung finde ich sehr wertvoll, werden Babys doch oftmals bei jedem Schreien ruhig gestellt, z.B. durch Füttern.

    Mit diesem Wissen könnten Stresszyklen und Frustrationserlebnisse verhindert werden, und es könnte mit Gelassenheit ermöglicht werden, das Baby sich ausdrücken zu lassen und ihm zuzuhören, welche Geschichte es zu erzählen hat. „Emotionaler und physischer Schmerz kann nur für eine bestimmte Zeit ertragen werden. Wenn die Qualen nicht nachlassen, kann das zu Resignation und Dissoziation führen. Wenn dem Weinen der Babys nicht angemessen begegnet wird (d.h., das Erinnerungsweinen z.B. mit einem Hunger-Weinen verwechselt wird) oder wenn man es alleine weinen lässt, wird nicht nur das ursprüngliche Trauma nicht anerkannt, es wird auch noch überlagert von der Frustration, nicht verstanden zu werden.“ (Appleton, S.61)

    In der Integrativen Babytherapie wird versucht, einen „Möglichkeitsraum“ zu schaffen, wo beide – Eltern und Baby – ihre Erfahrungen einbringen können. Oftmals geschieht es, dass das Baby mit einem Erinnerungsweinen beginnt, wenn die Eltern über die traumatische Geburt oder die belastende Schwangerschaft erzählen. Die empathische verbale Spiegelung und der respektvolle Umgang mit dem Baby – die Eltern werden z.B. vor einer Intervention um Erlaubnis gefragt – gehört ebenso dazu, wie die Steigerung der Stresstoleranzschwelle der Eltern durch Atem- und Achtsamkeitstechniken.

    In der abschließenden Fallgeschichte wird in beeindruckender Weise geschildert, wie ein Baby durch seine Körpersprache zeigt, was es während des Geburtsprozesses erlebt hat. Der Therapeut folgt dem Ausdruck des Babys, er selbst gibt nichts vor.

    Auch im folgenden Artikel von Regina Bücher „Die Integration prä- und perinataler Erfahrungen nach Ray Castellino“ wird deutlich, wie stärkend es ist, sich dem pränatalen Geschehen zu- und nicht abzuwenden. In diesem Ansatz geschieht dies in einem Setting, in dem das Familiensystem und die Verbindungen zueinander im Mittelpunkt stehen. Die Arbeit orientiert sich an den Ressourcen und der Gesundheit. In sich selbst als Therapeutin zur Ruhe zu kommen, nichts zu wollen und sich mit dem Geschehen einzulassen sind wesentliche Voraussetzungen, um zu folgen.
    Beim nächsten Beitrag „Die Kaiserschnittgeburt“ von Klaus Käppeli wird zunächst auf die verschiedenen Arten von Kaiserschnittgeburten eingegangen.

    Aus der darauffolgenden Beschreibung und einer für mich äußerst berührenden `Begegnung mit Sandro´ will ich, um die Zärtlichkeit und den Respekt – welche im Übrigen in fast allen Artikeln durchklingen – spüren zu lassen, einige Zeilen zitieren: „Deine Mama erzählt gerade, wie sie die Zeit erlebt hat, als du geboren wurdest. Ich sehe, du bist ganz aufmerksam dabei. Ich bin offen und du kannst mir zeigen, wie diese Zeit für dich war.“ Ich habe den Impuls auf Sandro zuzugehen und sage: „Ich werde jetzt näher kommen und dich an deinen Füßchen berühren. Du zeigst mir, ob das für dich geht oder nicht.“ (Käppeli, S.94)

    Käppeli beschreibt sodann minutiös die Phasen einer Kaiserschnittentbindung im Hinblick auf das Erleben des Kindes und die weitreichende Bedeutung dieses Erlebens für das weitere Leben. Die Plötzlichkeit des Geschehens im Aufschneiden des Uterus, im Herausheben, im frühzeitigen Durchtrennen der Nabelschnur, hat weitreichende Implikationen für alle Ebenen des Seins. Besonders wenn ein Kaiserschnitt ohne bereits einsetzende Wehen erfolgt, ist es für ein Kind wie ein Überfall, ein unangekündigter, übermächtiger Einbruch in seine Welt.

