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Bukumatula 1/2003

Kinderglück

Die Ursache des modernen Narzissmus?
Jean Liedloff über die „nicht gegnerische Erziehung“
Dario Lindes:

Mich beschäftigt (um nicht zu sagen „quält“) schon seit Jahren die Frage, woher denn dieser rapid zunehmende Narzissmus in unserer heutigen Gesellschaft, vor allem unter den Jugendlichen, kommt. Ich suchte immer wieder nach Begründungen und wälzte laienhaft diverse psychologische Erklärungen darüber in meinem Kopf hin und her, aber bisher leider immer ohne nennenswerten Erfolg. Keines der von der Schulpsychologie angebotenen, meist eher zu theoretisch verkopften Erklärungsmodelle konnte mich bislang wirklich überzeugen.

Auf meiner langen Odyssee der Ursachenforschung stieß ich vor einiger Zeit zufällig auf einen Artikel in einer deutschen Alternativ-Zeitschrift, der mir nähere Aufklärung über dieses verheerende Syndrom unserer modernen Zivilisationsgesellschaft versprach und mir die Augen bezüglich dieser Entwicklung ein Stück weit öffnete. Er liefert natürlich auch nicht die ultimative Begründung, aber für mich trug er als zusätzliches Mosaiksteinchen viel zum Verständnis dieser zeit-geistigen Entwicklung und ihrer Ursachen bei. So will ich den BUKUMATULA-Lesern diesen kurzen Essay über Kindererziehung nicht vorenthalten. Er stammt von der amerikanischen Publizistin und Therapeutin JEAN LIEDLOFF, der Autorin des Bestseller-Buches „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“. (Prädikat: AUSSER-ORDENTLICH EMPFEHLENSWERT – unbedingt lesen!)

WER HAT DIE KONTROLLE?

Die unglücklichen Konsequenzen einer falschen Kinderzentriertheit oder: die „nicht gegnerische Beziehung“

Ich habe mehr als zwei Jahre damit verbracht, in den Urwäldern Südamerikas mit Steinzeit-Indianern zu leben. Es brauchte einige Zeit, bevor mir die Tragweite von dem, was ich vor mir sah, in meine „zivilisierte“ Denkweise einsickerte: es wurde mir erst nach meiner vierten oder fünften Expedition bewusst, dass ich nie eine Auseinandersetzung zwischen den Kindern oder zwischen einem Kind und einem Erwachsenen gesehen hatte. Nicht nur, dass sich die Kinder nie schlugen, sie stritten auch nicht einmal. Sie folgten den Erwachsenen unverzüglich und freudig und trugen oft Babys mit sich herum, während sie spielten oder bei der Arbeit mithalfen.

Wo war das Trotzalter, die ach so schwierige Pubertät? Wo waren die Temperamentsausbrüche, die Renitenz der Jugendlichen, die ständigen Streitereien „um den eigenen Willen“, die wir bei unseren Kindern als „normal“ bezeichnen? Wo war dieses Herumnörgeln, die Disziplinlosigkeit, die „Grenzen“, die gebraucht würden, um ihre Andersartigkeit zu zügeln? Wo war das Schuldzuweisen, das Strafen – oder auch um der Vollständigkeit willen: wo war irgendein Anzeichen von Nachgiebigkeit?

Ich hörte viel Schreien und viel Lachen, wenn z. B. die Burschen draußen spielten – doch sobald sie in der Hütte waren, dämpften sie ihre Stimmen, um die herrschende Ruhe nicht zu stören. Sie unter-brachen nie ein Gespräch von Erwachsenen. In Wirklichkeit sprachen sie fast gar nichts in der Gegenwart von Erwachsenen, sie beschränkten sich aufs Zuhören oder auf kleinere Dienste wie das Herumreichen von Speisen und Getränken. Weit entfernt von Disziplinierung oder Unterdrückung für ein gefälliges Benehmen sind diese kleinen „Engel“ entspannt und voller Freude. Und sie wachsen heran, um glückliche, selbstsichere und gemeinschaftsorientierte Wesen zu werden. Wie machen sie das? Was wissen die Yequana über die menschliche Natur, was wir nicht wissen?

