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Bukumatula 2/2005

Es gibt eine Schuld, die trägt man, ohne dass man schuldig ist

Gespräch mit Kitty und Wolfgang Karner
von
Beatrix Teichmann-Wirth:

Gedenkjahr 2005, nochmaliges Auftauchen der Bilder von Vernichtung und Terror und eine Konfrontation mit Unbegreiflichem, wie kann das geschehen, dieses Gemetzel und die Herabwürdigung – keine Verbindung dazu, was soll ich da schreiben. Wilhelm Reich hat viel dazu gesagt, über die Massenpsychologie des Faschismus, die Bedingungen, welche dazu führen, dass dies geschieht, was geschehen ist.

Und auch: wie leben diejenigen damit, welche überlebt haben, findet Heilung statt, kann eine derart tiefe Wunde heil werden? Vor allem aber: wie leben wir Töchter und Söhne von Tätern und Opfern mit diesem Erbe…..
Da hab ich an Kitty und Wolfgang Karner gedacht – sie Jüdin, 1950 als Tochter jüdischer Kommunisten geboren, Wolfgang, 1940 in den Krieg hineingeborener Sohn eines Wehrmachtsoffiziers. Kitty und Wolfgang, verheiratet miteinander seit 25 Jahren, zwei gemeinsame Kinder.

Das hat mich interessiert, wie aus dieser beider so verschiedenen Wurzeln ein Gemeinsames, Versöhntes werden konnte. Und ich wollte ein Gespräch führen. Sogleich kam mir vieles in den Sinn, was uns drei verbindet: zuallererst unsere Liebe zu Wilhelm Reich, Kitty und Wolfgang ausgebildet in Biodynamischer Psychotherapie, ich in Vegetotherapie beim Wilhelm Reich Institut.

Kennengelernt hab ich Wolfgang im Zuge einer Forschungsarbeit über die Psychotherapie in Österreich, da suchte ich ihn auf, in seinem Ministeriumsbüro, ein sehr entspannt wirkender Beamter, der mir da in warmherziger und anregender Weise über die AIKE erzählte. Kitty traf ich dann bei einer Festveranstaltung im Palais Eschenbach im Jahre 1986, wir beide am Podium sitzend, ja, jetzt fällts mir ein, ich sprach zum Thema „Die Kinder der Zukunft“ – über die Freundschaft von Reich und Summerhillbegründer A.S. Neill.

Da ist sie mir aufgefallen, wie sie in einem mir ähnelnden Enthusiasmus über Pierrakos, ihren Lehrer sprach, die Kitty. Und dann traf ich Wolfgang wieder vor etwa 10 Jahren, vom Krebs gezeichnet und knapp bevor auch bei mir Krebs festgestellt wurde. Auch das verbindet uns drei – die Krebserkrankung.

Was vielleicht aber am wichtigsten ist: wieder trafen wir einander vor nunmehr 3 Jahren im Jüdischen Museum, Bert Hellinger hielt dort ein Aufstellungsseminar zum Thema „Täter – Opfer-Versöhnung“, da haben die beiden eine Aufstellung gemacht zu ihren Familienkonstellationen, daran hab ich mich erinnert, jetzt im Gedenkjahr.

So machte ich mich gemeinsam mit Thomas, meinem Mann auf den Weg nach Klosterneuburg am Samstag vor Pfingsten, um ein Gespräch dazu zu führen. Und ehe ich noch das Aufnahmegerät einschalten konnte, waren wir schon mittendrin im Erzählen: dass Miriam, die Tochter und Aaron, der Sohn den Christbaum in Frage stellten, die religiösen jüdischen Wurzeln wieder aufzugreifen begannen – Aaron die BarMitzwa von sich aus wollte, wie wenn es den Puffer einer Generation bedurfte, um zu wagen, sich in den religiösen Wurzeln jüdischer Herkunft wieder zu finden.