    Hier geht es in der therapeutischen Arbeit z.B. darum, den Impuls ohne Druck zu reaktivieren und zum anderen darum, die Sicherheit des inneren Raumes wiederherzustellen, bzw. einen Umgang mit Angst vor Überfällen durch Rituale zu erlernen. Es wäre viel Bewusstseinsarbeit im medizinischen System zu leisten, um aus einer Operation eine Begrüßung eines neuen Menschen zu machen. Gerade bei diesem Artikel kam mir deutlich zu Bewusstsein, wie notwendig es ist, in jeder Therapie nach den genauen Umständen der Schwangerschaft und der Geburt zu fragen, ist es doch die Basis unseres Lebens, die alles Weitere grundlegender bestimmt, als dies beispielsweise meine Geschwisterrivalitäten sind.

    Im Beitrag von Antonia Stulz-Koller mit dem Titel „Kleinkinder als Taktgeber für die Eltern“ wird in eindrücklicher Weise gezeigt, wie sich der nachgeburtliche Tod eines Zwillings auf das Verhalten der eineinhalbjährigen Marina auswirkt – das Kind schreckte bei Berührung der schlaffen Beine einer Stoffpuppe jeweils heftig zusammen. Die Therapeutin spiegelt das, was sie wahrnimmt, benennt, dass die Beine von Tom – der Puppe – schlaff und ihre eigenen lebendig sind, und so gelingt eine Integration des Erlebten. Marina konnte damit zu einem sicheren Gang und einem `auf eigenen Beinen stehen´ verholfen werden. Die Begleitung erfolgt wahrnehmend, frei von Absichten, offen und ohne etwas hinzuzufügen.

    Auf die Krisen am Lebensanfang als Ausdruck eines Mehrgenerationen-Traumas geht Franz Renggli in seinem Beitrag „Ein Baby weint die Tränen seiner Eltern“ ein. Anhand eines Beispiels aus der Praxis mit der einjährigen Julia, welche mehrmals pro Nacht aufwacht und nicht zu beruhigen ist, geht der Autor der Familiengeschichte nach und zeigt auf, wie bis zur Generation der Großmutter höchst belastende Ereignisse die Geschichte prägen.

    Zwei Sätze, welche mich in diesem Artikel sehr berührt haben, möchte ich hier wortwörtlich zitieren: „Es gibt keine `schlechten´ Eltern oder `böse´ Großeltern, sondern es gibt nur traumatisierte Menschen – in mehr oder minder hohem Ausmaß“. (S.134) Das sich zu vergegenwärtigen, verhindert eine Parteinahme, die die Eltern verteufelt und sie damit in ein selbstunwirksames Eck stellt. Und zweitens: „So kann eine `Erschütterung´ am Lebensanfang nicht nur zu einer Quelle von Heilung für die Eltern werden, sondern auch für mehrere Generationen davor – und danach. Das `Weinen´ des Babys am Lebensanfang als Quelle von Heilung für die gesamte Familie.“ (S.137)

    Durch die Ermutigung, sich dem Kind aufmerksam zuzuwenden, ihm Gehör zu schenken, es nicht abzulenken und es vorschnell zu beruhigen geschieht eine Heilung des ganzen Systems, zurückreichend bis in Generationen davor – es ist dies ein Einverstandensein mit dem was ist und war. So liegt ein Schatz, ein Reichtum in jeder Krise verborgen, den es zu entdecken gilt. Das zu zeigen gelingt dem Autor sehr eindrücklich anhand eines sehr berührenden Beispiels aus der Praxis.

    2) Neoreichianische Ansätze:

    Sie basieren auf den Arbeiten und theoretischen Grundlagen Wilhelm Reichs, der bereits in den 40er bis 50er Jahren ein theoretisches Fundament für körperorientierte Eltern-Baby-Psychotherapie gelegt hat.

    In einem ersten Artikel führt Thomas Harms sein Konzept der Emotionellen Ersten Hilfe und die Grundlagen und Praxis bindungsbasierter Eltern-Säuglings-Körperpsychotherapie aus. Zentral ist in diesem Ansatz die Beachtung des Beziehungsfadens, der das Kind mit der Mutter bzw. den Eltern verbindet.