Was können wir tun, um eine „nicht gegnerische Beziehung“ mit unseren Kindern zu erreichen?

In meiner privaten Praxis konsultieren mich viele Leute, um die zer-störerischen Auswirkungen ihrer in der Kindheit geformten Einstellungen zu sich selbst und zu anderen zu überwinden. Viele davon sind selbst Eltern und peinlichst darauf erpicht, ihre Sprösslinge nicht denselben seelischen Misshandlungen und Fehlern auszusetzen, welche sie unter den Händen ihrer eigenen, meist gutmeinenden Eltern erlitten haben.

Die meisten dieser Eltern haben meinen – dem Yequana-Beispiel folgenden – Rat angenommen und pflegen bei Tag und Nacht einen engen körperlichen Kontakt mit ihren Babys, bis diese zu krabbeln beginnen. Manche jedoch sind überrascht und erstaunt, wenn sie dann erleben müssen, dass ihre Kleinen dann „fordernd“ oder gar zornig werden – nicht selten gerade jenem Elternteil gegenüber, der sich am meisten um sie sorgt. Selbst noch so viel Zuwendung und Selbstaufopferung verbessern nicht die Einstellung des Babys oder den Frust der Eltern. Warum machen dann die Yequana nicht die gleichen Erfahrungen wie wir?

Der springende Punkt ist: Die Yequana sind nicht kindzentriert! Sie mögen gelegentlich ihre Babys voll Zuwendung drücken, hätscheln, mit ihnen „Guckguck – Tschatschatscha“ spielen oder ihnen etwas vorsingen, doch die meiste Zeit verbringt die Bezugsperson damit, auf etwas anderes Acht zu geben… nicht auf das Kind! Auch andere Kinder, die sich um die Babys kümmern, betrachten dieses Kinderhüten als Nicht-Aktivität – obwohl sie die Kleinen überall mit sich herumtragen, geben sie ihnen nur selten direkte Aufmerksamkeit oder Zuwendung. Somit befinden sich Yequana-Babys inmitten jener Aktivitäten eingebunden, von denen sie später einmal ein Teil sein werden, während sie ganz normal die Stadien des Kriechens, Krabbelns, Gehens und Sprechens durchlaufen.

Dadurch, dass wir mit ihnen ständig spielen, sprechen oder sie den ganzen Tag beachten und bewundern, entziehen wir „Zivilisierten“ unseren Babys diese „Auf-dem-Arm-Betrachter-Phase“, die so wichtig für sie wäre.

Unfähig zu sagen, was es braucht, handelt das Kind dann aus einer allgemeinen Unzufriedenheit heraus. Es versucht ständig, die Aufmerksamkeit der Bezugsperson zu erlangen. Und hier liegt der Grund für diese verständliche Verwirrung: seine Absicht ist nämlich, die Bezugsperson dazu zu bringen, seine unbefriedigende Lage zu verändern, indem sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten mit Selbstsicherheit kümmert, ohne scheinbar um seine Erlaubnis zu bitten. Sobald dieser Zustand korrigiert ist, kann das aufmerksamkeits-erregende Verhalten aufhören, welches wir fälschlicherweise für einen permanenten Antrieb halten. Und das selbe Prinzip lässt sich auch auf die Stadien anwenden, die der Auf-dem-Arm-Halten-Phase folgen.

