15 Aug.
Bukumatula 1/2003
Vorbemerkungen zum Vortrag im Amerlinghaus am 16.04.2003 von
Eberhard Krumm
Ein Autor, der gehalten ist, im Voraus über einen Vortrag zu schreiben, der wenige Tage später gehalten werden soll, befindet sich in nicht geringer Verlegenheit. Er läuft Gefahr, seine Sache gründlichst zu vermasseln. Denn hüllt er sich in dunkle Andeutungen über spektakuläre Erkenntnisse, über die er sich mündlich näher auslassen wird, erweckt er hohe Erwartungen beim Publikum, das er auf diese Weise in seinen Vortrag lockt; Erwartungen, die er womöglich enttäuscht. Legt er den Inhalt seiner noch kommenden Botschaft zu ausführlich dar, bleiben die Zuhörer entweder aus, weil sie ja alles Wesentliche schon lesen, vorlesen statt nachlesen konnten, oder aber sie kommen und denken beim Zuhören über den Redner und das, was er schrieb: „Weil es hat so schön geklingt, wird es jetzt noch mal gesingt.“ Das ist wie Vöslauer, wenn es durch die Nase wieder kommt.
Wie dem entgehen? Wie die „goldene Mitte“ finden?
Vielleicht so: ich werde über Alt-Bekanntes sprechen! Über Pädagogik im Wandel der Zeiten, über die Lehrer-Schüler-Beziehung, über Autorität und Freiheit, über Strukturen und Inhalte des Lernens und auch die Pisa-Studie wird nicht unerwähnt bleiben. Ich werde darlegen, wie Wilhelm Reich sich Erziehung aus den Quellen, die unser Leben beherrschen sollen – auch diese drei sind jedem Reichianer bekannt – vorgestellt hat. Es werden Überlegungen angestellt werden, inwiefern Reichs Vorstellungen noch heute, 46 Jahre nach seinem Tod, unter völlig veränderten Lebensbedingungen von Eltern, Kindern und Schülern zu neuen Einstellungen, die in Handlungen umsetzbar sind, führen können.
Es wird also Alt-Bekanntes zur Sprache kommen, das indes eben dadurch, wie der Philosoph G.W.F. Hegel (1770-1831) im Vorwort zu seiner „Phänomenologie des Geistes“ meinte, weil es bekannt ist, noch lange nicht erkannt ist. Das sattsam Bekannte kann, so meine ich, im Lichte der Orgonomie durchaus auf ganz neue Weise erkannt werden. Erkennen ist nicht nur eine Sache des Kopfes.
Martin Luther (1483-1546) übersetzte den Anfang des 4. Kapitels des ersten Buches der Bibel mit den Worten: „Und Adam erkannte Eva und Eva wurde schwanger.“ Mit anderen Worten: Erkennen vollzieht sich leiblich und führt zu deutlich spürbaren, gravierenden Folgen, im vorliegenden Fall zu einer Gravidität.
Wenn in unserem Fall ebenfalls der angekündigte Vortrag dazu führen wird, dass wir danach mit neuen Ideen schwanger gehen werden, die dann, so steht zu hoffen, nicht als Totgeburt zur Welt gebracht werden werden, dann wird der „one-evening-stand“ fruchtbar.
Indem ich somit einen „Erkenntniszeugungsakt“ ankündige und das „genetische Material“ oben in Umrissen beschrieben habe, ziehe ich mich zugleich geschickt aus der Affäre, überlasse ich doch, wie ein treuloser Liebhaber, die Verantwortung für die Geburt und die Erziehung des Kindes der Mutter allein, also dem Vortragspublikum. Dem schmerzhaften Prozess der Erziehung des Erkannten geht jedoch die Nacht des Erkennens und dieser der romantische Prozess des Kennen lernens voraus, welcher die mögliche spätere Enttäuschung im Nachhinein noch in ein rosiges Licht zu tauchen vermag.
Die Bekanntschaft mit den Inhalten des Vortrags beginnt an dieser Stelle. Mehr über das, was unser gemeinsames Erlebnis, unsere gemeinsame Erkenntnis werden kann, wird hier noch nicht verraten. Da ich mich jedoch als treuloser Verräter und flüchtiger Liebhaber angekündigt habe, der zu Beginn Süßholz raspelt und am bitteren Ende täuscht, will ich dieser Rolle insofern gerecht werden, als ich flirtend zum Liebesspiel lockend, eine Geschichte erzählen will. Diese Geschichte ist der Beginn einer Romanze, wenn sie finden, dass es die Mühen und Risiken lohnt. Es ist die Geschichte von einem Standpunkt, der zum „springenden Punkt“ wird.