    Die Emotionale Erste Hilfe ist, wie schon der Name sagt, ein Kompendium aus verschiedenen (körperorientierten) Interventionsmöglichkeiten, um akute Brüche zu heilen. Der Ansatz geht auf Wilhelm Reichs Arbeiten zurück, der in diesem Zusammenhang auch von „emotional first aid“ gesprochen hat. Eva Reich hat ab Mitte der 80er Jahre diesen Ansatz in Europa verbreitet. Thomas Harms hat Anfang der 90er Jahre Schreiambulanzen ins Leben gerufen und in der konkreten Arbeit gesehen, dass die Reichsche Arbeit mit der Betonung auf Aufladung und Entladung einer Adaption bedarf.

    Unter Einbeziehung von Wissen aus der Traumatherapie (Levine und Van der Kolk), der Bindungsforschung (Brisch, Bowlby) und der Neurobiologie nach Porges, hat er einen Ansatz entwickelt, in welchem psychosomatische Resonanzinformationen (bei Reich als `vegetative Identifikation´ bezeichnet) in der Arbeit zentral sind. Auch der Fokus auf die prä- und perinatale Babykörpersprache, wie sie von den Pionieren Terry und Emerson erforscht wurden, wird berücksichtigt. Indikationsbereiche sind zum einen Hilfestellungen bei emotionalen Bindungsstörungen, wie auch die akute Krisenintervention bei unstillbarem Schreien, bei Schlaf- und Fütterungsproblemen und letztlich die Behandlung von prä-, peri- und postnatalen Traumatisierungen.

    Ziel ist eine Stärkung der elterlichen Feinfühligkeit und damit die Stärkung der Bindungsfähigkeit. Bindung wird nach Bowlby als „unsichtbares emotionales Band“ verstanden. Im Verständnis von Harms hat dies zuallererst ein körperliches Korrelat. Bindung in diesem Sinne ist wesentlich, um Halt, Sicherheit und Entspannung zu finden. Er unterscheidet einerseits zwischen einem Zustand der Bindungsstärkung, in der eine Pendelbewegung der Aufmerksamkeit vom Kind zu sich selbst und Selbstanbindung hergestellt werden kann – „eine achtsame Verbindung mit dem inneren Strom der Körper-Innenempfindung“ – die die Wirkung von Wohlbefinden, Sicherheit und Geborgenheit zur Folge hat.

    Andererseits ist im Zustand der Bindungsschwächung die Aufmerksamkeit auf dasschreiende Kind fixiert – es wird anstelle von „ansteckender Gesundheit“ ein Prozess der „negativen Gegenseitigkeit“ in Gang gesetzt. Im Zustand des Beziehungsabbruchs ist das Erregungsaufkommen derart groß, dass es nicht bewältigbar ist. Sukzessive ergreift die Eltern und den Säugling ein Zustand der Taubheit, der Lähmung und Aktionsunfähigkeit. Die Bindungsfähigkeit hängt mit der Aktivierung des Autonomen Nervensystems zusammen – von einer Aktivierung des ventralen Vagus im Zustand der Bindungsstärkung über eine des Sympathikus im Zustand der Bindungsschwächung und schließlich des dorsalen Vagus beim Bindungsabbruch.

    In der konkreten Arbeit geht es immer darum, die Eltern darin zu unterstützen, dass sie als haltgebendes Gegenüber, als „Leuchtturm“, zur Verfügung stehen. Dabei ist die Selbstanbindungsfähigkeit zentral, dass die Eltern sich immer wieder sich selbst im körperlichen Sinne gewahr werden. So ist die Wiederherstellung des Selbstbezugs das wesentliche Agens. Die Bauchatmung ist ein unspektakuläres Instrument dazu, bremst es doch die dorsale Vagus-Aktivität.

    Weitere Körperinterventionen sind Berührungsangebote (bei Eltern und Kindern) – Berührung als Sicherheitsstation – und der Einsatz von Imaginationen. Der Therapeut wechselt von einer babyzentrierten Aufmerksamkeit zu den Eltern und zurück. In der Behandlung des Babys erfahren die Eltern auch modellhaft, welcher Umgang beruhigend sein kann. Die Emotionale Erste Hilfe erlaubt es den Eltern sukzessive, auch in den stressreichsten Momenten da zu bleiben und damit Sicherheit und Halt soweit zu verkörpern, dass das Baby die belastenden Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart integrieren kann.

