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Bukumatula 5/1993

Äther, Gott und Bussibär

Interview mit Alfred Zopf: Über Kinder und schwierige Jugendliche in unserer Gesellschaft
Wolfram Ratz:

Alfred Zopf ist Sozialpädagoge, Reichscher Körpertherapeut und Psychoanalytiker:

BUKUMATULA: Was sagt Dir das Wort „Äther“?

Alfred: Betäubung

B: Und „Gott“?

A: Der Glaube der Menschen, daß es ein höheres Wesen gibt.

B: Und Felix?

A: (lacht) Felix ist mein Sohn. der ist seit drei Wochen auf der Welt. Ich bin jetzt 38 Jahre alt und habe als junger Mensch so hoilodrio in die Welt hineingelebt. Zu spüren, daß man plötzlich Verantwortung für ein Kind hat, verändert sehr viel. Der Spaß am Leben aber soll bleiben. Das ist das wichtigste.

B: Na ja, Du bist ja Pädagoge …

A: Bezüglich der ganzen Ideale, was gut oder was schlecht für ein Kind ist, da komme ich immer mehr auf den Standpunkt von „Scheißdrauf“; es ist so wie es ist. Die Beziehung wächst und wird sich weiterentwickeln. Man Kann nicht von Anfang an alles supergut machen und sofort sämtliche Bedürfnisse erfüllen. Damit bin ich überfordert. Und wahrscheinlich ist es gar nicht richtig, daß man das tut. Auch unsere Partnerschaft ist stark gefordert, wenn Felix schreit und Jutta, meine Frau, und ich unter-schiedliche Wahrnehmungen haben. Ich meine dies und Jutta meint das. So geht’s halt pausenlos dahin. Das ist derzeit eine zentrale Situation in unserem Leben.

B: Jetzt ist es für Dich also ernst geworden.

A: (lacht) Ja, ja …

B: Irgendwann hast Du Dich für die Arbeiten Wilhelm Reichs zu interessieren begonnen …

A: Ja, während meines Pädadogikstudiums habe ich auch die Bücher von Wilhelm Reich zu lesen begonnen. über meine praktische Tätigkeit als Bewährungshelfer hat sich mein Eindruck bestätigt, daß -Reich in vielem recht hatte. Dafür gab es für mich gleich einige Schlüsselerlebnisse: Etwa mit einem jungen Mann mit ganz weichen Gesichtszügen, zu dem ich sehr guten Kontakt hatte und der zum erstenmal vor Gericht stand.

Nach einer unbedingten Verurteilung habe ich ihn ein halbes Jahr später in der Jugendstrafanstalt in Gerasdorf besucht. Da stand plötzlich ein ganz anderer Mensch vor mir. Die Gesichtszüge waren knallhart, die Scnultern angespannt… Bumm.- Der Reich mit seiner Panzerung hat doch recht, schoß es mir durch den Kopf …. aber da gab es noch ein eindrucksvolles Erlebnis. Ich habe bei Professor Strotzka die Vorlesung „Einführung in die Psychotherapie“ besucht. Vor der mündlichen Prüfung sprach ich mit einem Kollegen, der auch zur Prüfung vorgeladen war, ganz zufällig über Wilhelm Reich.

Als Professor Strotzka ihn dann fragte, was für psychotherapeutische Literatur er gerade lese, sagt der, daß er sich mit den Arbeiten Wilhelm Reichs beschäftige. Und da wird der Professor Strotzka, den man auf der Uni in Wien nur als humorvollen und gutmütigen Papa kennt, in seinem Gehabe plötzlich aggressiv, ja ausfällig. Die Studenten hatten ihn schon oft zu provozieren versucht, aber er hat stets gelassen darauf reagiert. Und auf den Reich wird er derart aggressiv. Angeblich leidet Professor Strotzka an Hodenkrebs. Tragisch, nicht wahr? Für mich ist der Zugang zu Reich aber noch ein anderer: Mir wurde verständlich, daß jemand abgelehnt wird, der nach der Wahrheit sucht.

Aufgrund meiner Erfahrungen in der Sozialarbeit habe ich mitbekommen, daß man dabei sehr schnell an gesellschaftliche Grenzen stößt: Die Sozialarbeit soll nämlich möglichst oberflächlich sein – und bleiben. In Wirklichkeit will man sich gar nicht mit kriminellen Jugendlichen auseinandersetzen. Es besteht bei dieser Haltung die Gefahr, daß man als Sozialarbeiter kritiklos bis zur Pension dahinarbeitet und dabei übersieht, daß das ganze System darauf aufgebaut ist, daß es Kriminelle geben muß. Das tragische ist, daß sich die Wahrheit nicht durchsetzen kann, ja sie darf sich sogar nicht durchsetzen, weil dann würde sich das System verändern, dann würden wir eine reifere Gesellschaft werden, aber das darf nicht sein.

B: Wieso nicht?

A: Damit das System funktioniert. Das heißt, wir brauchen Außenseiter und Sündenböcke, damit der sogenannte „Normale“ auf die anderen hinunterschauen und sagen kann: „Dir gehts schlechter als mir“.

