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Bukumatula 6/1993

Posturale Integration

Eine Methode der körperorientierten Psychotherapie
Heinrich Kraus:

Die Posturale Integration (P.I.) wurde Anfang der 70er Jahre von Jack Painter, einem Philosophieprofessor, der sich sowohl mit funktional-übungszentrierten als auch konfliktzentriert-aufdeckenden Methoden der körperorientierten Psychotherapie auseinandersetzte, in den USA entwickelt. In seinem Bemühen die körperlichen, emotionalen und geistigen Aspekte seiner Persönlichkeit miteinander in Einklang zu bringen beschäftigte er sich darüber hinaus mit fernöstlichen Heilsystemen und Philosophien wie Akupunktur, Taoismus und Yoga und setzte sich intensiv mit der Gestalttherapie und der Strukturellen Integration nach Ida Rolf auseinander.

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Aspekte all dieser verschiedenen Ansätze in die Posturale Integration miteingeflossen sind. Dementsprechend charakterisiert er diese Methode als eine „Körperarbeit, die westliche und östliche Ansätze miteinander verbindet: Bindegewebsarbeit, Akupressur, Reichianisches Atmen, Gestalt, Bioenergetik.“ (Painter, J., 1991, S.4)

Diese Umschreibung mag angesichts Jack Painters persönlicher Entwicklung durchaus richtig sein, niemand kann allerdings allen Ernstes behaupten, daß diese verschiedenen Ansätze in dem ihnen gebührenden Ausmaß in die P.I.-Ausbildungen miteinfließen. Ich habe daher bereits an anderer Stelle vorgeschlagen P.I. als offenes System

therapeutischer Interventionen, die sich um die Arbeit mit der Atmung und am Bindegewebe ansetzenden manuellen Griffen gruppieren zu charakterisieren. Damit werden nicht nur die zwei tragenden, im Zentrum jeder Ausbildung stehenden Elemente der Posturalen Integration deutlich, sondern auch ein großer Vorteil dieser Methode, nämlich ihre Offenheit und ihr großes Integrationspotential bezüglich anderer Ansätze.

ATEMARBEIT UND GRIFFTECHNIK

Seit Wilhelm Reich bereits um 1930 erkannte, daß ein gestörtes Atemmuster zu den wirkungsvollsten Mechanismen der neurotischen Triebunterdrückung zählt, gehört die Atemarbeit zu den zentralen Elementen vieler neoreichianischer Ansätze. Ich kann mich daher kurz fassen.

Dysfunktionale Atemmuster entstehen nicht nur durch Verspannungen der Brust-, der Rücken-, der Zwischenrippenmuskeln oder des Zwerchfells, sondern werden auch entscheidend vom autonomen Nervensystem, das seinerseits wieder eng mit dem emotionalen Gleichgewicht in Beziehung steht, mitgeprägt. Jede Veränderung des individuellen Atemstils ist daher in einen emotionalen Kontext eingebettet. Atemarbeit ist gleichzeitig auch emotionale Arbeit.

Die große Aufmerksamkeit, die die individuellen Atemmuster sowohl am Anfang als auch während und am Ende einer Sitzung erfahren, charakterisiert die Posturale Integration als eine Form von Vegetotherapie. Jack Painter benutzt in diesem Zusammenhang auch die Reichschen Termini von „Ladung“ und „Entladung“. Vereinfacht und verkürzt geht es darum, die neurotische Inbalance zwischen dem Sympathikus, dessen Innervation zu einer Anregung der Einatmung durch Erweiterung der Bronchien führt, und dem Parasympathikus der die Ausatmung anregt, zu stören, indem dieses Ungleichgewicht zunächst verstärkt wird. Dadurch beginnt das starre, neurotische vegetative System zu schwingen und, wie die Erfahrung lehrt, sich wieder auf einem ausgeglicheneren Niveau einzupendeln.

