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Bukumatula 2/1996

Das Lebendige funktioniert einfach – Teil 1

Ein Beitrag zur Auf-Klärung
Beatrix Teichmann-Wirth:

Im Mai letzten Jahres nahm ich an einem eintägigen Workshop mit Tilmann Moser teil, wo dieser seine Methode körperorientierter Psychoanalyse vorstellte.

Auf die von ihm mit uns durchgeführten Übungen reagierte ich vor allem im nachhinein sehr heftig mit Symptomen energetischer Überladung die sich in einem Erregungszustand bis hin zur Empfindung von Angst und auf körperlicher Ebene in einer Enge im Hals und Kopfschmerzen äußerten. Ich wertete diese Erscheinungen als Ausdruck einer Kontraktion, die ihrerseits durch den Umstand begründet war, dass zuviel Energie mobilisiert wurde, ohne dass diese einen adäquaten Ausdruck finden konnte, wobei ich meine, dass dieser Ausdruck ein körperlicher zu sein hat – nicht unbedingt lautstarker Art (durch Schreien, Stampfen, Schlagen) sondern auch durch das Raumgeben für „Verdauungsprozesse“. Die jeweils nachfolgenden verbalen Integrationsversuche führten jedenfalls nicht zu ausreichender Entladung.

Jedoch – keine Angst, es wird kein weiterer „Abgrenzungs-“ Artikel. Ich schätze Tilmann Moser als Therapeut und glaube auch an seine – kraft seiner Integrität und Herzenswärme – therapeutische Potenz. Vielmehr möchte ich zunächst nur den Anlass beschreiben, anhand welchem mir klar wurde, dass Tilmann Moser – wie viele andere körperorientierte Therapeuten – den Körper zwar in die Therapie einbeziehen, z.B. in Form von erlebnisaktivierenden Übungen bzw., wie in diesem Fall, um Übertragungsgefühle zu unterstützen. Das Vorgehen jedoch ist nicht von einem Verständnis für körperliche Prozesse und damit auch Erregungsabläufe getragen.

Da ich dies aber für nötig erachte, wollte ich diese Aspekte in Form von Vorträgen verschiedenen Personen näherbringen. Hier stieß ich selbst erneut auf einen spannenden Aspekt, nämlich den der Denktechnik – den orgonomischen Funktionalismus – der der Reichschen Forschung zugrunde liegt und welchen ich selbst bislang zuwenig würdigte.
Das Beheimatetsein in unterschiedlichen Denkwelten scheint mir auch der Grund für die im Gespräch mit Vertretern körperpsychotherapeutischer Schulen auftretenden Verständigungsschwierigkeiten zu sein.

So „funktioniert“ es beispielsweise nicht, wenn man therapeutische Beziehungsmodelle wie die Arbeit mit der Übertragung aus der Psychoanalyse auf den Reichschen Ansatz anwendet und dann, nachdem man festgestellt hat, dass in diesem die Übertragung nicht das Agens im therapeutischen Wirkungsprozess ist, meint, die Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn fände keine Beachtung.

Eine Methode ist dann einheitlich und damit potent, wenn zwischen theoretischen Annahmen z.B. über Gesundheit und Krankheit auf der einen Seite und den Werkzeugen die man anwendet, auf der anderen Seite, eine Kohärenz besteht. Reichsche Körperarbeit ist in ihrer Essenz – seit Reich durch die Entdeckung des Orgasmusreflexes und der Beschreibung der orgastischen Potenz das biologische Fundament setzte, auf welchem die Therapie fortan stattfand – jenseits von Psychologie und Psychoanalyse angesiedelt.

Und in dieser „Welt des Lebendigen“ gelten andere Gesetzmäßigkeiten, die es aus sich heraus zu verstehen gilt, wo es jedoch unzulässig ist, von außen, d.h. aus der Psychologie Maßstäbe anzulegen. Es geht vielmehr um ein „Denkwerkzeug, das man gebrauchen lernen muss, wenn man das Lebendige erforschen und handhaben will (Hervorhebung durch die Autorin). Der energetische Funktionalismus ist also kein Luxusgegenstand, den man beliebig tragen oder ablegen kann.“ (Ä.G.T., S.7)

Der Artikel nun stellt den Versuch dar, das theoretische Fundament des Reichschen Ansatzes vorzustellen.
Er ist eine erweiterte Zusammenfassung der Inhalte, welche ich in den oben erwähnten Vorträgen referierte, wird also für einige LeserInnen vielleicht bereits Gehörtes wiederholen.