Die Geschichte steht bei Platon (427-347 v.Chr.), dem Urahn der europäischen Philosophie. Sie werden sich fragen, was Platon mit Reich gemein hat und mit dem, was Kinder heute brauchen und ob ich jeden Vortrag über Pädagogik mit einem geschichtlichen Abriss der letzten 3000 Jahre beginne. Keine Sorge, wir werden von Platon aus mitten in die Not von heute springen, die Reich voraussah.
Platons Lehrer war Sokrates (469-399 v.Chr.). Er ist die Hauptfigur der vielen Dialoge, in denen Platon seine Philosophie entwickelte, die er in der von ihm im Akazienwald (griechisch: akademos) vor Athen gegründeten Schule lehrte. Dank Platon nennen wir Gebildeten uns noch heute „Akademiker“ und lassen uns von seinem Denken seit 2500 Jahren so stark beeinflussen, dass der Britische Philosoph Alfred N. Whitehead (1861-1947) unwidersprochen schreiben konnte: „Die gesamte abendländische Philosophie ist nichts anderes als eine Fußnote zu Platon.“
In seinem Dialog „Symposion“ erzählt Platon, wie sich sein Lehrer Sokrates mit sechs Freunden beim Wein über das Wesen der Liebe unterhält. Sokrates muss man sich in dieser Szene als einen glatzköpfigen Mittfünfziger mit plumper Nase nebst angrenzenden Warzen und beträchtlicher Wampe vorstellen. In die reife Herrenrunde, die dem Wein schon beträchtlich zugesprochen hat, platzt der junge Alkibiades, ein Sonnyboy mit Starallüren, Politiker und Dressman in einem, der, als er hört, wovon die Rede ist, sich niederlässt und sich auch nicht entblödet, wie heute ein Talkshowgast, der neugierigen Corona sein Liebeserlebnis mit Sokrates zum Besten zu geben.
Alkibiades nämlich ist schwul. Aus unerfindlichen Gründen hatte er ein Auge auf Sokrates geworfen und wollte ihn zu einer Liebesnacht verführen. Dazu lud er ihn zu sich nach Hause ein, füllte ihn tüchtig mit Mavrodaphne und Samos ab, schickte die Diener heim, löschte die Kerzen bis auf wenige und bat Sokrates, da es doch schon spät geworden sei, über Nacht zu bleiben. Bequem auf Sofas zu Tische liegend und weiter zechend plauderten sie über dies und das, bis Alkibiades schließlich, wie Jugendliche heute sagen würden, die „Baggerschaufel ausfuhr“. Er sei, so ließ Alkibiades sich laut Platons Bericht vernehmen, doch als der mit Abstand schönste Mann Athens bekannt, mit prächtigen Muskeln und sämtlichen sonstigen attraktiven Attributen der Männlichkeit, während Sokrates, so schmeichelte er ihm, über die schönste Seele verfüge.
Sei es da nicht verlockend, wenn sich ihrer beider je verschiedener Schönheit miteinander tauschen würden? Würde er, Sokrates, es nicht genießen, mit einem so hübschen Mann wie Alkibiades das Lager zu teilen? Ob er nicht zu ihm unter die Decke schlüpfen dürfe? Sokrates zeigte sich nicht abgeneigt und – gesagt, getan! – wechselte Alkibiades auf das Sofa des Sokrates. In inniger Umarmung beisammen liegend wollte Alkibiades mit dem Austausch von Zärtlichkeiten beginnen, als Sokrates ihn unterbrach: ob er, Sokrates nicht bei diesem Tausch von Schönheit zu kurz käme? Denn die Schönheit des Körpers sei doch vergänglich, die der Seele aber ewig, er werde also unsterbliche Schönheit gegen eine vergängliche tauschen, somit ein recht schlechtes Geschäft machen.
