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Bukumatula 2/2018

Wir kommen alle ins Wilhelmreich

60 Jahre nach Wilhelm Reich. Ein Blick zurück ohne Zorn
von
Elmar Klink:

Im letzten Jahr wiederholte sich am 3. November der Todestag Wilhelm Reichs (1897-1957) zum 60. Mal.- 2007 gab es in Berlin zum 50. Todestag von der dortigen Wilhelm-Reich-Gesellschaft (WRG; Vorläufer: Wilhelm-Reich-Initiative) eine achtbare Gedenk- und Erinnerungsveranstaltung in den Räumen des Koch-Instituts an der Charité. Ein durchaus angemessener und würdiger Ort für die Veranstaltungen in Form von Vorträgen und Workshops. Wer wollte und kein Sonntagmorgenmuffel war, konnte sich sogar ältere Filme ansehen in Anwesenheit der Regisseurin von “Viva, kleiner Mann” (1985), Digne Meller Marcovicz (1934-2014).

Nach Reichs Tod hatte die erstgeborene Tochter Eva Reich (1924-2008) den Nachlass ihres Vaters zur Verwahrung an Mary Boyd Higgins als Treuhänderin übergeben. Bereits in den 1980er Jahren kam es zwischen Eva Reich und den in Berlin an der Wiederentdeckung von Wilhelm Reichs wissenschaftlichem Werk arbeitenden und beteiligten Personen zu einer aktiven Zusammenarbeit und einem regen Austausch. Sie begrüßte die Gründung der Wilhelm-Reich-Gesellschaft (1987) und wurde 1989 zu ihrer Ehrenvorsitzenden.

Teilweise heftige Auseinandersetzungen innerhalb des Berliner Aktiven-Kreises im Zuge einer kontroversen Debatte über den Umgang mit einer in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Studie zur Bestätigung der Existenz der Orgonenergie (s. u. `Die Harrer-Studie´), führten innerhalb der WRG zu einer schweren Belastungsprobe. Einer dieser Aktiven, John Joachim Trettin, von dem nachfolgend noch die Rede sein wird, berichtete dem Verfasser von einem Brief Eva Reichs, den sie im August 1997 an die Berliner Freunde gerichtet haben soll: “Es ist erforderlich, dass ich mich formell von allen Wilhelm Reich-Organisationen zurückziehe, denen ich zusammen mit euch 1986 beigetreten bin.Die gegenwärtige Aufsplitterung der deutschen Gruppen, die orgonomisch arbeiten, in Fraktionen, ist schmerzhaft für mich. Ich wünschte, ihr hättet eine Art Dachorganisation geschaffen, unter der verschiedene Personen, die orgonomisch arbeiten, sich freundschaftlich und in konstruktiver Kritik austauschen. Ich glaube nicht, dass irgendeine einzelne Person oder Gruppe der ausschließliche Nachfolger von Wilhelm Reich sein kann. Ich selbst arbeite für eine Welt, in der jeder Studierende, der interessiert ist, die grundlegenden Erkenntnisse der Entdeckungen Wilhelm Reichs lernen kann.” (Übers. vom Verf.) Bei der WRG weiß man allerdings von der Existenz eines Briefes dieses Inhalts nichts.

Reichs spätes Leben verfilmt. Einer der erfahrensten und besten Kenner des wissenschaftlichen Werks von Reich im deutschsprachigen Raum war der Arzt und Orgontherapeut Heiko Lassek (1957-2011). Neben Richard E. Blasband fungierte er dann auch als Berater für den österreichischen Spielfilm “Der Fall Wilhelm Reich” (2012) von Antonin Svoboda mit den Hauptdarstellern Klaus Maria Brandauer und Julia Jentsch.

Svoboda war bereits 2009 durch seine 1½-stündige Film-Dokumentation “Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?” hervorgetreten und schien dadurch wie prädestiniert für das gewagte Projekt. Eingeweihte Kenner des Lebenswerks von Reich muss die filmische Umsetzung jedoch eher enttäuschen. Nach der Kino-Premiere in Wien und Filmstarts in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten verschwand der Film bald aus den Programmen und harrt darauf, im Fernsehen ein größeres Publikum zu erreichen.

Der vorliegende Beitrag nimmt ganz bewusst die Zeit nach Reich in den Blick. Und zwar unter dem vordringlichen Aspekt der Wiederaufnahme seines Ertrags an wissenschaftlicher Forschung durch damals (Ende der 1960er Jahre) noch überwiegend wissenschaftliche Laien im deutschsprachigen Raum.

Er ist keine chronologische Werkdarstellung und auch keine Beschreibung der vielseitigen Anfeindungen gegen Reich, die ihn im 20. Jahrhundert quasi zu einem modernen Giordano Bruno machten, der am Ende im “freiesten Land” der Welt zu Gefängnis verurteilt, dessen wissenschaftliche Apparaturen auf staatliches Geheiß zerstört und Bücher und Schriften verbrannt wurden. Das alles kann an anderer Stelle detailliert und besser nachgelesen werden. Das Jahr 2007 war ein magisches Datum, dem viele mit großer Erwartung und Spannung entgegengefiebert hatten.

Neue alte Vorurteile? Reich hatte in seinem Testament genau 50 Jahre lang ab Todesdatum den Verschluss seines gesamten wissenschaftlichen Nachlasses verfügt. Wohlgemerkt: des nicht veröffentlichten Nachlasses und nicht dessen, was zu dem Zeitpunkt an Forschung allgemein bekannt war und schriftlich niedergelegt vorlag. Schon darum herum bestand lange Zeit eine Art Mantel der Verschwiegenheit. Reichs Ertrag sollte für eine neue, seinem Werk gegenüber unvoreingenommene Welt zum Studium aufbewahrt und konserviert werden. Und wohl auch aus Verantwortung und zum Schutz vieler Personen, die mit Reich damals zusammen lebten, forschten und litten.

Wie das meiste öffentliche Echo 2007 zeigte, waren noch viele der Reich-Vorurteile (antiautoritärer Guru der 68er-Studenten; Idol einer ungehemmten freien Sexualität; kommunistischer Sex-Papst) präsent und wirkten wie verstaubt aus einer Ecke hervorgeholt. Trotz angedeuteter Vermutung, es sei zum Ende seines Lebens – gelinde gesagt – etwas sehr Persönlichkeitveränderndes mit ihm geschehen (gemeint ist die Behauptung, Reich sei paranoid oder schlicht “verrückt” geworden), steht man ihm zwar durchaus wohlwollender gegenüber.

Man hat ihn dennoch in der Konsequenz so gut wie nicht begriffen (vgl. hierfür fast exemplarisch Harry Mulisch: Das sexuelle Bollwerk, s. Literatur), obwohl besonders in den 1990er Jahren ein bedeutender Schub an neuen Publikationen von und über Reich zu verzeichnen war, die den Zugang zu ihm wesentlich erleichterten und förderten.

Wie kaum ein anderer bedeutender Mensch, dem aufgrund seines Rüttelns an zivilisatorischen Grundfesten Gegner- und Feindschaft entgegenschlug, reagierte Reich auf wichtige Einschnitte in seinem Leben und Angriffe mit rationalen persönlichen Konsequenzen nach vorne. Sie führten sein Arbeiten und Forschen immer weiter in Neuland und beförderten und bereicherten es eher, als dass sie es bremsen oder hemmen konnten.

Gleichwohl bemühte sich eine wachsende Zahl von an Reich ernsthaft interessierten Menschen darum, den Abstand zwischen dem Reichschen Gedanken- und Arbeitskonzept und einer praktischen, angewandten Lebensenergie-Wissenschaft zu verringern. Vieles wurde aufgearbeitet und bestätigt, sogar Neues kam hinzu, zeitweilige Rückschläge blieben nicht aus. Der Sensibilität gegenüber Sexualität und Liebe zwischen den Geschlechtern hingegen, wofür der Name und das Werk Reichs unverbrüchlich stehen, sind wir heute trotz vermeintlicher oberflächlicher Lockerungen und promiskuer Freiheiten einer geschlechtsmultiplen “rave-culture” eher wieder auf einem Weg zurück hinter schon erreicht Geglaubtes.

Auch in der etablierten Sozialwissenschaft gibt es Beispiele, wie Reichs Werk noch immer ignoriert und verdrängt wird. Auf der Basis einer “Theorie der fraktalen Affektlogik“ des Schweizer Psychiaters Luc Ciompi analysierte die Soziologin Elke Endert in ihrer Dissertation 2006 die “emotionale Dimension sozialer Prozesse“ am Beispiel der Rechtsextremismus- und Faschismusforschung. (Vgl. die darauf gründende populäre Studie Ciompi/Endert: Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama; 2011.) Die Wissenschaftlerin greift zwar erkenntnistheoretisch bestimmte soziologische Ansätze und Bezüge (Durkheim, Elias) auf, erwähnt aber so nahe am Gegenstand von Reichs sexualökonomischer Theorie und Forschung seltsamerweise weder seinen Namen noch seine Beiträge zur Massenpsychologie.

Die Öffnung des Archivs 2007. Das magische Jahr hielt nicht das, was sich viele versprachen. Heiko Lassek dämpfte im Vorfeld bereits Erwartungen, sich davon allzu spektakuläre Eröffnungen und Erkenntnisse zu erhoffen. Dies zeichne sich nicht ab. Der Nachlass lagert heute in der Bibliothek der Harvard Medical School in Boston. Der Zugang wird streng reglementiert und ist an Vorgaben gebunden.

Man muss das eigene Forschungsinteresse auf Einsichtnahme genau begründen. Würde man endlich anhand von eindeutigen Unterlagen Aufklärung bekommen über den sagenhaften, dann auf mysteriöse Weise verschwundenen Orgonmotor? Wie auf einem kurzen Filmausschnitt zu sehen ist, kann dieser durch bloße Berührung per Handfläche auf eine metallene Kontaktfläche zum Laufen gebracht werden.

Vielleicht den verschwundenen Motor gar in den Archiv-Boxen noch vollständig erhalten und funktionsfähig auffinden? Was würden Reichs Aufzeichnungen dafür an verwertbaren Erkenntnissen noch liefern? Zum Beispiel für die Auffassung des menschlichen Organismus als wandelnder, lebendiger Orgonakkumulator? Komplexe, unverständliche orgonmathematische Formeln, wie im Text Creation, an dem Reich angeblich zuletzt in der Gefängniszelle schrieb, der dann unauffindbar blieb? Fragen um Fragen, bis heute, 60 Jahre später, ungeklärt und unbeantwortet. Mehr Licht ins Dunkel zu bringen wäre wünschenswert.

Auf der Jahrestagung der Berliner Wilhelm-Reich-Gesellschaft am 1./2. Juni 2013 wurde über die Ergebnisse erster Nachforschungen im Bostoner Nachlass-Archiv offiziell berichtet. Zwei Mitglieder der WRG, darunter der damalige Vorsitzende Thomas Harms, waren zuvor nach Boston gereist und hatten über Wochen eine Sichtung vorgenommen. Der Schlüssel zu Reich sind seine letzten Lebensjahre, die Inhalte der Späten Schriften und sonstigen Aufzeichnungen jener Zeit.

Es stellt sich die Frage, ob wir sie bis zum absoluten Kuriosum der in Kapitel VII von Contact with Space (ORANUR-Report II) beschriebenen “Ea-Schlacht von Tucson” (“Ea” ist Reichs Begriff für UFO) jemals mit unserem heutigen Begriffs- und Wahrnehmungshorizont ganz erfassen, geschweige denn vollständig verstehen können. Reich verstehen heißt sein Denken, Wahrnehmen und Fühlen selbständig nachvollziehen. Über dem Studium der Spätschriften trennt sich die Spreu vom Weizen, die Epigonen von den wahrhaft Interessierten.

Der einsame Reich. Der Umgang mit originärem Reichschem Forschungswissen ist fürwahr diffizil, ein sozusagen heißes Eisen. Wer ist berechtigt dazu, wem ist es erlaubt, darüber wie und wo zu sprechen? Wie viel darf zu welchen Zwecken offengelegt werden? Wer im Original jene erschütternde, etwa 10-minütige Tonaufnahme des offenbar völlig vereinsamten Reich am 3.4.1952 zu nächtlicher Stunde in seinem Labor einmal ganz mit Empathie angehört hat (bei YouTube unter dem Aufruf “Wilhelm Reich Alone“ abhörbar), kann sich eine leise Vorstellung davon machen, was in diesem Menschen an innerlich Explosivem vorgegangen sein muss, nachdem den Nazi-Verfolgten und jüdischen Emigranten sowohl seine politische Partei (Kommunistische Partei) als auch wissenschaftliche Organisation (Internationale Psychoanalytische Vereinigung) – beide Teil seiner intellektuellen Heimat – rigoros ausgeschlossen hatten.

Im Fall der IPV hatte die Freud-Tochter Anna offenbar maßgeblichen Anteil. Reich atmet auf der Aufnahme hörbar schwer und stockend, was wohl nicht nur durch seine Raucherlunge bedingt ist. Die Biografie Reichs als Verkörperung eines “heiligen Zorns des Lebendigen” (Myron Sharaf, 1926-1997) ist mithilfe von mehreren erstrangigen, authentischen Quellen, Erinnerungen und Zeugnissen (Ilse Ollendorff-Reich, A.S. Neill, Walter Hoppe, Peter Reich, Ola Raknes, David Boadella, James E. Strick) weitgehend erschlossen und ausgeleuchtet. Erweitert auch um Selbstauskünfte Reichs, zum Beispiel frühe Erinnerungen in Menschen im Staat (dt. 1995; über die Zeit zwischen 1927 und 1939), Leidenschaft der Jugend (1984; über die frühen Wiener Jahre) und drei Bände in der Edition der Treuhänderin Mary Boyd Higgins mit Briefen und Tagebuchnotizen (Letters & Journals) Reichs aus dem Zeitraum von 1934 bis 1957.

Ferner gibt Die Funktion des Orgasmus, Teil I: Die Entdeckung des Orgons als wissenschaftliche Autobiographie (revid. Fassung), das teils wie ein biblischer Offenbarungstext verschlüsselte Buch Der Christusmord und das bittere Anklagepamphlet Rede an den kleinen Mann (Listen, Little Man), Reichs tiefen, Nietzsche-haften Einblick in die Abgründe des menschlichen Wesens. Reich ist daher einigermaßen transparent, ohne irgendwas an seiner Person zu mystifizieren. Der Rest an Geheimnis mag besser von jenem Schnee bedeckt bleiben, der angeblich in der Nacht, als Reich starb, durch das geöffnete Fenster der Gefängniszelle gefallen sein soll.

Studentenrebellische Wiederentdeckung und „Antipolitik“. Weniger als zehn Jahre nach seinem Tod wurde Reich bereits zum Wiederentdeckten von einer Seite, mit der er vermutlich selbst am wenigsten gerechnet hätte: Der vor allem deutschen Studentenbewegung. Sie hat Reich von Beginn an repolitisiert. Ihn, der sich nach der deutschen “Katastrophe” von 1933, die ihn 1939/40 bis ins USA-Exil vertrieb und dem enttäuschenden Niedergang der Arbeiterbewegung, in die er so viel Hoffnung gesetzt hatte, von Politik völlig verabschiedet hatte.

Seine kleinen Schriften Was ist Klassenbewusstsein? Ein Beitrag zur Diskussion über die Neuformierung der Arbeiterbewegung (1934) und zur Arbeitsdemokratie (enth. in Massenpsychologie des Faschismus, revid.) waren sein politisches Vermächtnis als Alternative zu den ideologisch verbogenen Standpunkten der strammen orthodoxen Kommunisten. Natürliche Arbeitsorganisation vs. Politik. (Fach-)Wissen, Tatsachen und die speziellen natürlichen Merkmale und Erfordernisse eines Problems sollten den Umgang damit bestimmen, nicht mehr irgendeine politische Ideologie, in die stets Machtaspekte und Herrschaftsinteressen hineinspielen.

Ein Konzept, das durchaus Nähe und Bezüge zu “technokratischen” wie anarchistischen Vorstellungen aufweist. Auch wenn Reich in der Massenpsychologie die Anarchisten scharf kritisierte, sie würden das Problem der tief sitzenden Freiheitsangst und Freiheitsunfähigkeit des seelisch blockierten Menschen verkennen und könnten keinen Ausweg weisen. Erich Fromm knüpfte in diesem Punkt mit seinem analytischen Begriff der “Furcht vor der Freiheit” direkt an Reich an.

Eine Art „biologischer Humanismus“. Die genannten Quellen begründeten später in den 1980er/90er Jahren das, was man den “sexualökonomischen”, also soziologischen Neuansatz der Reichschen Gesellschaftskritik nennen könnte. Sexualökonomie = Soziologie auf biologischer Grundlage. Eine Art “biologischer Humanismus”. Reichs Kritik resultierte vorrangig nicht (mehr) aus der kommunistischen Ideologie, der Reich eine Zeitlang vor 1933 agitatorisch-propagandistisch anhing.

Sie entsprang seinem Versuch der dialektisch-materialistischen Kombination von Marxismus und Psychoanalyse und ihrer konsequenten Weiterentwicklung. Es ist die Erkenntnis Reichs, statt privilegierter Individualtherapie à la Freud Massenprophylaxe gegen die gesellschaftliche Neurose durch breite Sexualaufklärung und Sexualberatung zu betreiben. Ganz nach dem Motto Rudolph Virchows, Politik sei Medizin im Großen.

Das wurde zu Reichs revolutionärem Bruchpunkt mit der bürgerlichen Lehre Freudscher Analyse und ideeller Libido-Theorie. Reich dachte in der Kategorie der Natur, Freud in der der Idee. Es ging – das musste zuletzt auch Freud im Londoner Exil klar geworden sein – um nichts Geringeres als um die Frage, ob auf die Massen in sich selbst regulierender Weise so Einfluss genommen werden kann, dass Eroberungskriege und Völkermord, wie in Hitlers Mein Kampf programmatisch antizipiert, verhindert werden können.

