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Bukumatula 6/1990

Freuds Ungeduld wuchs

Psychoanalyse und Nationalsozialismus
Ein Fotoband weckt Erinnerungen an eine heillose Zeit
Bernd Nitzschke:

An der Oberfläche blitzen die Accessoires der Damen, die Hüte und Tücher, Schals und Broschen; die Krawatten und Kavalierstücher der Herren signalisieren distinguierten Geschmack. Die prunkvolle Sachlichkeit der dreißiger Jahre, die Tim Gidal mit seinen Aufnahmen vom 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern einfangen konnte, ziert einen soeben erschienenen Prachtband, der etwa 150 Bilder von Psychoanalytikern einer frühen Generation, von Paul Federn bis Rene Spitz zeigt.

Auch wer kein besonderes Interesse an der Geschichte der Psychoanalyse hat, wird diese Photographien zu schätzen wissen: Ohne Blitz und Belichtungsmesser schuf der damals 25 Jahre alte, später international bekannte Photojournalist Gidal Gesichts- und Gruppenlandschaften, die er mit den „Farben“ Schwarz und Weiß malte. Der unbestechliche Blick eines „Laien“ enthüllt mit Licht und Schatten das „Subjektive“ von Analytikern, ohne es hämisch entlarven zu wollen.

Neben der Prinzessin Marie Bonaparte beispielsweise, die ihren Adel, in einen Kragenpelz gehüllt, stolz, aber nicht plakativ zur Schau stellt, steht, gleichsam am anderen Ende der sozialen Skala dieses Kongresses, der in einen knittrigen Regenmantel gehüllte Emigrant aus Skandinavien, Wilhelm Reich. Auf ihn spricht, von oben herab, Rudolph Löwenstein ein; die Prinzessin wirft ein Auge auf Reich, der wiederum dem Blick Loewensteins standzuhalten versucht. Das alles beobachtet ein Photograph – und wir werfen nun einen Blick zurück auf die Szenerie.

Loewenstein war – gemeinsam mit Heinz Hartmann und Ernst Kris (die beide ebenfalls in diesem Band zu sehen sind) – Vertreter einer neuen Psychoanalyse, der Ichpsychologie, die sich unter anderem mit der Frage der Anpassung an die „Realität“ beschäftigte. Wilhelm Reich hingegen hielt an überkommenen Positionen, beispielsweise an der Freudschen Triebtheorie, so fest wie an einer schäbig wirkenden Proletarieraktentasche, die er auf einem der Bilder unter den Arm geklemmt trägt. Reich will die Psychoanalyse für revolutionäre Politik, schließlich gar für dezidierten Antifaschismus verwenden. Er vertritt sexualanarchistische Theorien, was ihm vom psychoanalytischen Establishment besonders verübelt wird, da die Vereinigung endlich vom Image des Bürgerschreck(en)s loskommen will.

Was Reich den proletarischen Jugendlichen predigt, „freie“ (oder wenigstens von Heuchelei halbwegs befreite) Liebe, das praktizieren privilegiertere Kreise seit eh und je, wenn auch versteckt hinter einer Kulisse aus „Sittlichkeit“ und „Anstand“. Loewenstein, zum Beispiel, ist Analytiker der Prinzessin, dann der ihres Sohnes, schließlich ist er auch der Geliebte der Prinzessin, die ihrerseits mit einem anderen verheiratet ist. Chaotisch aber wird Reich genannt. Man beginnt in den dreißiger Jahren unter den Psychoanalytikern davon zu reden, er sei „schizophren“ – gossip, der bis zum heutigen Tag auf einschlägigen Psychoanalytischen Kongressen im Foyer zu hören ist.

Reich wiederum äußerte sich nach dem Kriege über die Erlebnisse mit seinen Kollegen 1934 in Luzern so: „Sie wohnten in Hotels, saßen in verrauchten Hotelhallen herum usw. Ich nicht. Ich wohnte mit meiner Frau in einem Zelt am Luzerner See. Ich hatte ein Messer dabei, wie es beim Zelten üblich ist. Heute würde niemand etwas Besonderes dabei finden. Fünfzehn Jahre später tauchte in New York das Gerücht auf, daß ich beim Luzerner Kongreß vollkommen verrückt geworden sei und in der Hotelhalle ein Zelt aufgeschlagen hätte und ständig mit einem Messer herumgelaufen sei.“