Das zweite charakteristische Element der Posturalen Integration sind manuelle Manipulationen am myofaszialen System (= Schichtsystem von Muskel- und Bindegewebe) des Klienten mit dem Ziel, dieses weicher und geschmeidiger zu machen bzw. zu reorganisieren. Das myofasziale System durchzieht wie eine Zwiebelschale den gesamten Organismus. Je nach Art und Lage der zu behandelnden Faszien werden die unterschiedlichsten Grifftechniken eingesetzt.

Die Manipulation der unter der Haut liegenden, den ganzen Körper einhüllenden Oberflächenfaszie, die zuerst behandelt wird, erfolgt großflächig. Der Behandler setzt seine Fingerkuppen, Knöchel oder den ellenbogennahen Teil seiner Elle in einem flachen Winkel zum Gewebe und in einer Weise ein, die es ihm ermöglicht, die Schwerkraft des eigenen Körpers auszunützen.

Als generelle Strategie erfolgt nach der Bearbeitung der Oberflächenfaszie ein, den individuellen Erfordernissen des Klienten angepaßtes, tieferes Eindringen in das myofasziale Gewebenetz des gesamten Organismus.

In der anschließenden Integrationsarbeit liegt das Hauptaugenmerk auf der Beziehung der einzelnen Teile zum Gesamtorganismus. Es werden großflächige und tiefe Doppelgriffe über Gelenke appliziert, um den Körper gegen die Schwerkraft neu zu organisieren.

NEUROTISCHE BLOCKIERUNG DES STOFFWECHSELS

Das körpereigene fasziale Netz spielt nicht nur eine wichtige Rolle in der Bewegungsmechanik, sondern ist durch seine enge Beziehung zum Wassermetabolismus auch ein bedeutender Faktor für den Austausch von Flüssigkeiten und den Stoffwechsel auf den verschiedensten organismischen Ebenen. Eine Reihe von verschiedensten chemischen Komponenten beeinflußt seine Struktur und Dynamik. So betont etwa Ida Rolf die bedeutende Rolle von Vitamin-C für seine adäquate Funktionstüchtigkeit. Auch viele Hormone beeinflussen und verändern die Bindegewebschemie.

Seit Wilhelm Reich wissen wir, daß sich der neurotische Konflikt u.a. im muskulären System niederschlägt. Die Charakterpanzerung und die muskuläre Hypertonie bzw. Hypotonie sind mit anderen Worten funktional ident.

Gerda Boysen, die ihre eigenen Ansätze nachträglich durch die grundlegenden Arbeiten Wilhelm Reichs bestätigt fand, erkannte als eine der ersten die funktionalen Konsequenzen der neurotischen Blockierung auf das Stoffwechsel-geschehen. In ihrem Chemostasekonzept geht sie von der Hypothese aus, daß im neurotischen Organismus nicht alle Stoffwechselprodukte, die in einer emotional geladenen Situation produziert werden, ausreichend ausgeschieden werden können, sodaß ein gewisses Quantum an hormonellen Flüssigkeiten, die ja hoch wirksam sind, im Organismus verbleiben. Als Hauptdeponie für diese biochemischen Reste ortet sie das Bindegewebe. Sie schreibt: „Wegen der schwammigen Konsistenz des Bindegewebssystems können die Membranen desselben riesige Mengen an Chemostase in der extrazellulären Umgebung enthalten.“ (Boysen, 1987, S.119).

Es ist daher naheliegend, daß diese „Chemostase“
die strukturelle Organisation der faszialen Grundsubstanz verändert. Die Faszien verlieren ihre Gleitfähigkeit und verkleben miteinander. Eine mangelnde Bewegungsfreiheit in einer Region muskulärer Blockierung wird ebenfalls die strukturelle Reorganisation des Bindegwebes beeinflussen und das ihrige zu diesem Prozeß beitragen.

In ihren Überlegungen bezüglich der Ursache der oft schnellen und spontanen Veränderungen im myofaszialen System während der „Strukturellen Integration“ kam Ida Rolf, die ja von Beruf her Biochemikerin war, zum selben Ergebnis. Auch sie hält die Anwendung von zusätzlicher Energie (Druck durch die manuellen Griffe) für die Veränderung der bindegewebigen Grundsubstanz vom Gel – (d.h. verdickten) zum Sol – (d.h. verflüssigtem) Zustand verantwortlich.