B: Und wie könnte das anders sein?

A: Wir leben halt in einer Konkurrenzgesellschaft. Es gibt kein Miteinander, es gibt keine Solidarität, weder im Kindergarten, noch unter den Erwachsenen; auch nicht unter den Psychotherapeuten. Da geht es beinhart darum, Marktaneile zu erringen, die anderen herunterzumachen, usw. Und deshalb wird sich auch nichts ändern.

B: Mit „System“ meinst Du unser kapitalistisches System?

A: Ja, unser kapitalistisches System. Patriarchalische Strukturen, Geldvermehrung, ständiges Wachstum, etc.

B: Wenn das System so schlecht ist, wieso setzt es sich dann durch?

A: (lacht) Na ja, also das ist schon eine etwas schwierige Frage. Daran hat auch schon der Reich gekiefelt und wenn ich’s richtig in Erinnerung habe, stellt er sich in seinem Buch „Massenpsychologie des Faschismus“ die Frage, wie es das geben kann, daß sich Millionen von Menschen von ein paar Wahnsinnigen wie Hitler und Stalin unterdrücken ließen. Das ist ja wirklich interessant.

Was wird in die Politiker hineinprojeziert, welche Fähigkeiten die denn hätten? Erstaunlicherweise setzen sich immer wieder Menschen durch, die alleine wegen der Art ihres Auftretens mit Macht ausgestattet werden. Da denke ich jetzt an den Jörg Haider. Der Haider ist nicht das Problem, der ist ein armer Mensch. Das Problem sind diejenigen, die den Haider wählen. Wenn man ein kritisches Bewußtsein hat, dann sieht man doch, daß der auch nichts weiter bringt.

B: Steht dahinter nicht die Sehnsucht nach Freiheit? Freiheit bei uns heißt halt mehr an Einkommen, keine Ausländer, etc…

A: Aber die Freiheit fängt doch bei einem selber an. Ich muß mein Leben so gestalten, daß ich mich halbwegs wohl fühle, daß ich frei … ich muß jetzt wirklich aufpassen mit dem Wort Freiheit …, hm, das ist schwierig. Man muß sich jedenfalls fragen, wie es das gibt, daß Menschen, die kreativ geboren wurden so einfach im Schwarz-Weiß-Denken enden. Darin liegt für mich die Tragik. Da hat unsere Gesellschaft total versagt.

B: Und Du meinst es läuft immer noch falsch?

A: Es läuft sicher immer noch falsch. Vor allem wenn man weiß, daß die Kindergärten überfordert sind, wenn man weiß, daß immer mehr verhaltensauffällige Kinder dort sind. Wenn man mit 10 Kindern noch pädagogisch arbeiten kann, aber 24 in der Gruppe sind, dann ist das nur mehr ein hilfloses Herumagieren; da ist schon der Grundstock gelegt für Fehlentwicklungen. Es ist niemand verantwortlich für die Erziehung.

Die Eltern machen es nicht, und die Kindergärten und die Schulen sind überfordert. Im gesamten Sozial- und Bildungsbereich wird beinhart gespart anstatt daß investiert wird. Ein junger Mensch ist wie eine Pflanze, die günstige Wachstumsbedingungen braucht und gepflegt werden muß. Wenn das mehr Verständnis fände, würden wir doch alle davon profitieren. Obwohl es uns materiell immer besser geht, sehe ich für die persönliche Entwicklung der Kinder und der Jugendlichen eine Verschlechterung.

Zur Erziehung braucht man viel an Wissen, das man zu einem selber in Beziehung setzen muß. Man ist biologisch Vater bzw. Mutter und das ist schon ein Recht. Wenn es Probleme gibt, dann gibt es Beratungsstellen, Pflegefamilien, Heime, etc. Eine funktionierende Gesellschaft aber bedarf keiner Sozialarbeit. Es ist auch mein persönliches Ziel, daß ich arbeitslos werde. Leider ist es aber umgekehrt. Es gibt immer mehr Handlungsbedarf.

B: Du bist jetzt als Sozialarbeiter tätig?

A: Ja, als Sozialpädagoge in einem Heim für dissoziierte jugendliche Mädchen in Wien-Nußdorf. Im Sozialbereich gibt es, soweit es die schwierigen Jugendlichen betrifft, die immer mehr auf der Straße landen und gar nicht mehr in Institutionen aufgefangen werden können, die Tendenz zur Resignation.

B: Du meinst jetzt Drogensüchtige?

A: Jugendliche, die am Karlsplatz landen. Alle schwierigen Jugendlichen sind heutzutage auch drogensüchtig. Früher hat es die Trennung gegeben zwischen Kriminellen und Drogensüchtigen. Heute ist das vermischt. Drogensüchtige, wie es sie früher gab, die gegen die Gesellschaft rebellierten, die gibt es heute nicht mehr. Man kann klar sehen, welche Richtung diese Entwicklung nimmt. Momentan werden jedenfalls von den Institutionen lediglich Abwehrkämpfe geliefert.

B: Hast Du eine einfache Lösung, oder willst Du gleich die ganze Gesellschaft verändern?