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Als einmal eine hingebungsvolle Mutter der amerikanischen Ostküste zu mir kam, war sie fast mit ihren Nerven am Ende. Sie führte regelrecht Krieg mit ihrem über alles geliebten dreijährigen Sohn, der sie öfters stieß, manchmal sogar schlug und boxte und sie mit „Halt’s Maul“ und anderen aggressiven Ausdrücken von Wut und Respektlosigkeit beschimpfte. Sie versuchte es über den Weg der Vernunft, indem sie ihn fragte, was sie denn für ihn noch tun könne. Sie „bestach“ ihn mit permanenter Zuwendung und Geschenken, und sie redete liebevoll auf ihn ein, so lange sie das noch konnte, bevor sie ihre Geduld verlor und ihn anschrie.

Daraufhin wurde sie von massiven Schuldgefühlen übermannt, und sie versuchte es mit Entschuldigungen, Erklärungen, Umarmungen, Küssen oder sonstigen Belohnungen wieder gut zu machen, um ihre Liebe unter Beweis zu stellen – woraufhin ihr „kostbarer, kleiner Schatz“ mit neuen, noch ungezügelteren Forderungen daherkam. Manchmal beendete sie den Versuch, ihm alles recht zu machen und ging wortlos ihren eigenen Beschäftigungen nach, trotz seines Heulens oder Protestierens.

Wenn sie das letztendlich lang genug durchgehalten hatte und der Kleine aufgab sie zu kontrollieren und sich wieder beruhigte, dann schaute er zu ihr auf mit seinen dahinschmelzend schönen Kulleraugen und sagte: „Mama, ich liebe dich“. Und sie, in ihrer Dankbarkeit über die momentane Erlösung von der Schuld, fraß ihm bald wieder aus seiner kindlichen marmeladebekleckerten Hand. Er spielte sich herrisch auf, wurde zornig und grob, und das ganze nervtötende Szenario wiederholte sich von neuem.

Ich höre immer wieder viele ähnliche Geschichten von Klienten aus den USA, Kanada, Deutschland und England. Diese Schwierigkeiten sind gerade unter den höchstgebildeten und bestmeinenden Eltern der westlichen Welt weit verbreitet. Sie quälen sich mit Kindern herum, die scheinbar danach streben, ihre Eltern unter Kontrolle zu bekommen, welche ihnen alle ihre Launen nachsehen.

Was von unserer menschlichen Natur haben wir falsch verstanden?

Was können wir unternehmen, um uns jener Harmonie anzunähern, welche nicht nur die Yequana, sondern auch die Bewohner Balis und anderer Südseeinseln sowie zahlreiche andere Völker außerhalb unseres westlichen „zivilisierten“ Kulturkreises mit ihren Kindern leben? Es scheint, dass viele Eltern von Kleinkindern in ihrem Bemühen, ja nicht zu nachlässig oder lieblos zu sein, in die entgegengesetzte Richtung übers Ziel hinausschießen.

Wie undankbare Märtyrer der „Auf-dem-Arm-Halte-Phase“ fixieren sie sich ganz auf ihre Kinder, anstatt sich wie selbstverständlich mit Erwachsenenaktivitäten zu beschäftigen, welche die Kinder beobachten, imitieren und bei denen sie mithelfen können, so wie es ihrem natürlichen Drang entspricht.Anders ausgedrückt: weil ein Kleinkind erlernen möchte, was seine erwachsenen Leute tun, möchte es seine Aufmerksamkeit auf einen Erwachsenen fokussieren können, der wiederum allein auf seine eigenen Angelegenheiten ausgerichtet ist.

Eine Mutter, die unterbricht, was sie gerade macht, um herauszufinden, was ihr Kind in dem Augenblick von ihr will, verursacht einen Kurzschluss dieser Erwartungshaltung. Sie erscheint dem Kleinkind als jemand, der nicht weiß, wie er sich verhalten soll, als jemand, dem Selbstvertrauen fehlt – und noch alarmierender: als jemand, der Führung von ihm, dem Zwei- oder Drei-jährigen erwartet. Die ziemlich vorhersehbare Reaktion eines Kleinkindes auf die elterliche Unsicherheit: es bringt seine Eltern noch weiter aus der Balance und testet aus, ob es eine Grenze gibt, bei der diese standhaft bleiben. An dieser Grenze kann es dann all seine Ängste über die Zuständigkeit der Verantwortung ablegen.

