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Bukumatula 5/1993

Psychotherapy is a rotten Business

Loil Neidhöfer:

Wilhelm Reichs Arbeit bewegte sich lange Jahre im Rahmen der Psychoanalyse Freuds. Auch seine Arbeiten zur Sexualökonomie und zur Orgasmustheorie sah er als Beitrag zur Optimierung und Restrukturierung innerhalb des übergreifenden psychotherapeutischen Freudschen Konzepts. Er lotete dabei die Grenzen des psychoanalytischen Ansatzes so weit aus, daß Freud sich zu folgender Bemerkung veranlaßt sah: „Entweder Sie gehen vollkommen fehl oder Sie werden ganz alleine die schrecklichen Lasten der Psychoanalyse zu tragen haben.“ (1)

Mit der Charakteranalyse von 1933 war schließlich der Endpunkt von Reichs psychoanalytisch orientierter Arbeit erreicht und gleichzeitig der Ausgangspunkt und Übergang zur Orgonbiophysik, zur Vegetotherapie und Orgontherapie. Die Abkehr von der Psychoanalyse war perfekt. Schon wenige Jahre später schrieb Reich an Neill: „Psychotherapy is a rotten business“. (2)

Und 1947 schreibt er rückblickend, ebenfalls an Neill: „Seit nunmehr 15 Jahren hat meine Arbeit nicht das geringste mehr mit Psychoanalyse und ihren verschiedenen Spielarten zu tun. Seit nunmehr 15 Jahren ist es keine Psychologie mehr, sondern ein neuer Zweig der Naturwissenschaft, der sich in voller Entwicklung befindet. Vor 15 Jahren wollten die Psychoanalytiker nichts davon wissen. Heute wollen sie alles vereinnahmen, aber ich werde einer Usurpation meines Werkes nicht zustimmen.

Wegen dieser orgon-biophysikalischen Arbeit bin
ich niemandem irgendetwas schuldig; ich mußte im Gegenteil falsche idealistische und mystische Konzepte der Psychologie, der Psychoanalyse und anderer Wissenschaften erst überwinden, um den Weg zu jener bläschenbildenden biologischen Energie zu finden, die man im Dunklen sehen kann.

Deshalb liegen die Probleme, die Philipson (3) interessieren, weit hinter der gegenwärtigen Arbeit zurück, Dekaden zurück. Philipson würde nicht wie Jung und Stekel mit seinen Klienten langatmige Gespräche führen, wenn er verstünde, daß ich mit den Patienten nicht Psychologie, sondern Biologie treibe und daß es die biophysikalische Arbeit erfordert, daß der Patient sich auszieht und man seinen Körper sieht.“ (4)

Von der Psychotherapie zur Körperarbeit – diese Strecke haben auch die meisten Körpertherapeuten meiner Generation in den Siebziger und Achtziger Jahren in Westeuropa zurückgelegt. Eine typische professionelle Karriere begann oft mit Gesprächs- oder Verhaltenstherapie. Das machte man ein paar Jahre, bis man merkte, daß man damit nicht weiterkam, persönlich und in der Arbeit. Man wechselte zur Gestalttherapie, zum Psychodrama oder zur Transaktionsanalyse.

Besonders die Gestalttherapie schien zunächst den erhöhten Bedarf an authentischem emotionalen Ausdruck und interaktioneller Lebendigkeit und Tiefe befriedigen zu können; ebenso das Bedürfnis nach vertiefter, sinnlich-konkreter Selbst-Wahrnehmung und solcherart fundiertem Selbst-Verständnis.

Auch dies machte man ein paar Jahre, bis man wiederum an die Grenzen dieser im Prinzip sprach- und konzeptgebundenen Ansätze stieß. Man hatte inzwischen eine Ahnung davon bekommen, daß noch mehr drin war.

Dazu mußte man sich jedoch an die biologische Basis heranwagen, in die Tiefe des Vegetativen hinabsteigen und die Sprache des Lebendigen lernen. Und man begann, sich umzusehen.

Rebirthing, Aikido oder Dynamische Meditation war für manche der nächste Schritt; aber die meisten landeten früher oder später bei einer sich auf Reich berufenden Schule.