Reich erregt überall Anstoß. Als Sexualanarchist wird er aus der Kommunistischen Partei geworfen, als „kranken“ Kopf wollen ihn die Psychoanalytiker loswerden, und als kommunistischen Psychoanalytiker verfolgen ihn die Nazis. Der heute über achtzig Jahre alte Tim Gidal schreibt im Vorwort, ihm sei aufgefallen, daß im wissenschaftlichen Programm 1934 keiner „ein Thema etwa wie den Rassismus, Massenhysterie oder den Antisemitismus“ behandelt habe. Aus heutiger Sicht wirkt diese nur anderthalb Jahre nach Hitlers Regierungsantritt von Psychoanalytikern praktizierte politische Abstinenz bedrückend. Nur einer, schreibt Gidal weiter, habe „die Folgen des Nazismus in damals extrem scheinender Weise korrekt erfaßt, was ihm den Ruf eines Fanatikers bei seinen Kollegen eintrug: Wilhelm Reich.“

Er galt als der Vertreter einer Psychoanalyse, die sich mit dem Marxismus zu verbinden suchte und von Freud aus mehr als einem Grund nicht akzeptiert wurde. Man war bestrebt, sich von Reich zu distanzieren, um den Nazis in Deutschland keinen Vorwand für ein Verbot der Psychoanalyse zu liefern.

Entsprechend heißt es in einem im April 1933 verfaßten Brief Anna Freuds: „Papa würde sich sehr freuen, R.(eich) aus der Vereinigung loszuwerden. Mir macht es trotzdem Bedenken, daß man ihm Gelegenheit gibt, sich als politischer Märtyrer aufzuspielen, statt ihm zu zeigen, daß er ein schlechter Analytiker geworden ist.“

Dieser Brief war an Ernest Jones, den Präsidenten der Internationalen Psychonanalytischen Vereinigung (IPV) in London gerichtet und wird im hier besprochenen Band über den Luzerner Kongreß erstmals ausschnittweise veröffentlicht.

Freuds Ungeduld wuchs. In einem zweiten Brief an Jones schreibt die Tochter: „Mein Vater … kann nicht erwarten, Reich als Mitglied loszuwerden, ihn beleidigt die Vergewaltigung der Analyse ins Politische, wo sie nicht hingehört.“

Spätestens um diese Zeit herum beginnt zwischen Wien, dem Stammsitz der Psychoanalyse, Berlin, dem Sitz der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), und London, dem Sitz des IPV-Präsidenten Ernest Jones, ein Spiel mit gezinkten Karten, dessen Ergebnis feststeht: Wilhelm Reich soll aus der DPG entfernt werden, weil man glaubt, durch dieses Opfer ließe sich ein Verbot der Psychoanalyse in Hitler-Deutschland vermeiden. Und tatsächlich gelingt es, dank des jederzeit vorauseilenden Gehorsams wichtiger Repräsentanten der deutschen und internationalen Psychoanalyse und entgegen einer noch heute weit verbreiteten Meinung, ein Verbot der Psychoanalyse im „Dritten Reich“ zu verhindern.

Durch Anpassung der Psychoanalyse an die nationalsozialistische „Realität“, also durch Kollaboration oder, um es auf deutsch etwas freundlicher zu sagen, durch Zusammenarbeit psychoanalytischer und nationalsozialistischer Institutionen kommt es dabei allerdings zur inneren, moralischen Zerstörung dessen, was äußerlich erhalten bleibt. Die Zusammenarbeit findet endlich, 1936, ihren symbolischen und praktischen Ausdruck im Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie, das von M.H. Göring, einem Vetter des Reichsmarschalls, geleitet und in den Räumen des ehemaligen Berliner Psychoanalytischen Instituts untergebracht wird.

Entschiedener Gegner derartiger Kompromißbereitschaft, aber eben auch Repräsentant einer Psychoanalyse, die von den Nazis unter keinen Umständen geduldet werden konnte, war Wilhelm Reich. Soweit die Mainstream-Psychoanalyse unter Hitler überleben wollte, mußte sie sich daher offen von Reichschen Positionen abgrenzen und Reich aus ihren Reihen ausgrenzen. Die zu diesem Zweck unternommenen Schritte sahen etwa so aus: Der Internationale Psychoanalytische Verlag, vertreten durch Dr. Martin Freud in Wien, kündigte kurz nach Hitlers Regierungsantritt einen mit Reich bereits abgeschlossenen Publikationsvertrag für dessen Buch „Charakteranalyse“. Indem man Reichs analytische Arbeit gar nicht mehr verlegte, ließ sich wohl am besten der angestrebte Eindruck erwecken, er sei „ein schlechter Analytiker geworden“ (wie Anna Freud an Jones geschrieben hatte). Der zweite Schritt gegen Reich bestand in der Aufkündigung jedweder Solidarität. Max Eitingon, im Frühjahr 1933 noch Vorsitzender der DPG und im Herbst desselben Jahres bereits nach Palästina emigriert, also selbst ein Opfer des neuen Unrechtregimes, „ließ gleich nach der Machtergreifung der neuen Regierung Dr. Reich mitteilen, er möchte unsere Institutsräume (in Berlin) nicht mehr betreten, damit, falls er verhaftet würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne“ – schreibt der „Arier“ Felix Boehm, der im Herbst 1933 auf Empfehlung Freuds Nachfolger des Juden Eitingon als DPG-Vorsitzender wurde.