Die Posturale Integration zielt daher auf der physiologischen Ebene direkt darauf ab, was schon Sigmund Freud als den „Residualeffekt der Neurose“ bezeichnete. Deshalb ist sie ja auch so eine potentiell mächtige Methode, soweit es die Entladung von Konfliktspannung betrifft, wobei nicht nur die emotional-motorische, sondern auch die physiologische Ebene miteinbezogen ist. Vegetative Entladungen etwa in Form von Erbrechen, Durchfall, übermäßigem Schwitzen, Zittern, etc., bedeuten daher nichts anderes, als daß auf der somatischen Ebene Selbstregulationsprozesse in Gang gekommen sind, die durch die neurotische Abwehr blockiert waren.

DAS STRATEGISCHE KONZEPT DER HALTUNGSVERÄNDERUNG

Im klassischen Konzept der Posturalen Integration sind die einzelnen Sitzungen, was den zu bearbeitenden Körperbereich als auch die Grifftechnik betrifft, hochgradig strukturiert. In der ersten Phase liegt das Ziel im Spannungsausgleich der unter der Haut liegenden Oberflächenfaszie. Zu schlaffes Bindegewebe soll sich straffen und zu straffes weicher und geschmeidiger werden. Ab der dritten Sitzung werden in zunehmendem Maße tiefer liegende Faszien miteinbezogen. Das Schwergewicht der Arbeit liegt nun auf allen myofaszialen Systemen, die einerseits mit dem knöchernen Beckenring verbunden sind und andererseits den Kopf und den Schultergürtel umfassen. Auch in dieser Phase des Prozesses geht es im Sinne der physiologischen Selbstregulation um einen Spannungsausgleich zwischen den tiefen, aber auch zwischen tiefen und oberflächlich gelegenen faszielen Schichten.

Jack Painters Typologie bezieht sich auf die horizontale Schichtung der myofaszialen Spannungsverhältnisse zwischen Körperoberfläche und Körperinnerem. Obwohl sich mit ihrer Hilfe nur eine sehr allgemeine Verknüpfung zu Persönlichkeitsvariablen herstellen läßt, liegt ihr Wert im neuen Gesichtspunkt der Polarisierung von innen und außen.

Seit Ida Rolf und Moshe‘ Feldenkrais wissen wir nämlich, daß den äußeren und inneren Schichten des myofaszialen Systems unterschiedliche Funktionen bei der Fortbewegung zukommen» Während die inneren Schichten die Bewegung initiieren und modulieren, sind es die äußeren, die aufgrund ihrer Mächtigkeit in der Lage sind, die Gliedmaßen über größere Distanzen zu bewegen und den nötigen Krafteinsatz einzubringen. Diese Differenzierung steht gleichzeitig in funktionaler Identität mit dem Erlebnisbereich. Die äußeren myofaszialen Schichten sind beispielsweise dem Bewußtsein und der Ich-Kontrolle viel zugänglicher als die inneren. Sie haben mit dem zielgerichteten Tun und im weitesten Sinne mit dem Ausführen von „Plänen“ zu tun. Die Impulse aus den inneren myofaszialen Schichten kommen hingegen aus dem „Core“ (Kern). Sie sind der willkürlichen Kontrolle entzogen und spiegeln vielmehr die mühelose Leichtigkeit im Sein. Ihr Auftreten zeigt die Aktivierung derjenigen unbewußten Schichten, die auch für Abraham Maslows Gipfelerlebnisse verantwortlich zeichnen. Die Konzeption des Unbewußten folgt also eher der Jungianischen Sichtweise als der Freudschen. C.G. Jung war ja der Ansicht, daß im Unbewußten viele potentielle Möglichkeiten ruhen, die ihrer bewußten Entfaltung harren. Dies ist für ein Verständnis dieser Methode sehr wichtig, bedeutet es doch die Einbeziehung der spirituellen Ebene in den gesamten somato-psychischen Prozeß. Ich werde später darauf zurückkommen. Vorher möchte ich aber das Konzept der Polarisierung in Innen und Außen durch einen weiteren Gesichtspunkt ergänzen.