    Die körperbezogene Bindungsförderung ist auch im Beitrag von Mechthild Deyringer das Thema, wo sie unter dem Titel „Bindung durch Berührung“ die Anwendung der Schmetterlings-Babymassage nach Eva Reich als bindungsfördernde Berührung beschreibt. Nach einer historischen Replik der orgonomischen Säuglingsforschung, wo deutlich wird, dass im Gegensatz zu den vom massiven Einsatz von Schmerzmitteln und Opiaten während der Geburten in den 50er Jahren in Amerika, wo die Babys mit Hypotonie, Zurückgezogenheit und Schwächung reagiert haben, nun oftmals die Kinder übererregt und sympathikoton sind.

    Deyringer weist darauf hin, dass es nicht so sehr um die Technik, sondern um die innere Präsenz und eine behutsame Kontaktaufnahme geht. Auch hier ist die Selbstanbindung, die Erdung und die Fähigkeit zur dualen Aufmerksamkeit zentral. Sehr detailliert wird dann auf Positionierung, Rhythmus und Ablauf sowie auf Indikationen eingegangen, wann mehr ein einhüllendes, schmetterlingszartes Abstreichen oder flächigere Kreisbewegungen mit mehr Druck angezeigt sind.

    Die Anwendung dient einerseits als Anleitung für die Eltern im Sinne eines Feinfühligkeitstrainings, und wenn es von diesen angewandt wird auch als Bindungsstärkung zum Kind nach einer traumatischen Geburt beispielsweise. Es kann aber auch als stressabbauende Massage bei den Eltern selbst eingesetzt werden. Die Atmosphäre die sich durch diese Art der Behandlung ausbreitet ist von Stille und Verinnerlichung gekennzeichnet und berührt damit das Herz. Die Fallvignetten lassen diese Atmosphäre spürbar werden.

    Im Kapitel „Traumatische Geburtserleben und Auswirkungen auf die Mutter-Kind Interaktionen“ beschreiben die Autorinnen Paula Diederichs, Sabrina Mathea und Anja Weiffen anhand eines Fallbeispiels, wie heilsam eine körperorientierte Krisenbegleitung für Mutter und Kind sein kann.

    Eine Mutter hatte eine extrem überwältigende Geburtserfahrung mit Kaiserschnitt, weshalb sie keine Verbindung zu ihrem Sohn aufbauen konnte. In der sehr deutlichen Beschreibung zeigt sich, wie sich das auf beide – Mutter und Sohn auswirkte: z.B. im dauernden Einsprechen auf den Sohn und einer Perfektion hinsichtlich Pflege und Fürsorge, die den Sohn in seinem Aktionsradius sehr einschränkte. Durch ein engagiertes Mitarbeiten der Mutter und der Möglichkeit im therapeutischen Setting den Sohn seine Aggressionen ausdrücken zu lassen, konnte eine neue Basis geschaffen werden.

    Ich finde es sehr erfreulich, dass der Rolle der Väter in der Eltern-Säuglings-Körperpsychotherapie ein eigenes Kapitel von Gerd Poerschke gewidmet wird. Es zeigt sich, wie wesentlich der väterliche Halt während Schwangerschaft, Geburt und den ersten Lebensmonaten sowohl für das Kind als auch für die Mutter ist. In der körperpsychotherapeutischen Arbeit erfahren zunächst die Männer eine Unterstützung, um eine gute Bindung zu sich und ihrem Körper zu haben, so dass sie haltgebend für ihre Frauen und Babys zur Verfügung stehen können.

    Die „Anlehntechnik“ – der Mann stützt den Rücken der Frau – ist ein wesentliches Instrument, um das ganze System zu beruhigen. Der Autor geht sodann auf Spezialthemen wie Väter mit Aggressionen, mit wenig Empathie, mit solchen, welche nicht erwachsen werden wollen, Männer, die zu ihren Frauen in Konkurrenz sind, Schwiegermütter, etc., ein.

    3) Die tanz- und bewegungstherapeutischen Ansätze fokussieren im Besonderen auf den Körper- und Bewegungsausdruck in der Interaktion von Eltern und ihren Kindern.