Aus dieser Frage entspinnt sich dann ein Dialog zwischen Alkibiades und Sokrates über die Unsterblichkeit der Seele, das Verhältnis von Leib und Seele und die Abstufungen der Schönheit und der Liebe. Die rein geistige Liebe, seither auch als „platonische Liebe“ bekannt, sei, so beweist Sokrates seinem gelehrigen Schüler im Morgengrauen, doch die höchste und allein anzustrebende Form der Liebe. So sprachen sie, berichtet Platon, wie Bruder bei Bruder nah beisammen liegend, aber ohne jede sexuelle Handlung, bis Alkibiades einschlief, Sokrates hingegen aufstand, sich wusch und zu seinem Tagwerk ging.
An anderer Stelle im „Symposion“ definiert Sokrates das Wesen der Liebe als das „Begehren, im Schönen zu zeugen“. In der Liebe streben die Menschen nach Unsterblichkeit. Daher sind sie um ihre Schönheit besorgt, stylen sich und besuchen Wellness-Farmen, trainieren ihre Muskeln, färben sich die Haare, piercen und tätowieren sich, weil sie sich erhoffen, dadurch für andere Menschen attraktiv zu werden. Wenn sich die Schönen dann gefunden haben, so Platon, heiraten sie und zeugen möglichst schöne Kinder, die weiterleben, wenn die Schönen, die sich in Bälde wohl auch klonen lassen können, schon gestorben sind.
Der geistig fortgeschrittene Mensch, so führt Platon weiter aus, dagegen strebt nach Höherem: ihm ist nicht an körperlicher Schönheit und Unsterblichkeit gelegen, somit auch nicht am körperlichen Akt, sondern er will sein Zeugungswerk in den schönen Seelen vollbringen, und zwar, indem er lehrt und Bücher schreibt, die langlebiger sind als jeder Mensch. Betrachtet man Platon selbst, der kinderlos und unverheiratet war, aber sechs Bände Philosophie ver-fasste, die die Jahrtausende überdauerten, so kann man nicht umhin, an seiner Theorie etwas Wahres zu finden. Die ganze Wahrheit freilich nicht.
Warum erzähle ich hier, als Einleitung zu einem Vortrag über Reichianische Pädagogik, diese Geschichte?
Diese Geschichte ist in akademischen Kreisen sehr bekannt und vielfach analysiert worden. In allen mir bekannten Interpretationen wird ausführlich auf die verschiedenen philosophischen Inhalte, die Gegenstand dieser Erzählung sind, eingegangen. So etwa auf die anthropologische Thematik des Leib-Seele-Verhältnisses, die metaphysischen Spekulationen über Zeit und Ewigkeit, die ästhetische Theorie vom Stufenbau des Schönen, die ethische Frage nach dem Wert der Sexualität und der Liebe, der Sinnlichkeit im Verhältnis zur Geistigkeit, der Natur im Bezug zur Kultur. Diese Geschichte enthält jedoch auch eine pädagogische, meines Erachtens noch ganz unentdeckte Perle, nämlich eine Theorie über das, was Kinder brauchen.- Und zwar von Erwachsenen, Lehrern und Eltern, brauchen.
In dieser Geschichte ist der um 30 Jahre jüngere Alkibiades der Schüler, Sokrates der Lehrer. Lässt man einmal die homoerotische Nuance beiseite und fragt nach dem, was Alkibiades bei Sokrates in erster Linie suchte, so heißt die Antwort: größtmögliche Nähe, Wärme, Zärtlichkeit, Berührung vom „Eindringen in den Lehrer“.
Was sucht der Lehrer bei seinem Schüler? Er will „in der schönen Seele zeugen“, einem Impuls folgen, den Goethe in die Worte gekleidet hat: „Warum sucht´ ich den Weg so sehnsuchtsvoll, wenn ich ihn nicht den Anderen zeigen soll?“ Er will die Seele seines Schülers mit einer Erkenntnis befruchten. Worin besteht diese Erkenntnis und das darauf folgende Schwangergehen mit einer neuen Idee? In dieser Geschichte vorrangig darin, dem ersten Augenschein zu mißtrauen.
