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Bukumatula 2/1993

Wilhelm Reich im Ausverkauf?

Zur Situation der Körper(psycho)therapie in Österreich
Wolfram Ratz:

Auch für das Wilhelm Reich Institut stand das Jahr 1992 im Zeichen der Folgen des neuen Psychotherapiegesetzes, das für Ausbildungsinstitute Ausbildungsrichtlinien mit sehr hohen Anforderungen vorgesehen hat. Seit Jahren steht das Thema „WRI-Wohin?“ – auch bezüglich der Schritte um eine gesetzliche Anerkennung – auf der Tagesordung der jährlichen Vollversammlung.

Die interne Diskussion um ein Engagement auf berufspolitischer Ebene geht viele Jahre zurück. Schon damls regte Peter Bolen die Gründung eines Dachverbandes für Körperpsychotherapie an, der dem bestehenden Dachverband psychotherapeutischer Vereinigungen gegenüberstehen sollte. Diese Idee wurde jedoch nie tatkräftig weiterverfolgt. Derzeit finden Absolventen von körperpsychotherapeutischen Ausbildungsvereinen bei Ansuchen um Aufnahme in die „Psychotherapeuten-liste“ aufgrund der nicht nachgewiesenen „Wissenschaftlichkeit“ der Methode keine Anerkennung. Und für einschlägige Ausbildungsinstitute wird aus gleichem Grunde – wie es derzeit absehbar ist – mit Schwierigkeiten bezüglich einer Anerkennung zu rechnen sein.

Die Gruppierungen die sich in Österreich den Ideen Wilhelm Reichs zur Psychotherapie angenommen haben, stammen aus verschiedenen Traditionen und haben bisher eher kontaktlos nebeneinander existiert.

Mit der Gründung und den Aktivitäten der EABP (European Association of Bodypsychotherapy) und durch die gesetzliche Regelung von Psychotherapie hat sich eine Arbeitsgruppe von Vertretern sämtlicher in Österreich bestehender körperorientierten Ausbildungsvereinigungen gebildet. Neben einer inhaltlich längst fälligen Auseinandersetzung werden auch mögliche Schritte betreffend die Anerkennung von Reichscher Therapie als wissenschaftliche Methode diskutiert.

Daß Wilhelm Reich, dem ersten Assistenten bzw. klinischen Direktor der psychoanalytischen Poliklinik und dem langjährigen Leiter des Technischen Seminars der Psychoanalytischen Vereinigung im Wien der zwanziger Jahre vom Psychotherapiebeirat die Wissenschaftlichkeit seiner Methode der „charakteranalytischen Vegetotherapie“ nicht zuerkannt wird, ist jedenfalls derzeit ein (vereins)politisches Faktum.

WILHELM REICH 1930 BZW. 1950

Nach dem Psychoanalytischen Kongreß in Berlin nahm das von Sigmund Freud 1922 in Wien initiierte „Technische Seminar“ seine Arbeit auf, das von Wilhelm Reich von 1924 bis 1930 geleitet wurde. Freuds Problemstellung, an deren Lösung man im Seminar arbeitete, läßt sich zu zwei Fragen umformulieren: _Die erste Frage war: Was bedeutet eigentlich ‚Heilung‘ in der psychoanalytischen Therapie? Die zweite: Wann gelingt die Heilung? Oder besser: Warum gelingt die Heilung so oft nicht?

Zehn Jahre dauerte es, bis Reichs „Charakteranalyse“, diese Probleme zugänglich machte. Die Entwicklung von Orgasmustheorie und charakteranalytischer Therapie, die zeitlich parallel stattgefunden hat, führte Reich, nicht unerwartet, in den somatischen Bereich. Die von ihm „Vegetotherapie“ genannte Technik bezeichnete Reich als „… die Antwort auf die Fragestellung der Psychoanalyse von 1922“.

Dadurch, daß Reich das Libidokonzept Freuds konsequent weiterverfolgte, begann Reich in seiner Forschungstätigkeit sich mehr und mehr mit energetischen Phänomenen auseinanderzusetzen, die schließlich in seiner „Orgontheorie“ ihren Ausdruck fanden und die er konsequenterweise auch in sein therapeutisches Handeln einfließen ließ.

Über ein Umstrukturierieren von Denken und Handeln schreibt der ’späte‘ Reich in seinem 1949 erschienen Buch „Äther, Gott und Teufel“: „Ist die Panzerung völlig gelöst, so werden orgonotische Strömungsempfindungen lustvoll erlebt. Dadurch verändert sich alles Reagieren in so grundsätzlicher Weise, daß man von zwei einander fremden und wesentlich andersartigen biologischen Zuständen sprechen darf.- Wo eine Veränderung gelingt, gehen mit ihr auch fundamentale Veränderungen der Organempfindungen einher; und mit den Organempfindungen verändert sich das gesamte ‚Weltbild‘ rasch und radikal.“ (W. Reich, „Äther, Gott und Teufel“, Seite 60, Nexus Verlag, 1984)

Wilhelm Reich hat über die Psychologie bzw. die Biologie des Menschen sehr radikale Entwürfe vorgelegt; die Diskussion darüber, ob nun der Reichsche Ansatz tiefenpsychologisch oder energetisch zu verstehen ist, geht jedenfalls schon Jahre zurück und ist weiterhin im Gange.