Wie der Name schon sagt, zielt die P.I-Methode auf eine Integration der Haltung. Jede strukturelle Haltungsveränderung impliziert aber die Abweichung von einer Idealhaltung und letztere ergibt sich aus der Organisation des Körpers gegen die Schwerkraft. Ist diese optimal, so erfolgt der Gewichtstransfer von einem Körpersegment zum nächsten unter geringstmöglichem Energieaufwand. Der jeweilige Muskeltonus ist funktionsadäquat, die Spannungen und Streßfaktoren innerhalb des Systems sind auf ein Minimum reduziert und eine optimale Bewegungsfreiheit ist gesichert.

Haltungsveränderungen sind durch zahlreiche Faktoren mitbedingt. Zu den wichtigsten zählt sicherlich der individuelle Umgang mit seelischen Streßfaktoren der verschiedensten Art und der unmerkliche, weil nur durch propriozeptive Wahrnehmungsveränderungen bewußt werdende Einfluß der Schwerkraft.

Abweichungen von der Idealhaltung bilden in der Regel daher Spannungemuster, die sich aufgrund von Kompensationen über den gesamten Körper erstrecken und buchstäblich vom Scheitel bis zur Sohle reichen. Da sie in allen drei Raumrichtungen auftreten, erfolgt das Körperlesen im Stehen auch von vorne, von der Seite und von hinten. Neben der Einschätzung energetischer Blockaden, wie sie sich etwa in der Hautfarbe oder der Konsistenz der verschiedenen Gewebe widerspiegeln, liegt das Hauptaugenmerk auf knöchernen Fixpunkten (Gelenke, Schulterblatt, etc.), anderen deutlich markierten Körperstellen (Brustwarzen, Nabel, etc.), dem negativen Raum (etwa zwischen den Beinen) und der Körpersilhouette. Alle Informationen zusammengenommen ergeben erst ein in sich konsistentes Bild der dreidimensionalen Spannungsgirlanden.

Mit dem Spannungsausgleich zwischen den tiefer liegenden und den oberflächlich gelegenen myofaszialen Schichten ist die Kompensationshaltung jedoch noch nicht beseitigt, ja sie kann sich sogar noch verstärken, da die verschiedenen myofaszialen Schichten zwar geschmeidiger geworden, aber nach wie vor isolierte Restspannungen vorhanden sind. Die Geschmeidigkeit erlaubt es ihnen aber andererseits sich großflächig über den ganzen Körper hinweg neu zu organisieren. Sie ist deshalb auf der somatischen Ebene das entscheidende Kriterium für den Beginn der Integrationsphase. Nun wird die Pflicht zur Kür. An Stelle der strukturierten Griffolgen an bestimmten Körperteilen tritt das freie Arbeiten an den girlandigen Restspannungsmustern. Breitflächige und tiefe Griffe werden gelenksübergreifend und gegen die Spannungsrichtung gezielt und selektiv gesetzt. Zunächst geht es um den Spannungsausgleich zwischen den Regionen des Ober- und des Unterkörpers. Erst in einem zweiten Schritt werden die linke und die rechte Körperhälfte sowie die Vorder- und Rückseite miteinander verbunden.

Durch die selektive und intuitive Arbeit an den horizontalen Schichtungen des myofaszialen Systems sowie an den vertikal laufenden Spannungsmustern erhält das ganze System die Impulse zur Reorganisation gegen die Schwerkraft.