Reichs Sexpol-Organisation. Reich rekrutierte und bildete im eigens hierfür gegründeten proletarischen Reichsverband für Sexualökonomie und Politik (kurz Sexpol) junge Kader wie Ernest Borneman (1915-1995) in Berlin aus. Diese sollten sich auf der Ebene von alltäglicher Agitation und sozialistischer Bewegung informierend und aufklärend vor allem unter der Jugend und Frauen betätigten und kostenlos Verhütungsmittel verteilten. (Borneman berichtete in einem Arbeitskreis bei einem kommunitären Sommercamp 1993 in Belzig/Brandenburg ausführlich davon.) Vorbild hierfür waren für Reich die in der jungen Sowjetunion gebildeten Jugendkommunen und eingeleiteten staatlichen Maßnahmen zur kollektiven Jugendbetreuung.

Von diesen berichtet er in seiner Schrift Die sexuelle Revolution, unterstützt durch Eindrücke von seinem Besuch in der Sowjetunion. Diese, wie auch eine fortschrittliche neue Sexual- und Ehegesetzgebung fielen der inneren bürokratischen Parteireaktion Stalinscher Prägung bald wieder zum Opfer. Borneman blieb auch später als Psychoanalytiker, Autor und Forscher dem Thema der Sexualität und Liebe eng verbunden und verfasste dazu eine Reihe von bedeutenden Büchern: Lexikon der Sexualität und Liebe (1968); Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen (1974; 2 Bde.); Sexuelle Marktwirtschaft. Vom Waren- und Geschlechtsverkehr in der bürgerlichen Gesellschaft (1992); in drei Bänden lieferte er Studien zur Befreiung des Kindes (1973-76).

Mit seiner umfassenden anthropologischen Studie Das Patriarchat (1979) stellte er kritische historische Untersuchungen an, die sich an Reichs Einbruch der sexuellen Zwangsmoral anschlossen und das Thema weiter ausführten und faktisch unterfütterten. Als eine Art Vermächtnis steht das letzte Werk des Wahl-Österreichers Die Zukunft der Liebe (posthum 1997) da. Ein heute vergessener, feministisch orientierter Autor, den es freilich nach wie vor noch zu entdecken und zu würdigen gilt. Vor drei Jahren verstrichen sein 20. Todestag und sein 100. Geburtstag ohne nennenswerte öffentliche Erinnerung.

Reich als politischer Revolutionär. Damals, in den bewegten Sechzigern, mochte sich zunächst so gut wie kein angesehener bürgerlicher Verlag zu einer Neuauflage von Reichs revolutionären Büchern und Schriften entschließen. Wenige, wie 1966 zuerst die EVA mit Die sexuelle Revolution und dann der Fischer Verlag bildeten die Ausnahme, Kiepenheuer & Witsch zog bald nach. So wurden die kleineren, darunter auch die Agitationsschriften Reichs wie Der sexuelle Kampf der Jugend oder Sexualerregung und Sexualbefriedigung einfach zu Tausenden raubgedruckt und billig auf den Markt gebracht. Dann erschienen nach und nach Die Funktion des Orgasmus (revid.),

Die sexuelle Revolution (davor Die Sexualität im Kulturkampf, urspr. Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral) und Die Massenpsychologie des Faschismus (erw. Fassung um die Kapitel zur Arbeitsdemokratie). Es folgten noch Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, eine an Bachofen, Engels, und besonders Malinowski angelehnte dialektische Studie darüber, wie es von frühgeschichtlicher Zeit an zu einer kulturellen Ablösung des Matriarchats durch das reaktionäre Patriarchat und damit zu gesellschaftlicher Repression und Unfreiheit kam.

Von nahezu allen gab es gleichlautende Vorläuferschriften aus den 1920er Jahren in dezidierter marxistischer Terminologie. Die Charakteranalyse (revid.) gilt noch immer als klassisches Lehrbuch in der psychoanalytischen Ausbildung. Was noch wenig interessierte und vielleicht verwunderte, war, dass Reich eine Reihe seiner Hauptwerke wie die genannten in den USA umgeschrieben (revidiert) und mit einer neuen Terminologie versehen hatte. Hier hat er den Bruch in der politischen Bewegung von 1933 auch sprachlich bereits eingearbeitet.

Als “Linksfreudianer”, der ähnlich wie Fenichel, Ferenczi, Gross oder Fromm und Marcuse fortschrittliche Psychoanalyse mit marxistischer soziologischer Analyse verband, wurde Reich zunächst zum wichtigsten Garanten derer, die für eine neue sexuelle Revolution eintraten, Kommunen gründeten und das Private zum Politischen machen wollten. Lebensgewohnheiten, Erziehung, Geschlechterbeziehungen, usw. sollten radikal verändert werden. Es war die Ära der Rebellion gegen alles und jeden. Gegen Autorität und Tradition. Gegen die Ehe, Familie und Religion. Gegen die Kriegsväter, die man sich nicht mehr zu Vorbildern machen konnte und wollte.

Umstrittene Aufarbeitung – der angewandte Reich. Danach kam es zu einer zweiten Phase der sorgfältigeren Rezeption und Aufarbeitung. Man begann, sich mit Reichs Lebensgeschichte, politischen Biographie, dem biophysikalischen Reich und dem Spätwerk auseinanderzusetzen. Es entstanden verschiedene Reich-Zirkel und Arten, ihn zu rezipieren und auszuwerten. Man unterschied den frühen (freudschen) vom mittleren (marxistischen) und späten (“mystischen” oder energetischen) Reich im amerikanischen Exil, trennte die Phasen voneinander, war mehr Anhänger der einen oder der anderen Phase, ja bekämpfte einander bisweilen.

Es war trotz der Aufspaltungen, Polarisierungen, Kontroversen und Trennungen die produktivste Zeit von ca. Anfang der 1970er bis zum Anfang der 1990er Jahre. Die 1990er Jahre bis zur Jahrtausendwende kann man publizistisch als Ergebnisernte der etwa 20 Pionierjahre davor betrachten. Ein gewisser Sättigungsgrad war erreicht. Einzelne Kooperationen zerbrachen.

Berliner Kreis, Bernd Senf und die Zeitschrift „emotion“. Die Berliner Aktiven um die Zeitschrift emotion begannen damit, nicht nur Reichs vegeto- und körpertherapeutische Praxis nachzuvollziehen, sondern auch seine naturwissenschaftlichen Forschungen bis hin zu den Wetterexperimenten wieder aufzugreifen und molekularbiologische Experimente zunächst verifizierend zu reproduzieren. Der Wirtschaftswissenschaftler und Dozent Bernd Senf (*1944) verstand es in didaktisch höchst ansprechenden Kursen anschauliche Einführungen in das Reichsche Denken und Forschen zu vermitteln. Fortlaufend dokumentiert unter der Überschrift „Die Forschungen Wilhelm Reichs I-IV“ in den ersten drei Ausgaben der emotion (seit 1/1980).

Senf arbeitete verständlich an der Tafel illustrierend und mit teils erheiternden körperlichen Demonstrationen. Erstmals sogar unter Einsatz von Videoaufzeichnungen (1980-84) des z.T. umstrittenen lichtmikroskopischen Beweisinstrumentariums für die Existenz einer massefreien biologischen Lebensenergie, der Reich den Namen Orgon gab. Die Lichtmikroskopie geht ab etwa 3000-facher Vergrößerung nach geltenden optischen Gesetzen von nur noch sog. leeren Vergrößerungen aus, die Reich mit zu seiner Zeit neuester Wiener Optik eines Reichert Z-Mikroskops sogar noch erweiterte.

Die Berliner Gruppe arbeitete mit einem Großfeldforschungsmikroskop Orthoplan Plus von Leitz auf vergleichbarem technischem Niveau und stieß bis in Bereiche um 4.500-fache Vergrößerung vor. D.h. man sieht die Dinge morphologisch nicht mehr viel schärfer und genauer, wobei es Reich statt um Strukturen primär um etwas anderes ging, nämlich um “Genese“ (Verlauf, Prozess), “Bewegung” und “Verhalten” (Form, Ausdehnung, Kontraktion, Pulsieren, Erstrahlen, Ladungspotenzial beim Reichschen Bluttest) der Objekte. Das war neu und bedeutete zugleich revolutionär eine Grenzüberschreitung.

Man war plötzlich und unumstößlich Zeuge der Pulsation des Lebendigen, der Entstehung unter autoklaven (sterilen) Bedingungen von neuem zellulärem Leben aus organischen Zerfallsprodukten und ihrer energetischen Neuorganisation (“Bione”). Ein Unding für die klassische Biologie und Biochemie, weil das an elektronenmikroskopisch untersuchten toten Objekten nicht festzustellen ist. Reich begründete die naturgemäße Forschungsmethode des “lebendigen Erkennens” und Beobachtens. Statt linearer Mechanik war verzweigte Dynamik angesagt, weshalb auch Elemente des Vitalismus (Bergson: élan vital, Driesch: Entelechie, Reichenbach: Od) mit hineinspielten.

Heiko Lassek gibt in Orgontherapie – ein Handbuch der Lebensenergie-Medizin im 1. Kapitel „Wilhelm Reich – Entdecker der Orgonenergie“ (S. 15-30) eine gedrängte Darstellung des biographischen Hintergrunds von Reich. Im 3. Kapitel „Die Wiederentdeckung des Gesamtwerks“ (S. 70-100) folgt eine mit vielen Fotos und Skizzen reichhaltig illustrierte Übersicht und Dokumentation der Anfänge der wissenschaftlichen Arbeit bis in die späten 1980er Jahre der Berliner Reich-Arbeitsgruppe, bestehend aus Hueck, Lorenz, Fürst, Gerlinger, Buhl, Dlouhy, Fromme und Nauschitz; mit Ausnahme der letzten (Lebensmitteltechnikerin) alles Ärzte.

Namen wie Fritjof Capra (Tao der Physik) oder Rupert Sheldrake (Das schöpferische Universum; morphogenetisches Feld) standen in der New Age-Szene für eine neue Verbindung von naturwissenschaftlichem Weltbild mit spirituellem, esoterischem Wissen, damit andeutend, dass dies im Kontext von Geist, Materie, Energie nur verschiedene Erkenntniswege sein könnten. Die Redaktion der emotion öffnete und widmete sich mit einem eigenen Schwerpunkt im bisher vorletzten Heft 16 (2004) dem allgemein aufgekommenen Thema der Spiritualität.

Dies musste zwangsläufig eine Kollision mit Reichs rationaler Anschauung und wissenschaftlicher Methodik des orgonomischen Funktionalismus bedeuten, in welchem Religion und religiöser Gott-/Götterglaube als Teil von irrationalem Mystizismus im Denken und Fühlen des Menschen bewertet werden. Aber auch Reich ging über die rein rationale Wissenschaft hinaus durch sein “fühlendes Erkennen” des Lebendigen (man könnte es auch schlicht Organempfinden oder Mitgefühl nennen) und vollzog gegen Ende seines Lebens selbst eine Wende im Sinne einer “Selbstöffnung”.

Er zeigte sich einer spirituellen, d.h. geistigen Sichtweise sowie dem Gebet und einem göttlichen kosmischen Prinzip gegenüber aufgeschlossen. Vor allem in den Abhandlungen Ether, God and Devil (Äther, Gott und Teufel; orig. 1949) und Der Christusmord tritt Reichs kritische Position bzw. ein verändertes Verständnis zutage. Dazu ein Zitat Reichs in der Rede an den kleinen Mann: “Ich weiß, dass das, was du ’Gott’ nennst, wirklich existiert, aber anders, als du denkst: als kosmische Urenergie im Weltenraum, als deine Liebe im Körper, als deine Ehrlichkeit und als dein Spüren der Natur, in dir und außer dir.”

Mit seinem Buch Die Wiederentdeckung des Lebendigen (Frankfurt 1996) hat Bernd Senf es weitsichtig unternommen, Reichs bioenergetische Grundlagenforschung im Kontext zu ähnlichen und verwandten Ansätzen und Methoden bis zum Wasser- und Wirbelforscher Viktor Schauberger zu verorten und mögliche interdependente Beziehungen zu beleuchten. Während der Arzt Heiko Lassek nachweisen konnte, dass es enge Verbindungen der Reichschen Energieauffassung zu spirituellen indisch-asiatischen Energielehren wie Prana, Chi und der chinesischen Dao-Lehre (Lao-tse) gibt.

Reich ist so gesehen auch wissenschaftlich der Wiederentdecker im Westen eines alten, religiösen (östlichen) Kulturwissens, ohne sich auf diesem Gebiet forschend betätigt zu haben. Die führenden Köpfe der europäischen Mystik (Meister Eckhart, Jakob Böhme, Johannes Seume u. a.) wussten darum.

Bezogen auf sein ökonomisches Fachgebiet untersuchte Senf analog die Wirkung von “Blockaden” in Wirtschaftskreisläufen durch künstliches Zurückhalten oder Einschnüren des Geldflusses (Zins- und Zinseszinsabschöpfung, bewusste Warenverknappung), einem Problem, dem sich im 18. Jahrhundert schon die französischen Physiokraten zugewandt hatten.

Interessant in diesem Zusammenhang ist der moderne Begriff der `Finanzblase´, die einem krebsartig wuchernden Geschehen ungehinderten Wachstums ähnelt. Der pathologische ökonomische Wachstumszwang und die zwanghafte finanzkapitalistische Verfremdung des Tauschmittels Geld in eine “Ware” auf die und mit der selbst real und virtuell spekuliert wird (Finanzmärkte, Hedgefonds), erzeugen, wie die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 zeigte, massive Störungen des Wirtschaftskreislaufs mit höchst antisozialen Effekten. (www.berndsenf.de)

Die Harrer-Studie. Die WRG beauftragte 1990 Bernhard Harrer, der zuvor an der TU Graz Architektur und an der TU Berlin Meteorologie studierte, im Rahmen der Projektgruppe “Orgonbiophysik” umfangreiche Studien zur Verifizierung von Reichs energetischen Forschungsergebnissen vorzunehmen. Nach dreijährigen biophysikalischen Untersuchungen und Temperaturmessungen kam dieser jedoch zu stark abweichenden Schlussfolgerungen von bisher gültigen Annahmen.

Er schlug deshalb auf der WRG-Konferenz 1994 vor, den Begriff “Orgon” für eine biologische Lebensenergie fallen zu lassen. Reich sei eher als Naturphilosoph, denn als Naturwissenschaftler zu sehen und sei quasi unwillentlich dem bekannten Experimentier-Effekt erlegen, seine Versuchsanordnungen so vorzunehmen, dass sie das “Wünschbare” an Ergebnis aus seiner Sicht erbrachten.

Im Grunde ein ungeheurer Verdacht auf unwissenschaftliche “Manipulation”, was faktisch einer Widerlegung der Arbeiten Reichs gleichgekommen wäre. Gesetzt den Fall, dies träfe sogar zu, spricht dagegen immer noch all das, was bei den Bionexperimenten unter dem Mikroskop unter sterilen Bedingungen beobachtet wurde und bei gewissenhaftestem Nachvollzug jederzeit wieder beobachtet werden kann: Die Entstehung der “Energiebläschen” (Bione) aus bionösem Zerfall und ihre Selbstorganisation zu neuem Leben (Einzeller), woran natürlich auch Funktionen des “genetischen Codes“ beteiligt sein können.

Harrer, der als Co-Autor immerhin die gesonderte Lesebegleitung zum Buch Über Wilhelm Reichs ORANUR-Experiment. Erster Bericht (Verlag Zweitausendeins, 1997) mit verfasste, scheint aber Die Funktion des Orgasmus, Teil I – Die Entdeckung des Orgons nicht richtig verstanden zu haben. Er hätte sonst feststellen können, mit welcher Folgerichtigkeit Reich sich über Freuds psychische Libido-Theorie hinausgehend auf seine Entdeckungen zu bewegte.

Sie führten ihn zur biologisch-energetischen wie auch sozialen Grundlage von Neurose, Psychose, Charakter- und Körperpanzer. Reich hatte nicht nur im Anschluss an Friedrich Kraus’ Theorie der “vegetativen Strömung” die im Körper frei bewegliche bzw. gestaute oder erstarrte Lebensenergie (Orgon) und ihren jeweiligen Ausdruck in Körperhaltung und Organerkrankung entdeckt, sondern als Grundfunktion allen Lebens auch die biologische Pulsation.

Die Wogen schlugen hoch, es hagelte schriftliche Proteste und Unverständnis und es kam zu Austritten aus der WRG. Auf der folgenden Jahrestagung 1995 einigte man sich in der WRG auf einen “Konsens”, der aber eher einer vorläufigen Komplementärformel glich, die die letzte Konsequenz offen hält. Dort heißt es: “Die Wilhelm-Reich-Gesellschaft maßt sich weder eine Allein- und Interpretationsherrschaft zu den Forschungen und Arbeiten Wilhelm Reichs an noch wird sie sich gegen wissenschaftlich notwendige Korrekturen stellen. Sie wird gleichzeitig dort, wo sie es kann, theoretisch wie praktisch eine klare und begründete Position zu den Arbeiten von Wilhelm Reich beziehen.” (s. Homepage der WRG, Abschnitt “Geschichte”).

Wilhelm-Reich-Institut (WRI) Wien. Das “Institut” existiert auf Vereinsbasis seit 1982 (Gründer ist der Psychiater Dr. Peter Bolen, Pionier der Körperpsychotherapie in Österreich) und versteht sich als “wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Erkenntnisse über die Lebensenergie und ihrer Funktionen”. Insofern verfolgt sie einen ähnlichen Arbeits- und Forschungsansatz wie die deutsche Wilhelm-Reich Gesellschaft Berlin im Unterschied nur vielleicht in etwas kleinerem Rahmen.