Die Liebesnacht, die Alkibiades Sokrates anbietet – nur nebenbei: die Männer- und Knabenliebe war im antiken Griechenland kein Tabu, sondern ein Kulturgut –, scheint auf den ersten Blick nur Positives zu bieten: Alkibiades die Erfüllung seines Begehrens, Sokrates die Selbstbestätigung, als hässlicher und alternder Mann von einem so schönen Jüngling verführt zu werden. Sokrates scheint indessen mehr Selbstbestätigung darin zu finden, sich als der geistig Überlegene zu zeigen und seinen Schüler die Skepsis zu lehren, die kein anderer ihn auf diese Weise lehren wird. Aber lernt Alkibiades etwas? Wird er nicht vielmehr enttäuscht, abgewiesen, abgespeist? Ist Unterricht somit nicht Kompensation für unerfüllte Libido?
Darüber hinaus gefragt: ist das, was Alkibiades in der Begegnung mit seinem Lehrer erfährt überhaupt wertvoll? Enthält diese Begegnung Elemente einer lebensnahen Pädagogik, wie Reich, der enthusiastische Verteidiger der Nähe zum Leben, des Lebens aus der Nähe zu sich selbst und damit zu den Mitmenschen und der Natur, sie forderte? Würde ein junger Mensch, auch in Reichs Augen, auch in unseren Augen, das bekommen, was er braucht, wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Jugendlichen, so gestaltet würde, wie Sokrates seine „Nacht der Erkenntnis“ mit Alkibiades gestaltete?
Ich meine: Ja. Das Kind, der junge Mensch, der Schüler kann als pädagogische Quintessenz der von Platon erzählten Geschichte meines Erachtens von einem Lehrer, der wie Sokrates handeln und ihn nicht als Pädagoge oder Psychologe behandeln würde, folgendes lernen:
1.) Die Liebe zum Lehrer; es ist in unserer Zeit und besonders in unserer westlichen Kultur das Wissen darum, dass Erziehung in erster Linie Beziehung ist, sehr geschwunden, wenn nicht gar verloren gegangen. Aristoteles (384-322 v.Chr.), der Schüler Platons, schickte einmal einen Schüler weg mit den Worten: „Ihn kann ich nichts lehren, denn er liebt mich nicht.“ Liebe ist ein sehr starkes Wort. Wir sind nicht oder nicht mehr gewohnt, dieses Wort in Zusammenhang mit Schule zu gebrauchen, geschweige denn, wie Platon dies tat, vom „pädagogischen Eros“ zu reden.
Und doch ist, nach Wilhelm Reich, die Liebe die erste Quelle unseres Lebens. Wir werden uns fragen wollen, was Liebe denn wirklich ist, wie sie in der Beziehung zwischen Heranwachsenden und Eltern oder Lehrern wirkt. Nicht unwichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Reich den Hass nichts anderes als „gefrorene Liebe“ genannt hat. Liebe ist auch nicht von Ehrlichkeit, Redlichkeit, Aufrichtigkeit zu trennen.
Sokrates wie Alkibiades erwiesen sich in der Ehrlichkeit und Redlichkeit ihres Umganges miteinander als vorbildlich, auch für uns heute. Alkibiades lernte vom „Vorbild“ Sokrates und konnte sich so ein Bild von sich selbst machen, ohne sich etwas einzubilden, wie er es im Blick auf seine Schönheit getan hatte. Der Philosoph Ludwig Marcuse (1894-1971) hat das Lernen durch das geliebte Vorbild in folgende Worte gekleidet: „Ich glaube an die Macht des Vorbildes, des ganz individuellen und sehr sterblichen Ideals; an den beispielgebenden Einzelnen, den man in früheren Zeiten einen Helden nannte.
Ich glaube, dass man in unseren Zeiten sich der Pflicht, musterhaft zu sein, entzieht mit der Ausrede, es gilt den Führern zu entgehen und die Institutionen zu verbessern. Man soll das nur tun; doch werden sie niemanden zur Selbstständigkeit erziehen, zum Mut, zu denken, was man denkt, zu fühlen, was man fühlt, zu wollen, was man will. Der beste Weg zum Selbst ist die Faszination durch ein anderes Selbst; die lebende Illustration, wie einer sich traut, er zu sein.“ (in; Mein zwanzigstes Jahrhundert, München 1960/ Diogenes-tb, Zürich 1975, S.25).