HALTUNGSÄNDERUNG UND SEELISCH-GEISTIGE KOMPONENTE

Die Posturale Integration geht von der fundamentalen Erfahrung aus, daß zugleich mit dem Berühren des Körpers auch Gefühle und Gedanken ausgelöst werden. Jack Painter betont immer wieder die physische, emotionale und spirituelle Einheit der Methode. In Anlehnung an die fernöstliche Philosophie charakterisiert er den P.I.-Prozeß durch ein Symbol, das in Anlehnung an das Yin-Yang Symbol, drei Tropfen enthält und am besten als „Balancierte Kraft“ wiedergegeben werden kann. Die Tropfen symbolisieren die drei Elemente Erde, Feuer und Wasser.

Wir brauchen jedoch nicht erst nach dem fernen Osten zu blicken, um Symbole zu finden, die bestimmte Erfahrungen bestmöglich umschreiben. Gerade die europäische Tradition kennt Erfahrungssysteme wie etwa die Alchemie, die ebenfalls mit diesen Elementen arbeiten.

Alle konfliktzentriert-aufdeckenden Therapieformen gehen von der Annahme aus, daß eine Persönlichkeitstransformation erst dann stattfinden kann, wenn eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung erfüllt ist: nämlich das Wiedererleben von gefühlsgeladenen „Komplexen“. In der Posturalen Integration wird dies entweder durch die Energiearbeit oder durch die Griffapplikation möglich. Ich möchte dafür jeweils ein Beispiel geben:

„Eine 45-jährige Angestellte erlebt bei einem oberflächlichen Griff am rechten Trapeziusrand den Schmerz und die Trauer wieder, die erstmals durch den Handkantenschlag ihres karategeübten Exmannes konstelliert wurden, aber nicht ausgedrückt werden durften.

Die selbe Klientin erzählt zu Beginn einer anderen Sitzung von einer peinlichen Situation, in die sie sich begeben hatte, indem sie einer notleidenden Bekannten ihre Hilfe zusagte ohne sie aber entsprechend geben zu können. Es wird bald deutlich, daß die Abgrenzungsproblematik mit ihrer leidenden und bettlägrigen Mutter in Zusammenhang steht, die sie durch massive Schuldgefühle an sich bindet und ihrem Willen unterwirft. Gleich zu Beginn der Atemarbeit konstelliert sich der negative Mutterkomplex in Form einer tiefen Trauerreaktion angesichts einer von der Mutter erzwungenen Abtreibung.“

Das zweite Beispiel zeigt klar, daß der negative Mutterkomplex bereits leitungsphase der Posturalen Integration so gesteigert wurde, daß die Entladung eines Teiles seines affektiven Inhaltes möglich wurde.

Im ersten Fall jedoch geschah die affektive Entladung unmittelbar am Ende eines manuellen Griffes am oberen Trapeziusrand. Auch am Ende der Sitzung blieb die rechte Schulter entspannter, sodaß die Annahme, wonach die hypertone Muskulatur der rechten Schulterstreife ihre Spannung durch den Affekt entladen hatte, berechtigt erscheint. Jedenfalls war die Klientin ab dieser Sitzung besser in der Lage aus ihrer Enge herauszutreten und ihren inneren Raum zunehmend zu erweitern und zu vertiefen.

Derartige Schlüsselerlebnisse scheinen mir bei allen Klienten früher oder später und in mehr oder weniger deutlicher Form aufzutreten. Sie sind das sichtbare Ergebnis der individuellen Haltungsänderung gegenüber Schmerz und Angst, die durch das Trennen und Lösen der verklebten Bindegewebsfaszien hervorgerufen werden. Wenn wir bedenken, daß Schmerz und Angst ursprünglich diejenigen Faktoren waren, die die seelische und somatische Abwehr bedingten, so bietet ihr erneutes Auftreten während des P.I.-Prozesses die Möglichkeit zur Dekonditionierung von den alten Einstellungen bzw. Haltungen, die sich aus der jeweiligen neurotischen Konfliktsituation ergaben.