    Sabine Trautmann-Voigt stellt das Bonner Modell der Interaktionsanalyse (BMIA) vor, welches tanz- und bewegungstherapeutische Konzepte mit neueren psychoanalytischen und interaktionellen Ansätzen und der modernen Eltern-Säuglingspsychotherapie verbindet. In ihren Fallbeschreibungen wird deutlich, dass sie ihre Gegenübertragungsreaktionen als Verstehenshintergrund für das Geschehen fokussiert.

    In der praktischen Anwendung des BMIA wird auf die verschiedenen Interaktionsmodi zwischen Eltern und Kind, aber auch zum Therapeuten geachtet; zentral ist dabei das Erleben der Therapeutin in der Situation, ihre Gegenübertragungsreaktionen. Diagnostische Instrumentarien sind neben einer fundierten Anamnese videogestützte Interaktionsbeobachtungen, hier insbesondere die Beobachtung der intersubjektiven Passung, die Feinfühligkeit, die Fähigkeit zum `affect attunement´.

    Anhand einer Fallvignette zeigt Trautmann-Voigt, wie deutlich unbewusste Absichten, die Passung und Orientierung, bzw. nicht verbal kommunizierte Entscheidungen durch Beobachtung der nonverbalen Interaktionen zu Tage treten.
    Die Videoaufzeichnungen werden schließlich gemeinsam mit der Mutter betrachtet und berühren diese in ihren eigenen alten Wunden. Darüber hinaus kann sie erleben, wie viel Veränderung im therapeutischen Verlauf durch ihren Beitrag bereits möglich war.

    Die Bewegungsentwicklung aus der Sicht des Body-Mind-Centering beschreibt Thomas Greil in seinem Artikel „Freiräume schaffen, Potenziale fördern“. Er geht den Entwicklungsverlauf über den ersten Atemzug bis zum aufrechten Gang mit zahlreichen Praxisbeispielen ab.

    Auch im Body-Mind-Centering ist das `Attunement´ zentral. Unter besonderer Bedachtnahme auf die verschiedensten Schichten der Reflexe, der Stell- und Gleichgewichtsreaktionen werden durch Stimulation, bisweilen Widerstand, durch Initiierung von Bewegungen oder dem Unterstützen des Bewegungsflusses Lernprozesse intendiert. Dies läuft sehr spielerisch ab, dient es doch der „Erweckung der Lust, die Welt zu entdecken und zu erforschen“.

    4) Christine Hausch beschreibt in ihrem Beitrag den psychomotorischen Ansatz Aucouturier, der von Bernard Aucouturier entwickelt wurde; er geht vom frühen tonisch-emotionalen Erleben des Kindes aus und versucht zu verstehen, was das Kind über sein Bewegungsverhalten von seiner inneren Welt zum Ausdruck bringen will.

    Der psychomotorische Raum beinhaltet Möglichkeiten, um alle in der frühkindlichen Entwicklung relevanten Basisbewegungen zu erproben – springen, sich fallen lassen, rutschen, rollen, krabbeln, mit Schlüsseln und Bällen, Körben, Seilen und Tüchern spielen.

    In sechs Fallbeispielen stellt Christine Hausch sehr differenziert die Arbeitsweise vor. Auf der Basis einer genauen Beobachtung kann sich das Kind ungestört im Raum bewegen, wobei die Therapeutin immer wieder spiegelt, was sie wahrnimmt und Unterstützung gibt, wo es gebraucht wird. In einem wertungsfreien Raum leistet die Therapeutin für die Eltern eine Art Übersetzungsarbeit, um die wechselseitigen Signale verstehen zu lernen und einander mit Achtung, Respekt und mehr Verständnis begegnen zu können. I

    n einem ausführlichen Beispiel aus der Praxis, welches sich lohnt ganz zu lesen, beschreibt die Autorin, wie über das „Sich fallen lassen können“ eines 18 Monate alten Jungen nach einem längeren intensiven Therapieprozess auch dessen Schlafstörungen eine Verbesserung zeigten. Auch hier, wie in den bereits vorgestellten Ansätzen, ist die Basis der Arbeit eine tiefe Einstimmung in die Impulse, Reaktionsweisen und den emotionalen Ausdruck, welche ermöglicht, dass das Kind sich begrüßt, verstanden und beantwortet fühlt.