Alsbald merkte ich, dass es hier in diesem Gespräch nicht um ein analytisches Ergründen geht, wo aus dem Gehörten sogleich Theorien abgeleitet werden – nein, einfach Zuhören, tiefes Zuhören war gebraucht, ohne Einmischung, die Geschichte sich erzählen lassen, wie sie sich erzählen will – anfangs mischten sich noch Gedanken ein: aber was ist denn hier der Zusammenhang zu Reich?- Aus dem Wunsch, ein Interview zu machen, ereignete sich also das, was Bernhard Glassmann „Zeugnis ablegen“ nennt – im Hintergrund noch ein leiser Zweifel, ob das wohl genügt – die je eigene Geschichte noch mal zu erzählen – Zeugnis ablegen.

Das Gespräch zeugt davon, wie sich – in „Täterfamilien“ – uneingestandene Angst und Schuld in Terror und Gewalt wandelt und damit eine ganze Familie in Angst und Schrecken hält, und es zeugt davon, wie – in „Opferfamilien“ – ein „Nicht-Fühlen-Können“ von jenem ungeheuren Schmerz über die Vernichtung ganzer Familien die Trauer an die Nachkommen weitergeben läßt, welche sie dann tragen. Es zeugt davon, wie schwierig es für beide – Täter wie Opfer – angesichts des Getanen und Erlittenen ist, das Leben voll zu leben und wie dies auch weitergegeben wird an uns. Das ist das Erbe: „Eine Schuld zu tragen, ohne daß man schuldig ist“.

Beatrix: Ich möchte Euch fragen, wie ihr mit dem Gedenkjahr 2005 lebt, ob das in einer bestimmten Weise eine neuerliche Konfrontation war mit eurer Herkunft und Geschichte, ob euch das berührt hat. Es gab ja sehr viel Konfrontation mit den Bildern in den verschiedenen Sendungen, oder ist das für euch ohnehin in eurem Leben so integriert, dass es eine weitere Aufarbeitung oder ein Konfrontieren gar nicht braucht?

Wolfgang: Es ist schon eine Fülle von Informationen, die da hereinbricht, sowohl visuell als auch über alle möglichen schriftlichen Medien. Für mich war es schon so, dass die Zeit meiner Kindheit wieder auflebte. Ich bin ja 1940 geboren und habe noch sehr viel von der Kriegs- und Nachkriegszeit mitbekommen, das Kriegsende 1945 vor allem und der Staatsvertrag 1955 waren für mich einschneidende Erlebnisse, als Vierjähriger und als Vierzehnjähriger.

B: Kannst du über deine spezielle Situation in deiner Herkunftsfamilie erzählen?

W: Ich bin als Ältester von sieben Kindern in verschiedenen Osttiroler Dörfern, zuletzt in Lienz aufgewachsen, Orten, in denen mein Vater als Lehrer ab 1938 tätig war. Mein Vater, 1904 geboren, stammte aus einer kinderreichen erzkatholischen Bozner k.k.-Post-Beamtenfamilie und war die Jahre vorher lange arbeitslos gewesen, nachdem er 1932 unter Mussolini seine Stelle als Lehrer in Sexten, Südtirol verloren hatte.

Eine Versetzung als Lehrer nach Kalabrien hatte er abgelehnt und lange vergeblich versucht, an einer Schule in Österreich unterzukommen. Bis er – als Mitglied des NS-Lehrerverbandes nach dem Anschluß 1938 – eine Stelle als Volksschulleiter in der Pustertaler Gemeinde Abfaltersbach erhielt, hatte er sich als Knecht auf dem Bauernhof seines Onkels in Nordtirol durchgeschlagen.

1940 heiratete er meine um 13 Jahre jüngere Mutter, die damals am Klagenfurter Krankenhaus arbeitete – Osttirol gehörte in der Nazizeit zum „Gau Kärnten“. Als uneheliche Tochter einer slowenischsprachigen Buchhalterin aus dem Kärntner Rosental und eines Gastwirtsohnes aus dem ab 1919 italienischen Kanaltal geboren, als der Erste Weltkrieg noch nicht aus war, war sie als Kleinkind ins Waisenhaus gekommen, nachdem sie ihre Mutter verloren hatte als sie ein Jahr alt war, und ihr Vater sie verleugnete.