Sie stellte ursprünglich eine Eigeninitiative von Menschen dar, die eine körperpsychotherapeutische Ausbildung absolvierten und ein Interesse an Austausch und Vertiefung ihrer Erfahrungen und erworbenen Kenntnisse hatten. Weiter heißt es auf ihrer Website: “Das Wissen um den Wert des von Wilhelm Reich formulierten Menschenbildes stellt Ausgangsbasis und Nährboden für das Selbstverständnis des WRI dar.”

Inzwischen arbeitet das WRI unter den Aspekten Information, Vermittlung, Verknüpfung und Anwendung am Ausbau eines Netzwerks, Austausch von Erfahrungen, Grundlagenerforschung und an vergleichender Kooperation mit therapeutischen Verfahren anderer Herkünfte, z. B. der Komplementärmedizin. Als Kommunikationsplattform existiert seit 1988 – und mit mehr als 120 Ausgaben – eine eigene kleine Zeitschrift, die zur Zeit zweimal jährlich erscheint und den Namen ‘Bukumatula’ trägt.

Es ist ein Begriff aus der Sprache der Südseebewohner der Trobriand-Inseln, die von dem polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski in den frühen 1920er Jahren erforscht wurden (siehe seine Studie Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, 1928). Es bedeutet “Ledigenhaus”, als der geschützte Ort, wo Jugendliche ungestört ihre ersten sexuellen Erfahrungen sammeln können.

Die Ergebnisse flossen auch ein in Reichs Buch Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral (urspr. Der Einbruch der Sexualmoral, 1932; revid. u. erw. Köln 1972). Das WRI organisiert einschlägige Veranstaltungen und Workshops. Willkommen sind sowohl wissenschaftlich und therapeutisch Tätige als auch interessierte Laien. Gewählter Obmann ist zur Zeit der Psychotherapeut Wolfram Ratz. Kontakt: office@wilhelmreich.at

John Joachim Trettin. Eine durchaus schillernde und bis heute sehr aktive Gestalt und starker Pol aus der damaligen Berliner Reichschen Pionierzeit und Szene ist John Joachim Trettin (*1952). Er arbeitete mit dem orgonomischen Therapeuten, einstigen engen Reich-Mitarbeiter und Psychiater Dr. Walter Hoppe (1900-1981) zusammen. Dieser war 1974 aus Israel nach Westdeutschland übersiedelt, ließ sich als Orgontherapeut in München nieder und vermittelte Trettin aus erster Hand sein differenziertes Wissen um Funktion, Bau und Anwendung des Orgonakkumulators, so wie er darin selbst seit den 1940er Jahren von Reich persönlich instruiert wurde.

Trettin wiederum vermittelte Jürgen Fischer, von dem weiter unten noch die Rede ist, praktisches ORAC- und orgonomisches Wissen. Gemeinsam begannen sie um die Mitte der siebziger Jahre (Trettin nennt das Jahr 1974) systematisch mit der experimentellen Konstruktion und Erprobung des Reichschen Orgonakkumulators.

Trettin betätigt sich unter Bezug auf den „arbeitsdemokratischen“ Reich in der Revision nach 1933 maßgeblich und intensiv auf allen durch Reich sich eröffnenden relevanten orgonenergetischen und orgontherapeutischen Forschungsgebieten, vom Einsatz des eigens nachgebauten Orgonakkumulators über die mikroskopischen Bionversuche bis zum „Cloudbusting“.

Er besuchte das Wilhelm Reich-Museum in Rangeley/Maine und stand im Arbeitskontakt mit Dr. Eva Reich. Er repräsentiert in Deutschland eine vielfältige Reichforschung in Form einer eigenen orgonenergetischen Denk-, Praxis- und Therapiewerkstatt. Dazu gründete er nach seinem Rückzug aus dem Berliner Umfeld um 1994 sein eigenes „OrgonInstitut“ in Nürmbrecht, einem Ort nahe von Köln (www.orgoninstitut.de).

Trettin bietet eine Orgonomie-Ausbildung an, baut und vertreibt Orgonakkumulatoren nebst Zubehör und Zusatzgeräten (Decken, Shooter, Kissen, usw.), stellt orgonphysikalische Forschungen und wichtige Langzeitmessungen an und berichtet fortlaufend über seine Arbeit. Zum Kennenlernen seiner Sichtweise Reichs und der teils harschen und kritischen Position zur Behandlung von dessen Werk durch den von ihm sogenannten „Neoreichianismus“ sei besonders auf zwei Aufsätze von ihm verwiesen: “Orgonomie – das Ende einer Freiheitsbewegung“ aus dem Jahr 1997 und neu: “Reich und Orgonomie in Deutschland 1968-2017” (s. Homepage des OrgonInstituts).

Laut Trettins Auskunft ist der zweite Beitrag in einer zugespitzten Version unter dem Titel „Ein Weg der Entwicklung der Orgonomie 1968-2017“ nur einzusehen, wenn man den Google-Blog „dzogorg.biospot.de/2017/04“ öffnet. Interessanterweise arbeitet Trettin auch auf „spirituellem“ Feld, indem er eine Verbindung zwischen orgonomischen Wissens- und Funktionsprinzipien mit der Lehre und Praxis besonders des tantrischen Buddhismus herstellt (s. Blog dzogorg.de).

Bernd A. Laska, LSR-Projekt – Die Wolken sterben. Andere – wie der Ingenieur und Reich-Biograph Bernd A. Laska (Verfasser einer informativen rowohlt Monographie über Reich mit vielen Fotos und ausführlicher Bibliographie) – arbeiteten über Reich eher erkenntnistheoretisch.

Sie lieferten, am “ganzen Reich” interessiert, wichtige Beiträge der Zusammenschau in seiner kleinen blau eingeschlagenen Zeitschrift wilhelm-reich-blätter (1975-1982). Neben der emotion war diese damals die wichtigste deutsche Reich-Zeitschrift. Beide Publikationen traten zum Glück nicht in Konkurrenz zueinander, vermieden aber auch zu große Annäherung. Das nährte verschiedene Ansätze, Perspektiven und Interpretationen.

Laska modifizierte sein Reich-Interesse mit den Jahren und stellte es in den Kontext eines philosophischen Veröffentlichungs-Projekts, LSR genannt, LaMettrie-Stirner-Reich. Er versucht, die drei Persönlichkeiten sowohl vergleichend als auch in ihren parallelen Zuordnungen zu Voltaire (LaMettrie), Marx (Stirner) und Freud (Reich) zu verstehen – die eine unbekannte Person jeweils als Paria zur bekannten anderen. Ein interessantes Vorhaben.
Ein drittes Zeitungsprojekt, Die Wolken sterben (A5-Format geheftet), des Anhängers von Dr. Walter Hoppe, Kurt Nane Jürgensen (München), schaffte es nur zu drei Ausgaben.

Jürgensen ließ gegen Bezahlung kopierte Kassiber von späten Reich-Schriften (oder Auszüge davon) zirkulieren, die für viele die erste Begegnung mit den schwierigen Spätwerken der orgonomischen Forschungen war. Die beiden Bände der Späten Schriften (Verlag Zweitausendeins) – Die kosmische Überlagerung (Cosmic Superimposition) und Orop Wüste – Raumschiffe, DOR und Dürre – mit den Versuchen zum Cloudbusting in Maine und Arizona widmen sich diesen Themen.

Reich-inspirierte Psychoanalytiker. Verschiedene deutsche Psychoanalytiker zeigten sich unterschiedlich inspiriert von Reichs Werk. Als Beispiele seien hier Fritz Erik Hoevels (*1948) und Hans-Joachim Maaz (*1943) genannt. Der eine, Hoevels, auch Publizist, Übersetzer und Selbstverleger mit Reichweite laut VVN/Bund der Antifaschisten bis zum “rechten Rand”, kommt aus Freiburger Wirkungsstätte.

Der andere, Maaz, ist ein noch DDR-geschulter Neurologe und Psychiater, damals Chefarzt einer Psychosomatischen Klinik der Evangelischen Diakonie in Halle, der erst mit der 1989er Wende im vereinten Deutschland in Erscheinung trat. Maaz erwarb sich Verdienste vor allem mit seinen Büchern Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (1990; München 2010 NA) und Die Entrüstung – Deutschland.  Stasi, Schuld und Sündenbock (Berlin 1992).

Sie stellen beste Beispiele angewandter politischer Psychologie auf den deutschen Vereinigungsprozess dar, indem sie den Versuch unternehmen, die ostdeutsche Seelenbefindlichkeit zum Zeitpunkt der Wende und danach aus der typischen, den Einzelnen entmündigenden und kontrollierenden DDR-Sozialisation in Staat und Familie zu verstehen und zu erklären. Dies erfolgt unter analytischer Bezugnahme auf Reichs Charaktertypologie. Hoevels wiederum verortete sich in der Position des orthodoxen Freudo-Marxisten, für den das Werk Reichs nur bis zum Ende von dessen marxistischer Phase gilt.

Er gründete früh die Marxistisch-Reichistische Initiative, die als Bunte Liste-Freiburg zeitweise einen Stadtrat stellte und verfasste Bücher zum politischen Ausschnittswerk Reichs: Marxismus, Psychoanalyse und Politik (Freiburg 1983) und Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse (Freiburg 2001). Maaz rezensierte das Buch für die Zeitung Das Neue Deutschland und stellte dabei fest, dass Reich darin zu Recht als der Psychoanalytiker herausgestellt werde, der am klarsten die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der Neurosenentstehung aufgezeigt habe (ND-Beilage zur Buchmesse FFM. 2001).

Reich-Studium nur eine Sache für Autodidakten? In den 1990er Jahren kam es publizistisch zu einer wahren Flut an neuen Veröffentlichungen. Die persönlichen Interessen und Studien vieler zeigten akademisch-publizistische Früchte, als sich die Beschäftigung mit Reich zunehmend professionalisierte und akademisierte. Gleichzeitig erwies es sich als schwierig, mit dem Label „Wilhelm Reich“ oder „Orgonomie“ in der Medizin zu reüssieren oder berufsperspektivisch ein Standbein zu entwickeln.

Natürlich war Reich bekannt bei einer Reihe von Professoren, politischen Psychologen und Sexualwissenschaftlern wie Gerhard Amendt, Volkmar Sigusch, Reimut Reiche, Peter Brückner oder Horst-Eberhard Richter, um nur einige zu nennen und spielte bei ihnen z.T. eine gewisse bis nicht unwichtige Rolle. Reich polarisierte auch oder gerade in den Reihen linker Intellektueller.

Es gab jedoch an keiner deutschen Hochschule ein ausgewiesenes psychologisches, medizinisches oder soziologisches Studienangebot bzw. eine zertifizierte Zusatzausbildung zu Reich. An der Universität Bremen war es z.B. so, dass es mit der Gesundheitswissenschaftlerin und Soziologin Prof. Dr. Annelie Keil zwar eine vorzügliche Kennerin und didaktische Vermittlerin von Reichs Werk gab, aber ihr Lehrangebot war im Fachbereich Sozialpädagogik angesiedelt.

Diese Schwierigkeiten brachten manche von Reich wieder ab. In Bremen hatte sich schon in den frühen 1980er Jahren um den rebellischen Theologen und suspendierten Pastor der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde, Wolfgang Schiesches (1939-2010), eine kleine Gruppe Reich-Interessierter gebildet, die sich regelmäßig bei ihm traf. Die Künstlerin Brigitta Forst, ein Mitglied dieser Gruppe, organisierte im Nov./Dez. 1991 an der Universität im Kleinen Hörsaal an elf Terminen die Vorführung von Bernd Senfs kompletten Einführungen in Reichs Werk, die es damals schon auf Videoaufzeichnungen gab.

Hier wurden auch erstmals die mikrobiologischen Filmaufnahmen der Reichschen Bionversuche gezeigt, die die Berliner Reich-Initiative reproduziert hatte. Der Hörsaal war jedes Mal gut besetzt. Schiesches hatte im Keller seines Wohnhauses in der Mozartstraße 31, in dem er auch eine alternative Druckerei betrieb, einen selbstgebauten Orgonakkumulator stehen. Zu seinem Tod veröffentlichte die TAZ einen ironischen Nachruf unter dem Titel „Mit Jesus gegen die orgiastische Impotenz“. (taz Bremen, 1.9.2010)

Fischer-Orgon-Technik. Das medizinische Instrumentarium, vornehmlich des Orgonakkumulators, verbesserte sich bis zur technischen Standardisierung in seiner im Grunde äußerst simplen Kasten-Ausführung unter Verwendung von Materialien wie (weniger geeigneten) Holzdämmplatten, verzinktem Eisenblech und Stein- oder Glaswolle in alternierender organisch-anorganischer Schichten-Anordnung mit Abstrahlung nach innen. Mit etwas geschickten Bastlerhänden war auch jederzeit nach Anleitung der billigere Selbstbau möglich.

Jürgen Fischer, nach eigener Auskunft im Interview Techniker, Publizist und Autor, ursprünglich im alternativen Verlagswesen tätig, ist neben Trettin autodidaktischer Pionier auf dem Gebiet. Ihm wiederum kommt das Verdienst zu, eine kleine, knapp 60-seitige Broschüre Reichs zum Orgonakkumulator (ORAC) ins Deutsche übersetzt und unter dem Pseudonym Jürgen F. Freihold veröffentlicht zu haben; seiner Auskunft nach waren die ersten Akkus mit Aluminium als Metall falsch gebaut worden.

Die ORAC-Technik, aus der sich in umgekehrter Richtung und Anordnung das Cloudbusting ergab, steht im Zentrum von Reichs späterer Forschung und jeder Beschäftigung damit. Fischer richtete ab 1978 zunächst in einem Moordorf in der Nähe von Bremen seine kompetente Werkstatt ein (heute lebt er auf einem Hof bei Breitenbrunn im Unterallgäu). Seine und Trettins gemeinsame Wege trennten sich 1990 nach langjähriger Freundschaft. Fischer baut und vertreibt den ORAC nach Reichscher Anleitung noch immer auf Bestellung.

Seine Erfahrung damit ist mittlerweile auf Jahrzehnte erweitert; man bekommt von ihm die ausgereiften Grundgeräte und eine Reihe abgewandelter, erweiterter Orgonenergieträger-Techniken. Sein aktualisiertes Anwendungs-Grundbuch, zusammen mit der Berliner Orgonomie-Ärztin Heike Buhl verfasst, heißt einfach Energie! und ist mittlerweile ein Standardwerk (www.fischer-orgon-technik.de).- Seit 2016 liegt in neuer, aktualisierter und erweiterter Fassung das Handbuch zum Orgonakkumulator nach Wilhelm Reich von James DeMeo vor, mit dem Fischer auch bei Wetterexperimenten kooperierte.

Zu Fischers Angebot gehört auch ein spiritueller Engel-Energie-Akkumulator (EEA). Dazu verwendet er Rosenquarze, die in den oberen Rahmen integriert sind. Idee, Bau- und Benutzungsanleitung dazu will Fischer über zwei Medien von einem jenseitigen “Wilhelm Reich” aus dem kosmischen Off (dem Wilhelmreich?) bezogen haben.

Nicht genug dieses Kuriosums, hat Fischer 1996/97 über einen mehr als einjährigen Zeitraum hinweg eine Reihe von “Gesprächen” (Fragen – Antworten – Dialog) mit dem geistigen Reich-Wesen “geführt” und sie für die interessierte Nachwelt in seinem Buch Der Engel-Energie-Akkumulator nach Wilhelm Reich (1997) ausführlich protokolliert und wiedergegeben. In der weiter oben erwähnten Ausgabe der emotion Nr. 16/2004 schildert und erörtert Fischer (mit wörtlichen „Reich-Zitaten“) sein Jenseits-Experiment in seinem Beitrag “Spirituelle Orgonomie – Widerspruch oder Synthese?” (S. 84-127).

Die Herstellung des Kontakts und der Empfang einer Geistweltbotschaft “von drüben” sind Kanäle, die von inspirierten Menschen mit intuitiv-imaginativer Eignung und etwas meditativer Übung seit Jahrtausenden geöffnet und benutzt werden. Die moderne rationalistische Wissenschaft der Neuzeit seit Descartes bis hin zur christlichen Theologie hat dieses andere “Erdkraft-Wissen” (Gaia) wie das der “Hexen-Weisheit” und Ketzergedanken verschwiegen, verdrängt, unterdrückt und bekämpft. Keltische Kraftorte wurden oftmals mit christlichen Kirchen und Kapellen überbaut.

Es musste erst archäologisch wiederentdeckt und freigelegt werden, wozu die Arbeiten verschiedener tiefenökologischer Forscher und geistig Wissender wesentlich beigetragen haben. Zu nennen wären etwa Dolores LaChapelle, Joanna Macy, Arne Naess, Nigel Pennick, Marco Pogacnik, James Lovelock u.a. Fischer nahm dazu zunächst selbst eine skeptische, hinterfragende Position ein. Doch habe er sich eines Besseren belehren und vom verständnisvollen Auftreten der Reichschen Geist-Präsenz überzeugen lassen und sieht sich in der Funktion eines “Journalisten“, der „Reich“ zu Wort kommen lässt. Mehr erfahren wir über das eigentliche Motiv zu diesem ungewöhnlichen Schritt und die Interessenslage Fischers allerdings nicht.

Natürlich kann man einen Reichschen ORAC mit bestimmten Kristallen experimentell modifizieren, um noch andere erwünschte, in diesem Fall “spirituelle”, Wirkungen zu erzielen. Ein Reichscher ORAC ist das dann nicht mehr, es sei denn “Reich selbst” liefert aus der Geistwelt die Anregung und Anleitung dazu. Das nimmt sich alles etwas zurecht konstruiert aus. Nichts wegnehmen, nichts hinzufügen, stellte Walter Hoppe einmal als sein Prinzip fest.