2.) Die Liebe zur Sache; nicht umsonst hat Wilhelm Reich die Arbeit und das Wissen nach der Liebe in der Aufzählung der Quellen unseres Lebens genannt. Indem Alkibiades den Sokrates liebte, war er bereit, sich auf das Thema, die Sache einzulassen, die der Lehrer ihm vorstellte; das Verhältnis von Leib und Seele, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Schönheit und Wahrheit. Die Konzentration auf diese Sache fand in entspannter, ruhiger Haltung statt; im Liegen, in der Stille der Nacht, im wechselseitigen, aufmerksamen Gespräch.
Kann die Liebe zur Sache sich unter unseren Lebensbedingungen heute so entfalten: in der Hektik des Alltags, von Termin zu Termin hetzend, unter den permanenten und in meinen Augen lebensfeindlichen Reizattacken durch Fernsehen, Play-Stations, Musikberieselung, Handy-Klingeln?
Kann die Liebe zur Sache sich bei Jugendlichen in einem Unterricht entfalten, der durch Pausengong, ständige Leistungskontrollen und den didaktisch geforderten Medienwechsel geprägt ist? Ist eine andere Form von Unterricht, in kleinen Lerngruppen und mit dem ruhigen, sachlichen Gespräch als einzigem didaktischen Medium elitär oder lebensfremd? Das Lernen des Alkibiades macht uns diese Fragen fragwürdig.
3.) Frustrationstoleranz; mit diesem Wortungetüm spreche ich einen Sachverhalt an, der in unserer Zeit notwendiger scheint denn je. Viele Jugendliche ertragen heute, im Zeitalter des grenzenlosen Konsums, der sofortigen Bedürfnisbefriedigung, des von der Werbung geförderten Suchtverhaltens, die Enttäuschung, das nicht zu bekommen, was man haben will, nur schwer. Alkibiades erhält das, was er von Sokrates will, die Befriedigung seines sexuellen Begehrens, durchaus nicht.
Auch wir werden als Eltern oder Erzieher nicht immer geneigt und in vielen Fällen auch gar nicht fähig sein, alle Wünsche unserer Sprößlinge zu erfüllen. Die Enttäuschung als das Ende der Täuschung und damit als Beginn von Wahrhaftigkeit im Umgang mit den Realitäten des Lebens zu erfahren ist gleichfalls etwas, was wir aus dem Verhalten des Alkibiades lernen können. Kinder brauchen diese Frustrationstoleranz, wenn sie nicht zu narzisstisch deformierten Charakteren werden sollen oder in kompensierendes Suchtverhalten flüchten müssen.
Lernen und lehren bedingen sich gegenseitig. Eltern, die nicht auch von ihren Kindern lernen, Lehrer, die sich nicht auch von ihren Schülern belehren lassen, versäumen es in meinen Augen in hohem Maße, den pädagogischen Prozess lebendig und vollständig zu gestalten.- Was lernt der Erwachsene aus der Geschichte von Sokrates und Alkibiades?
1.) Die Liebe zum Schüler; sie geht einher mit Einfühlungsvermögen und zeigt sich in der persönlichen Zuwendung, in der Bereitschaft zur Verantwortung, der Selbstverpflichtung, dem Wort des Jüngeren die Antwort nicht zu versagen. Sokrates geht auf den Wunsch des Alkibiades ein, sich mit ihm einzulassen, weil er die Stärke der Sehnsucht des Schülers nach Schönheit, die nach Platon untrennbar mit Wahrheit und Güte verbunden ist, fühlt. Es ist dieser starke Wesenskern eines jeden Menschen, die lebendige Energie des Jugendlichen, die Sokrates spürt, ernst nimmt und annimmt.
Reich sagt in seiner „Rede an den kleinen Mann“ nur der könne Lehrer sein und die Sexualität der Jugendlichen korrekt handhaben, der selbst erfahren habe, was Liebe ist. Ein Lehrer, ein Vater oder eine Mutter vermag nur dann mit der überschäumenden Lebenslust eines Jugendlichen, eines Kindes gut umzugehen, die Flamme des Lebens zu nähren statt sie zu ersticken, wenn er oder sie selbst beständig aus diesem Licht heraus, aus dieser wärmenden Liebe zum Leben, zur Natur, zu Gott, zu sich selbst lebt. Sokrates sah in seinem „pädagogischen Eros“ den Sinn, den Auftrag seines Lebens.- Tun wir das auch?