Der vorliegende Teil ist als eine Art „Vorspiel“ oder Annäherung anzusehen, in welchem ein Überblick über die Entwicklung der Reichschen Therapie gegeben werden soll. In der Folge will ich dann zum „Eigentlichen“ kommen, indem ich die Denkmethode des orgonomischen Funktionalismus vorstelle und ihn auf das Beschriebene anwende.

Wilhelm Reichs Weg zum Körper

Liest man Reichs Bücher so beeindruckt die Konsequenz, mit welcher er immer mehr ins „biologische Fundament“ vordrang.- Besonders deutlich wird dies in seinem Buch „Die Funktion des Orgasmus“, sein „Vorstellungsbuch“ für Amerika, in welchem er seinen Forschungsweg bis zum Jahre 1942 beschreibt.

Mit nahezu detektivischer Genauigkeit beschreibt er, wie seine Erkenntnisse sich aus der Erforschung der Praxis herleiteten, zunächst aus der analytischen Arbeit, dann in der Erforschung von Bionen, bis hin zur Überprüfung der Ergebnisse für den Bereich des Kosmos.

Neben, oder gerade wegen dieser Verankerung seiner Theorie in Wirklichkeiten – oder wie es Koestler (1966) ausdrückt durch die „Fähigkeit, theoretische Höhenflüge mit einem wachen Sinn für das Praktische – Alltägliche zu verbinden“ -, beeindrucken Reichs Schriften durch Einfachheit. Eine Einfachheit, die bisweilen bei mir Zweifel auslöste und Impulse etwas hinzuzufügen, zu verkomplizieren, weil „so einfach kann es doch wohl nicht sein“.

Reich sagt dazu an einer Stelle in Bezug auf die Sexualität: „Manche Dinge sind zu einfach, um sie anzuerkennen“.
So will ich anhand einiger Meilensteine in seinem Leben zunächst erläutern, wie aus der Psychoanalyse die Charakteranalyse und aus dieser die Vegetotherapie wurde.

Im Zuge des sogenannten Technischen Seminars – Reich war, obwohl sehr jung schon damals von Freud in den inneren Kreis eingeladen -, befasste man sich mit dem „Problem Widerstand“.

Erachteten die meisten Analytiker eine positive Übertragung als förderlich, um dem Widerstand der Analysanden beizukommen, wurde Reich darauf aufmerksam, dass hinter der offensichtlich bekundeten Bereitschaft, frei zu assoziieren, verhaltener Widerstand lauerte. Um an diesen Widerstand heranzukommen, war es notwendig, weg von den Inhalten (weil die wurden ja geboten) hin zur Art und Weise, wie jemand etwas ausdrückt, zu kommen. Nicht das Was sondern das Wie wurde also von Bedeutung.

Dies schlägt die erste Brücke zur Beachtung körperlicher Prozesse. Zunächst griff Reich, da er ja nach wie vor als Analytiker arbeitete, diese Signale (z.B. ein lachendes Gesicht bei gleichzeitig traurigen Inhalten) verbal auf und konfrontierte den Analysanden mit seinen Beobachtungen, was eine Veränderung des Settings notwendig machte, da der Analysand sichtbar sein musste.

Reich erkannte auch, dass dieser Widerstand individuell verschieden ist, und dass es nicht mit einem einmaligen Durchbrechen von Unbewusstem zu Bewusstem getan ist, sondern dass es eine jeweils spezifische Schichtung von Widerstand gibt – dieses Charakteristische des Widerstands fasste er in den Begriff des Charakterpanzers und erkannte auch, dass sich die Widerstandsform nicht nur im Verhalten, in der Einschränkung des Erlebens und der Kontaktfähigkeit ausdrückt, sondern ebenso in körperlichen Muskelverspannungen. Die chronischen Muskelverspannungen nannte er Muskelpanzer.

In der ersten Zeit machte Reich die Erfahrung, dass man sowohl an der Panzerung über die Konfrontation mit charakterlichen Haltungen arbeiten kann – ebenso, und das ist wichtig, effektiver über die Lösung von muskulärer Panzerung durch tatsächliches Eingreifen, zumeist über Druck auf die Verspannungen. Effektiver deshalb, weil die Wirksamkeit in Bezug auf Heilung und Veränderung davon abhängt, mit welcher Erlebnisintensität etwas zu Bewusstsein kommt. So meint Reich, dass es nicht darum geht, Erinnerungen zu berichten, dies bleibt unwirksam, wenn dieses Erinnern nicht mit einem Affektbetrag ausgestattet ist.