    5) interaktionale und videogestützte Konzepte:

    Peter Geißler beschreibt im nachfolgenden Beitrag „Das interaktioelle Feld am Beispiel einer Videomikroanalyse der frühen Interaktion“.

    Auf der Grundlage der Analytischen Körperpsychotherapie mit dem Fokus auf körperliche und nonverbale Ausdrucksformen des Beziehungsgeschehens untersucht Geißler die Mikroebene der Interaktion mithilfe von Videoaufzeichnungen. Ich finde es sehr beeindruckend, wie viel Information im Hinblick auf das Interaktionsgeschehen zwischen einer Mutter und ihrem 13 Monate alten Sohn in einer 6-Sekunden Videoaufnahme steckt. Beispielsweise zeigt sich, dass die Mutter keinen „joint focus“, also eine Aufmerksamkeitsrichtung auf ein vom Sohn interessiert betrachtetes Objekt (die Kamera) halten kann. Das wäre jedoch ihrerseits ein Beitrag, um die Affektregulation des Sohnes zu fördern.

    In einer abschließenden Interpretation zeigt Geißler die Schwächen (in der körperlich-stimmlichen Interaktion) und Stärken (im konkreten Spiel und in der Sprache) im Kontakt auf und wagt eine Prognose: Dass Daniel im Laufe seines Lebens Selbstberuhigung in einer konkreten Beschäftigung und Ablenkung finden wird, während es ihm wahrscheinlich schwer fallen wird, sich auf sich und seinen Körper zu zentrieren und damit zur Ruhe zu kommen. Dieses Spürbewusstsein wäre auch im Hinblick auf weitere Generationen eine Notwendigkeit für Veränderung.

    Für mich wäre es von Interesse, inwiefern man die Videoanalysen bereits im Kleinkindalter nützen kann, um etwaige Defizite in der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern auszugleichen, auf dass sich Interaktionsstile, die in ihrer Wirksamkeit bis in die Körperlichkeit reichen, sich nicht verfestigen und lebenslänglich bestehen bleiben.

    6) Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich körpertherapeutischen Methoden im engeren Sinne, welche in einem „bottom-up“-Vorgehen auf die basalen organismischen Steuerungsvorgänge bei Eltern, Säuglingen und Kindern einwirken.

    Aus dem breiten Spektrum dieser Ansätze finden sich Artikel zur funktionellen Entspannung nach Fuchs, zur craniosacralen Osteopathie und zur Tomatis-Methode. Doris Lange streicht in ihrem Beitrag über die „Psychosomatische Selbstregulation“ die Bedeutung der Selbstachtsamkeit und Selbstfürsorge des Therapeuten heraus.

    Diese Bedachtnahme verhindert, dass man traumatisierenden Übertragungsprozessen erliegt und damit Gefahr läuft, erschöpft und ausgebrannt zu werden. Marianne Fuchs, die Begründerin der Funktionellen Entspannung, spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der „Parallelspur“, um sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren.

    Nach einer Einführung in die Methode, in welcher es sehr viel um die Wahrnehmung der Innenräume, aber auch der Grenzen und des Halts im Außen und im Innen geht, zeigt die erste Fallvignette, wie geschmeidig die Therapeutin zwischen der Selbstwahrnehmung und der Fürsorge zu Baby und Mutter wechselt. Die Selbstfürsorge, das Erkunden, was wohl tut, scheint mir im Mittelpunkt zu stehen – als Basis für ein kontaktvolles Sein mit dem Baby.

    In einem zweiten Beitrag zur Funktionellen Entspannung von Petra Saltuari mit dem Titel „Funktionelle Entspannung und Kunsttherapie mit Risikoschwangeren“, wird diese in Kombination mit Kunsttherapie in der Begleitung einer Risikoschwangerschaft beschrieben. Das ist der einzige Beitrag, welcher sich explizit der therapeutischen Begleitung in der Schwangerschaft widmet. Es wurde mir beim Lesen deutlich, wie lohnenswert es wäre – wie dies ja auch Wilhelm und Eva Reich taten – in jeder Schwangerschaft ein Feinfühligkeitstraining und eine bindungsfördernde Begleitung anzubieten – als eine Art Prävention.

