16 Aug.
Bukumatula 2/2005
Über das Fragen und das Antworten – eine persönliche und poetische Annäherung an Wilhelm Reich
von
Gudrun Heininger:
Keine Antwort gelten lassen, die schnell kommt, fragend bleiben. Das heißt auch: sehr lange nicht ankommen, von Exil zu Exil, heimatlos. So groß die Sehnsucht auch wird, durch beruhigende Einbildung, durch Kompromisse wird sie nicht gestillt. So verführerisch die Geste des Nachhause-kommens, des Bleibens drängt, so entsetzlich finde ich die Enge und Begrenztheit, das Im-kreise-stolpern und die Lang-samkeit des Vorankommens, d.h. den zähen Widerstand, der jeder natürlichen Bewegung entgegengesetzt wird.
Antworten machen mich von vornherein einmal mißtrauisch, wäh-rend Fragen anleiten, weiterführen, neugierig machen, herausfordern und dazu zwingen, in Bewegung zu bleiben. Tiefreichende Fragen ziehen nicht Antworten an, sondern neue Fragen. Antworten setzen Grenzen, errichten Barrieren und können nie mehr sein als ein vor-läufiger Standpunkt.
In den 20er bis 50er Jahren des letzten Jahrhunderts waren Sicher-heiten, Gewißheiten und Beweise in der Forschung noch möglich und notwendig. Wilhelm Reichs Ergebnisse waren gültig innerhalb der Grenzen der dreidimensionalen Welt. Seine Arbeit hat ständig an einer Grenze stattgefunden, als Gatwanderung zwischen bekannten Größen (deren Eigenschaften, Wirkung bzw. Bedeutung er in der westlichen Welt allerdings als erster benannt hat) und dem noch-nicht-Sagbaren. Seither hat sich der Erfahrungsrahmen erweitert. Es geht nicht mehr um gesicherte Antworten und Aussagen im her-kömmlichen Sinn. Es wird immer weniger wichtig, über Details zu streiten.
Jetzt, zu Beginn des 3. Jahrtausends, wo sich verschiedene Welten oder Dimensionen (= unterschiedliche Bewußtseins- und Seinszu-stände) inneinanderschieben – die Vorstellung beinhaltet auch das Anerkennen der Existenz einer oder vieler geistiger Welten unter-schiedlicher Dichte, die sich gegenseitig durchdringen, und die Tatsache des Zusammenschmelzens aller bisherigen zeitlichen und räumlichen Konzepte – worauf sollen wir uns da verlassen?
Wir sollen und natürlich niemals selbst verlassen. Oder doch? Um etwas anderes zu werden, uns zu verwandeln? Woran können wir uns halten? Müssen wir lernen, ohne Halt zu sein? Wo hält sich das Wasser an, wo der Wind?
Denn was macht uns sicher, daß wir gerade nicht in die Falle des Mystizismus laufen und uns in angenehmen Illusionen verlieren, wenn wir uns weit in spirituelle Bereiche hineinwagen? Sicher, daß das nicht doch Fluchtwege sind, um dem größeren oder kleineren Elend zu entkommen? Daß wir eben nicht von einem Paradies träumen, sondern handeln, um es hier zu verwirklichen? Der Weg dahin scheint mir manchmal noch so weit, und manchmal scheint mir, als seien wir nur durch einen hauchdünnen Schleier davon ge-trennt.
Der materiellen Welt liegt die energetische zugrunde, der energe-tischen liegt …… nein, nicht die geistige Welt zugrunde, denn: energetische und geistige Welt sind identisch – siehe die funktionelle Gleichung: “Gott = Leben = kosmische Orgonenergie = orgonomi-sches Funktionsgesetz der Natur = Gravitationsgesetz”.
Reichs Aussagen bleiben gültig, auch in einer mehrdimensionalen Welt. Seine Arbeits- und Denkmethode funktioniert innerhalb der materialistischen Strukturen, aber sie ist nicht daran gebunden und wird der Überlagerung der Welten, der sich so radikal verändernden Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten gerecht.