In den letzten Jahren kann man eine andere Entwicklung erkennen. Viele jüngere Körpertherapeuten oder Trainees haben keinen psychotherapeutischen Hintergrund und klagen oft über ein Defizit an verbalen Interventionsmöglichkeiten. Sie versuchen, aus diesem Dilemma zu entkommen, indem sie ein Training in einer verbalen Therapieform anhängen.

Dabei nehmen sie bewußt in Kauf, sich mit „falschen idealistischen und mystischen Konzepten“ der Psychotherapie überfrachten zu lassen und sich mit einer Menge verbaler Strategien befassen zu müssen, die – gemessen an ihren bereits erworbenen körpertherapeutischen Möglichkeiten – deutlich weniger effizient sind.

Ein spezielles verbales Training für Körpertherapeuten scheint daher sinnvoll zu sein. Wir arbeiten seit einiger Zeit daran, eine Art „verbaler Energiearbeit“ im Rahmen der SKANAusbildung zu vermitteln.

Der Trend zurück zur Psychotherapie geht jedoch weit über solche pragmatische Fragen hinaus und ist von weitaus grundsätzlicherer Art. Die EABP, die europäische Vereinigung der meisten körpertherapeutischen Schulen, legt großen Wert darauf, sich eine Vereinigung für KörperPSYCHOtherapeuten zu nennen.

Sie setzt die Psychotherapie gleichwertig neben die Körperarbeit. Allgemein besteht die Auffassung, daß die Ergebnisse körpertherapeutischer Arbeit früher oder später psychotherapeutisch „integriert“ werden müssen bzw. in einem psychotherapeutischen Kontext stattfinden müssen, wenn einen Heilung stattfinden soll.

Und immer öfter kommt einem zu Ohren, daß Kolleginnen und Kollegen, die man aus der Aufbruchszeit der Körperarbeit kennt, mittlerweile wieder dazu übergegangen sind, mit ihren Klienten „langatmige Gespräche“ zu führen.

EIN ANDERSARTIGER BIOLOGISCHER ZUSTAND

Ich bin der Meinung, daß diese Rückwendung zur Psychotherapie nicht in objektiven Erfordernissen des Veränderungsprozesses, sondern in einer verkürzten Sichtweise und unvollständigen Erfahrung des körpertherapeutischen Prozesses begründet ist.

Die verkürzte Sichtweise äußert sich vor allem in einem falschen Verständnis des Kernstücks der Reichschen Körperarbeit, der Wieder-Herstellung des gesamtorganismischen orgonotischen Strömens.

Für Reich war das Strömen nicht weniger als ein letzlich dauerhafter „andersartiger biologischer Zustand“, auf dessen Grundlage die neurotischen und biopathischen Seiten der Betreffenden transformiert und geheilt werden konnten.

Diese Auffassung vom Strömen bleibt vielen offenbar-unverständlich. Typischerweise wird das Strömen nicht als ein dauerhafter Zustand des entpanzerten Organismus angesehen, sondern als eine begrenzte, meist auf Momente in der Therapie beschränkte energetisch-emotionale Erfahrungsmöglichkeit, die zudem noch in Gegensatz zum Denken und zur Bewußtheit gestellt wird.

Man muß nicht lange suchen, um solche Auffassungen von exponierten Personen der Körpertherapie-Szene artikuliert zu sehen. Ein Blidk in die letzten Ausgaben zweier einschlägiger Fach-Journale, „Energie 8 Charakter“ und „StröMe Rundbrief“ genügt. Zum Beispiel wird Manfred Thielen, der Vorsitzende des Vereins für Biodynamik, in „Energie 11 Charakter“ folgendermaßen zitiert:

„Sicherlich ist die vegetative Wahrheit wichtig und unbedingt ernst zu nehmen, sonst kommt es z.B. zu psychosomatischen Symptomen, doch ebenso muß die kognitive Wahrheit ernst genommen werden, um zu adäquaten Entscheidungen kommen zu können. Z.B. habe ich, wenn ich mich vegetativ im Fluß fühle, häufig keine Lust, Realitätskonflikte wie z.B. Wohnungssuche, Fallberichte, Rechnungen schreiben, anzupacken, obwohl z.B. arbeiten notwendig ist, um mein Geld zu verdienen usw.“ (5)

Vegetative versus kognitive Wahrheit, Arbeit als Notwendigkeit und Last, die nicht so recht zum „vegetativen Fluß“ paßt: da haben wir sie wieder, die Spaltung.