Über den Weg zur Vegetotherapie – besser zur Orgontherapie – und den Umstand, dass für die weitere Arbeit nicht einmal mehr der Begriff Körperarbeit oder Körpertherapie angemessen scheint, findet sie doch direkt am biologischen Kern statt, werde ich später zurückkommen.

Vorwegnehmen will ich an dieser Stelle nur, dass Reich von der funktionellen Identität von Körper- und Charakterpanzer ausgeht, das heißt, dass beide jeweils dieselbe Funktion erfüllen, nämlich in einer bestimmten Form den Fluss der Energie behindern. Die muskuläre Verkrampfung ist „…wo immer sie auftritt, nicht etwa eine `Folge´, ein `Ausdruck´ oder eine `Begleiterscheinung´ des Verdrängungsmechanismus“ sondern „die körperliche Verkrampfung (stellt) das wesentlichste Stück am Verdrängungsvorgang“ (dar). – Und weiter: „Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung“. (F.d.O., S.226-227)

Im oben ausgedrückten Denken ist es nicht notwendig, den körperlichen Interventionen psychologisch etwas nachzureichen. Die Arbeit – auch in ihrer Wirkung auf das Psychische – wird getan, und ebenso ist eine explizite Bezugnahme auf die Geschichte nicht notwendig, denn auch diese ist im Hier und Jetzt „anwesend“.

So erfolgt beispielsweise mit der Arbeit am Körperpanzer durch Lösen des Augenblocks, was sich vielleicht in Weinen äußert, gleichzeitig eine Arbeit am Charakterpanzer. Das Erleben des Weinens wird in das Selbstbild integriert und wirkt dem Charakterpanzer, beispielsweise mit der eingefrorenen Haltung „Männer weinen nicht“, entgegen.

Der energetische Aspekt

Nun aber zum zweiten Pfeiler: Zur Energie, die Reich letztlich Orgon nannte.
Schon Freud hat von „Seelenenergie“ und „Libido“ gesprochen, hat sich jedoch zunehmend der Psychologie und den inner-psychischen Konflikten zugewandt.

Reich hat hingegen dem energetischen Beitrag der Neurose sein Hauptaugenmerk gewidmet und diesen in den Mittelpunkt seiner Forschungen gestellt. Er postuliert, dass man durch die Psychoanalyse zwar die Ursache für eine Neurose erklären kann, nicht jedoch das „chronische Festhalten“ am Symptom, die Chronifizierung. Dafür sei die energetische Stauung verantwortlich. Er meint: „Es kann nicht anders sein, als dass ein geringer Konflikt, an sich normal, eine kleine Störung des sexuellen Energieausgleichs herbeiführt. Diese kleine Störung verstärkt den Konflikt und dieser wiederum die Stauung. Derart heben psychischer Konflikt und körperliche Erregungsstauung einander gegenseitig in die Höhe.“ (F.d.O., S.89)

Der Angst liegt nun nicht – wie Freud dies annahm – eine Verwandlung von sexueller Energie zugrunde. Dieselbe Erregung wird als Angst erlebt, wenn ihr die Wahrnehmung und Abfuhr verwehrt ist („Stauungsangst“).

Konsequenterweise geht es demnach in der Therapie darum, der Neurose „die Nahrung zu entziehen“. Gelingt dies, so steht die Energie dort zur Verfügung, wo sie gebraucht wird.
Die Genitalstörung ist das herausragende Symptom oder wie Reich schreibt: „Die Schwere jeder Art seelischer Erkrankung steht in direktem Verhältnis zur Schwere der Genitalstörung.“ Und: „Die Heilungsaussicht und die Heilungserfolge hängen direkt von der Möglichkeit ab, die volle genitale Befriedigungsfähigkeit herzustellen.“ (F.d.O., S.77)

Um dies schlüssig zu argumentieren, war ein Infragestellen des Wesens von gesunder Sexualität notwendig, da ja nicht alle Neurotiker frigide bzw. impotent sind. Es musste der Frage nachgegangen werden, wo sich die Stauung herleitet, wenn die sexuelle Potenz „normal funktioniert“.