2.) Nähe zulassen, Bindung schaffen; viele Jugendliche unserer Zeit erfahren, das erlebe ich tagtäglich, selbst in ihren Familien, durch ihre Eltern und Geschwister, wenig Zärtlichkeit, körperliche Berührung oder Umarmung. Oft schrecken sie davor zurück; die Küßchen, die sie sich zuhauchen, geschehen in aller Regel unter völliger Zurücknahme des Körpers unterhalb des Kehlkopfes. Liebevolles, sich gegenseitig bergendes Umarmen, sich auch körperlich angenommen und nicht nur angegriffen fühlen, das kennen viele Jugendliche aus ihren Familien nicht.
Ein Lehrer gar, der es wagen würde, aus offener, warmherziger Zuneigung heraus, nicht, weil er sexuelle Frustration oder emotionale Bedürftigkeit kompensieren muss, einen Schüler zu umarmen, gar mit ihm unter einer Decke zu liegen, müsste zumindest mit scheelen Blicken, wenn nicht mit einem Disziplinarverfahren rechnen. Und doch schafft nichts eine solche geistige Bindung wie körperliche Nähe. Das Verhalten des Sokrates dem Alkibidiades gegenüber im Zulassen dieser Nähe ist der Punkt der Geschichte, die mich selbst am stärksten beeindruckt hat.
3.) Grenzen setzen, in Freiheit lassen; obwohl Sokrates sich auf die größtmögliche Nähe mit Alkibiades einlässt, mit ihm umarmt unter einer Decke auf einem Sofa liegt, setzt der ganz exakt die Grenze an dem Punkt, an dem er nicht mehr weitergehen will. Sokrates ist bereit, seinen Schüler als seinen Bruder, als sein Kind anzunehmen und ihm in dieser Weise zärtlich zu begegnen; sexuell missbrauchen will er nicht.
Er klammert auch d u r c h a u s n i c h t , nachdem sie gemeinsam um Erkenntnis gerungen, sich in Liebe Erkenntnis geschenkt haben, weiter an seinem Schüler: nach dem Gespräch, aus dem beide bereichert herausgehen, gehen sie wieder ihrer Wege. Von Khalil Gibran stammt das schöne Wort: Eltern sollten kleine Kinder umhegen wie Bäume, große wie Vögel. Bäume brauchen Wurzeln, Vögel brauchen Flügel. Leben entfaltet sich in diesem Wechsel aus Festhalten und Loslassen. Sich an ein Kind zu binden, ohne es zu fesseln, es in Freiheit zu lassen ohne es zu verlassen, das ist eine Kunst, die Sokrates uns vorlebt und die wir alle nicht genug üben können, jeden Tag neu.
Ist es mir gelungen? Habe ich den Lesern und Leserinnen der Bukumatula mir diesen Bemerkungen über das, was Kinder brauchen, mitgegeben, was sie brauchen können, im täglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Ist die Geschichte, die Platon vor 2500 Jahren erzählte, für uns heute noch brauchbar? Habe ich die Geschichte deutlich genug mit den Augen Reichs gesehen, ergriffen und begriffen? Ist der Standpunkt Platons ein Ausgangspunkt für unseren Weg mit Wilhelm Reich? Bin ich mit der Verknüpfung von Platon, Reich und den pädagogischen Standpunkten unserer Zeit nur von einem Punkt zum anderen gesprungen und habe mich damit als sprunghafter Vagabund auf vielen Wegen verwiesen, statt methodisch – methodos bedeutet im Griechischen: mit dem (richtigen) Weg – vorzugehen oder habe ich einen „springenden Punkt“ entdeckt, mit dem wir weitergehen können? Darüber nach – zu – denken und damit Fortschritte zu machen, lade ich alle, die können und wollen, sehr herzlich zum Vortrag am 16. April ins Amerlinghaus ein.
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Der Autor dieses Artikels – und Referent am 16.04.2003 zum Thema: „Was Kinder brauchen! Anmerkungen zu einer Pädagogik nach Wilhelm Reich“ – ist Lehrer für Philosophie, Latein und Geschichte an der HEBO-Privatschule Bonn, einer Schule, die sich in besonderer Weise der Jugendlichen mit einer ADHS-Symptomatik (Aufmerksamkeitsdefizit-und-Hyperkinese-Syndrom) angenommen hat, sowie Dozent am KinderCollege Neuwied/Rhein, einer vom Land Rheinland-Pfalz geförderten Institution zur Förderung hochbegabter Kinder.