Rechtzeitig vor dem Luzerner Kongreß erfährt Jones von Boehm, der Vorstand habe Wilhelm Reich im Sommer 1933 per Geheimbeschluß und noch mit Wissen Eitingons aus der DPG ausgeschlossen. Zum Zeitpunkt seines – vermutlich gegen alle Statuten der DPG verstoßenden – Ausschlusses befindet sich Reich bereits auf der Flucht vor den Nazis. Als er 1934 in Luzern ankommt, bittet man ihn um Verständnis dafür, daß man ihn im Kongreßkalender nicht mehr als DPG-Mitglied aufführen könne. Er wisse doch, daß er als Hitler-Gegner eine Belastung für die in Deutschland verbliebenen Kollegen darstelle. Die ganze Wahrheit, daß er nämlich längst aus der DPG-Mitgliederliste gestrichen worden ist, erfährt Reich eher beiläufig „in der Halle des Kongreßsaales“, als er zufällig einem Mitglied des Vorstandes der IPV über den Weg läuft.

Wegen des Fehlens seines Namens in der Liste der DPG-Mitglieder protestiert Reich heftig gegenüber Anna Freud, die ihm daraufhin schriftlich mitteilt, sie wisse „von der ganzen Angelegenheit“ rein gar nichts, könne sich auch nichts erklären, wolle aber vorsichtshalber bei Jones nachfragen, ob der „etwas davon gewußt hat“.

Mit anderen Worten: Zwei, die sich spätestens seit April 1933 darüber verständigten, Reich aus der IPV zu werfen, und nur noch nach den dafür in ihrem Sinne geeignetsten Mitteln forschten, wollen sich jetzt auf die Suche nach demjenigen machen, der dafür verantwortlich zeichnete, Reichs Namen im Kongreßkalender nicht mehr zu erwähnen. Derlei Reich gegenüber bezeugte Ahnungslosigkeiten gehören wohl zu dem, was Reich nach dem Kriege in einem Interview mit dem New Yorker Psychoanalytiker Kurt Eissler „die Schweinerei von Luzern“ nannte.

Das Komplott gegen den Antifaschisten Reich zum Zwecke der „Rettung“ psychoanalytischer Institutionen in Hitler-Deutschland wurde von den daran beteiligten „Instanzen“ bis heute nicht bedauert. Was Freudianer gerne „der“ Gesellschaft empfehlen – nämlich die Vergangenheit zu erinnern und durchzuarbeiten -, verweigerten ihre offiziellen Repräsentanten im „Fall“ Reich bis heute. Und es sieht leider so aus, als werde solche Hartnäckigkeit auch Zukunft haben, dann jedenfalls, wenn die Argumentation die Oberhand behalten sollte, die im Textteil des hier zu besprechenden Buches vom Hamburger Psychoanalytiker und (laut Schutzumschlag) „Dokumentator“ Volker Friedrich durchgehalten wird.

Neben einiger Zerknirschung darüber, daß auch auf Seiten der institutionalisierten Psychoanalyse nicht alles so schön ablief, wie man es noch bis vor kurzem glauben wollte, besitzt Friedrich doch ein ziemlich dickes Fell, in dem er sich wohlzufühlen scheint. Versuchen wir, es ihm über die Ohren zu ziehen.

Zunächst ignoriert Friedrich systematisch alle Dokumente, die von Reich stammen. Die Stellungnahmen aus der von Reich in der Emigration herausgegebenen Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie zum Luzerner Kongreß fehlen also in der von Friedrich zu verantwortenden „Dokumentation“ zum Luzerner Kongreß. Und schließlich bringt er das Kunststück fertig, die offensichtliche Geschichtsklitterung eines Hauptverantwortlichen im „Fall“ Reich, nämlich Ernest Jones, als Ausdruck von später Reue und „rückblickender“ Korrektur zu interpretieren und zu akzeptieren.