Als Sechsjährige holte sie eine Bergbäuerin nahe St.Veit an der Glan als „Hiatamadl“ aus dem Waisenhaus, weil sie sich von allen rachitischen Kindern noch am besten auf den Beinen halten konnte. Mit 16 floh sie vom Schweinehüten am Bauernhof in eine Klosterschule und fühlte sich dort das erste Mal als vollwertiger Mensch behandelt.- In Osttirol waren beide Fremde: der Schulleiter als überzeugter Nationalsozialist im konservativ-monarchistisch-katholischen Osttirol ein Außenseiter – und auch aufgrund seiner Persönlichkeit eher geduldet als respektiert, und seine Frau konnte als Kärntnerin nur zu wenigen Leuten einen guten Kontakt bekommen.

1941 wurde mein Vater zur Wehrmacht einberufen, zuerst als Verbindungsoffizier zur italienischen Armee am Balkan und später als Truppenoffizier an die Ostfront; ab Ende 1944 war er vermisst und kehrte im Herbst 1946 als schwer Magenkranker aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Als NS-Belasteter wurde er jedoch erst nach einem Jahr wieder in den Schuldienst aufgenommen.

B: Wie habt ihr als Kinder diese Zeit erlebt?

W: Als Ältester von damals drei Kindern bekam ich in der Kriegszeit alles mit, was meine Mutter an täglichen Sorgen hatte. Und ich erleichterte ihr die Sorgen, indem ich ihr half, so gut ich konnte, Wege abnahm, auf meine Geschwister aufpaßte – Fotos aus dieser Zeit zeigen einen ernsten Jungen mit einer tiefen Sorgenfalte zwischen den Augen.- Der Vater war ja nicht anwesend, obwohl von ihm viel die Rede war. Bei den wenigen Heimaturlauben nimmt er Gestalt an: ein Offizier in schwarzen Stiefeln, mit Offiziersmütze und Uniform, laut und `waffenklirrend´, vor dem habe ich Angst, und ich verstecke mich hinter der Tür.

Und er holt mich heraus, hebt mich hinauf, lacht mich aus wegen meiner Angst, und ich zittere am ganzen Körper, aus Angst und Lust zugleich. Ich zittere und gleichzeitig schaue ich zu ihm auf, bewundere ihn. Als er sich 1944 das letzte Mal von uns an die Front verabschiedet, nimmt er für die bevorstehende Feier des Endsiegs eine Flasche Sekt mit.- Der Krieg war in diesem Osttiroler Dorf weit weg, für uns Kinder angreifbar, nur dann vorstellbar, wenn wir im Gasthaus die Wochenschau mit Marschmusik und Kanonendonner und Siegesmeldungen sahen – und dann wieder unheimlich, wenn wir das Weinen und Flüstern von Frauen bemerkten und ihre von Trauer und Furcht vollen Augen.

Hinter Kanonendonner und Marschmusik war etwas Unheimliches, das mit Grauen und Tod zu tun hat. Ich verstehe es nicht, und irgendwie verstehe ich doch.- Das Ende des Kriegs war für unsere Mutter und uns Kinder eine große Erleichterung, obwohl die Familie von der englischen Besatzungstruppe aus dem Schulhaus delogiert wurde und es nicht sicher war, wovon wir leben sollten, weil der Vater vermißt war. Auch wenn wir oft hungerten und von einem Tag auf den anderen nicht wußten, wie es weitergeht: Mutti vermittelte uns, dass es geht.

Sie redet mit den Bauern im Dorf, sie geht mit uns Kindern auf die Felder, um übriggebliebene Kartoffel zu sammeln oder Rüben oder Löwenzahn, irgend etwas hatten wir immer zu essen. Ich erinnere mich: Fleisch gab es in dieser Zeit nur manchmal in Form von Flachsen in der Kartoffel- oder Kohlsuppe. Aber wenn arme Leute, Flüchtlinge an unsere Tür klopften, kriegten auch die immer etwas und wenn es nur Briefmarken waren.- Als die Nachricht kam, dass der Vater lebt und in russischer Kriegsgefangenschaft ist, waren wir glücklich und schauten optimistisch in die Zukunft. Wenn er zurückkommt, sind alle Probleme gelöst!