A: Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich sehe keine Lösung. Es ist ein ewiger Kreislauf. Das fängt bei den Kindern an. Ich glaube schon, daß man, wenn man stark neurotisiert ist, unbewußt seine Neurose einfach weitergibt. in der stärkeren Position des Erwachsenen kann man dem Kind viel an Leid zufügen. In meiner Rolle versuche ich kritisch zu bleiben. Ich muß mir auch immer wieder bewußt machen, wie mein Kampf mit den Institutionen mit meinem Kampf gegen meinen Vater zusammenhängt.

Man muß es aushalten, daß man dabei oft als verrückt empfinden wird. In der MA 11 bin ich eher ein rotes Tuch, als daß mir die Fähigkeit zur Entwicklung neuer Modelle zugetraut wird.- Wir in Nußdorf sind überhaupt die Wahnsinnigen auf einem Hallten. Das ist aber schön (Lachen). Wir werden hoffentlich einmal von anderen als Modell angesehen werden. Daß wir gut arbeiten hängt damit zusammen, daß wir Erzieher uns mit dem Modell identifizieren. Wir haben wenige Regeln, die wir konsequent durchsetzen; wir arbeiten mit wenig Strafen und legen Wert darauf, daß die Jugendlichen möglichst viel Kontakt zu Freunden und Bekannten haben können. Wir konfrontieren die Mädchen mit der Verantwortung für ihr Handeln.

Damit sind wir viel erfolgreicher als mit angewandter „Kindergartenpädagogik“. Das muß sich aber erst herumsprechen. So zu arbeiten ist aber nur mit Menschen möglich, die keine Angst vor Jugendlichen haben und die mit ihnen leben wollen. Als junger Erzieher habe ich es auch oft so gemacht, daß ich meine Autorität ausgespielt habe, um mich über Wasser zu halten. Wenn ich darin steckenbleibe, daß meine Autorität immer gewahrt bleiben muß, kann ich nie zielführend arbeiten.

B: Kinder der Zukunft?

A: Da denke ich jetzt an den Felix…

B: Reich hat eine große Hoffnung darin gesehen, daß Kindern ein möglichst neurosenfreies Heranwachsen ermöglicht wird.

A: Meine Eltern haben bei mir Fehler gemacht und genauso wird das auch bei mir und Jutta sein. Ein Ideal soll nicht erdrückend sein_ Ich will mir das nicht aufpfropfen, „Kinder der Zukunft“ und zack, jetzt gib ihm. Das wäre eine Katastrophe. Ich bin nicht der Reich, sondern der Alfred, und das muß von meiner Person ausgehen.

B: Felix ist im Geburtshaus in Nußdorf zur Welt gekommen. Magst Du als frischgebackener Papa zu den Vorfällen in Oberpullendorf etwas sagen? Dr. Jaskulski, der Leiter der dortigen geburtshilflichen Station, ist vor etlichen Wochen von einem Eisenstädter Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Es heißt, daß der Tod zweier Babys hätte verhindert werden können und die Organisation zuwenig straff gewesen sei.

A: Das hat eine Alibifunktion. In Oberpullendorf gibt es ein öffentliches Krankenhaus, dort kann man kostenlos gebären. Dem Geburtshaus in Nußdorf gegenüber gibt es eine Toleranz. Dort gehen nämlich nur solche hin, die sich für eine Geburt 35.000.- leisten können. Die Gewaltfreie Geburt soll damit schön brav in einem elitären Eck bleiben.

B: Um …?

A: Da sind wir jetzt wieder bei den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen. Da geht es darum, daß die, die an der Macht sind, es auch unter allen Umständen bleiben wollen. Es ist ja merkwürdig, daß die Frauenheilkunde und die Geburtshilfe Männersache ist. In keinem anderen Fach der Medizin sonst stehen 100 Prozent weiblicher Patienten Ärzten gegenüber, von denen 85% männlich sind. Und die Männer verteidigen eisern einen Platz, der einst durch die Verbrennung heilkundiger Hebammen als „Hexen“ geschaffen wurde. Das sind alles männerorientierte Geschichten. Man muß alle, die neue Entwicklungen aufzeigen, verurteilen, um sich selber nicht in Frage stellen zu müssen. So sehe ich das. Die Geburt zu kontrollieren heißt jedenfalls auch das Leben zu kontrollieren.

B: Ich glaube, der Felix schreit wieder.

A: (lacht) Das wolltest Du jetzt bewußt als Abschluß machen, aber er schläft doch noch.

B: Gut. Vielleicht noch einen Satz zu Dir…

A: Zu mir? (Kopfschütteln) Daß ich in letzter Zeit ziemlich fertig bin.

B: Das hältst Du aber leicht aus mit Deiner Konstitution.

A: Na ja. Wir wollen ja ein zweites Kind.- Jetzt fällt mir aber doch noch etwas ein. Es ist interessant, daß wir über alles Mögliche geredet haben. Ober das Wichtigste, worum es eigentlich beim Reich geht, über Sexualität, haben wir überhaupt nicht gesprochen.

Gut, fangen wir noch einmal von vorne an…

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