    Im Zentrum des Beitrags steht die Arbeit mit einer Mutter ab der 35. Schwangerschaftswoche, bei der ein Kaiserschnitt in der 38. Woche geplant war und welche bereits zwei Totgeburten erleben musste.

    Die Therapeutin arbeitet viel mit einer Fokussierung auf Halt im Außen, der Gestaltung von Wohlfühlorten und der Wahrnehmung der Innenräume und es Inneren Halts. Abwechselnd zu dieser körperorientierten Arbeit lädt sie die Klientin immer wieder ein, mit Ölwachskreiden die Körperwahrnehmungen und die emotionalen Befindlichkeiten zu Papier zu bringen. Das Pendeln zwischen Wahrnehmung und Ausdruck scheint mir eine gute Möglichkeit zu sein, verschiedene Ebenen anzusprechen; das feine, einfache Arbeiten hat mich sehr angesprochen.

    7) Sonstige Ansätze:

    Die Craniosacrale Therapie wird oftmals von Eltern genutzt, wenn sich beim Baby Regulations- und Befindlichkeitsstörungen zeigen. Der Autor Rudolf Merkel zeigt in seinem Beitrag „Craniosacrale Osteopathie für Säuglinge“ nach einem historischen Überblick und einer Beschreibung der therapeutischen Ansätze nach Sutherland verschiedenste Möglichkeiten der Behandlung auf.

    In Behandlungsbeispielen wird dargestellt, wie effektiv diese Methode sich im Hinblick auf die Verbesserung von psychomotorischen Entwicklungsrückständen erweist.
    Wie eng Hören und Bindung zusammenhängen, erschließt sich im letzten Artikel, in welchem „Die Systemische Hörtherapie nach Dr. A. Tomatis“ durch Dirk Beckedorf vorgestellt wird.

    Diese Methode stimuliert frühe Hör- und Bindungserfahrungen, indem Musik von Mozart und eine Aufnahme der Stimme der eigenen Mutter durch einen Klangwandler im Tonspektrum moduliert und über Spezialkopfhörer sowohl vom Säugling als auch von der Mutter gehört werden.

    Der Zusammenhang von Hören und Neurobiologie von drei Tonbereichen und drei Reaktionsmustern greift auf die Polyvagaltheorie von Porges zurück. So sind hohe Töne wie einem Schreien des Kindes mit dem Verhaltensprogramm von Gefahr und Stress verbunden, während der mittlere Frequenzbereich zwischen 500 und 4000 Hertz mit einem Empfinden von Sicherheit, Entspannung und guter Bindung verknüpft werden.

    In einem „bottom-up“-Vorgehen kann die Hörtherapie einerseits zum Training der Mittelohrmuskeln, zum anderen über sehr hohe Frequenzen eingesetzt werden, um auf Bindungsmuster Einfluss zu nehmen. Der Autor Dirk Beckedorf macht anhand eines Therapiebeispiels deutlich, wie die auditive Stimulation in Kombination mit einer haltgebenden therapeutischen Resonanzbeziehung die Wahrnehmungskompetenzen des Kindes verbessert und auch zu einer Veränderung im Kontaktverhalten im Sinne einer gelingenden Beziehungsgestaltung führt, welche sich ihrerseits wieder auf die sensorische Entwicklung auswirkt.

    Last but not least, das vielleicht wichtigste Kapitel: Inga Wagenknecht und Uta Meier-Gräwe erstellen in ihrem Beitrag „Auf- und Ausbau Früher Hilfen in Zeiten knapper öffentlicher Kassen“ Kosten-Nutzen Rechnungen, welche beweisen, weshalb es sich lohnt, in frühe Hilfen zu investieren. Vernachlässigungen und Misshandlungen haben weitreichende Folgen, die bis ins Körperliche hineinwirken und dem Staat hohe Kosten verursachen – im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Justiz, der Gesundheit und der Erwerbs-Beteiligung.

    Traumatisierte Menschen zeigen, besonders wenn sich die Traumatisierung früh und anhaltend ereignet hat, ein höheres Erkrankungsrisiko, eine geringere Lernfähigkeit, eine höhere Delinquenzrate, usw. Darüber hinaus wird Traumatisierung transgenerational weitergegeben; das heißt, die Folgen betreffen nicht nur den Lebenslauf der unmittelbar Betroffenen, sondern auch die nachfolgenden Generationen.