Seine Art,
„Ich habe also die schwersten Irrtümer meiner Zeit mitgemacht, und ich habe sie sogar mit Überzeugung vertreten. Doch ich darf von mir behaupten, daß ich an ihnen nicht hängen blieb, wie so viele meiner jeweiligen Mitarbeiter und Fachkollegen. Ich bin beweglich geblieben.“(10)
„Doch selbst, wenn ich noch heute irre, so versuche ich die Quellen des Irrens aufzufinden. Ein ganzes Stück davon kann geleistet werden. Und sowenig ich zu Gehorsam gegenüber erwiesenen menschlichen Fehlmeinungen bereit bin, so sehr fühle ich mich fähig, Korrekturen von Irrtümern zu akzeptieren und in mein Denken einzutragen. Das habe ich bewiesen.“(11)
„Ich weiß, daß ich irren kann wie du. Doch ich versuche, so gut ich kann, mich gegen das Irren zu schützen, indem ich mir Rechenschaft darüber ablege, wie ich denn eigentlich dazu kam, die kosmische Orgonenergie zu entdecken….. Ich stütze mich, im Gegensatz zu den Methaphysikern, Theisten und Relativisten, unmittelbar auf Beo-bachtungen und kontrollierbare Vorgänge in der Natur….. Ich ergreife alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen, um soviele Irr-tümer wie möglich auszuschalten. Ich philosophiere nicht, und ich mache keine Aussagen über die Natur, wenn ich keine Beobach-tungen und kontrollierte Experimente gemacht habe, auf die ich meine Aussagen stützen kann. Vor allem anderen gebe ich mir Rechenschaft, ganz genaue Rechenschaft über die Beziehung meiner Empfindungen zu objektiven, von mir unabhängigen Vorgängen in der Natur.“(12)
„Aber wir müssen auf dem Recht beharren, uns irren zu dürfen. Wir sollten uns nicht davor fürchten, einen Wald zu betreten, weil ir-gendwo in den Bäumen Wildkatzen lauern. Wir sollten nicht von un-serem Recht abrücken, wohlbegründete Spekulationen aufzustellen und zu überprüfen. Solche Spekulationen ziehen bestimmte Fragen nach sich, und diese Fragen sind es, vor denen sich die Verwalter des etablierten Wissens fürchten: Ist es möglich, denkbar, daß einige der sogenannten Planeten überhaupt keine Planeten sind, daß sie etwas vollkommen anderes sind? Etwas Unerhörtes, nie Dagewe-senes? Wir wissen es nicht und können es nicht sagen.“(13)
Wenn sich Reich mithilfe des orgonomischen Funktionalismus weit über die Grenzen der traditionellen Wissenschaft (in deren Rahmen er aufgebrochen war) hinausbewegt hat – vielleicht können wir auch damit navigieren, über den Bereich seines damaligen Wissensstan-des hinaus.
Alle spirituellen Erfahrungen müssen verankert werden im Physi-schen, als real begriffen und hereingenommen werden in die materi-elle, dreidimensionale Welt, um sie und uns zu verändern. Denn noch sind wir hier, und das Wesentliche ist vorläufig hier. Wir dür-fen bei Expeditionen weit hinaus nicht den Heimathafen aus den Au-gen verlieren, noch nicht.
Der Übergang und die Verbindung von den Arbeiten Reichs zu dem umfangreichen metaphysischen Wissen, das in den letzten Jahrzehn-ten einer großen Anzahl von Menschen zugänglich geworden ist, verlangt nach einer verläßlichen, unmißverständlichen, gemeinsa-men Sprache, klaren Definitionen und nach Standortbestimmung bei jedem Schritt, nach Vergewisserung, nach Verankerung im Denken.
Viele zentrale Begriffe (religiös, spirituell, mystisch, geistig, meta-physisch, Natur, die wahre Religion, etc.) werden je nach Kontext unterschiedlich interpretiert. Im Gegensatz zur Orgonomie weiß man außerhalb davon oft nicht, was gemeint ist. In der ständigen Mölichkeit der Begriffs- und Sprachverwirrung, der Verwirrung des Denkens und des Gefühls, der Orientierungsschwierigkeit und beim Diskutieren über Bedeutungen, geht die Konzentration auf das We-sentliche verloren, das Wesentliche, das ich auch nur umschleiche wie die Katze den heißen Brei: ein einfaches, erfülltes und glück-liches Leben in Verbindung mit allen fühlenden Wesen zu führen – wie sollte das möglich sein, ohne hinauszugreifen in das Nicht-ma-terielle, Nicht-irdische und Vieldimensionale?
Wo Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, verwandelt sie sich in Poesie.
Wo es häßlich ist, Schönheit denken und wo gelogen wird, erreich-bar sein. Wo mit Schmutz geworfen wird, gelassen sein und wo ich selbst bewundere und erhöhe, in meiner eigenen Größe bleiben.
Voraussetzung dafür ist, mindestens einmal die Erfahrung des Ge-liebtseins gemacht zu haben. Es ist nicht gemeint, was landläufig unter Liebe in unzähligen Variationen verstanden wird. Es ist das Gesehen- und Erkanntwerden, das Wiedererkanntwerden auf der tiefsten Ebene als ein Bündel durchpulste Materie und als ein gren-zenlos unbegrenztes geistiges Wesen.- Gesehenwerden, Schauen und Antworten.
Es geschieht im besten Fall zwischen Eltern und Kind, vom ersten Lebenstag an immer wieder, mit ein bißchen Glück in einer Liebes- und mit großem Glück manchmal in einer therapeutischen Bezie-hung. Haben wir diese Erfahrung auch nur ein einziges Mal ge-macht, können wir in diesem Leben nicht mehr verloren gehen.
Antworten können nicht gegeben, nur gelebt werden. In Blicken, Gesten, Handlungen, im Tun und Nicht-Tun können wir antworten oder es verweigern – frei zu entscheiden. In jedem Augenblick, für das Leben ….
Anhang:
1) ÄGT, S.36;
2) ÄGT, S.31;
3) Emotion 10, S.43;
4) ÄGT, S.10;
5) OR.EXP.II, S.217;
6) ÄGT, S.22;
7) OR.EXP.II, S.216;
8),9),10),11) ÄGT, S.44-49;
12) ÄGT, S.44-45;
13) OR.EXP.II, S.221.