Es dürfte für viele ohne eigene Erfahrung mit einem EEA vielmehr eine reine Glaubenssache als ein überprüfbares, nachvollziehbares Faktum sein, ob man Fischer in diesem Punkt folgt oder nicht. Das macht die ganze Angelegenheit etwas heikel. Es geht nicht darum, jemandem die eigene Wahrheit aufgrund eigener subjektiver Erfahrung auf spiritueller Ebene abzusprechen, sondern um die Frage, ob und wie es eine Verbindung von Reichs Wissenschaftlichkeit mit einer spirituellen Dimension geben kann und dies wünschenswert ist. Fischer beantwortet das Dilemma so: “… die streng materialistische Ausrichtung des reichschen wissenschaftlichen Werkes wurde um die spirituelle Dimension erweitert. Ich musste an dieser Stelle von der grundsätzlich materialistischen Sichtweise – die bisher auch die Grundlage der Orgonomie bildete – abrücken und das Primat des Geistes anerkennen.” (emotion 16/2004, S. 85).

Wer von Jürgen Fischer einen eigenen Eindruck gewinnen will, sei auf ein interessantes TV-Interview von Uwe Behnken mit ihm verwiesen, in dem dieser über die tiefe Bedeutung des Emotionalen in Reichs Forschung, das doppelte ORAC-Prinzip der Konzentration und Ableitung (Absaugen, s. ORANUR-Experiment) spricht und einfache Beispiele der inneren Energiewahrnehmung demonstriert (“Orgon” nach Wilhelm Reich mit Jürgen Fischer; Live Net Concept e.V., 2010; YouTube).

“Reich-Kommunen”. Es bildeten sich Kommunen wie die „Aktionsanalytische Organisation“ (AAO) am Friedrichshof im österreichischen Burgenland um den höchst fragwürdigen Wiener Aktionskünstler Otto Muehl (1925-2013) oder Dieter Duhms Kulturprojekt „Bauhütte“ (gegr. 1978). Sie orientierten sich an einer freien sexuellen Lebensweise und standen (und stehen) u.a. in einem mehr oder weniger direkten Bezug zu Wilhelm Reich und seinen Büchern wie Die sexuelle Revolution, Die Funktion des Orgasmus, Charakteranalyse oder Einbruch der sexuellen Zwangsmoral. Die psycho-manipulative Praxis der rigorosen AAO-Kommune unterschied sich deutlich von der Bauhütte, die deren faschistoide, autoritäre und frauenfeindliche Gruppenorganisation gerade nicht übernahm, als hierarchische Falle ansah und eigene öko-spirituelle Wege beschritt (s. Buch: Aufbruch zur neuen Kultur; 1982).

Von 1983 bis 1986 fand ein kommunitäres Gruppenexperiment der Bauhütte mit etwa 50 Personen im Südschwarzwald in Schwand (Rosenhof) statt. Dieses wurde – öffentlich und teilweise auch aus der linken Szene in heftige Kritik geraten -, schließlich beendet. 1991 gründete man im östlichen Bundesland Brandenburg auf 15 Hektar Fläche das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) als Bildungs- und Tagungsstätte, Lern- sowie Lebensort für anfangs etwa 60 bis 80 Menschen. Eines der Vorbilder war die schottische Findhorn-Gemeinschaft.

Das Ökodorf ZEGG ist von der Energieversorgung bis zur Abwasserreinigung weitgehend autark angelegt und verfolgt strikte ökologische und humanitäre Prinzipien. Seine BewohnerInnen und Gäste leben nach dem Leitbild der ‘freien Sexualität‘ zusammen. Zu einem eigenständigen Ableger wurde ab 1995 in Portugal das von Duhm, Sabine Lichtenfels und anderen gegründete Heilungsbiotop 1-Tamera, zugleich internationale Friedensschule und ökologische Forschungsstation, wo heute etwa 170 Menschen leben. ZEGG und Tamera sind international im Global Ecovillage Network (GEN) vernetzt (www.zegg.de; www.tamera.org).

Plocher-Energiesystem. Ein Geheimnis machte der erfindungsreiche süddeutsche Techniker (er bezeichnet sich selbst ursprünglich als Mechaniker) Roland Plocher (*1940) um sein “Plocher-Mehl”, das er in einem “technischen Apparat/Verfahren” (Plocher-Energiesystem) energetisiert und gewerblich als Substanz mit Heileffekt vertreibt (man kann es in Wasser gelöst stark verdünnt sogar trinken).

Ähnlich wie man in der Homöopathie die Trägerflüssigkeit Wasser oder Traubenzuckerglobuli mit natürlichen Substanzen (Elemente und Stoffe wie Sulfur, Quecksilber, Kohlenstoff, Eisen, Kochsalz oder auch Arsen), pflanzlichen und tierischen Essenzen (Schlangen-/Insektengift) versetzt und durch Schütteln und Verdünnen (Potenzierung) “energetisiert”.

Es war aber jedem halbwegs Reichverständigen klar, dass seine Vorrichtung nichts Anderes als ein für seine Zwecke modifizierter Orgonakkumulator (PENAC) sein konnte, eine Art „Energie-Kopierstation“. Plocher erzielte mit seinem Verfahren in der Landwirtschaft, im Haushalt (Wasserkreislauf), in Kläranlagen (Gülle) und in stehenden Gewässern (Schwimmbecken, Badeseen) von trüb auf klar, von verschmutzt auf sauber, erstaunliche Reinigungs- und Verbesserungseffekte sogar bei extremen Verschmutzungszuständen.

Der Grundschlamm eines stark mit Algen und organischen Ablagerungen belasteten Badesees in Traun (Österreich) veränderte sich in der Färbung von schwarz auf Grauton, im Geruch von faulig stinkend auf neutral. Pflanzen gedeihten kräftiger und gesünder, wenn die Erde mit Plochermehl angereichert wurde. Kühe weiden dort lieber, wo auf Wiesen Plochergülle ausgebracht wurde (s. Literatur; www.plocher.de). Das Beispiel zeigt, wie weit gesteckt und alltagstauglich eine rationale, durch Erfahrung geleitete technische Anwendung Reichscher Erkenntnisse und Methoden sein kann.

Das Spätwerk – Ausblick. Leider wurden die fortlaufenden Ausgaben der emotion mit den Jahren seltener (letzte Ausgabe ist die Nr. 17/2007 mit sexualökonomischem Schwerpunkt zur Selbstregulation), während zugleich die Anzahl interessanter deutscher Literatur zur Orgonenergie auch in praktischer Hinsicht zahlreicher geworden ist.

Aus den einstigen experimentellen, orgonenergetischen Ansätzen wurde bis heute eine erprobte medizinische Orgonomie, die von den damit arbeitenden Ärzten nachvollziehbar systematisch beschrieben ist (siehe etwa Heike Buhl: Lebensenergie-Medizin. Eine Einführung in die Praxis. Berlin 2000; ferner Kavouras, Lassek; s. Literatur). Eine ebenfalls große Leistung stellen die zwischen 1995 und 1997 in enger Kooperation mit der WRG erstellten sechs Bände zum Spätwerk Reichs (Späte Schriften) im Zweitausendeins Verlag dar.

Darunter befinden sich die Bionexperimente, die Reich in den späteren 1930er Jahren im skandinavischen Exil zur Entdeckung der biologischen Lebensenergie führten (während Otto Hahn und seine Mitarbeiter etwa zur selben Zeit mit der Urankernspaltung experimentierten) sowie die beiden Report-Bände zur verheerenden Energiewechselwirkung mit Radioaktivität ORANUR I (Orgone Energy Anti Nuclear Radiation) und zu Wetter-, kosmischen und UFO-Phänomenen ORANUR II in der ersten Hälfte der 1950er Jahre und vermächtnisreich Der Christusmord. Alle sechs Bücher werden in kürzeren Begleitbroschüren (Lesehilfen) von verschiedenen Autoren ausführlich fachlich kommentiert und erläutert. Derzeit ist diese Edition leider vergriffen, z.T. nur antiquarisch erhältlich.

Für Herbst 2013 wurde in einem Ousia-Lesekreis-Verlag ein kompletter Reprint der 15 Hefte der Reichschen Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (Organ der Sexpol) in drei Bänden im Schuber zur Subskription angekündigt; bislang blieb sie aber leider unrealisiert (www.ousia-verlag.de). Der Wilhelm Reich Infant Trust Fund veranstaltete im Juli 2017 in Orgonon das Seminar „The Voice of Wilhelm Reich“ mit Vorführung und Diskussion einer Reihe von Konferenz-Filmen, in denen Reich auftritt und zu bestimmten Themen – darunter auch „Reich Speeks of Freud“ -, spricht (www.wilhelmreichtrust.org).

Ein Teil der wissenschaftlichen Arbeit zu Wilhelm Reich hierzulande bezieht sich im Kontext der WRG auf therapeutische und prä- und postnatale Anwendung (vgl. James DeMeo/Bernd Senf, Hg.: Nach Reich. Neue Forschungen zur Orgonomie. Sexualökonomie. Die Entdeckung der Orgonenergie. Frankfurt/M. 1997).

Ein Gebiet, auf dem die Ärztin Eva Reich als Pionierin ganz im Sinne des Vermächtnisses ihres Vaters für die “Kinder der Zukunft” lange tätig war. Der Bezug dessen, womit sich die WRG aktuell zum Reichschen Werk beschäftigt ist für mich nicht immer und ohne weiteres nachvollziehbar. Neue Bezeichnungen halten Einzug, die bei Reich unbekannt sind. Walter Hoppe nannte das “Cocktail”, d.h., das Reichsche wird mit anderen Inhalten vermischt.

Auch im letzten Jahr gab es im Mai wieder die Jahrestagung der WRG in Berlin mit interessanten Vorträgen und Arbeitsgruppen zum Thema “Reich und lebendig“. Die wichtige Konferenz 2013 wurde bisher noch nicht in der emotion dokumentiert. Nach nunmehr zehn Jahren des Nichterscheinens, muss man sie als eingestellt betrachten. Das Argument, die Bedeutung eines Printmediums hätte in Zeiten des online-newsletters, neuer Medien, diverser Infopools und kommunizierender sozialer Netzwerke (Facebook, Twitter) nachgelassen, kann nicht recht greifen.

Denn mit einem periodischen Organ als Fokus könnte genau der damit verbundenen informellen Auf- und Zersplitterung entgegengewirkt werden. Eine mögliche Alternative wäre vielleicht ein regelmäßiges emotion-Jahrbuch (man sollte einen so passenden Titel nicht aufgeben) mit Beiträgen der Jahreskonferenz und weiteren Artikeln. Als Publikationsprojekt wäre zudem ein Wilhelm-Reich-Lexikon hilfreich mit kompetenten lexikalischen Stichwörtern zu Grundbegriffen und Personen von A wie Arbeitsdemokratie über K wie Körpertherapie bis Z wie Zwangsmoral.

Es ist klar, dass dies nur Vorschläge und Wünsche sein können. Die Menschen in der WRG und anderen Reich-Initiativen bringen ihre Mitarbeit nebenberuflich und ehrenamtlich ein und tragen die Kosten selbst. Wer sich intensiv mit Wilhelm Reich befasst, macht sich dies ohnehin zur Lebensaufgabe. Einen spezifischen deutschen Reich-Verlag, der auch wichtige Übersetzungen von ausländischen (zumeist englischen) Neuerscheinungen relativ zügig besorgen würde, gibt es bis heute nicht. Ansätze dazu boten sich zeitweilig mit dem Berliner Leutner Verlag.

Mitunter muss man lange warten, bis es neue Titel auf Deutsch gibt, siehe etwa bei den Letters & Journals. Dieser abrissartige Rückblick kann nur ein vorläufiger Arbeitstext sein. Es wäre zu begrüßen, wenn die Geschichte der deutschen Forschungsarbeit zu Wilhelm Reich und ihrer wichtigen Repräsentanten seit dem Wiedererstarken des Interesses an Reich in den 1960er Jahren bald einmal Eingang in einen Sammelband finden würde, der diese Arbeit und ihre Stationen in Beiträgen verschiedener beteiligter AutorInnen ausführlich dokumentiert und darstellt. Bevor die Zeit vollends darüber hinweggeht und es zu einer Aufgabe der „Archäologie des Wissens“ wird.

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Literatur/Quellen/Kontakte (Auswahl):

David Boadella: Wilhelm Reich. Pionier des neuen Denkens. Eine Biographie. Darmstadt 2008
Heike Buhl/Jürgen Fischer: Energie! Heilung und Selbstheilung mit Lebensenergie. Orgon in der medizinischen Praxis und zu Hause. Ein Kompendium. Berlin 2007; www.orgon.de
Jürgen Fischer: Orgon und Dor. Die Lebensenergie und ihre Gefährdung. Texte zu Wilhelm Reich und zur Orgonomie (enth. u. a. Eva Reich: Meine Erinnerung an W.R.; S. 130-154) Berlin 1995
Ders.: Der Engel-Energie-Akkumulator nach Wilhelm Reich: Mediale Gespräche mit dem Entdecker der Orgonenergie. Düsseldorf 1997
Ders.: “Der Fall Wilhelm Reich” – der missglückte Versuch, Wilhelm Reich gerecht zu werden (Filmbesprechung) www.orgon.de > Aktuelle Texte
Manfred Fuckert: Lebenskraft und Krankheitsdynamik. Wilhelm Reichs Beitrag zum Verständnis der chronisch-miasmatischen Krankheiten in der Homöopathie. Barsinghausen 2011
Ingo Diedrich: Naturnah forschen. Wilhelm Reichs Methode des lebendigen Erkennens. Berlin 2000
Dieter Duhm: Aufbruch zur neuen Kultur. Von der Verweigerung zur Neugestaltung. Umrisse einer ökologischen und menschlichen Perspektive. Belzig 1993
Ders.: Zukunft ohne Krieg. Theorie der globalen Heilung. Wiesenburg 2006 (www.verlag-meiga.org)
Ders.: Terra Nova: Globale Revolution und Heilung der Liebe. Belzig 2017 (Neuaufl.)
Karl Fallend/Bernd Nitzschke (Hg.): Der “Fall” Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt 1997
Jürgen F. Freihold (d. i. Jürgen Fischer): Der Orgonakkumulator nach Wilhelm Reich. Berlin o. J.
Walter Hoppe: Wilhelm Reich und andere große Männer der Wissenschaft im Kampf mit dem Irrationalismus. München 1984 (Kurt Nane Jürgensen Verlag)
“In die Richtung gehen, an die man glaubt”. ZEGG/Tamera – 25 Jahre weltweit vernetztes spirituell-ökologisches Gemeinschaftsprojekt. Projektporträt von Elmar Klink, 9.1.2016 (unveröffentl. Manuskript)
Jorgos Kavouras: Heilen mit Orgonenergie. Die medizinische Orgonomie. Bietigheim 2005
Lassek, Heiko: Orgontherapie – Heilen mit der reinen Lebensenergie. Ein Handbuch der Energiemedizin. München – Wien 1997 (2. Auflage 2005 bei U. Leutner, Berlin unter dem Titel: Orgontherapie. Ein Handbuch der Lebensenergie-Medizin).
Digne Meller Marcovicz: Viva, kleiner Mann. Über Wilhelm Reich. Das Buch zum Film (1985)
Mulisch, Harry: Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich. Reinbek b. Hamburg 1999
Ernstfried Prade: Das Plocher-Energie-System. Anstöße zum Umdenken (Bio Energetik Verlag). Kinsau 1995
Ola Raknes: Wilhelm Reich und die Orgonomie. Frankfurt/M. 1973. (enth. die damals vollständigste Bibliographie von Reich-Schriften)
Eva Reich/Eszter Zornànszky: Lebensenergie durch sanfte Bioenergetik. München 1997
Wilhelm Reich: Ausgewählte Schriften. Eine Einführung in die Orgonomie. Vorwort v. Mary Higgins, Treuhänder. Köln 1976
Ders.: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934-1939. Hrsg. u. m. e. Einführung von Mary Boyd Higgins. Köln 1997 (Über die wichtigen Jahre im skandinavischen Exil und die Bionexperimente)
Ders.: American Odyssee. Letters & Journals 1940-1947. Edited by Mary Boyd Higgins. Farrar, Straus & Giroux, NY 1999
Ders.: Where’s The Truth? Letters & Journals 1948-1957. Edited by Mary Boyd Higgins. Farrar, Straus & Giroux, NY 2012
Wolfgang Schiesches: Anbruch der Freiheit (Klartext Verlag) 1975
James E. Strick: Wilhelm Reich, Biologist. Harvard University Press (2015)
“Teure Tüten”. Bericht über Roland Plochers Energie-Arbeit in: DER SPIEGEL 21/1995
Wilhelm-Reich-Gesellschaft Berlin. Aperiod. newsletter online. www.wilhelm-reich-gesellschaft-deutschland.de
wilhelm-reich-blätter; www.lsr-projekt.de
www.wilhelmreich.at (Wilhelm Reich Institut Wien – Zeitschrift „Bukumatula“ seit 1988)
www.wilhelmreichtrust.org (US-amerikanische Website incl. WR-Museum)
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© Elmar Klink, Bremen; November 2017
Kontakt: Elmar.Klink@gmx.de

Zum Verfasser:

Jg. 1953; freier Autor; um 1969 erste Beschäftigung mit der Psychoanalyse Freuds und Gruppendynamik; Lektüre von H.-E. Richters Buch Die Gruppe; Beschäftigung mit Alice Miller, Ronald D. Laing, Anti-Psychiatrie und dem englischen Reformpädagogen A. S. Neill; 1977-1983. Studium der Sozialarbeit und Sozialwissenschaften in Bremen; 1982 Kontaktaufnahme zum Kulturprojekt Bauhütte; 1991-2008 Berufstätigkeit in Beratungs- und Öffentlichkeitsarbeit; 1993 Halbjahres-Studium generale im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG); seit 1993 Beschäftigung mit Tiefenökologie und Geomantie; Mitarbeit bei politischen Zeitschriften; zahlreiche Aufsätze, Kurzessays, Buch- und Filmbesprechungen; Beschäftigung mit Person und Werk Wilhelm Reichs seit etwa 1970.