Da die Schmerztoleranz nicht nur von Körperstelle zu Körperstelle äußerst variabel ist, sondern die großen individuellen Unterschiede auch von früheren Erfahrungen und ihrer Verarbeitung mitbestimmt werden, kommt es in der Praxis immer wieder zu Widerständen gegen eine Veränderung. Es liegt nun mit in der Verantwortung jedes einzelnen, wieweit er/sie seine/ ihre Wahrheit akzeptiernd diesen Widerstand und das damit Abgewehrte annehmen und sich dadurch davon befreien kann. Die offene Auseinandersetzung mit der jeweils konstellierten seelischen Wahrheit führt jedenfalls zu einer zunehmenden Erweiterung der Schmerztoleranzgrenze bzw. zu einer Umkehrung des Prozesses. Was vorher aufgrund der seelischen und somatischen Abwehr als schmerzhaft erlebt wird, gewinnt zunehmend an lustvoller Qualität, indem schmelzende und fließende Empfindungen im Körper wahrgenommen werden, die in sich selbst heilend wirken. Die individuelle Vergangenheit kann zwar dadurch nicht verändert werden, aber der Klient gewinnt eine zunehmende Wahlfreiheit in der Gegenwart, d.h. seine Erlebnis- und Verhaltensweisen’werden nicht mehr durch seine unbewußten Komplexe determiniert.

Im alchemistischen Prozeß spielt die Feuersymbolik eine große Rolle. Es handelt sich dabei zunächt um ein chemisches Verfahren, mit Hilfe dessen eine bestimmte Substanz von ihren wässrigen, d.h. unbewußten Bestandteilen befreit wird. Die Austrocknung bezieht sich also auf den Prozeß der Bewußtwerdung und der Assimilation von Komplexen, wobei die Intensität der emotionalen Entladung durch die Symbolik des Feuers repräsentiert wird, wie etwa im obigen Beispiel der Angestellten.

Transkulturell finden sich immer wieder Hinweise
auf zwei verschiedene Arten des Feuers. Herakles ließ sich beispielsweise freiwillig am Scheiterhaufen verbrennen, als er ein mit einem Liebeszaubersaft durchtränktes Hemd von seiner Ex-Geliebten Deianeira anzog und dieses in Flammen aufging und nicht mehr abzulegen war.

Dieses Bild bezieht sich offensichtlich auf das qualvolle Aushalten von Affekten, die nicht erst bewußt gemacht werden müssen. Während es bei den oben angeführten Beispielen um die Befreiung der in den Komplexen gebundenen unbewußten Affekte und archetypischen Energien ging, die, zum Feuer geworden, die Komplexe austrocknen, ist die Situation nun eine ganz andere. Das Ich ist durch die archetypischen Energien inflationiert. Das reinigende und läuternde Feuer der „Calcinatio“ ist hier nicht die energetische Ladung der unbewußten Komplexe, sondern die notwendige Frustration der Begehrlichkeit. Die affektive Ladung eines undifferenzierten Lust- oder Machtstrebens muß also einbehalten und ausgehalten werden, um die Identifikation mit dem Ich zu lösen. Sie fungiert quasi als Retorte, in der das Ich gewandelt werden kann und diese Wandlung bewirkt eine Desidentifikation mit den transpersonalen Inhalten, wodurch diese wieder ihre energetische Macht über das gewandelte Ich verlieren.

Ich denke da beispielsweise an einen 38-jährigen Klienten, der vor dem Hintergrund einer schizoiden Charakterstruktur eine ausgeprägte narzistische Persönlichkeitsstörung entwickelt hatte, die es ihm nahezu verunmöglichte den Parteienverkehr, den er als Magistratsbeamter abzuwickeln hatte, auch entsprechend durchzuführen. Einerseits sehr hilfsbereit und auskunftsfreudig, hatte er die größten Schwierigkeiten mit Parteien, die seine Ratschläge nicht annehmen konnten. Seine Hilfsbereitschaft wandelte sich in einem solchen Fall in einen Wutausbruch, den er zu Beginn der Therapie kaum unter Kontrolle halten konnte. Nicht er hatte die Wut, sondern die Wut hatte ihn. Im P.I.-Prozeß hatte er, wie leicht einsichtig, keinerlei Schwierigkeiten seine Wut, die mit einem negativen Vaterkomplex in Verbindung stand, auszudrücken. Die Arbeit mit dem Containment, um die ‚Haltefunktion des Ich“, wie sich Alexander Lowen ausdrückt, zu stärken, war während dieser Phasen zu Beginn der Therapie im Vordergrund. Durch die Arbeit am myofaszialen System konnte er jedoch in zunehmendem Maße seine enorme Verletzlichkeit und seinen seelischen Schmerz erkennen und akzeptieren. In dem Maße wie es ihm gelang die Wutausbrüche unter Kontrolle zu bringen und seinen Schmerz als innere Wahrheit anzunehmen, nahmen auch seine Größenphantasien, die er sich als sachkundiger und kompetenter Beamter – er war auch Student der Rechte – erworben hatte, ab.

Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie notwendig ein differenzierter Umgang mit den Affekten im P.I.-Prozeß ist. Manche Komplexe erfordern verstandesmäßiges Erkennen und Einbehalten der aktivierten archetypischen Energien. Bei anderen wieder müssen die dahinterstehenden Archetypen auf einer tiefen Gefühlsebene angeregt werden, was der alchemistischen Operation der „Solutio“ entspricht. Es handelt sich dabei um die Auflösung einer bestimmten Form und ihre Transformation in eine andere. In den alchemistischen Texten wird die Solutio am König, der psychologisch das herrschende Bewußtseinsprinzip mit seinen festen alteingeschliffenen Einstellungen und Haltungen repräsentiert, vollzogen. Häufig wird die Solutio in Form des Ertrinkens an Wassersucht dargestellt, was einer vorübergehenden Destabilisierung, Auflösung und Wandlung des Ich durch die archetypischen Kräfte entspricht. Das gewandelte Ich ist dann besser in der Lage neue Anpassungsmöglichkeiten und Lösungen für die verletzenden Erfahrungen aus der Vergangenheit zu finden. Die Transformation des Ich geht allerdings über eine rein gefühlsmäßige Befrefungi der im Komplex gebundenen Energien hinaus. Der Komplex wird zwar durch die emotionale Katharsis nicht mehr so zwanghaft sein, aber trotzdem fortbestehen, solange seine Inhalte nicht vom Ich assimiliert worden sind.

Diese Assimilation entspricht der alchemistischen Operation der Coagulatio oder Erdung. Dies ist ein Prozeß, bei dem etwas in Erde, also einen Stoff verwandelt wird, der sich durch eine feste Form und dauerhafte Qualität auszeichnet, was einem psychischen Inhalt entspricht, der, ins Bewußtsein gelangt, eben von einem Ich assimiliert wurde. Ich halte deshalb eine verbale Aufarbeitung der Inhalte vieler energetischer Prozesse in den meisten Sitzungen für absolut unverzichtbar.

Das manuelle Vordringen in immer tiefere Gewebeschichten aktiviert nicht nur gefühlsgeladene Komplexe, sondern ermöglicht auch das Aufsteigen von Kernimpulsen. Unter „Kernimpulsen“ verstehe ich jene Art von Impulsen, die quasi aus einem anderen ontologischen Bereich ins Profane eindringen und numinosen Charakter haben, d.h. sie sind eigentlich nicht verbal zu beschreiben, bestenfalls zu umschreiben. Jedenfalls scheint die Ich-Autonomie zugunsten der Einheit mit einem größeren Ganzen aufgehoben zu sein, was der Erfahrung einen sich selbst rechtfertigenden und bestätigenden Aspekt verleiht, der seinen eigenen inneren Wert in sich trägt. Die Bandbreite emotionaler Reaktionen ist dabei sehr vielfältig und reicht von Scheu und Ehrfurcht über Lust und Wohlgefühl bis zu einem süßen und schmelzenden Überwältigtsein von allumfassender Liebe. Energetisch betrachtet handelt es sich dabei um sanfte, aufsteigende Energiebewegungen, die vor allem in tiefen Sitzungen und in der abschließenden Integrationsphase auftreten können.

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