Er kam zurück: schon Ende 1946 mit einem der ersten Heimkehrerzüge aus Rußland. Vom Krieg gezeichnet, krank, abgemagert. In der Familie nahmen alle auf ihn Rücksicht, er bekam das Beste, wird so gut es geht aufgepäppelt. Doch er reagierte seine gesellschaftliche Zurücksetzung – Verlust der Schulleiterstelle und des Gehalts, ein Jahr arbeitslos im Zuge der Entnazifizierung – in der Familie ab. In Form von Beschuldigung und Streit, in Form von Terror und Gewalt gegen seine Frau und die Kinder.- Als Ältester bekam ich da am meisten ab an Kränkung und Gewalt und reagierte mit Trotz und Rückzug darauf, dass der Vater erwartet, Kinder hätten widerspruchslos wie Soldaten zu parieren, was immer ihnen befohlen wird. Die harmonische vaterlose Familie war mit dem Auftauchen des Vaters zerstört.

B: Das ist typisch wie ein Trauma weitergegeben wird. Er dürfte ein schweres Trauma erlitten haben; er kommt zurück und gibt das Trauma weiter.

W: Wobei die Erwartung aber die war: Der Vater kommt zurück und löst alle Probleme, vor denen wir stehen. Die äußeren Probleme waren lösbar, die Konflikte in der Familie nicht. Seine Hilflosigkeit und seine Überforderung hat er regelmäßig gegen die Familie ausagiert. Die Mutter war zunehmend physisch und psychisch überfordert: Geldmangel, vier weitere Kinder in relativ kurzen Abständen geboren, Gehirntumor und Tod des fünfjährigen Sohnes, ließen die Situation ausweglos erscheinen, so daß sie nahe am Suizid war.

Mitten im kalten Winter, bei minus 20 Grad, war sie eine Zeit lang unauffindbar. Ich habe sie dann im Wald gefunden und sie zum „Bleiben“ überredet. Auch für mich spitzte sich die Situation zu: Obwohl ich immer wieder, wenn ich „nicht folgte“, vom Vater geschlagen und in den Keller gesperrt wurde und mich dann auf Zureden meiner Mutter „vernünftig“ unterwarf, „um Verzeihung für den Ungehorsam“ bat, eskalierte die Konfrontation mit dem Vater auch noch dadurch, dass ich ihn zwei Jahre als Lehrer in der Volksschule hatte.

Meine Mutter hat mich dadurch gerettet, dass sie darauf bestand, dass ich ins 30 km entfernte Lienz in das Gymnasium kam. Dadurch konnte ich mir meine eigene, von daheim unabhängige Welt bauen. Mit 16 wurde es allerdings noch einmal dramatisch, als die ganze Familie nach Lienz übersiedelte, nachdem mein Vater dort eine Stelle als Lehrer an der Hauptschule antrat.

Kitty: Da gibt es eine Geschichte, die für mich so einprägsam ist, also nicht nur die Gewalt, sondern auch die Feigheit des Vaters: Wolfgang hat ja ab 13, 14 selbst sein Geld verdient….

W: …. alles was ich so gebraucht habe, habe ich durch Geben von Nachhilfestunden – täglich zwei bis drei Stunden im Konvikt in Lienz oder in privaten Heimen – und durch Ferialarbeit selbst verdient. Ich habe mich auf meine eigenen Füße gestellt. Mir war es sehr wichtig, von daheim nicht abhängig zu sein und den Konflikten mit meinem Vater nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Die trotzdem immer wieder sehr angespannte Situation entlud sich eines Tages, ich war 16, in einem Eklat: Aus heiterem Himmel fing ich von meinem Vater eine offensichtlich ungerechte Watschen.

Meine Reaktion war ungestüm, ich schnappte ihn mir – ich war inzwischen größer als er – schüttelte ihn und warf ihn mit aller Gewalt gegen die Wand. In dem Moment, als ich ihn vor mir liegen sah, wurde mir bewußt, dass ich ihn beinahe erschlagen hätte und ließ von ihm ab, setzte mich in mein Zimmer zu den Schulaufgaben und ließ mich stoisch, ohne eine Reaktion, von ihm mit einem Stock schlagen bis er nicht mehr konnte.