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    Bukumatula 2/2018

    Atme! Und: Ton! Ton! – Teil I

    Was ist das für eine Behandlung? Du wirst den Mut, deine Gefühle zu zeigen, finden! Mehr nicht?
    von
    Markus Hohl:

    Vorwort:

    Ausgehend von der Diagnose Psoriasis-Arthritis machte ich in den 1980-er Jahren eine Körpertherapie nach Wilhelm Reich, die im Folgenden beschrieben wird. Die Grundannahme Reichs, den „gepanzerten Menschen“ von diesem Panzer zu entlasten oder zu befreien, ist heute unverändert, die aktuelle Ausgestaltung der Therapie stellt sich Jahrzehnte später wahrscheinlich anders dar. Trotzdem hat sich meine Erfahrung, meine Therapie, in den zurückliegenden zwanzig Jahren als langfristig wirksam erwiesen, sodass ich heute ohne medikamentöse Unterstützung weitgehend beschwerdefrei lebe.

    Der Text, geschrieben 1998 (hier der erste Teil in Auszügen), zeigt die „Schwierigkeiten und Freuden“ der Behandlung, die letztlich in einem dynamischen Prozess der Veränderung aufgegangen sind. Und warum erst jetzt in Bukumatula? Weil ich schon lange auf einen Text gewartet habe, der nicht nur die Theorie Reichs, sondern auch die Praxis der Therapie vorstellt.

    DER PANZER

    Nichts kann sich ändern, solange der Mensch gepanzert ist, weil alles Elend von der Panzerung und Unbeweglichkeit des Menschen kommt, die die Angst vor dem Leben, vor dem beweglichen Leben, schafft.
    (Wilhelm Reich, Christusmord)

    Der Raum ist groß und hell, aber ohne Einrichtung; nur einen Sessel sehe ich, daneben auf dem Holzboden eine Schaumgummimatte. Unbekleidet wird die Behandlung stattfinden, eine Stunde nackt als Voraussetzung für die Körperarbeit, sagt der Doktor, unter dessen Augen ich mich in einer Ecke ausziehe. Wahrscheinlich gehört das zur Behandlung, sage ich mir, sicher beobachtet er mich beim Ausziehen und wird sich schon die ersten Gedanken machen.

    Umständliches Hinlegen, Knie angewinkelt, Arme auf die Matte: langer Blick des Doktors vom Sessel aus auf den nackten Körper, schweigend: Was ist denn, was muss denn so ausgiebig betrachtet werden! ATME! sagt er endlich, atme durch den Mund! als erster Befehl von oben. Ich atme doch schon, Herr Doktor, siehst du es nicht, denke ich, bin aber froh, dass ich nicht weiter nur angestarrt werde, sondern eine ärztliche Anweisung bekomme. Atme, atme vor allem lange aus, und: TON, einen Ton beim Ausatmen, mach die Kehle auf, öffne die Kehle, Ton, Ton! sagt er laut und fordernd.

    Also ein Ton beim Ausatmen, aber was für ein Ton, und wie öffnet man denn die Kehle?
    So bemühe ich mich, bis ein nichtssagendes Geräusch aus der offenen? Kehle kommt, ein schwingungsloses, gehemmtes „Ah“, kein Ton tief aus dem Inneren, wie er ihn sich vielleicht vorstellt, sondern nur ein mechanisch klingender Laut. Halte den Ton möglichst lange bis zum nächsten Einatmen, sagt der Doktor.

    Ob er zufrieden ist, frage ich mich und töne so gut es geht und denke: Was soll das für einen Sinn haben, sage aber nichts und mache meinen Ton brav weiter; der Arzt muss ja wissen, wie man gesund wird. Wahrscheinlich mache ich es nicht richtig, kann es nicht richtig, sicherlich mache ich es ziemlich falsch, ist die Kehle doch wie zugeschnürt, sodass er sich denken wird: Er kann nicht einmal richtig atmen, er bringt gar keinen richtigen Ton heraus! Und frage mich schon in der ersten Stunde: Was tue ich überhaupt, warum mache ich denn eine sogenannte Körpertherapie nach Reich, obwohl ich doch bisher immer ganz gut funktioniert habe, ein geschätzter Lehrer, Ehemann und Vater, ein sogenannter normaler Mensch, kein gestörter Typ bin, in der letzten Zeit höchstens unter schmerzenden Gelenken (Rheuma) und einer unruhigen Haut (Allergie) zu leiden habe.

    Weil es dir helfen wird, hat der Doktor, mit dem ich gleich per Du bin, vorher gesagt, weil es neun von zehn dringend brauchen würden, vor allem jene, die es überhaupt nicht nötig zu haben glauben, die sofort sagen: Das interessiert mich nicht, das brauche ich nicht, um Gottes Willen, keine Psychotherapie auch noch, wenn ich doch überhaupt nicht krank bin, schon gar nicht verrückt, sondern nur hin und wieder den einen oder anderen Schmerz spüre, aber im Prinzip doch kerngesund bin! Und es ja gegen alles eine Tablette gibt, ich aber diese Verstopfung mit Medikamenten auf Dauer fürchte und mich deshalb also nun nackt vor den Doktor gelegt habe, damit er mir hilft.

    Und gegen meine Befürchtung, nicht viel richtig zu machen, sagt er sogar, dass es gut ist, dass er vielleicht sogar einverstanden ist mit meinem Atmen und Tongeben, auch wenn ich daliege wie eine Luftmatratze ohne Luft; und will dann, dass ich weiteratme, nicht gleichmäßig, sondern stoßweise, mit einem lauten Schrei stoßweise ausatme, was zuerst nur ein heiseres Bellen aus der gesperrten Kehle wird, nur mühsam heraus will aus dem Körperinneren, an den jetzt schmerzenden und knackenden Kiefergelenken (auch hier tut es weh) nicht vorbeikommt, den Kieferblock nur mit Schmerzen aufbrechen kann, weil ich den Mund nur mit Überwindung weit öffnen, also aufreißen kann!

    Aber jetzt wird die Anstrengung doch zu einer Art Schrei, nach mehrmaligem Üben gelingt der Schrei einigermaßen, auch wenn der Doktor eher gelangweilt schaut und sogar gähnt?

    Nach ein paar Minuten, in denen er mich ein bisschen stoßweise schreien lässt, fragt er: Was SPÜRST du? Ich aber dagegen DENKE: Was soll ich denn spüren, wie kann man außer den Gelenksschmerzen (von denen er nichts hören will) etwas spüren bei einer nicht so leichten Übung, die man möglichst gut machen soll, bei der man sich auf ihr Gelingen konzentrieren muss, damit der Doktor zufrieden ist? Was soll man da noch spüren, wenn man alles richtig machen will, damit man sich nicht blamiert, damit er nicht weiter neben mir gähnt oder mich sogar auslacht? Und genügt denn der Schmerz nicht!

    Den Ärger oder den Zorn oder die Angst könnte ich gespürt haben, aber die steckten fest in meinen Knochen und Gelenken, unter dem KÖRPERPANZER, wie ihn der Doktor später nennen wird, und konnten noch nicht herausgelassen werden unter der angespannten Haut!

    Du spürst nichts, die Frage ist, ob du überhaupt noch lebst, sagt der Doktor und lacht gar nicht über diesen Witz und ich lenke gleich ab und frage ihn, was das für eine Methode ist, warum ich denn so atmen und schreien muss? Doch da winkt der Doktor nur kopfschüttelnd ab, weil er hören will, was ich spüre, keine Diskussion über die Methode als Ablenkung von mir selbst. Über mich will er wahrscheinlich etwas hören, über meine Beschwerden, die körperlichen und seelischen und wie das alles zusammenhängt. Aber auch das will er dann überhaupt nicht hören, keine Vorträge von mir, sondern etwas anderes!

    Was für eine abenteuerliche Behandlung ist das, bei der man nicht in Ruhe etwas erzählen, die eigenen Theorien zum Besten geben kann, sondern sich ausgeliefert wie ein monströses Schaufensterstück fühlt! Und dann sagt er aus der atmenden Stille heraus sogar: Du Körperbatzen! und: Du Fleischbrocken! Ich aber erschrecke nicht, wundere mich höchstens ein bisschen über die Grobheit des Doktors, äußere jedoch keinen Protest, will auch kein Querulant sein, sondern denke mir, recht hat er, weil ich mir genauso vorkomme und daliege wie ein schon etwas angefaultes Stück Fleisch, jedenfalls muss es von rechts oben, von wo der Doktor auf mich herunterschaut, so sein!

    Warum muss ich mich denn nackt vor ihn legen, habe ich jetzt auch Zeit, mir zu überlegen, warum muss sofort alles hergezeigt und zur Schau gestellt werden? Den Körper in seiner Nacktheit braucht er, unverstellt, nicht zugedeckt, sondern bloßgestellt, aufgedeckt und öffentlich gemacht in seiner Verkrampfung. Da fällt das bloße Liegen schon schwer genug, wenn man vor allem schweigend betrachtet, ja angestarrt wird, das bloße Liegen wird auf diese Weise zur Qual, sodass ich fürchte, nicht einmal das richtig zu machen. Seltsam verrenkt und ausdruckslos komme ich mir vor, wie ein ziemlich lebloses Objekt, ein Fleischbatzen eben! Und jetzt soll auch noch richtig geatmet und geschrien werden!

    Sicherlich schaut der Doktor zuerst auf das Glied, denn auf irgendeine für den Patienten zunächst undurchschaubare Weise muss diese Besichtigung mit dem entblößten Geschlecht zu tun haben. Wahrscheinlich muss die Nacktheit sein, um die offenen oder versteckten Sexualverkrampfungen auf den ersten Blick zu diagnostizieren und die Behandlung darauf abzustellen, da wird noch einiges auf mich zukommen? Obwohl das Sexualleben doch nicht so schlecht ist, sage ich mir, manches Mal doch sogar ein wenig ablenkt vom üblichen Schmerz.

    Aber der Doktor redet ohnedies kein Wort davon, der Schwanz scheint ihn gar nicht besonders zu interessieren, weil er mehr den Körper ALS GANZES im Blick hat, wie mir scheint, den Gesamtkörper begutachtet und dabei sicherlich zu katastrophalen Schlüssen kommt. Sonst würde er doch nicht so verstummen, offenbar ist er so erschrocken, dass es ihm die Sprache verschlagen hat, er also überhaupt nichts mehr von sich gibt.

    Warum diagnostiziert und erklärt er denn nichts, wie man es bei einem Doktor erwarten muss, warum sagt er denn nicht, was ich habe? Sicher sind seine Erkenntnisse so, dass er lieber nichts mehr sagt, wahrscheinlich hält er mich für einen aussichtslosen Fall, der für diese Art der Therapie überhaupt nicht geeignet ist und wieder weggeschickt werden muss, denn nachdem ich noch ein wenig herumgelegen bin, geht er zunächst ohne Kommentar hinaus und erklärt damit die erste Sitzung für beendet.

    Das also war die erste Stunde auf dem Weg zur Heilung, sage ich mir und bin einerseits froh, das es vorbei ist und wundere mich andererseits weiter, dass gar nichts zur Sprache gekommen ist, nicht über meine Gebrechen geredet wurde, als ich mich auf allen vieren langsam in die Höhe bringe. Ich rede mir ein, dass schon alles seinen Sinn haben wird, dass der Doktor schon wissen wird, wie er mich gesund macht, denn von einem sofortigen Abbruch der Behandlung ist nicht die Rede, sondern von der Vereinbarung eines weiteren Termins, möglichst bald!

    Er gibt aber auch beim nächsten Mal keine Erklärungen ab, will nicht wissen, dass ich zuhause fleißig geübt, also geatmet habe (das sind keine Übungen, sagt er) und fragt nur, was sich denn verändert habe seit dem letzten Mal? Darauf fällt nun mir nichts ein, so liege und so atme ich also wieder minutenlang vor mich hin, scheinbar unbehelligt von der Heilkunst des Doktors, ohne sein Eingreifen, sodass ich, zur Decke starrend, ihn nur manchmal aus den Augenwinkeln beobachtend, ungestört meinen Gedanken nachhängen kann, mich von meinen Gedanken irritieren lassen kann.

    Worauf wartet er, bis er endlich mit der richtigen Behandlung beginnt, denke ich, warum beobachtet er mich denn immer nur und sagt kaum etwas, obwohl er sicher schon einiges entdeckt haben wird, außen und innen, wozu taxiert er mich sonst die ganze Zeit? Sicher wird er aus den geschwollenen Gelenken und der geröteten Haut seine Schlüsse ziehen und sich seinen Teil denken, die Gefährlichkeit der Krankheit schon lange erkannt und den Grad meiner Gestörtheit herausgefunden haben, wird sich vielleicht denken: Noch nicht vierzig, aber schon so ein Körper- und Seelenwrack, das es nicht mehr lange machen wird, bei dem alles Mögliche NICHT IN ORDNUNG IST!

    Oder denkt sich: Wie sieht der denn aus! Schon beim ersten Treffen, beim Kennenlernen, wird er mich durchschaut haben, obwohl er damals auf die Frage nach dem Sinn der Behandlung nach einer langen Pause nur gemeint hat: Am Ende wird es dir besser gehen, weil du den Mut haben wirst, deine Gefühle zu zeigen! Was mir aber als nichts Besonderes erschien, gerade dass er nicht sagte: Gesund und glücklich wirst du werden! Obwohl er dann noch etwas ähnlich Banales von sich gab, nämlich: So schön könnte das Leben sein, nicht wahr, so schön könnte das Leben sein, wenn du es dir nicht selbst zur Hölle machen würdest!

    Na, na, habe ich mir gedacht, so schlimm ist es auch wieder nicht! Aber das habe ich damals noch nicht ganz verstanden, sondern immer nur wie jetzt daran gedacht, dass er bald etwas ganz Verstecktes, Ungutes, das ich bisher nicht einmal geahnt habe, aus dem Unterbewusstsein herausziehen und mir an den Kopf werfen wird, allerhand psychische Defekte und Normabweichungen schon garantiert erkannt haben und gleich aufdecken wird. Bald wird er mir wahrscheinlich sagen, welche Kindheitsschwierigkeiten ich gehabt habe und wie man die daraus folgenden Störungen nennt.

    Da könnte ich ihm schon weiterhelfen und einiges erzählen, aber davon wird nicht die Rede sein, höchstens in Ansätzen und Andeutungen (zum Beispiel: der Vater, die Schläge, die Angst). Es genügt ihm, wird er später sagen, auf meinen Panzer zu schauen, da kennt er sich schon aus, der Körperpanzer genügt ihm, da braucht er keine Wörter und Begriffe, keine psychologischen Diagnosen, nur den Körper, wie er daliegt in seiner Verhärtung und Erstarrung! Daran muss gearbeitet werden, Körperarbeit muss in erster Linie geleistet werden, keine Sprecharbeit als Analysearbeit, sagt er, als ob er meine Gedanken erraten hätte.

    Ja, ja, sage ich und bin froh, einen Beitrag leisten zu können; die Psychologie ist ein Sprachproblem, also ein philosophisches Problem, aber da lächelt er nur und meint: Du lenkst von dir ab, du redest gescheiten Unsinn, weil du verlernt hast, DICH SELBST AUSZUDRÜCKEN, also deine Gefühle zu zeigen, was du nämlich hier tun wirst! Worauf ich gleich wieder ruhig bin, möglichst unauffällig daliegen will und mir höchstens noch denke: Schon wieder habe ich mich bloßgestellt und auch nicht verstanden, was er mit dem Wort Körperarbeit wirklich meint.

    Wahrscheinlich etwas Ähnliches wie mit dem Satz vom Herauslassen der Gefühle, der heute schon in jeder Illustrierten zu lesen ist, den jeder Hobbypsychologe gegen seinen Nachbarn verwendet, der ein Stehsatz in jedem Hausfrauenkränzchen ist und jetzt als Allerweltsanweisung gegen mich gerichtet wird! Warum schimpft er mich und redet mir nicht gut zu, wie ich es eigentlich erhofft habe, warum ist er nicht nett, wie man es erwarten würde gegenüber einem empfindsamen, vielleicht auch empfindlichen Menschen, wie ich es bin?

    In so einem Fall wie meinem muss doch gelobt und bestärkt und nicht zurechtgewiesen werden! Höchstens das Atmen lobt er hin und wieder, meistens aber spricht er nur knappe Befehle aus, zum Beispiel: Lass die Füße auf dem Boden! und immer wieder: Ton, Ton, einen Ton möchte ich hören!

    Streng ist der Doktor, und obwohl er ein paar Jahre jünger ist und auch keinen weißen Mantel hat, sondern vielleicht sogar eher abgerissen wirkt, ist er zwar kein Gott in Weiß, aber doch eine Respektsperson, vor der man sich ein bisschen fürchten könnte. Aber das sage ich nicht zu ihm, weil ich es für unwichtig und normal halte, sich vor einer Respektsperson ein bisschen fürchten zu müssen. Wie sich wahrscheinlich auch meine Schüler vor mir ein wenig fürchten, weil sie mich sonst vielleicht nicht ernstnehmen?

    Geh wieder hinaus, würden sie vielleicht sogar zu mir sagen, wenn sie sich nicht ein wenig fürchten würden? Oder mich mit ihrer Unruhe, mit ihren Schwätzereien, mit ihrem Gelächter nicht zu Wort kommen lassen, nicht auf mich hören würden, als ob ich nicht einmal im Raum wäre!

    Das gibt es ja bei Lehrern, immer wieder hört man von solchen Lehrerschicksalen, dass einer in die Klasse geht und sich schon nach fünf Minuten nicht mehr verständlich machen kann, weil es so zugeht und laut ist, dass er sich fehl am Platze und überflüssig vorkommt und denken muss: Ich kann mich nicht durchsetzen! Wahrscheinlich lachen sie über mein Gesicht, das kein richtiges Lehrergesicht ist, oder über meine Stimme, die keine richtige Lehrerstimme ist, oder über meine Witze, die richtige Lehrerwitze sind.