    Die Kosten früher Hilfe gegenüber Kindeswohlgefährdung stehen in einem moderaten Szenarium, das heißt mit einem Hilfebeginn bei Eintritt im 3. Lebensjahr in einem Verhältnis von 1:13, in einem pessimistischen Szenarium mit einem Hilfebeginn bei Eintritt in die Schule beträgt das Kostenverhältnis bereits 1:34. Frühe Hilfen dienen der Risikoerkennung, bevor Entwicklungsverzögerungen und Schädigungen eingetreten sind und helfen Eltern den teilweise überfordernd empfundenen Übergang zur Elternschaft zu meistern.

    Im Sinne Reichs, der meinte, dass man „Freiheit nicht auf dem zerstörten bio-energetischen System der Kinder errichten kann“ (aus dem Interview mit Eissler; Bukumatula 2/94), wäre eine radikale Priorität zu setzen, damit Kinder zu selbstbewussten, freien, empathiefähigen, autonomen und zärtlich-kräftigen Menschen heranwachsen.

    Das Buch gibt hierzu eine fundierte Grundlage. Darüber hinaus gibt es einen Einblick in das Wesen des Lebendigen.
    „Nirgends ist die Selbstregulation des Lebendigen so eindrücklich und unmittelbar erfahrbar, ist das `Gesunde´ mit den Händen so zu greifen wie in der Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern. Babys sind Lehrmeister des Gegenwartsmoments, der Langsamkeit und der essenziellen Begegnung.“

    Die Ärztin Eva Reich forderte zu Lebzeiten, dass jeder angehende (Körper-)Psychotherapeut im Rahmen seiner Ausbildung eine Weile lang mit Babys arbeiten sollte, um sich von der Ausdruckssprache des Säuglings beeindrucken zu lassen. „Die Erfahrungen in der Begleitung von Babys schaffen einen veränderten Blick auf die Menschen, denen wir in der Psychotherapie begegnen: einen Blick für die Verletzungen, die in den frühesten Stadien der menschlichen Entwicklung ihren Anfang nehmen – aber auch den Blick für das Gesunde, das Echte, das in jedem von uns erhalten ist“, meint dazu Thomas Harms.

    In diesem Sinne hat mich das vorliegende Buch neben einem umfangreichen Wissen über die Säuglingstherapie mit Vielem beschenkt: Wie wesentlich die Präsenz, die Wachheit und das „Bei sich sein“, die Selbstanbindung – in jeder therapeutischen und auch jeglicher Lebenssituation ist; das „Körperlich in mir anwesend sein“, sodass nicht Denken und Konzepte mein Handeln leiten.

    Dass es darum geht, mich einzulassen mit einer Situation, dass es um den „Mut, mich beeindrucken zu lassen“ geht, wie das Ola Raknes einmal als ein Kriterium für genitale Gesundheit genannt hat, wahr-zu-nehmen was ist, zu folgen, damit das Leben sich fortsetzen kann. Ich war beeindruckt davon, wie Babys immer wieder an den Ort des Schmerzes zurückgehen und uns damit die Geschichte ihres Leides erzählen; und wie unverdorben und ungepanzert sie sind, sodass sich alles im Nu wandeln kann.

    Und wie notwendig es ist, hin- und nicht wegzuschauen, anzuerkennen, was ist, und welch ein großes Geschenk uns die Babys mit ihrem Schreien machen, weil sie uns zu diesem Hinschauen zwingen und uns damit erlauben auch unseren Schmerz zu fühlen, unsere Kränkungen, die Belastungen aus unserer Kindheit, unser Getrenntsein und unsere Haltlosigkeit, unsere Angst und Hilflosigkeit. Dann kann Heilung stattfinden.Welch ein Geschenk!
    ____________________________

    Thomas Harms (Hg.)
    „Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern – Grundlagen und Praxis“
    Psychosozial-Verlag
    (D-35390 Gießen, Walltorstraße 10);
    350 Seiten, Broschur; 2016
    ISBN 978-3-8379-2389-6; EUR 39,90

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