ZUR THERAPEUTISCHEN PRAXIS
Energie- vs. tiefenpsychologische Arbeit

In der EABP sind derzeit mehr als dreißig(!) reichianische bzw. neoreichianische Vereinigungen vertreten, deren (Ausbildungs)schwerpunkte auf psychologischer und/oder energetischer Ebene liegen.

Wer weiß denn tatsächlich noch, wie der Reich der zwanziger Jahre bzw. der „Äther, Gott und Teufel“-Reich der Orgonomie therapeutisch gearbeitet hat und wer mag behaupten, ob dieser oder jener in seiner Arbeit effizienter war?

Myron Sharaf, der von 1948 bis 1954 Mitarbeiter Reichs in Orgonon war und als einer von wenigen Mitarbeitern selbst von Reich therapiert wurde, schreibt in seinem Artikel „Einige Äußerungen von Reich aus dem Jahr 1948“: „Reich selbst ging in der Therapie fließend von nonverbalen biophysikalischen Reaktionen zu psychologischen Erfahrungen über und umgekehrt (Dezember 1948). Nachdem Reich einiges unbewußte Material interpretiert hatte, sagte er einmal: ‚Siehst du, das ist gute Psychoanalyse. Unsere Therapie ist mehr als nur Arbeit mit den Muskeln“.“ (EMOTION Bd. 10, 1992, S. 53, 62).- Sharaf selbst deklariert seine therapeutische Arbeit als „Integration von analytischen und Reichschen Ansätzen“.

Tatsächlich ist Reichsche Körpertherapie – auch dreißig Jahre nach Reichs Tod – immer noch Pionierarbeit, für die es wenige Autoritäten bzw. Orientierungshilfen gibt.

Im Ringen um seine therapeutische Identifikation schreibt Volker Knapp-Diederichs 1989 in seinem Artikel „Das Kind mit dem Bade oder: Körpertherapie als funktionelle Orgonomie“:
„Über eines bin ich mir klargeworden: Der Scheideweg von psychologischem und energetischem Ansatz in der Körpertherapie ist nicht irgendeine theoretische Spitzfindigkeit, kein kleinlich-reichianischer Dogmatismus und kein Rettungsversuch der ‚reinen Lehre‘. Er ist ein konkreter Ausdruck davon, wie bahnbrechend der Gang der Körperarbeit und vor allem der Körperarbeit auf orgonomischer Grundlage war und ist. Und ebenso ein Ausdruck davon, wie verführerisch der bequeme Weg in die Fahrwasser der traditionellen Psychotherapie – vielleicht mit körpertherapeutischen Akzenten – lockt.“ (Ströme Bd. 3, Seite 27, 1989. )

Im redaktionellen Teil der im Herbst 1992 erschienenen Ausgabe von EMOTION, Bd. 10, ist beim selben Autor jedoch nachzulesen: „Das STRÖME-Zentrum (Praxisgemeinschaft reichianischer bzw. neoreichianischer Therapeuten in Berlin, Anm. d. Verf.), das inzwischen seit sechs Jahren existiert und entsprechende personelle Veränderungen mitgemacht hat, ist immer noch eine wichtige Anlaufstelle für neo-reichianische Methoden, wenn auch nicht mehr alle Mitarbeiter so deutlich an Reichscher Arbeit orientiert sind, wie in der Anfangsphase.- Hier spiegelt sich deutlich eine Entwicklung wider, die sich auch anderswo beobachten läßt: eine allmähliche Abkehr von der biologisch-energetischen Körperarbeit, ein Trend zu Vermischungen und Integration der Reichschen Arbeit mit anderen psychotherapeutischen Methoden, schlichtweg die Entwicklung hin zu einer Körperpsychotherapie oder sogar zur ‚Psychotherapie mit körpertherapeutischen Elementen-„.

Aus persönlicher Sicht meine ich, daß die Teilung zwischen dem psychologischen und dem energetischen Reich aus mancherlei (z.B. pragmatischen) Gründen von Interesse sein kann, behaupte aber, daß in der therapeutischen Praxis niemand an diesem und/oder jenem tatsächlich vorbeikommen kann. Einen Körpertherapeuten, der sich auf das energetische Konzept Reichs beruft und dem der Reich der Charakteranalyse fremd ist, kann ich mir in seiner Arbeit jedenfalls nicht vorstellen.