Auf Grund dieses Vorfalls verbot mir mein Vater beim Schulschikurs mitzufahren, zu dem ich mich bereits angemeldet hatte. Darauf wurde mein Vater zu einem Gespräch mit dem Direktor eingeladen. Vor dem Direktor hat er dann behauptet, dass er es mir nie verboten hätte. Das war für mich so eine Bloßstellung, eine Zerstörung der mühsam aufgebauten eigenen Welt, dass ich mit dem Vater mehrere Jahre lang nichts mehr geredet habe.- Dass ich dann zunächst Jus studiert habe, mich in der 68er-Studentenbewegung engagiert habe, die Gesellschaft von Ministerien aus verändern wollte, mich für Wilhelm Reich begeisterte und schließlich die AIKE (damals „Arbeitskreis für individuelle und kollektive Emanzipation„) mitbegründet habe und selbst Psychotherapeut geworden bin, hat sicher mit dieser Familienerfahrung zu tun.

B: Und hat dann je eine Versöhnung mit deinem Vater stattgefunden?

W: Als ich das erste Mal verheiratet war – inzwischen beruflich erfolgreich und selbst Vater – und meine Eltern zu Hause besuchte, habe ich vergeblich versucht, mit meinem Vater ein Gespräch darüber zu beginnen, was zwischen uns zwei in meiner Kindheit und Jugend passiert ist. Das Gespräch kam aber nie zustande: ich wollte eine Entschuldigung, er wollte Hilfe vom Dr. jur. in Alltagsangelegenheiten. Diese habe ich ihm verweigert.

Zu seinen Lebzeiten konnte eine Versöhnung mit ihm nicht stattfinden, meine Verachtung für ihn war zu groß. Als er 1973 an Haut und Magenkrebs starb, hat mich dies völlig unberührt gelassen. Mein Leitsatz blieb lange, nie so zu werden wie mein Vater, und es hat einige schmerzhafte Therapieerfahrung gebraucht für mich zu akzeptieren, dass ich in einigen Bereichen so war wie mein Vater. An meiner Unfähigkeit mit meiner eigenen Verletzlichkeit und Aggressivität adäquat umzugehen, ist auch dann meine erste Ehe zerbrochen.

B: Also da gibt es etwas, was sich in Dir verkapselt und verhärtet hat.

K: Ich möchte das so sagen, auch aus der Erfahrung des Zusammenlebens: Wenn man verletzt wird, ist die erste Reaktion Dichtmachen und Rückzug, ein Automatismus, um kein Gefühl haben zu müssen, um die Verletzung nicht mehr spüren zu müssen….

B: ….weil der Schmerz zu groß wäre.

W: Offen zu sein hätte für mich als Kind Vernichtung bedeutet; ich habe mich verhärtet und unverletzlich gemacht. Ich glaube, dass meine Geschwister auf die große systemische Belastung in unserer Familie unterschiedlich reagiert haben: Zwei jüngere Brüder, drei und sieben Jahre jünger, beide ganz offene Wesen, sind an Gehirntumor gestorben.

Der eine ist mit 5 Jahren, der andere mit 17 Jahren verstorben. Ich meine, dass sie für die Familie etwas ausgetragen haben; sie haben die Konflikte und die Lieblosigkeit nicht ausgehalten. Meine, um ein Jahr jüngere Schwester trat ins Kloster ein und hat sich Jesus geweiht, eine andere Schwester war zeitweise suizidgefährdet, und auch die Krankheitsbilder meiner beiden lebenden Brüder deuten auf systemische psychosomatische Zusammenhänge hin.

B: Hat dann eine Versöhnung innerlich stattgefunden? Ihr habt ja auch Familienaufstellungen gemacht, da geht es um das Annehmen des Vaters und der Mutter.

W: Also bei meiner Mutter hatte ich damit auch in der Realität keine Schwierigkeiten, weil das Bemühen um Verstehen auf beiden Seiten immer vorhanden war – bei allen unüberbrückbaren Differenzen, die vor allem mit Religion und meinem Austritt aus der katholischen Kirche zu tun hatten. Allerdings hat eine Familienaufstellung meine Beziehung zur Mutter sehr entlastet, weil ich für sie in ihrer Bedürftigkeit als elternloses Kind einiges an Belastung getragen habe.

Diese Last war für mich in dem Augenblick leichter, als sie in der Aufstellung ihre eigene Mutter gefunden hatte. Und anstelle ihres leiblichen Vaters hatte sie sich schon lange Gott-Vater anvertraut, so dass sie in der Lage war, ihr schwieriges Los anzunehmen und ihre mit vielen Schmerzen verbundenen letzten Jahre ohne Klagen zu ertragen.- Die Aussöhnung mit meinem Vater war schwieriger.