Und Volker Knapp-Diederichs, der Herausgeber des Ströme-Rundbriefs fragt in seinem Artikel „Brauchen wir nicht unser Bewußtsein, um die Botschaften aus dem Strömen überhaupt wahrzunehmen, zu verarbeiten und praktisch umzusetzen? Benötigen wir nicht auch unser Bewußtsein, unseren klaren Verstand, um eben nicht orientierungslos im konfluenten Kosmos herumzuirren?“ (6)

Auch hier wieder die Spaltung: Strömen auf der einen und klarer Verstand auf der anderen Seite. Strömen ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Intuition und Fühlen, dem Bewußtheit und Rationalität gegenübergestellt werden können. Strömen ist die bio-energetische Grundlage für ein kreatives Funktionieren aller menschlichen Fähigkeiten, also auch des Denkens, der Bewußtheit usw. (7)

Eine solcherart verkürzte Auffassung vom Strömen, vom „vegetativen Fluß“, muß früher oder später notwendigerweise zum Rückgriff auf psychologische Konzepte führen.

Wer Strömen nur als isolierte Ausnahme-Erfahrung erlebt, dem ist die transformierende und wahrhaft integrierende Kraft des dauerhaften gesamtorganismischen Strömens unbekannt. Der muß auf kognitiv-identitätsbestimmende Integrationsversuche psychotherapeutischer oder sonstwie weltanschaulicher Art zurückgreifen, der muß sich fortwährend definieren oder neu definieren, weil er nicht in fühlender Verbindung mit seiner eigenen bioenergetischen Natur ist.

TRANSFER ERFOLGT MIT VERZÖGERUNG

Körpertherapeuten, die diesen zentralen Punkt der reichianischen Körperarbeit nicht begriffen und erfahren haben, werden auch die anderen reichianischen Essentials in ihrer Arbeit nicht hinreichend verstehen und handhaben können: Panzerung, vegetative Identifikation, Feldüberlagerung und Selbstregulation.

Das ist an sich keine Schande und kein Grund, die Nase zu rümpfen; man kann in verschiedenster Weise körpertherapeutisch tätig sein. Allerdings kann man solche Arbeit dann nicht mehr „reichianisch“ nennen.

Auch Körpertherapeuten, die mit ihrem eigenen Prozeß noch nicht „durch“ sind, sehen sich in ihrer Arbeit immer wieder mit großen Frustrationen, Stolpersteinen und Fallstricken konfrontiert, die einen Rückgriff auf das bequemere und weniger risikoreiche Psychotherapieren nahelegen:

– Eine Körpertherapie dauert in der Regel länger als eine Psychotherapie und erfordert jahrelange, beständige und konsequente, direkte, panzerlösende Arbeit am Körper.

Man kann mit einem Klienten nur so weit arbeiten, wie man selbst im eigenen Körper gekommen ist.

Die Effektivität der Körpertherapie (und des Körpertherapeuten) kann Sitzung für Sitzung überprüft werden. Der Erfolg jeder Sitzung kann daran gemessen werden, ob ein Stück Panzerung oder Kontraktion gelöst werden konnte. Die Sitzung mag zwischendurch frustrierend oder schmerzhaft gewesen sein; am Ende ist jedoch zu erwarten, daß zumindest ein Teil der chronischen gesamtorganismischen Spannung gelöst worden ist und der Klient mit einem deutlichen Gefühl von -zumindest partieller – subjektiver Befreiung, Erleichterung, Vitalisierung aus der Sitzung geht.

Psychotherapie-Klienten sehen es als selbstverständlich an, daß sie im Verlauf ihrer Therapie wochen- oder monatelange Phasen quälenden Feststeckens erleben. Psychotherapeuten können es sich leisten, ihre Klienten lange Zeit im Saft ihres eigenen Widerstandes schmoren zu lassen; die Regeln der Branche sehen es vor, daß der schwarze Peter immer erstmal beim Klienten liegt.