„ES GIBT ZWAR NUR EINE WAHRHEIT, ABER DIE HAT VERSCHIEDENE GESICHTER“

Es gibt zwar nur eine Wahrheit, aber die hat verschiedene Gesichter. Um das auf die Reichsche Therapie umzulegen: Wilhelm Reichs Ideen zur Therapie der zwanziger Jahre sind in diesem Sinne genauso wissenschaftlich, wahr und im Recht, wie die Wilhelm Reichs der fünfziger Jahre.

Wozu also die Debatte, gäbe es da nicht noch einen Absatz in „Äther Gott und Teufel“, der an dieser Stelle nicht vorenthalten bleiben soll: „Es gibt über eine und dieselbe Tatsache nur EINE Aussage, die objektiv richtig ist; es gibt nicht zehn verschiedene Richtigkeiten. Die Frage nach der Herkunft der Energie der Biopathien läßt nur eine einzige und nicht zehn Antworten zu: Die Energie der biopathischen Reaktionen stammt aus aufgestauter biologischer sexueller Energie. Es gibt wohl verschiedene Schichten oder Stufen in der Entwicklung einer Biopathie. Es kann verschiedene Wege geben, zu dieser einen Antwort zu gelangen. Aber es gibt auch ein Gemeinsames, die Grundfunktion der Energiestauung. Die Details mögen variieren, je nach besonderer sozialer Situation oder kindlichem Erlebnis. Doch das, was alle Details, sie mögen noch so verschieden sein, zusammenhält und als biopathische Verbiegung der Lebensfunktion grundsätzlich zum Ausdruck bringt, ist immer wieder nur die Stauung der biologischen (biosexuellen) Energie und der Panzerung. Diesem unausweichlichen Schluß wird sich auf die Dauer trotz aller Anstrengungen keine medizinische Wissenschaft entziehen können.“ (Seite 60, 61).

WISSENSCHAFTLICHKEIT UND ANERKENNUNG

„Dokumentation der besonderen Therapierichtungen und natürlichen Heilweisen in Europa“ ist das mehrere tausend Seiten umfassende Werk, das im Auftrag des niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr im Auftrag der deutschen Bundesregierung zur Empfehlung für die EG-Komission im letzten Jahr ausgearbeitet wurde. In dieser Dokumentation (2. Halbband des 1. Gesamtbandes) ist die „Vegeto-/Orgontherapie“ unter dem Titel „Ganzheitliche Medizinsysteme“ vertreten.

Während also zumindest in Deutschland die Vegeto-/Orgontherapie von der Medizin als ‚besonderes Heilverfahren‘ anerkannt ist, findet sich der Reichsche Ansatz meines Wissens nach als Psychotherapie nirgendwo legalisiert vertreten „…» und sollte auch nirgendwo vertreten sein“ meinte zumindest Heiko Lassek in einem Vortrag im Oktober letzten Jahres in Wien: „Ich halte es für eine Sackgasse, daß sich die an Reich orientierten Therapien jetzt als körperorientierte Psychotherapien zu bezeichnen beginnen. Reichsche Arbeit setzt doch am biologischen Fundament an, wo der menschliche Organismus noch nicht in Körper und Psyche geteilt ist.“

Für eine Anerkennung als psychotherapeutische Ausbildungseinrichtung sind dem Bundesministerium für Gesundheit neben der Erfüllung von formalen Kriterien ein detailiertes methodenspezifisches Ausbildungscurriculum, bzw. entsprechende Unterlagen über Zahl, Bestellung und Qualifikation des erforderlichen Lehrpersonals, etc., vorzulegen. Diese Informationen dienen vorab als Entscheidungsgrundlage für die Erstellung eines gesetzlich vorgeschriebenen Gutachtens durch den Psychotherapiebeirat.

In erster Linie geht es beim Anerkennungsverfahren um die Ermittlung von psychotherapeutischen Methoden, die praktisch erprobt wurden, eine wissenschaftliche Fundierung entwickelt haben und international verankerten Standards entsprechen. Eine Anerkennung ist mit der „Bewährung“ der Methode eng verbunden.

„Jede psychotherapeutische Methode basiert auf kommunikativen Vorgängen und unverzichtbaren verbalen Austauschprozessen, die über die Beeinflussung der psychischen Ebene (Erleben, Bewußtsein, emotionale und kognitive Prozesse, Motivationsprozesse) zu einer konstruktiven Veränderung von Krankheitssymptomen und Leidenszuständen und zu einer Neuorganisation des Erlebens und Verhaltens führen.“- Körperorientierte Ausbildungseinrichtungen, die in Österreich um eine Anerkennung bemüht sind, werden sich diesem Gesetzestext entsprechend jedenfalls zu deklarieren haben.

Es ist schwer vorstellbar, daß Körperpsychotherapie auf Dauer von der Gesetzgebung ausgeschlossen bleiben wird. Ob für eine gesetzliche Anerkennung aber nicht auch wesentliche, Reichs Menschenbild betreffende Ideen „verkauft“ werden (müssen), mag an dieser Stelle vorläufig unbeantwortet bleiben.

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