Als vor zwei Monaten meine Mutter gestorben ist, habe ich nach dem Begräbnis am Grab einige Worte im engeren Familienkreis gesprochen. Plötzlich ist mir bewußt geworden, dass ich nur auf die Grabstelle meiner Mutter und nie auf die meines Vaters daneben geblickt habe. Ich habe dann gesagt, dass es mir weh tut, nicht zu ihm hinschauen und ihn nicht ansprechen zu können, und dass ich ihm die Achtung, um die er zeit seines Lebens so gekämpft hat, nie gegeben habe.

Und dass er Achtung für sein Schicksal verdient, auch wenn manche seiner Handlungen uns unverzeihlich scheinen. Es war für mich und für die Familie erlösend, dies offen auszusprechen. Vielleicht ist es Teil von Versöhnung mit dem Vater, ihn einfach zu sehen, dass er vor uns war und weitergab, was er erhielt, und wie er mit uns war, in seinem Bemühen und in seiner Beschränktheit. Eine späte Aussöhnung.

B: Jetzt erst?

W: Erst jetzt! Jetzt bin ich 64. Die Aussöhnung mit meinem Vater ist in mühsamen, kleinen Schritten vor sich gegangen und ich weiß nicht, ob sie heute schon abgeschlossen ist.- Der erste Schritt war sicher jener vergebliche, das Gespräch mit ihm zu suchen, solange er noch gelebt hat. Der zweite kam eher unerwartet auf mich zu, weil er von mir aus nicht in Richtung Vater intendiert war, sondern als Auseinandersetzung mit meinen Defiziten gedacht war, wie meiner Sozialangst und der Unfähigkeit, mit meinen aggressiven Gefühlen umzugehen. In meinem ersten Bioenergetik-Marathon kam ich über einfache Aggressionsübungen dazu, meinen Vater zu erschlagen dafür, was er mir angetan hat.

Den Schmerz dann zu spüren, dass ich ihn als Vater nicht gehabt habe, zu weinen und die Sehnsucht nach einem liebevollen Vater zu empfinden. Das war für mich ein wichtiger Durchbruch, der mich wieder liebesfähig gemacht hat und mir den Zusammenhang bewußt machte, der zwischen unterdrückten Gefühlen und der Unfähigkeit zu lieben besteht. In langjähriger therapeutischer Arbeit sind mir dann jene kontrollierenden Verhaltensmuster klar geworden, mit denen ich mich Autoritäten gegenüber zu schützen gelernt habe. Und schließlich habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, wie Herkunftsfamilie, soziales Umfeld, Krieg und Nationalsozialismus die Elterngeneration und insbesondere meinen Vater geprägt haben.

B: Also mein Vater lebt ja noch und ist als Siebzehnjähriger eingezogen worden, auch an die Russische Front. Er hat auch viel Grausames erlebt, hat andere Menschen erschießen müssen, um zu überleben, und er war einer von ganz wenigen aus seiner Truppe, die zurückkamen. Diese Angst und das Trauma nahm er mit – so war auch unser Aufwachsen geprägt von ständigem, vor allem energetisch spürbarem Terror.

Erst ganz spät habe ich erkannt, dass er zutiefst in einem Schrecken lebt; bisweilen hilft mir dieses Verständnis mit ihm zu leben, obwohl ich, wenn ich in seiner Nähe bin, große Mühe habe, nicht „angesteckt“ zu werden. Ich habe gesehen, dass er zutiefst traumatisiert ist, dass er sich nicht seine „Schuld“ eingesteht, die er darüber empfindet, was er getan hat. Dass er Menschen ermorden mußte, aus guten Gründen sozusagen, um sein eigenes Leben zu erhalten. Tatsächlich hat er Leben genommen, und ich denke, es ist schwer damit zu leben. Eigentlich wird er damit nicht fertig. Ich habe erkannt, wie Trauma wirklich weitergegeben wird. So bin auch ich traumatisiert – durch seine Unberechenbarkeit, das immer gegenwärtig Bedrohliche, Vernichtende und Gewaltsame.