Und wie so oft, gab sich Reich nicht mit den Äußerlichkeiten, mit dem Anschein zufrieden, sondern untersuchte vielmehr genauestens die energetischen, ökonomischen und erlebnismässigen Aspekte der scheinbar gesunden Sexualität.
Er fand, dass die erektive Potenz häufig von einem Mangel an Lustgefühl, vom Vorhandensein von (sadistischen) Phantasien und dem Fehlen von Unwillkürlichkeit in körperlichen Reaktionen gekennzeichnet war.

Das heißt, der Liebesakt war häufig nicht geeignet, die „hochgestaute Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckungen zu entladen“, der energetische Beitrag der Neurose blieb somit erhalten und hielt diese aufrecht.
Im Gegensatz zu anderen Forschern und Therapeuten, wie beispielsweise Masters und Johnson, ist gesunde Sexualität bei Reich nicht etwas, was es durch Übungen zu erreichen gilt, sondern sie ist ein Ausdruck des Gesamtorganismus, die Fähigkeit zur Hingabe an das „Strömen der sexuellen Energie ohne jede Hemmung“, was Reich in den Begriff der „orgastischen Potenz“ fasste.

Als Grundzeichen von Gesundheit gilt, wenn der Organismus ganz und gar der Ladungs-Entladungsformel folgt, wie es sich im Orgasmusreflex, einer der Atemwelle synchron verlaufenden Wellenbewegung des ganzen Körpers äußert.

Auf der psychischen Ebene drückt sich dieser ungehinderte vegetative Fluss in einem Gefühl von Einheitlichkeit, Ganzheit und Verbundenheit aus; oder wie es ein Patient von Reich ausdrückt: „Ich bin wie mit der Welt unmittelbar verbunden. Es ist, als ob alles in mir und außerhalb von mir schwingen würde. Es ist, als ob alle Reize viel langsamer wie in Wellen herauskämen. Es ist wie eine schützende Hülle um ein Kind herum. Es ist unglaublich, wie ich die Tiefe der Welt jetzt spüre.“

Reich hat mit der orgastischen Potenz und der Beschreibung des genitalen gegenüber des neurotischen Charakters dem Krankheitsbegriff einen Gesundheitsbegriff gegenübergestellt.

Wird beim neurotischen Charakter der Organismus von einem starren Panzer beherrscht, der autonom funktioniert und damit nicht beeinflussbar ist, so sind beim genitalen Charakter die emotionalen Reaktionen nicht durch Automatismen eingeschränkt sondern es ist durch die Flexibilität eine jeweils adäquate Antwort möglich.

Ein zweites wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist das Auftreten von Strömungsempfindungen: „Der gepanzerte Organismus empfindet keine plasmatischen Strömungen, im strengen Gegensatz zum ungepanzerten Organismus. In demselben Maße, in der die Panzerung sich löst, stellen sich Strömungsempfindungen ein, die der Gepanzerte zunächst als Angst erlebt. Ist die Panzerung völlig gelöst, so werden orgonotische Strömungsempfindungen lustvoll erlebt. Dadurch verändert sich alles Reagieren in so grundsätzlicher Weise, dass man von zwei einander fremden und wesentlich andersartigen Zuständen sprechen kann. (…) Mit den Organempfindungen verändert sich das gesamte `Weltbild´ rasch und radikal.“ (Ä.G.T., S.59-60)

Das Lebendige in der Therapie

Das Ziel der Therapie ist also die Herauslösung der seelischen Energien aus der Charakter- und Muskelpanzerung zur Erlangung der orgastischen Potenz. Um diesen energetischen Aspekt in der Arbeit zu unterstreichen, schlägt Reich vor, seine Therapie „Orgontherapie“ zu nennen und versteht darunter alle Maßnahmen, die sich der Orgonenergie bedienen.

Aber es ist noch ein zweiter Grund für die Wahl des Namens ausschlaggebend. Ist in der vormals genannten charakteranalytischen Vegetotherapie implizit eine Teilung von Körperlichem und Seelischen benannt, so liegt dem Begriff Orgontherapie eine einheitliche Auffassung des Organismus zugrunde, der sich nicht in Charaktereigenschaften, Muskeln und Plasmabewegungen aufspalten lässt.