    Deshalb muss man sofort fest auftreten, keinen Zweifel daran lassen, wer zu bestimmen hat, wer der Lehrer ist! Auch wenn das feste Auftreten ziemlich anstrengend ist, muss es doch gleichzeitig ausgeglichen werden durch Freundlichkeit und Entgegenkommen, die ja nicht nur vorgespielt werden. So wird das Stehen vor (oder mitten in) der Klasse zu einer gefährlichen Gleichgewichtsübung und im Lauf zu einer schmerzhaften Verspannung, zu einer Kopf- und Magenverhärtung, zu einer Muskel- und Gelenksverhärtung wie bei mir, zum Panzer, unter dem man im Lauf der Zeit nicht mehr viel Luft bekommt oder wegen des zunehmenden Rauschens im Ohr die Schülerunruhe nur mehr gedämpft und aus wachsender Entfernung hört, auch wenn man dann ein angesehener Lehrer und keine lächerliche Figur ist!

    Atme, sagt er, und: Ton! ruft er, und weil er vielleicht verärgert ist über mein unbeteiligtes Daliegen: Willst du überhaupt gesund werden? Ich glaube, du willst überhaupt nicht gesund werden!

    Natürlich will ich gesund werden, erwidere ich, aber wie? Und sage mir, dass man beim Doktor doch still und gefasst sein muss, damit er ungestört seiner Arbeit nachgehen und mich behandeln kann. Warum regt er sich dagegen immer über mein ruhiges Daliegen auf? Die Behandlung am brav daliegenden Körper und das Lob für mein Stillliegen habe ich mir erwartet und jetzt ist offensichtlich das Gegenteil der Fall! Der unruhige Körper wird anscheinend verlangt, der widerspenstige Patient, das Kind, das beim Doktor laut jammert (was ich doch immer ganz tapfer vermieden habe), nicht das Kind, das sich nichts anmerken lässt und deshalb gelobt wird!

    Das aufsässige, wehleidige, sich herumwerfende, gar schreiende Kind soll ich auf einmal sein, das doch von allen bedauert, belächelt, ausgelacht und von den Eltern geschimpft wird! Nimm dich zusammen, hat es dann geheißen, nimm dich zusammen! als Lebensanweisung zum Beispiel gegen drohende oder bereits ausgebrochene Krankheiten (Tränen und Schmerzen), also auch gegen alle psychischen Probleme, die es als Diagnose aber ohnedies nicht gegeben hätte und die deshalb gar nicht vorhanden waren.

    Nimm dich zusammen! selbstverständlich als Anweisung zum Lernen, als Aufforderung, das Beste zu leisten und fleißig zu sein, besonders in den Bereichen, die einem auf die Nerven gegangen sind und also immer mit Unlust und Widerwillen verbunden waren!

    Nimm dich zusammen! vor allem aber als Anweisung zum Abwürgen von Gefühlen, besonders der auffälligen; zum Beispiel wurde so der Ausdruck des Ärgers oder eines drohenden Wutanfalls gegen einen Gleichaltrigen (gegen die Eltern sowieso undenkbar) schnell unterbunden.

    Die Anweisung: nimm dich zusammen! hat gleichzeitig zur Folge gehabt, dass ständig der Körper zusammengenommen, also zusammengezogen wurde, bis ihm dieser Befehl im Lauf der Jahre wahrhaftig in Fleisch und Blut übergegangen ist, so sehr, dass er sich schließlich ganz von selbst und dauernd zusammengenommen, also verkrampft und verpanzert hat. So sitzt der Doktor heute anscheinend ziemlich ratlos vor diesem verklumpten und zusammengeschrumpften Menschenkörper, der sich offensichtlich nur mehr mit großer Mühe auseinandernehmen und entpanzern lässt! Wahrscheinlich hilft nur ein gewaltsamer Eingriff, nämlich eine Operation, denke ich, eine Operation der versteinerten Kniegelenke zum Beispiel.

    So fühle ich mich vom Doktor unverstanden und stelle mir schon vor, wie ich die Behandlung abbrechen werde, ihm gleich sagen werde, dass es so nicht weitergeht, dass ich in der Atmerei keinen Sinn sehe. Vielleicht werde ich es ihm aber erst später mitteilen und etwas von hinausgeworfenem Geld sagen, telefonisch und nicht ins Gesicht, oder ich komme einfach nicht mehr, breche die Behandlung kommentarlos ab, das wäre am besten!

    Aber sicher bin ich mir nicht, wie es weitergehen soll, wie ich wieder gesund werde. Immer öfter herrscht Chaos in meinem Kopf, ein Durcheinander, von dem ich jedoch auch nicht weiß, wie es aus dem Kopf herausgelassen und ausgedrückt werden kann, das also am besten im Kopf selbst behandelt werden soll: Die Heilung im Kopf, wenn schon nicht mit Tabletten, dann über ein paar therapeutische Gespräche mit einigen Kunstgriffen seitens des Doktors habe ich mir nämlich erhofft, nicht ein sinnloses vor mich Hinkeuchen und Tönen!

    Wieder schaut er von der Seite, von seinem Sessel aus, steht dann auf und geht rundherum, umkreist mich, kommt näher und sagt: Es geht dir also gut? Nein, sage ich, wie kommst du auf so etwas? Weil du ganz ruhig daliegst, wie ein alter Mann, der zufrieden ist, weil er sich nichts mehr erwartet; vollkommen kontrolliert und normal liegst du da! Man sieht nämlich nicht, dass es dir schlecht geht, davon ist nichts zu bemerken, also muss es dir gut gehen!

    Aber ich bin gar nicht ruhig, sage ich, in Wirklichkeit bin ich unruhig und nervös und überhaupt nicht zufrieden! Davon sieht man aber nichts, ruft er, davon sieht man nicht das Geringste, schon gar nicht in den Augen, ganz überlegen und abgeklärt schaust du aus, als ob dich nichts erschüttern und durch einander bringen könnte, ein richtiger Herr Lehrer bist du!

    Ich verstelle mich nicht, widerspreche ich, man sieht doch an den geschwollenen Gelenken, wie es um mich bestellt ist, an den klauenartigen Fingern und am hinkenden Gang, wie sehr ich bedient bin. Immer wieder fragen mich die Leute, wie es mir geht, worauf ich ihnen antworte, dass es nur Rheuma sei, was sie auch immer zufrieden stellt, weil sie sich nichts darunter vorstellen können, wie sich ja auch die Ärzte nur eine Entzündung darunter vorstellen können. Also nur ein paar Entzündungen, sonst aber alles in Ordnung, sage ich zu den Leuten.

    Da musst du wahrscheinlich über dich selbst lachen, sagt der Doktor, weil genau das die Täuschung ist, dass mit der Diagnose schon alles erklärt sein soll, dass mit dem Wort Rheuma die Dinge in Ordnung gebracht sind. Das Wichtige, das herausgezogen werden muss, liegt hinter dem Wort, hinter der Fassade, zum Beispiel deine Unruhe und Unzufriedenheit, die du zeigen und herauslassen musst, wenigstens hier!

    Wie denn? Wie können sie denn herausgelassen werden, rufe ich und spüre für einen Moment die Möglichkeit einer Faust am Ende des ruhig daliegenden rechten Arms und stelle mir vor, wie ich dem Doktor eine aufs Maul schlagen könnte, wenn er nicht der Doktor und auch sonst ungefährlich wäre!

    Wie denn? sage ich ziemlich laut, vielleicht ein wenig zu laut, weil er eine Spur zurückweicht, leicht erstaunt ist und leiser sagt: Ja, da bewegt sich doch immerhin etwas, ein bisschen Leben ist noch da, wenigstens in der Stimme, wenn schon nicht im Gesicht und im Körper, immerhin noch ein bisschen Leben in der erhobenen Stimme! Das könnte also ein Anfang sein, von der sich hebenden Stimme zum aufrechten Menschen!

    Ich weiß nicht genau, was er damit meint, ob er mich nur ärgern will oder ob ich etwas richtig gemacht, auf seine Rede richtig reagiert habe, so wie er es sich erwartet hat, so wie ein gesunder Mensch reagieren müsste. Meint er den Ansatz zu einer Aggression, den er vielleicht bemerkt hat, ein Hinschlagen als immerhin denkmögliche körperliche Reaktion, die höchstens aus der Ohnmacht kommen könnte und ein ganz und gar verzweifeltes bubenhaftes Um-sich-Schlagen wäre?

    Und wieder: Atme, sagt er, und: Ton, sagt er, mach einen Ton! und später: Was spürst du? Nicht viel, sage ich und denke angestrengt darüber nach, was ich denn schon wieder spüren sollte, und ich berichte über meine Schmerzen in den Beinen, über meine kalten Hände und eine leichte Benebelung im Kopf, vielleicht vom heftigen Atmen.

    In Wirklichkeit müsste ich zugeben, dass ich nichts Besonderes spüre, weil ich mich immer wieder fragen muss, wie ich daliege, wie mich der Doktor sieht, was er sich über mich denkt, ob ich alles richtig mache, ob ich seine Anweisungen auch richtig ausführe und bemerke dabei, dass sich der Blick immer mehr verengt: Auch der Raum erscheint mir kleiner, sogar die ursprünglich hohen Wände niedriger und näher gerückt, die weiße Farbe dafür immer deutlicher gebündelt als Lichtkegel, als Scheinwerfer auf mich gerichtet, dahinter die beobachtenden Doktoraugen, die mich, den Fleischbatzen, anstarren, den Panzermenschen!

    Das ist die Einschränkung der Perspektive auf den Gedanken, was sich die anderen von mir denken, nämlich garantiert nichts Gutes! Wahrscheinlich aber denke ich vor allem über mich selbst nur manchmal etwas Gutes, meistens etwas Kritisches, wenn nicht gar Zerstörerisches! Du magst dich ja selbst nicht, war oft die lästige und gereizte Anrede des Vaters, um mich zu treffen, und in Wahrheit meinte er damit sich selbst, war er mit sich selbst unzufrieden. Und dann gelang nur die Flucht in die Aggression gegen die Frau und die Kinder, später fast einzig in den Alkohol. Sich selbst nicht zu mögen, ist die Krankheit, aber auch das ist eine Illustriertenweisheit, die mir nicht weiterhilft.

    Und der Doktor scheint nicht einmal das zu wissen, weil er keine Anstalten macht, mir mehr Selbstliebe beizubringen und offensichtlich erkennt er auch nicht die Erziehungsschwierigkeiten, weil er nichts unternimmt, um mein Selbstbewusstsein zu stärken, sondern sogar das Gegenteil versucht, indem er mich nur begafft und dumm sterben lässt! Er redet mir noch immer nicht gut zu, sondern schaut mir weiter beim abwechselnden Atmen und Tönen zu und gibt mir manchmal ein paar Anweisungen, zum Beispiel: Versuche beim Einatmen den Oberkörper zu bewegen, beweg die Brust beim Atmen!

    Ich dagegen wackle da nur ein bisschen mit dem ganzen Körper und hebe die Schultern, ohne die Brust aus einer unbestimmten Umklammerung freigeben zu können, was den Doktor veranlasst, mir seine bewegliche Brust vorzuzeigen und eindrucksvoll zu atmen! Wahrscheinlich wird er mich wegen meiner Ungeschicklichkeit bald berühren und angreifen, um mir klar zu machen, wie es geht, aber hoffentlich nicht auf ungute Weise, nicht sogar irgendwie im Sexualbereich, stelle ich mir vor, denn wozu liege ich nackt da, wenn nicht auch die Genitalien mit behandelt werden sollen?

    Wozu muss ich mich sonst betrachten lassen, auch unten betrachten lassen vom Doktor, wenn das nicht bald eine Rolle spielen würde, denn eigentlich muss doch in einer Therapie über Sexualität geredet werden, habe ich mir immer gedacht, besonders wenn man sich gleich am Anfang nackt präsentieren muss!

    Wahrscheinlich macht er momentan irgendwelche Versuche mit mir, die ich jetzt noch nicht durchschaue, um später handgreiflich zu werden, um meine Reaktion zu testen, vielleicht greift er gar mein Glied an, um zu testen, ob zum Beispiel irgendeine versteckte Schwulengeschichte in meinem Kopf eine Rolle spielt, eine unbewusste latente Homosexualität vorhanden ist.

    Wie soll ich dann reagieren, wenn nicht mit dem sofortigen Abbruch der Behandlung? Oder soll ich ganz unbeteiligt tun oder einen Witz machen, vielleicht aber dem Doktor wirklich einen Schlag verpassen, was auch das Falsche wäre. Sicher wird bald die Rede auf so etwas kommen, auch wenn bisher gar nichts besprochen wurde, nichts Wichtiges jedenfalls, wie mir scheint, geredet worden ist, eigentlich nur Belangloses ausgetauscht wurde, nicht einmal medizinische Annäherungen, wie ich sie mir vorgestellt habe, versucht wurden.

    Der Doktor aber will gar nicht reden, will nur, dass ich die Brust hebe, durch die Brust ausatme, stell dir ein großes Loch in der Lunge vor, durch das die Luft hinausströmt, sagt er, dann wird es leichter gehen, dann wirst du beweglicher. Während ich krampfhaft versuche, die Brust zu heben und das Loch zum Hinausströmen der Luft aus der gepressten Lunge suche, hat er offensichtlich weiter vor, nur Unwichtiges von mir zu verlangen, eben nicht zum Beispiel über das Sexualleben zu reden, sondern die Brust heben zu lassen und mich fortgesetzt mit seinen Anweisungen zu peinigen, sodass mich beim Ausatmen schon der Rücken zu schmerzen beginnt, nach den Gelenken nun auch der Rücken Probleme bereitet!

    Lass die Beine aufgestellt! halte den Kopf ruhig! Lass die Hände auf der Matte! sind seine mir oft unverständlichen Anweisungen, und jetzt eben: Bewege die Brust beim Atmen! Womit er jedoch ziemlich unzufrieden ist, weil ich sicherlich wie ein einziger Krampf vor ihm liege und nicht frei herausatmen kann, was doch das Leichteste von der Welt sein sollte? Mich selbst aber wundert meine Kurzatmigkeit nicht besonders, muss ich mich doch dauernd auf meine Schmerzen konzentrieren und vor allem darauf, was alles Mögliche noch sein könnte.

    So muss ich beobachten, ob nicht vielleicht das Kniegelenk sogar etwas mehr schmerzt als noch vor der Behandlung; hören, ob nicht auch ein leises Pfeifen, das vorher nicht da war, aus der angestrengten Lunge herauskommt, vielleicht sogar ein asthmatisches Pfeifen; aufpassen, ob nicht in meinem Kopf noch mehr durcheinandergeraten ist durch die bisherige Doktorarbeit: Anstatt kühler und abgeklärter zu werden, ist er erhitzter und verwirrter durch den Gedankenstau, der nicht heraus kann und so auch zu einem kopfweherzeugenden Blutstau geworden ist, was vielleicht schon die ersten Anzeichen einer bevorstehenden Nervenkrankheit sind, zum Beispiel Multipler Sklerose, Alzheimer oder mindestens einer Depression.

    Man sieht nichts, ruft der Doktor plötzlich, da kommt nichts, regt er sich auf, da bewegt sich kaum etwas, kein Ausdruck, nur deine Erstarrung führst du vor, nicht deine Gefühle! Hinter dem erstarrten Oberkörper ist noch etwas, das aber nicht herauskann, weil du es nicht herauslassen willst, das du gut versteckt hast!

    Davon weiß ich gar nichts, denke ich und bemühe mich sofort noch mehr und ausdrücklicher zu atmen und gleichzeitig einen beeindruckenden Ton von mir zu geben, einen möglichst auffälligen Ton zu produzieren, der dann jedoch mehr wie ein heiseres Brüllen klingt, mit dem auch der Doktor nichts anfangen kann. Sofort schüttelt er den Kopf und gibt mir zu verstehen, dass es nicht richtig gewesen ist, weil es nicht ehrlich war, dass ich übertrieben habe in diesem Doktorspiel, in diesem Psychospiel falsch gespielt habe, weil ich einen unechten Ausdruck herausgequält habe: Das ist ja nur ein blödes Spiel, ein so genanntes Rollenspiel, aber keine ernsthafte Angelegenheit, bei der man gesund werden kann, denke ich.

    Ich glaube, die Methode ist nichts für mich, sage ich also nach einer Pause möglichst deutlich, auch wenn es eher beiläufig klingt und mehr als Nebensatz herauskommt. Und der Doktor: Das ist eine Erklärung, aber kein Gefühl, Herr Lehrer! Ein Gefühl will ich hören und sehen! Außerdem ist es ohnedies besser aufzuhören, wenn du überhaupt nicht mitmachen willst, dich gar nicht auf die Körperarbeit einlassen willst, sagt er ruhig.

    Das erschreckt mich ein bisschen, weil es nicht stimmt und ungerecht ist und ich mich deshalb unverstanden fühle, aber das sage ich dem Herrn Doktor nicht, sondern das: Und wie empfindet ein Gesunder dein Atmen und Tongeben, was kann der damit anfangen?

    Der genießt es, weil er sich nicht verstellt, weil er seine Beweglichkeit vorführen und seinen Körper frei bewegen kann, ein gesunder Mensch empfindet wie ein Baby LUST, zum Beispiel am Lachen, Schreien und Weinen! Schau dir ein gesundes Baby an, da ist noch nichts gehemmt, da fließt und bewegt sich alles, der ganze Körper ist andauernd in Bewegung, ein einziges Greifen, Rollen, Zucken und Gesichterschneiden!

    Ein Baby reagiert sofort, wenn ihm etwas gefällt, sofort merken wir, wenn es sich wohlfühlt, ohne dass etwas gesagt werden muss, auf der anderen Seite aber lässt es keinen Zweifel daran, wenn es sich nicht wohlfühlt, wenn es unglücklich ist, dann wird laut geschrien und geweint, um die Unlust zu beseitigen und die Zufriedenheit, um nicht zu sagen das Glück wieder herzustellen. Das Baby braucht keine Sprache, um auszudrücken, wie es ihm geht und was es sich gerade fühlt. Ein Baby führt uns vor, dass der Mensch zum glücklichen Leben, nicht zum Unglück bestimmt ist, der Mensch will leben, also sich ausdrücken: So die bisher längste Doktorrede, die damit auch diese Sitzung beendet.