Ein Kind wird fortfahren, die Wände zu beschmieren, nachdem die Mutter es inständigst gebeten hat, damit aufzuhören – allerdings in einem solch entschuldigenden Tonfall, der schon ahnen lässt, dass sie nicht im mindesten daran glaubt, dass es ihrer Bitte auch tatsächlich Folge leisten wird. Wenn sie dann dem Kind die Buntstifte wegnimmt, während sie die ganze Zeit ihre Angst vor der Wut zeigt, dann erfüllt es ihre Erwartungen und stürzt sich in einen Wutausbruch.

Falls sie seinen Zorn dann falsch versteht und noch verbissener versucht, weiter festzustellen, was ihr Kind denn wirklich will, es bittet, erklärt und es noch verzweifelter besänftigen will, wird das Kind dazu angestiftet, noch unerhörtere und unakzeptablere Forderungen zu stellen. Das muss es so lange fortsetzen, bis die Mutter letztendlich wieder die Führung übernommen hat und die Ordnung wieder hergestellt ist.

Weil aber seine Mutter nun zu dem Punkt gelangt ist, wo wieder Schuldgefühle und Zweifel über ihre Fähigkeiten in ihrem zitternden Kopf zum Durchbruch kommen, mag es noch immer keine ruhige, selbstbewusste und verlässliche Autoritätsfigur haben. Nichts desto trotz hat das Kind die geringfügige Sicherheit, im Fall des Falles von der Bürde der Verantwortung und von seinem verzweifelten Gefühl entlastet zu sein, nämlich dem, dass es aus irgendeinem Grund wissen sollte, was sie tun soll.

Kurz gesagt: das Kind sucht die Gewissheit, dass der Erwachsene weiß, was er tut!

Kein Kind würde im Ernst davon träumen, die Initiative einem Erwachsenen abzunehmen. Sobald das Kind jedoch spürt, dass es die Kontrolle übernommen hat, wird es verwirrt und ängstlich und muss sein Verhalten bis ins Extreme ausweiten, um so den Erwachsenen zu veranlassen, die Führungsrolle wieder an sich zu reißen – dort, wo sie auch hingehört. Sobald das verstanden ist, verschwindet auch die Angst der Eltern, dem Kind etwas aufzuzwingen, und sie können verstehen, dass es keinen Grund zu irgendeiner Feindseligkeit gibt. Indem sie die Kontrolle bei sich behalten, erfüllen sie eher die Bedürfnisse ihres geliebten Kindes, als dass sie gegen diese verstoßen.

Meine Ostküsten-Klientin im oben genannten Beispiel brauchte eine Woche, bis sie die ersten Ergebnisse dieser neuen Einstellung beobachten konnte. Heute sind sie und ihr Mann, so wie viele meiner ähnlich gelagerten Fälle, aus eigener Erfahrung glücklich davon überzeugt, dass Kinder absolut nicht auf Gegensätzlichkeit und Widerspruch eingestellt sind, sondern von Natur aus sehr sozial. Indem wir von ihnen erwarten, dass sie sozial sind, erlauben wir ihnen auch, sozial zu sein. Weil das Kind bei den Eltern die Erwartung eines sozialen Verhaltens wahrnimmt, erfüllt es auch diese Erwartungen. So funktioniert das.
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Jean Liedloff, amerikanische Schriftstellerin, lebte zwei Jahre im Dschungel Venezuelas bei den Yequana-Indianern. Sie gab von 1968 bis 1970 die Zeitschrift „The Ecologist“ heraus. Heute lebt sie als Publizistin und Therapeutin in Sausalito/Kalifornien. Sie hält zudem Vorlesungen und Seminare über ihre Arbeit mit Erwachsenen und über „nicht-gegnerische Kindererziehung“.

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