Mit dem Begriff Orgontherapie drückt Reich aus, dass die Arbeit am biologischen Kern direkt an den Plasmabewegungen stattfindet: „Wir arbeiten nicht mehr bloß an individuellen Konflikten und spezifischen Panzerungen, sondern am Lebendigen selbst. Indem wir es allmählich lernen, dieses Lebendige zu begreifen und zu beeinflussen, kommen die rein psychologischen und physiologischen Funktionen von selbst in den Bereich der Arbeit. Schematisches Spezialistentum ist nicht mehr möglich.“ (Ch.A., S.362)

Betritt man das Gebiet des Lebendigen, so verlassen wir gleichzeitig den Bereich der Wortsprache denn „Das Lebendige funktioniert nicht nur vor und jenseits der Wortsprache; es hat überdies seine eigene Ausdrucksformen der Bewegung, die mit Worten überhaupt nicht zu fassen sind.“ (Ch.A., S.363)

Es drückt sich in Bewegung aus, ist also im wörtlichen Sinne eine Ausdrucksbewegung. So, und nicht in einem psychologischen Sinne, ist E-Motion (Herausbewegung) zu verstehen.

Die Arbeit

Es bedarf der Fähigkeit des Therapeuten sich in dieser Welt zu bewegen, den Bewegungsausdruck jeder E-Motion im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Wesentliches Verständigungsmittel im Kontakt mit diesen Emotionen des Menschen ist die Imitation oder auch Organempfindung bzw. vegetative Identifikation, die Fähigkeit des Therapeuten durch den ungestörten energetischen Kontakt zum Klienten im eigenen Körper nachzuempfinden, welche Bedeutung das von ihm Ausgedrückte hat. Es geht nicht um die Analyse von Verspannungen einzelner Muskelpartien, noch um das psychologische Erhellen der damit verknüpften Inhalte, sondern um die Erfassung des Gesamtausdruckes eines Menschen.

Worte sind dabei von untergeordneter Bedeutung, oftmals verdecken sie sogar die Ausdruckssprache des biologischen Kerns.

Reich schreibt: „Die Kranken kommen zum Orgontherapeuten voll von Nöten. Diese Nöte sind für das geübte Auge an den Ausdrucksbewegungen und dem Bewegungsausdruck ihres Körpers direkt abzulesen. Lässt man die Kranken nun nach Belieben sprechen, so stellt man fest, dass ihr Reden von den Nöten wegführt, sie in dieser oder jener Weise verhüllt. Will man zu einer korrekten Entscheidung kommen, so muss man den Kranken dazu verhalten, vorerst nicht zu sprechen. Diese Maßnahme erwies sich in hohem Grade fruchtbar.

Denn sobald der Kranke nicht mehr redet, tritt der körperliche Bewegungsausdruck klar hervor. Nach wenigen Minuten Schweigens hat man gewöhnlich den plasmatischen Bewegungsausdruck erfasst. Scheint der Kranke, während er sprach, freundlich zu lächeln, so verwandelt sich im Schweigen das Lächeln in ein leeres Grinsen, an dessen maskenhaftem Charakter auch der Kranke selbst nicht lange zweifeln kann….“ (Ch.A., S.364)

Diese weitgehende Ausschaltung der Wortsprache „zwingt“ den Klienten dazu, sich biologisch auszudrücken: „Derart führt sie ihn in die Tiefe, die er stets flieht.“ (Ch.A., S.365)

Lässt sich bei der Arbeit an den ersten drei Segmenten noch ein in die Wortsprache zu übersetzender Ausdruck beschreiben (z.B. im Kiefersegment die augenscheinlich verhaltene Wut), so will dies ab der Lösung des Zwerchfellblocks nicht mehr gelingen. Wir berühren hier einen Bereich, der überindividuell ist und biologische Zusammenhänge mit dem Kosmos berührt.

Was jedoch sehr wohl unmittelbar ankommt, ist der Gesamtausdruck der Zurückhaltung beim gepanzerten Menschen.
So findet im Zuge des Therapieprozesses eine grundsätzliche Veränderung von der Zurückhaltung zur Hingabe statt, welche sich nicht nur in der Sexualität, sondern in allen Lebensbereichen ausdrückt.

Fortsetzung in BUKUMATULA 3/96

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Literatur:

Reich, W.: Charakteranalyse.(3. Auflage, 1949) Köln – Berlin, 1970
Reich, W.: Die Entdeckung des Orgons. Die Funktion des Orgasmus.
(2. Auflage, 1942) Köln – Berlin, 1977
Reich, W.: Äther, Gott und Teufel. Frankfurt/M., 2. Auflage, 1984
Köstler, A.: Der göttliche Funke. Bern/München, 1966

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