    Aber wir sind keine Babys mehr, wollte ich noch sagen und bin doch bereits überzeugt, die Behandlung nicht abzubrechen, sondern beim nächsten Mal wiederzukommen.

    So verlaufen die Behandlungsstunden: Nach dem Ausziehen in einer Ecke des Raumes lasse ich mich – wegen meiner Kniebeschwerden grotesk auf allen vieren – auf die Matte nieder, die einerseits Fluchtpunkt ist, andererseits aber auch Ort der Quälerei, jedenfalls momentan meine Welt: der Plumpsack (der doch auch einmal ein ganz guter Sportler, ein talentierter Fußballer war!) auf der Matte in der Unbeweglichkeit des Krüppels!

    Jetzt auf den zweieinhalbmal einen Meter Schaumgummi beginnend mit dem Atmen und dem Versuch, die Brust beim Einatmen zu heben und dann möglichst lange, möglichst deutlich ganz weit auszuatmen! Dass mir fast schon die Augen aus den Höhlen treten, so betont atme ich aus und leere meine Lunge, die auch nicht mehr ganz in Ordnung ist, aber so, vor allem, wenn der Doktor dann erscheint, mit einem langgezogenen a-Ton immerhin oberflächlich bewegt wird.

    Und nun der Doktor neben mir, durchtrainiert, der bewegliche Gegensatz zum erstarrten Patienten, den er wie immer betrachtet, dessen Panzer er sich aus ungefähr einem Meter Entfernung anschaut. Dann die Frage: Was hat sich geändert seit dem letzten Mal? Was soll sich schon geändert haben? Wodurch? frage ich mich und weiß gar nicht, welche Änderungen er sich erwartet, wie bedeutsam die Änderungen sein müssen, damit er zufrieden ist.

    Die geschwollenen Gelenke sind jedenfalls unverändert, sage ich, was ihn aber nicht zu interessieren scheint, weil er wahrscheinlich auf etwas anderes aus ist, auf allgemeine Lebens- und Verhaltensänderungen, eine eingeleitete Scheidung vielleicht oder einen Berufswechsel, also auf die großen Dinge, mit denen ich aber nicht dienen kann. Dass ich die Zeitung am Sonntag nach Langem wieder einmal selbst geholt habe, mich aufgerafft habe und zweihundert Meter zu Fuß gegangen bin, ist die Veränderung, die mir einfällt, die ich ihm jedoch sicher nicht mitteilen werde, damit er nicht zu lachen anfängt.

    Und in der Schule? Alles beim Alten, muss ich zugeben, noch immer bin ich der distanzierte Lehrer, der sich die Schüler vom Leib hält, dem sie auf diese Weise nicht zu nahe kommen, den sie manchmal aber auch durchschauen: sie sind gar nicht so cool, sagte einmal eine Schülerin! Die Verunsicherung nimmt zu, weil ich früher doch geglaubt habe, dass ich doch als Lehrer keine Schwierigkeiten habe, im Gegenteil immer gern unterrichtet habe, aber mit welcher Körperstarre als Ergebnis? frage ich mich jetzt, und ob ich nicht doch einmal vor die Schüler hintreten und zugeben müsste, dass ich sie auch ein bisschen fürchte?

    Nein, sagt der Doktor, du sollst nicht deine Minderwertigkeitskomplexe, sondern dich selbst vorführen, dich als Mensch zeigen; das wäre der dritte Weg neben dem Auseinanderbrechen oder der Erstarrung, wie bei dir. Du sollst erkennen, dass die Schüler dich nicht als Person meinen, wenn sie unruhig werden, wenn sie stören, dass es nicht deine Schwäche ist oder im Gegensatz dazu deine Stärke, wenn du sie ruhigstellst, sondern dass ihr Verhalten zuerst im Schulsystem begründet ist. Keine Lehrermaschine, sondern ein Mensch sollst du sein, der doch auch zum Beispiel zeigen kann, dass er einzelne Schüler mehr mag als andere, der seine Sympathien und Antipathien zum Ausdruck bringt.

    Um Gottes Willen, sage ich, das ist doch völlig unmöglich, genau das Gegenteil muss der Lehrer tun, nämlich möglichst alle gleich behandeln! So ein Blödsinn, der Doktor hat keine Ahnung von der Schule, denke ich, wie kann er nur so etwas sagen! Darüber kann doch gar nicht geredet werden, mit solchen Vorschlägen tut er mir keinen guten Dienst, das verunsichert mich nur, so hat das alles aber keinen Sinn! So muss die Behandlung abgebrochen werden!

    Und dann passiert eines Tages doch etwas, ohne Ankündigung, während ich wieder allein und mühselig vor mich hinatme und nur daran denke, wann endlich die Stunde zu Ende ist und wie ich aus dieser sogenannten Therapie aussteigen könnte, der Doktor aber mehr unbeteiligt danebensitzt und sich wahrscheinlich eins lacht.

    Plötzlich also passiert etwas, das ich nicht erwartet habe, was ich mir nicht einmal habe vorstellen können, nämlich eine Körpersensation! Zum ersten Mal macht sich der Körper frei von den Panzerklammern des Denkens und erobert sich ein Stück Beweglichkeit zurück: Unvermittelt beginnen sich meine aufgestellten Beine zu bewegen, ein leichtes Zittern wird immer heftiger, bis die Knie schließlich nach ein paar Minuten in Wellen aneinanderschlagen, ohne dass ich etwas dazu tue und ich spüre: Jetzt passiert etwas mit mir, da löst sich etwas, geht der Körper mit mir durch und macht sich selbständig, da flattern mir auf einmal die Beine davon! Ein Schock! Ich vergesse auf das Doktor-Atmen und schaue verblüfft auf die flatternden Beine und bin gleichzeitig schockiert und erstaunt und schaue wohl so auch den Doktor an wie den Weihnachtsmann, voll Angst und Freude, aber er nickt und sagt, sehr gut, lass es zu, lass es geschehen, weil er diesen Abflug offenbar schon erwartet hat, also zufrieden ist.

    Wahrscheinlich ist es doch nicht ein rasanter Ausbruch der immer wieder befürchteten neuen schweren Krankheit, also einer Schüttellähmung, wie ein Unbeteiligter bei meinem Anblick vermuten würde, doch nicht Parkinson, sondern etwas Gesundes, sonst würde der Doktor nicht so zufrieden schauen, sage ich mir.

    Ich weiß ja nicht, was los ist und fürchte mich ein bisschen vor den losgelassenen Beinen, fühle mich zum ersten Mal aber auch nicht geprüft und merke, dass ich keine Erklärung brauche, sondern die Beinfreiheit nach einiger Zeit fast schon genieße. Irgendeine Kraft, die ich nicht kenne, treibt die Beine an, eine Art Körperstrom, der sie ausschlagen lässt und sich langsam hinaufzieht bis unter das Becken, wo ich auch ein leichtes Zucken spüre, das sich durch den Unterleib arbeitet und ihn leichter und fröhlicher macht.

    Ein Rütteln und Schütteln also plötzlich im unteren Bereich, das mir verdächtig vorkommt, aber auch so angenehm ist, dass sich bald nach den abhebenden Beinen auch der Schwanz zu rühren beginnt! Offensichtlich auch mehr Strom im Schwanz, was mir jetzt doch ein wenig peinlich wird, weil er sich zu einer halben Erektion aufbaut, auf die ich dann lieber gleich den Doktor aufmerksam mache.

    Du bist ein bisschen lebendiger geworden, freu dich darüber, sagt er und hält offensichtlich diese Körperäußerung für selbstverständlich, sodass sie mir nicht weiter peinlich sein muss! Ein bisschen lebendiger bin ich scheinbar ganz von selbst geworden, mehr Beweglichkeit ist plötzlich in die bisher arg stockende Körpermaschine gekommen, bei der jedoch trotzdem die Gelenke unvermindert schmerzen, so weit geht das Wunder auch wieder nicht!

    Aber zum ersten Mal seit langer Zeit ist mir wirklich etwas anderes als nur der Schmerz aufgefallen, zum ersten Mal hat sich der Körper nicht nur als aufgedunsenes Fleischstück, als Klumpen gezeigt, bei dem alles schwer zu Boden zieht, sondern als etwas Leichtes, Schwebendes, das „von selbst geht“, was einem Gesunden nicht auffällt, weil es für ihn selbstverständlich ist.

    Aus dem Stillstand hat der Unterkörper mit einem Schlag losgelegt, zwar noch unregelmäßig, aber nach der jahrelangen Sperre geht jetzt etwas weiter, kann ich auf einmal strampeln – ja, fast wie ein Baby; spielerisch schien der Körper für einige Minuten, die Beine als Mobile, auch wenn ich gleich wieder aus dem Raum humpeln werde.

    Jahrelang habe ich das Zusammengezogene und Verkrampfte gespürt, jetzt aber das Losgelassene und Ausgelassene; ein ausgelassener Mensch bin ich für ein paar Minuten gewesen, deshalb bin ich mir wahrscheinlich fremd vorgekommen! Denn an das Ausgelassen-Sein kann ich mich nicht erinnern, schon gar nicht als Kind, das vor allem brav und ruhig, aber nicht ausgelassen war, besonders nicht in Vaternähe, der das Laute nicht aushielt, dabei selbst aber immer sehr laut war und viel geschrien hat und sich dabei selbst nicht aushielt. Ein gut erzogenes Kind also, nicht ausgelassen, sondern eingesperrt in der dauernden Angst, etwas falsch zu machen!

    Aber vorerst schlenkern nur die Beine, die bei diesen Gedanken gleich wieder stillstehen und sich erst nach der Kopfberuhigung wieder in Bewegung setzen. Die Binsenweisheit aus diesem Erlebnis ist, den Körper gehen zu lassen, was seit Jahren mit großen Schwierigkeiten verbunden ist; der Körper „geht nicht mehr“, er hinkt und stockt. Das will der Doktor wahrscheinlich: Damit ich wieder gehen kann, muss ich mich gehen lassen und deshalb mehr spüren, fragt er doch immer wieder: Was spürst du?

    Jetzt also schon mehr als noch vor ein paar Behandlungsstunden, jetzt fällt mir schon mehr auf, nachdem ich nicht mehr nur darauf achten muss, was sich die anderen – der Doktor – von mir denken könnten. Auf mich selbst kann ich mehr schauen, mich selbst nicht nur mehr als Klumpen wahrnehmen. In den rotierenden Beinen beginnt es bald zu ziehen und pulsieren, eine Gänsehaut entsteht, die sich auch als schneller Schauer über den Rücken zieht.

    Aber bald erstirbt die Welle an einem harten Brett, das quer in den Bauch eingespannt scheint, in die Bauchränder hineingefräst ist, wie hineingetreten in den Oberbauch und sich dort querlegt. Ob sie elastisch ist, fragt mich der Doktor, als ich ihm von dieser Sperre berichte. Nein, sage ich, hart und starr spüre ich sie fast bis zum Hals herauf und ziemlich tief im Körperinneren, auch im Rücken hart und gespannt.

    Und dann kommt der Doktor zum ersten Mal ganz nahe, prüft meinen Zustand nicht mehr aus einem bestimmten Abstand, sondern hockt sich neben mich hin und legt mir von der Seite seine kühle, trockene Hand auf die Brust, wahrscheinlich um das Brett zu fühlen, das sich jetzt schon mehr als gusseiserne Klammer anfühlt und vorher gar nicht da war, jedenfalls ist sie mir noch nie aufgefallen.

    Atme, atme so, dass du meine Hand heben kannst, sagt er und drückt sie mir auf die Brust und ich atme mit aller Kraft dagegen, versuche vehement gegen die Doktorhand anzuatmen, obwohl sie nicht so unangenehm ist, wie ich befürchtet habe. Aber viel tut sich nicht, nur wenig kann ich dem Druck entgegensetzen und die Lage der Eingeweideklammer ändert sich dadurch überhaupt nicht. Immer wieder atme ich tief ein, um den Brustkorb zu heben, um auch den Oberkörper wie die Beine ein bisschen mehr in Bewegung, ins Rollen zu bringen, aber da tut sich nichts, da wird nur ein krampfartiges Rucken daraus, nichts Fließendes.

    Dann setzt sich der Doktor hinter mich, nimmt vorsichtig meinen Hinterkopf in beide Hände und lässt ihn wie in einer Schale liegen, – sonst nichts! Und? Was jetzt? Was erwartet er sich denn? Wie muss der Kopf von mir gehalten werden, damit er zufrieden ist? Wahrscheinlich will er den entspannten, losgelassenen Schädel haben, den ich auf seine entsprechende Anweisung, nämlich den Kopf so schwer wie möglich werden zu lassen, gleich in seine Hände hineinfallen lassen will, was aber doch offensichtlich mehr ein gespanntes Hinstrecken wird, weil er nicht aufhört, den Kopf zu umklammern, jedenfalls kommt es mir so vor! Mehr eine Umklammerung als ein lockeres Halten spüre ich, mehr eine Angst, dass mir jemand (er?) die Schädeldecke eindrückt, weniger die Zuversicht, durch die Doktorhand geschützt zu werden.

    Zwar keine Panik, aber doch große Vorsicht und Aufmerksamkeit, eine vorerst nicht nachlassende Unruhe, je länger ich den Doktor in meinem Nacken spüre. Aber er macht auch nach mehreren Minuten keine Anstalten, den Schädel endlich freizugeben, deshalb gewöhne ich mich langsam daran und spüre, dass nichts anderes passieren wird, schon gar nichts Unangenehmes oder Gefährliches; so stellt sich schließlich doch eine Besänftigung ein, die den Kopf ruhig und mich gesprächig macht. Dass ich die Angst gespürt habe, einen Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen, sage ich zum Doktor, der den Kopf nun sanft auf die Matte sinken lässt und mich ermuntert weiterzureden.

    Ein Schlag auf den Hinterkopf vom Vater, wenn ihm wieder einmal etwas nicht gepasst hat, schnell eine „Tachtel“, so wurde daraus eine Körperhaltung, wenn ich aus irgendeinem Grund mit schlechtem Gewissen am Vater vorbeigeschlichen bin, den Kopf eingezogen und mit einem Unterarm schützend, immer gewärtig, „eine zu bekommen“. Aber mich regt nicht wirklich diese Erinnerung auf, sondern der Zorn, den ich zum ersten Mal im Schädel spüre, die Wut auf den schlagenden Vater, habe ich doch als Kind offensichtlich vor allem Angst und Erschrecken wahrgenommen. Aber bei diesen Worten bleibe ich ganz ruhig, nur die Arme sind ein wenig außer Kontrolle, so bleibt der Zorn vorerst nur eine Kopfgeschichte.

    Daran arbeitet der Doktor dann vielleicht in der nächsten Sitzung, weil ich mich aufsetzen muss und er meinen Hals zu befühlen, an meinem Hals herumzudrücken beginnt, und zwar nicht vorsichtig oder gar sanft, sondern ziemlich kräftig, sodass mehr ein heftiges Kneten als ein angenehmes Massieren daraus wird.

    Ja, ruft er, was haben wir denn da, richtige Eisenkugeln, die du in deiner Halswirbelsäule angesammelt hast, steinharte Knödel im Nackenpanzer, um die täglichen Gegner nicht nahekommen zu lassen! da muss es ja auch wehtun, sagt er, nicht nur im Bauch und Oberkörper die Verhärtung, sondern besonders im Genick, ruft er, wie bei den meisten Leuten schon fast eine Nackenstarre von der Daueranspannung: immer den Kopf eingezogen zwischen den Schulterblättern zur dauernden Abwehrhaltung! Gegen wen musst du dich denn immer verteidigen?

    Gegen alle, gegen alle selbstverständlich, sage ich und versuche den Kopf zum hinter mir stehenden Doktor zu drehen, bleibe dabei aber gleich stecken, kann den Kopf höchstens zur Seite drehen, aber nicht weiter zurück, um mich umzuschauen, um dem Doktor zu beweisen, dass es gar nicht so arg ist.

    Auch hier seit Jahren eine Eisenklammer, die eingerostet scheint und sich kaum mehr bewegen lässt; entstanden aus der dauernden Verteidigungsbereitschaft und dem Gedanken: Ich darf mir nichts gefallen lassen! Besonders vor den Schülern muss man ständig auf der Hut, also gespannt sein; stundenlange Gespanntheit vor den Schülern, um sich nicht bloßzustellen und den lockeren Lehrer spielen zu können: vorgetäuschte Entspanntheit also mit ständig eingezogenem Kopf und gesträubten Nackenhaaren offensichtlich! Nur ein schwacher Mensch lässt sich etwas gefallen, habe ich mir immer gedacht, einer, der nicht ernst genommen wird, muss sich etwas gefallen lassen.

    Immer bin ich vorbereitet auf eine Auseinandersetzung, eine Konfrontation mit irgendjemandem, die aber kaum jemals das Aussprechen des Ärgers, der Enttäuschung oder des Zornes gewesen ist, meint jedenfalls der Doktor, sondern meistens eine Belehrung oder Zurechtweisung. Du bist ein Belehrer und Zurechtweiser, sagt er, wahrscheinlich auch ein Stänkerer und Zyniker, deshalb ist dir eine richtige Eisenplatte unter der empfindlichen Haut gewachsen!

    Na, na, sage ich ziemlich leise und fühle mich wieder einmal schlecht behandelt, wenn er auch ein bisschen recht hat: Die Flucht in den Zynismus als Abwehr, um nicht zu viel Angst aufkommen zu lassen, tut mir nicht gut, was schon an der Haut zu sehen ist. Auch die ist zu gespannt, muss sich offensichtlich dauernd verteidigen und reagiert auf alles mögliche allergisch, also falsch: Zum Beispiel auf harmlose Birkenpollen mit einem Heuschnupfen, der mir die Luft nimmt, so wie ich auf harmlose Schüler übertrieben reagiere mit allen möglichen Beschwerden?