Das geht nicht in unserer Arbeit, für die wir uns Reichs späte Auffassung vom „Widerstand“ zu eigen machen: „Der Begriff ‚Widerstand“ ist zwar noch gültig, aber in einem ganz anderen Sinn als dem, den er in der psychoanalytischen Technik hat. Wenn ein Patient ‚Widerstand leistet‘, so heißt das, daß du nicht die richtigen Worte gebraucht und nicht mit den richtigen Handlungen an spezifischen Körperstellen angesetzt hast, die mit dieser spezifischen emotionalen Situation korrespondieren.“ (8)

Eine weitere starke Herausforderung besteht für Körpertherapeuten darin, daß sie oft gefordert sind, ihre „therapeutische Haltung“ über Bord zu werfen. Spätestens dann, wenn die „Kernschicht „berührt wird und die Klienten oft mit vehementer emotionaler Wucht – zu einem authentischen Ausdruck finden und – zumindest für Augenblicke – einen unneurotischen Kontakt zum Therapeuten herstellen, muß der Therapeut in der Lage sein, ebenso authentisch mitzuschwingen, ohne das Netz und den doppelten Boden der professionellen therapeutischen Attitüde.

Körperarbeit ist biologische Basisarbeit und ist nicht am psychotherapeutischen common sense der Problem- und Konfliktlösungshaltungen orientiert. Der Transfer ins alltägliche Leben erfolgt oft mit Verzögerung. was – besonders für beginnende Klienten – frustrierend und demotivierend wirken kann.

Ich kann nicht erkennen, daß „Körperpsychotherapie“ eine fundierte Therapieform ist, bei der psycho- und körpertherapeutisches Vorgehen sinnvoll miteinander verzahnt zur Anwendung kommt. In der Praxis scheint es darauf hinauszulaufen, daß viele Therapeuten beliebig auf eine Methode umschalten, sobald sie mit der anderen in Schwierigkeiten geraten sind, und umgekehrt hin und her.

Dieser körperpsychotherapeutische Eklektizismus ist eine Auswirkung der desolaten Ausbildungssituation, die wir auf dem westeuropäischen und nordamerikanischen „Psycho-Markt“ seit zwanzig Jahren vorfinden. überall wurde und wird auf Teufel komm raus ausgebildet, auch unter der Schirmherrschaft großer Namen.

Tausende von Schmalspurtherapeuten bevölkern mittlerweile die Szene, die oft nur die Anwendung einiger Techniken erlernt haben und dringend selbst in Therapie gehen müßten, statt an Klienten herumzudoktern

KÖRPERARBEIT IST EINE KUNST

Körperarbeit im klassischen reichschen Sinne ist eine Kunst, die lange und gründlich gelernt werden muß, was eine längere eigene Therapie einschließt. Nach meinen Erfahrungen dauert es allein zwei bis drei Jahre, bis man eine Ahnung davon bekommen hat, worauf es in der Arbeit ankommt. Weitere zwei bis vier Jahre sind notwendig, einen persönlichen Erfahrungshintergrund aufzubauen, um den meisten Herausforderungen, die die Arbeit mit sich bringt, gewachsen zu sein.

Fünf bis sieben Jahre dauert es also im Schnitt, bis ein Körpertherapeut soweit qualifiziert und gereift ist, daß er selbständig und eigenverantwortlich und mit gutem professionellem Standard arbeiten kann.

Wer sich soweit durchgearbeitet hat, wird vermutlich große Lust haben, die weiten Möglichkeiten der Körperarbeit noch vollständiger und tiefer auszuloten und wenig Neigung verspüren, sich die Arbeit mit psychotherapeutischen Einlagen zu verlangweilen. Denn, soweit kann man Reich inzwischen zustimmen: „Psychotherapy is a rotten business“.

ANMERKUNGEN:

Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und A.S.Neill 1936-1957.
Kiepenheuer 43 Witsch. Köln 1986. S.33.
Record of a Friendship. The Correspondence of Wilhelm Reich and A.S.Neill. Farrar, Straus 8 Giroux. New York 1981.
Tage Philipson, schwedischer Psychoanalytiker Zeugnisse einer Freundschaft, Seite 278
(5)Energie & Charakter, Zeitschrift für Biosynthese und Somatische Psychotherapie Nr.6 (Dezember 1992), Seite 159.
(6) Ströme Rundbrief Reichianische Körperarbeit. Nr.5 (1992), Seite 40.
Siehe hierzu auch: Loil Neidhöfer, Die Disziplin der Lust. Endlese Sky Publications. Hamburg 1992. Seite 207-220.
Zeugnisse einer Freundschaft. Seite 185

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