Ich habe das ähnlich wie du gehandhabt, besonders als meine Zwillingsschwester sich in ihre Magersucht zurückgezogen und sich auf diese Art unantastbar gemacht hat; ich habe das so gelöst, dass ich auch die Elternfunktion übernommen habe. Es ist unglaublich schwer da herauszukommen und in einen heilsamen Dialog zu gehen. Womit ich in dieser Zeit so konfrontiert werde ist, wie sich das wirklich perpetuiert und die zweite Generation das sehr stark abbekommt, auch auf der Täter-Seite sozusagen, was sicher anders ist als als Nachkomme von Holocaust-Überlebenden; aber all diese Erfahrungen sind in unseren Zellen gespeichert und es fragt sich, wie da Heilung stattfinden kann, dass das nicht noch weiter und noch weiter geht. Vielleicht kann man darauf vertrauen, dass die Generation unserer Kinder das unterbricht.

W: Ich habe da große Hoffnung, wenn ich unsere Kinder und ihren bewußten Umgang mit uns und mit sich selbst anschaue. Ich habe von meinen Kindern schon sehr viel gelernt.

K: Als Wolfgang nach der Krebsoperation aus der Narkose aufgewacht ist und noch im Delirium war, hat er gesagt, dass er gerade einen Traum, einen Offenbarungstraum gehabt hätte: „Mein Krebs ist die ungelöste Geschichte mit meinem Vater“. Er hat geweint und gemeint: „Ich muß mich irgendwie aussöhnen, aber ich weiß nicht wie“. Wochen später organisierte ich für ihn eine Familienaufstellung.

W: In dieser Familienaufstellung ging es um meine Krebserkrankung. Das Lösungsbild war, dass wir Kinder ohne die Eltern zusammenstehen, weil wir die Eltern nicht als Eltern haben konnten. Sie waren einfach nicht fähig uns als Kinder emotional zu versorgen.

Es war befreiend, meinen Vater in seiner Unfähigkeit, Vater zu sein, zu sehen. Später haben wir noch eine Aufstellung mit Hellinger gemacht; dabei ist es zunächst um Kittys Krebserkrankung gegangen, wo Hellinger gesehen hat, dass Kitty etwas für mich „trägt“, dass ihr Krebs etwas zu tun hat mit dem, was sie in unserer Beziehung für mich getragen hat.

K: Das war zwei Tage nach der Entlassung aus dem Spital nach meiner Brustkrebsoperation. Er hat uns beide herausgeholt, hat ein paar Fragen gestellt und hat gemeint, dass er für Wolfgang aufstellen wird. Dabei kam heraus, dass der Vater belastet war. Zuerst hat er mögliche „Opfer“ auf den Boden gelegt.

Dann hat er vier Männer dahinter gestellt, von denen dann einer sofort eine Täterhaltung einnahm. Einen hat es ganz heftig geschüttelt. Der Vater hat ganz bewundernd zum Täter aufgeschaut. Wolfgang hat es dann zu den Opfern am Boden hingezogen, das war wie ein Sog.

B: So wie Sühne-Tun?

W: Es war tiefe Verbundenheit und ein Mitleiden mit den Opfern. Was da geschehen ist an Morden, war nicht zu ertragen. In mir tauchte das Bild des Janus Korzsak auf, der mit seinen Waisenhauskindern in die Gaskammer geht und ich das Schicksal mit ihm und seinen Kindern teile; nicht als Kind, sondern als Erwachsener.

B: Du nimmst das auf dich, könnte man sagen. Dein Vater hat Ausreden gesucht und nicht gesagt „das habe ich getan“, sondern er ist im Nichtwahrnehmen seiner Verantwortung geblieben und du hast das dann auf dich genommen.

K: Den einen, den es so geschüttelt hat, den hat es auch zu den Opfern gezogen, wobei er seinen Kopf auf Wolfgangs Schulter gelegt hat. Ich nehme an, dass das einer seiner Brüder war, der an Gehirntumor erkrankte. Dann hat Hellinger das so gelöst, dass er Wolfgang aufstehen und den Vater hinlegen ließ und Wolfgang den Satz sagen ließ: „Ich bleibe bei den Kindern“. Und zu mir hat er gesagt: „Du gehst statt deinem Mann“.