    Atme, sagt der Doktor, versuche zu den schmerzenden Stellen hinzuatmen und sie aufzuweichen, weil du selbst in Wirklichkeit kein harter, sondern eher ein weicher Mann bist, sicher kein harter Hund, sondern ein gefühlsbetonter Mensch, den du aber auch zum Ausdruck bringen musst!

    Immer dasselbe, denke ich, immer redet er denselben Krampf, dieselben Allerweltsweisheiten! Außerdem will ich kein weicher Mann sein, vielleicht gar ein sogenannter Softie! Und jetzt soll auch noch zu den Schmerzstellen hin geatmet werden, aber wie? Wie atmet man in den Nacken oder zu den Knien hinunter, von außen oder von innen, mit mehr oder weniger Druck und wie soll ich den offenbar im Körper dahinschleichenden Atem spüren?

    Mit seiner Anweisung will er mich wieder ärgern und sich im Stillen darüber lustig machen, wie ich den Atem tatsächlich im Körper herum schicken will, zu den Schmerzstellen mit aller Kraft hinzuatmen versuche, dabei aber alles taub und unverändert bleibt, ich nur schwerfällig nach Luft schnappe und sich jetzt auch das rotierende Beingefühl nicht mehr einstellen, sich der Unterkörper nicht mehr in Bewegung setzen will, alles im Krampf erstarrt.

    Wie zum Hohn sagt der Doktor: Du bist viel lebendiger, als du glaubst, da ist viel mehr Leben in dir, als du dir selbst zutraust, viel mehr Energie in deinem Körper, die du aber eingesperrt hältst und nicht herauslässt, weil du als Lehrer immer kontrollieren willst, ob alles in Ordnung ist, du unter keinen Umständen die Kontrolle verlieren möchtest und so die Lebendigkeit verloren geht, weil du dich nur selbst damit sperrst und krank machst!

    Ja, weil ich Angst habe, dass sonst nichts funktioniert, dass ich nichts zusammenbringe, sage ich, aber ganz ruhig und unbeteiligt sage ich es, mehr nebenbei, als sei es ganz normal, und der Doktor schüttelt nur den Kopf. Was hat sich geändert, fragt er beim nächsten Mal wieder, überraschend mit einer Zigarette im Mund, während ich pflichtgemäß atme und so kurzfristig auch die Beine wieder in Bewegung bringe.

    Noch immer hat sich nichts geändert, sage ich und denke mir noch nicht viel bei der Doktorzigarette, die er sicherlich auch gleich ausdämpfen und weggeben wird, während ich die vom vorigen Patienten übriggelassene abgestandene Luft heftig ein- und ausatme und dazu jetzt auch noch die Zigarettenwolke des Doktors, der aber keine Anstalten macht, das Rauchen einzustellen, sondern sich paffend auf seinen Sessel neben mich setzt und mir zuschaut.

    Warum raucht er denn auf einmal, frage ich mich, zum ersten Mal sehe ich den rauchenden Doktor, aber erst, als er sich noch eine anzündet, während ich fleißig keuche und auch manchmal einen Ton beim Ausatmen von mir gebe, denke ich mir, dass er mit dieser Aktion etwas bezwecken will, weil er mich – so bilde ich mir ein – irgendwie spöttisch anschaut, vielleicht auf meine Reaktion wartet, auf einen anderen Ton wahrscheinlich.

    Ein Doktor kann doch nicht neben seinem nach Luft ringenden Patienten rauchen, sage ich mir, sich gedankenverloren eine Zigarette anzünden und dann noch eine, das gibt es doch gar nicht, ganz besonders nicht neben einem ohnedies ziemlich angeschlagenen und schutzlos daliegenden Patienten, von dem er noch dazu weiß, dass er Nichtraucher ist! Die Zigarette in der Doktorhand ist ein absoluter Verstoß gegen jede Doktormoral, also eine totale Provokation! Aber eigentlich passt das zu ihm, der sich auch sonst nicht wie ein Doktor benimmt, der mich ja höchstens beobachtet, aber nicht behandelt, der meistens nur herumsitzt, aber kaum eingreift, der nichts diagnostiziert und keine Maßnahmen ergreift, auch wenn ich zugeben muss, dass die fliegenden Beine verblüffend sind.

    Aber sonst lässt er vor allem die Zeit vergehen, um damit Geld zu verdienen, sage ich mir, obwohl dieser Gedanke zunächst nur der Zorn auf den rauchenden Doktor ist, der noch immer allein nur mit seiner Zigarette beschäftigt ist, sich also nicht nur nicht wie ein Doktor benimmt, sondern vielleicht gar keiner ist, sondern einen Doktor nur spielt, auch wenn das Schild vor seiner Tür das Gegenteil aussagt.

    Aber eigentlich spielt er ja nicht einmal einen Doktor, weil er da anders reagieren müsste, sich mehr bemühen und wenigstens einige doktorähnliche Sprüche loslassen würde. Eigentlich spielt er nur die anderen Leute, x-beliebige Leute, die mir überall begegnen könnten, er spielt nur das Publikum, die Mitmenschen, die Kollegen, die Passanten mit ihrer Fremdheit und Gleichgültigkeit, mit ihrer Gafferei und Aggression, mit ihrer Dummheit und Intoleranz! Und wartet, wie ich darauf reagiere, nämlich bisher mit dem Zusammenziehen und Kleinermachen, meistens jedenfalls. Jetzt also ist der Doktor offensichtlich der rücksichtslose Raucher?

    Warum rauchst du denn die ganze Zeit, sage ich endlich ruhig, davon wird ja die Luft nicht besser, aber er reagiert darauf nur mit einem vielleicht noch spöttischeren Blick, schaut mich weiter nur an und sagt nach einer Pause: Was war denn das?

    Was war denn das, was war denn das! äffe ich ihn nach und schüttle dabei den Kopf über so viel Doktorarroganz, schimpfe und schüttle aber mehr in mich hinein als zum Doktor hin, der wahrscheinlich gemeint hat, dass er wieder einmal meinen Ausdruck nicht deuten kann, dass ihm mein Ausdruck zu wenig deutlich ist, zu unklar auch gegen ihn, den Verursacher, gerichtet!

    Aber immerhin gibt er augenblicklich die Zigarette weg, als hätte er nur auf irgendeine Aussage gewartet, auf irgendeine Reaktion, auch wenn sie zu wenig und schon gar kein Gefühlsausdruck, höchstens die Darstellung einer kleinen Verärgerung war.

    Vielleicht hätte ich sagen sollen: Gib endlich die Zigarette weg, du Arschloch!? Oder: Mir geht dein Rauchen auf die Nerven!? Oder hätte gar aufstehen und rufen sollen, da freut es mich nicht mehr, wenn du die ganze Luft verpestest, da werde ich sicher nicht mehr weiteratmen, sondern nach Hause gehen! Hätte die Matte verlassen und eine Aktion setzen sollen, einen Auf-stand machen? Aber könnte ich das überhaupt mit den schmerzenden Gelenken? Und wäre das nicht lächerlich gewesen, hätte ich mich da nicht einfach nur blamiert?

    Zeigs mit den Augen, zeige mit den Augen, was du empfindest, sagt er, das Wichtigste sind die Augen, da erkennt man zuerst, was los ist. Bei dir aber habe ich gar nichts gesehen, keine Reaktion in den Augen, nur im Kopf hast du dich aufgeregt und beschwert, aber die Augen waren die eines Unbeteiligten!

    Aber das ist nicht so leicht, ich bin ja kein Kleinkind mehr, dem man nur in die Augen schauen muss, um zu wissen, was es empfindet, erwidere ich, außerdem ist bei dir auch nichts zu sehen, was soll denn in deinem Blick zu sehen sein, höchstens die Langeweile und der Überdruss (mit so einem Patienten, wie ich es bin, denke ich) und erschrecke dabei und verstumme, weil ich ja die Wahrheit in seinen Augen erkenne, nämlich seine Enttäuschung mit so einem Patienten, bei dessen Behandlung er sich nur langweilt? Er zeigt doch, wie er sich fühlt, ganz deutlich ist der Unmut im Doktorgesicht zu erkennen, den er vielleicht aber auch nur spielt, um mich zu provozieren wie bei der Zigarettengeschichte, um meine Reaktion herauszufinden?

    Es geht zu wenig weiter, sagt er, du bemühst dich zu wenig und liegst nur unbeteiligt herum, als ob ich dich gesund machen könnte ohne deine eigene Anstrengung, ohne dass du deine Lebendigkeit zulässt. Und wieder ahne ich da meine Wut, irgendwo im Körper versteckt, in den Gelenken, unter dem harten Brett der Eingeweide und hinter der Stirn vielleicht, und kann sie nicht herauslassen, weil ich mich nicht traue und nur daran denke, dass ich dann vielleicht falsch reagiere, nicht wie ein Vierzigjähriger, sondern wie ein schlimmes Kind!
    _______________________

    Fortsetzung in Bukumatula 1/19

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    Bukumatula 2/2018

    Eva Reich und das „Bauchhirn“

    Auszug aus der Biographie der „Biodynamik“, 1979
    von
    Mona Lisa Boyesen:

    Als meine Mutter – Gerda Boyesen – 1968 nach London kam, war sie eine sehr gefragte Körperpsychotherapeutin und in ganz Europa bekannt. Sie hatte ihr eigenes therapeutisches Behandlungssystem in den 1955-1960er Jahren in Oslo entwickelt, das in Theorie und Praxis komplementär zu Reichs Vegetotherapie und Orgonomie angesehen werden konnte. Um die Synergie zu erklären und ihre originale „Gerda Boyesen-Methode“ – die Grundlage der “Biodynamischen Psychologie“ – zu verdeutlichen, habe ich die Aufgabe übernommen, ihre therapeutischen Entdeckungen ausführlich zu beschreiben und sie zu veröffentlichen.- Aber wer könnte Gerdas komplementären Anteil zu Wilhelm Reichs Werke bestätigen? Reich…?

    Ende der 70er Jahre arbeitete mein damaliger Lebensgefährte, späterer Ehemann und Vater meines Sohnes Dorian, Johannes Voet („Kim“) an der Universität in Utrecht. In der Bibliothek befanden sich mehrere Mikrofilme von Wilhelm Reich, die seine Tochter, Eva Reich, der Universität geschenkt hatte. Die Situation war so, dass nach dem Tod Wilhelm Reichs (1957) „The Federation Department of the United States“ beschlossen hatte, dass die Bücher und Filme von und über Wilhelm Reich verbrannt werden sollten. Aus diesem Grund wollte Eva Reich das Werk ihres Vaters in Form von Mikrofilmen in Sicherheit bringen und hat sie schrittweise an Universitäten in Europa geschickt – sozusagen aus den USA „geschmuggelt“.

    1973 hatte ich zusammen mit dem amerikanischen Körperpsychotherapeuten Jay Stattmann das Institut für „Unitive Psychologie“ in der Nähe von Utrecht gegründet, und wir haben Eva Reich eingeladen, einen Workshop für unsere Studenten zu leiten. Wir fuhren nach Amsterdam, um Eva Reich zu begrüßen und sie in unser Institut zu bringen.

    In diesen Jahren hatte ich mehrere Artikel über Gerda Boyesens Arbeit geschrieben, die in David Boadellas Journal „Energy and Character“ veröffentlicht wurden. Dabei habe ich auch einige Artikel über Gerdas Entdeckungen zur „Psychoperistaltik“ präsentiert: „Psychoperistalsis. The Abdominal Discharge for Nervous Tension“.

    Da „Energy and Character“ in Fachkreisen international bekannt war, habe ich Eva Reich noch am Flughafen gefragt, ob sie meine Artikelserie gelesen hätte. Das hatte sie, und sie fand die Artikel hochinteressant. Auf meine Frage „Bist Du damit einverstanden, dass meine Mutter das gefunden hat, wonach Dein Vater immer gesucht hat?“ antwortete sie zu meiner Freude und Erleichterung: „Ja, absolut!“

    Es war für mich wichtig, dass gerade Reichs Tochter verstanden hat, wie essentiell das Verdauungssystem als unser organisches Zentrum für die Selbstregulation von Bedeutung ist.

    Wilhelm Reich hat in all seinen Forschungen ein Organ gesucht, das die Fähigkeiten hat, mit Pulsation – also Kontraktion und Expansion – eine Selbstregulation innerhalb des Körpers zu erschaffen – den Flüssigkeitsdruck zu regulieren, die „(sexuelle) Stasis“ (bioenergetischer, biochemischer und hormoneller Stau) entladen zu können, um so eine Selbstregulierung (Homöostase/emotionale Balance) zu erreichen. In seinem Buch „Die Funktion des Orgasmus“ nennt er ein Phantasie-Beispiel: „Stellen wir uns vor, wir besäßen eine elektrische Blase….“.

    Da diese Idee aber nur eine Fiktion war, kam Reich immer wieder zurück zu seiner Orgasmustheorie. Die organische Selbstregulation war der Orgasmus selbst. Dies trug zu großer Verwirrung seiner damaligen Klienten wie auch seiner Studenten und Kollegen bei, die glaubten, je häufiger sie einen Orgasmus haben, desto weniger Neurosen hätten sie. Viele orthodoxe Reichianer glauben das auch heute noch. Durch diese Überzeugung entsteht ein hoher Leistungsdruck, womit der Orgasmus der einzige Weg sei, aus der Neurose herauszukommen. Oder anders gesagt: wenn du nicht orgasmusfähig bist, bleibst du neurotisch.

    Zwar war Reichs Definition einer gesunden „genitalen“ Persönlichkeit verbunden mit orgastischer Potenz, er meinte damit aber keinesfalls: je mehr Orgasmen, desto weniger Neurosen. Und er meinte damit auch nicht den genitalen, sondern den ganzkörperlichen Orgasmus, wo keine Körpersegmente die Erregung und primären Impulse in der sexuellen Umarmung der Geliebten zurückhalten.

    Ich habe darüber in meinem Artikel „Die Renaissance des Orgasmus-Reflexes“ geschrieben. Alle dachten an den Orgasmus – keiner an den Reflex! Die Geburt ist z.B. ein orgastischer Reflex. Und wenn Babys gestillt sind und in der Wonne Gefühle von Beglückung erleben, sind sie in Kontakt mit ihren psycho-orgastischen Reflexen.

    Als Mitbegründerinnen der Biodynamik sprechen meine Schwester Ebba und ich von „psycho-orgastischen Reflexen“. Es gibt nicht nur EINEN Reflex – es gibt eine Reihe von Reflexen für den Ausdruck innerer Ekstase.

    Nun zurück zu meiner ersten Begegnung mit Eva Reich. Es war mir wichtig, dass Eva die Entdeckungen meiner Mutter anerkannte und im Zusammenhang mit Reichs Forschung wahrnehmen konnte, dass Gerda das tatsächliche Organ für Reichs ersehnte „Selbstregulation“ entdeckt hatte, nämlich dass die psychoperistaltische Funktion gerade das ist, wonach Wilhelm Reich in seinem fachkündigen Leben gesucht hat. Er hat immer wieder in seinen Schriften hinterfragt, ob es doch irgendwo einen Mechanismus im Körper gibt, der neben dem Orgasmus in subtiler Art und Weise tägliche Selbstregulierung erschaffen kann.

    Auf die Idee, dass es der Darmkanal sein könnte, kam er nicht. Gerda Boyesen erforschte es: Der Verdauungskanal ist das Organ (durch die Peristaltik), das für die tägliche organische Selbstregulierung zuständig ist; eine Art „Neuro-Verdauung“.

    Gerda entdeckte das 1955 durch ihre Arbeit als Physiotherapeutin und Psychologin.

    Jetzige Wissenschaftler wissen erst seit Ende der 90iger Jahre, dass das Darmsystem, das „enterische Nervensystem“, mit seiner Peristaltik und erstaunlicher Menge von Nervenzellen mehr psychisch betont ist als zuvor gedacht – und nennen es das „Bauchhirn“.

    Wir Biodynamiker haben seit Jahrzehnten mit Stethoskopen dem Bauchhirn gelauscht und sein „Schreien und Heulen“ gehört – und entladen.

    Wenn Neurosen (Stau/Toxits) „verdaut und eliminiert“ werden, gibt es mehr Raum für die vitale Lebensenergie, weil eine tatsächliche organische Reinigung durch die psychoperistaltische Aktivität stattfindet und eine Revitalisierung in Kraft tritt.

    Als Eva Reich, diesmal beim Abflug, Gerdas Entdeckung nochmals bestätigte, sagte sie mit einem Lächeln: „Ihr seid ja fast mehr Reichianer als mein Vater!“

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    Bukumatula 2/2018

    Stanley Keleman (1931-2018): In memoriam

    Soul Brother
    Im Web veröffentlicht European Association for Body and Psychotherapy:

    Tribute to Stanley Keleman, the founder of formative psychology

    Stanley Keleman died peacefully in his sleep on Aug.11th, 2018, just two months after completing his latest book: “Forming your Aging”.

    David Boadella encloses a personal tribute to Stanley, as a poem to celebrate a close friendship with him over sixty years:

    Soul brother

    We were bonded together
    through our work, on teaching our trainees to listen to their bodies and create more ease so as not to get flooded by trauma.

    We swam in the same somatic sea together
    and kept truly meeting each other
    for sixty years of living our dying,
    in a friendship that felt like flying
    on parallel tracks, each of us founding
    in our own way, our understanding of grounding.

    Poems crossed the oceans between us,
    and built a presence
    for the essence
    of contact, which could appear
    in the letters which flowed
    between us as swimmers
    born in the same year.

    So far yet so near
    the pain eventually came
    out of the blue,
    when death claimed you,
    my soul brother.
    No other
    man can replace you as a life companion
    in creation:
    your aging has ended.
    Your soma could no longer be mended.

    I carry you with me in my heart
    as a pulse of remembered life, beyond the dark.
    I embody you still in my dreams, at night
    as you keep me company on my journey towards light.

    David Boadella
    (written 19/08/2018)

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