Das war für mich sehr stimmig, weil ich glaube, dass ich in der Zeit vor meiner eigenen Krebserkrankung zu viel „getragen“ habe, sowohl für meinen Mann als auch für meine eigene Herkunftsfamilie. Ich war damals einfach erschöpft und in meiner Erschöpfung freudlos.

Mein Leben bestand nur mehr aus Arbeit. Dazu kam, dass Aaron die Schule gewechselt hat, von der Steiner-Schule in die Stubenbastei. Statt ihm stand ich unter großem Druck, ich hatte Angst, dass er den Übertritt nicht schaffen würde. Diese Angst war absolut unangemessen, ich projizierte meine Panik vor Schule und Lehrern in ihn. Ich selbst habe viele „Nazi-Lehrer“ gehabt.

B: Haben dich die Nazi-Lehrer spüren lassen, dass du Jüdin bist?

K: Da hole ich jetzt weiter aus: Meine Eltern sind beide jüdisch, sie waren auch politisch im Widerstand und sind relativ früh emigriert. Mein Vater gleich nach dem „Anschluß“ in die Schweiz und dann nach Frankreich. Er kam dort in ein Lager, weil er keine Aufenthaltspapiere hatte und ist von dort geflüchtet. Weil er in den USA einen Cousin hatte, bekam er ein „Affidavit“. Per Schiff fuhr er nach Amerika, trat dann in die amerikanische Armee ein, wurde als Aufklärer an der italienischen Front eingesetzt und wurde schwer verwundet; drei Jahre lang blieb er im Spital.

Nach dem Krieg hat mein Vater immer wieder in der Nacht aufgeschrien, hat oft gebrüllt wie am Spieß.- Meine Mutter kam aus einer sehr bürgerlichen Familie im 1. Bezirk, einer sehr religiösen Rabbiner- und Kaufmannsfamilie. 1939 floh meine Mutter, da war sie 21 Jahre alt, gemeinsam mit ihrer Schwester und dem zwölfjährigen Bruder, nach England; ein anderer Bruder emigrierte nach Israel. Von England kam meine Mutter dann in die USA, wo sie ihren jüdischen Jugendfreund geheiratet hat. Nach zwei, drei Jahren ist der jedoch plötzlich an Grippe gestorben. Gemeinsam hatten sie einen Sohn, der nierenkrank war und ein halbes Jahr später ebenfalls starb.

Sie war dann ganz alleine. Es gab auch dort ein sehr antisemitisches Gesellschaftsklima, niemand durfte wissen, dass sie Jüdin war. Da gab es Parkbänke, auf denen stand, dass sich Neger und Juden nicht hinsetzen dürfen. Sie ist dann nach New York gezogen und hat meinen Vater noch vor seiner Verletzung kennengelernt und im Jahr 1946 geheiratet. Beide waren auch Kommunisten. Ich glaube, dass das in Wirklichkeit eine Deckidentität war.

In New York gab es das Zentrum „Freie Österreichische Jugend“, wo sich Emigranten und Vertriebene getroffen haben. Meine Eltern waren fast jeden Tag dort, es war für sie wie eine Ersatzfamilie, eine emotionale Heimat. Die hatten eine totale österreichische Identität, auch mein Vater und meine Mutter. Das kann ich von mir nicht mehr sagen.- Nachdem mein Bruder 1948 in Amerika geboren wurde, sind sie 1949 nach Österreich zurückgekehrt.

Sie hatten die Idee, Österreich zu verändern. Sie konnten aber nur zurückkommen, indem sie alles rundherum ausgeblendet haben. Mein Vater ist nie mehr in die Gasse gegangen, in der er aufgewachsen war, auch meine Mutter nicht. Ihre Freunde waren hauptsächlich ehemalige Emigranten, das war ihre und später auch meine Ersatzfamilie. Denn viele der Familienmitglieder waren entweder ermordet worden oder in der ganzen Welt verstreut.

Der Bruder meines Vaters ist in Auschwitz umgekommen, seine Mutter und seine Schwestern blieben nach ihrer Flucht in England, sein Vater ist kurz nach der Reichsprogromnacht im November 1938, wo er massiv körperlich mißhandelt wurde, an einem Herzversagen gestorben.

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