Mit Hilfe dieser Korrektur, also mit Hilfe einer Falschmeldung, die sich in der von ihm verfaßten Freud-Biographie findet, konnte Jones nach dem Ende des Krieges ein an historischen Wahrheiten über die Zeit des Nationalsozialismus nicht sonderlich interessiertes und zudem von den Quellen weitgehend abgeschnittenes Publikum mit folgenden Behauptungen in die Irre führen:

(1) Bereits im Jahr 1934 sei in Hitler-Deutschland eine vollständige „Liquidierung“ der Psychoanalyse erfolgt;

(2) bereits 1934 hätten alle bis dahin noch in Deutschland verbliebenen jüdischen Analytiker das Land verlassen.

Im Jahre 1934 war in Hitler-Deutschland allenfalls die von Wilhelm Reich vertretene Psychoanalyse „liquidiert“, während sich die unter anderem von Jones mitvertretene Psychoanalyse dort weiterhin um Zusammenarbeit mit den Nazis bemühte. 1935 wurden die noch in Deutschland verbliebenen jüdischen DPG-Mitglieder (die also keineswegs alle bereits 1934 emigriert waren) von Jones aufgefordert, zwecks „Rettung“ der DPG endlich „freiwillig“ aus derselben auszutreten. Und 1936 besprach Jones in Basel mit M.H. Göring die weitere Gestaltung der Kooperation zwischen den nunmehr rein „arischen“ Psychoanalytikern Deutschlands und den Nationalsozialisten. Wenige Wochen vor diesem Gespräch hatte Göring in einer ersten Mitgliederversammlung des neugegründeten Berliner Instituts unmißverständlich und öffentlich klargestellt, daß hier der Alleinanspruch der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ zu gelten habe.

Zurück zu Friedrich. Nach seinem Urteil war Reich an seinem Ausschluß selber schuld. In der Diktion Friedrichs formuliert: „Reich wird jetzt zunehmend als Belastung empfunden. Er gerät in die Rolle des Sündenbocks …“ Fragt sich nur: Welche „Sünden“ können, aus der Rückschau von 1990, gemeint sein? War der erklärte Antifaschismus Reichs eine „Sünde“?

Friedrich weiter: „Soweit bis jetzt bekannt, ist Wilhelm Reich nicht ausgeschlossen worden, sondern er hat in Überschätzung seiner Kräfte im Anschluß an den Luzerner Kongreß 1934 selbst seinen Austritt erklärt.“ Da Reich – nach Friedrich – „freiwillig“ auf seine Mitgliedschaft verzichtet hatte, was Friedrich, seinen Slalom oder Eiertanz durch die Geschichte fortsetzend, an anderer Stelle wieder relativiert („… eine offene Frage, ob Reich ausgeschlossen wurde oder selbst ausgetreten ist“), kann der im Lehnstuhl urteilende „Dokumentator“ dem Emigranten Reich noch einen weitergehenden Vorwurf machen: „Er trat die historische, politische und wissenschaftliche Herausforderung nicht an.“

Wohlgemerkt! Hier ist nicht vom historischen, politischen und wissenschaftlichen Versagen jener Dunkelmänner die Rede, die die Psychoanalyse mit nationalsozialistischer „Weltanschauung“ zu verkuppeln trachteten (wie etwa besonders eifrig der seit Herbst 1933 gemeinsam mit Boehm amtierende zweite DPG-Vorsitzende Müller-Braunschweig). Hier wird Wilhelm Reich nachträglich der Prozeß gemacht. Solcher Schmähkritik zum Trotz lesen wir 1935 in der von Reich herausgegebenen Emigrantenzeitschrift, Reich habe stets jedes an ihn gestellte Ansinnen der IPV-Führung, die Vereinigung „freiwillig“ zu verlassen, abgelehnt, und dies werde auch in Zukunft so bleiben. Es folgt die schriftliche Erklärung Reichs, „daß er niemals freiwillig austreten werde.“

Das heißt: Reich zwang die IPV-Führung zum Handeln; er zwang sie, politisch Farbe zu bekennen und ihn hinauszuwerfen, wollte man weiter mit den Machthabern in Deutschland kooperieren. Wenn Friedrich also heute Reichs bewußt getroffene Entscheidungen zu relativieren versucht, so geschieht dies zum Zweck einer nachträglichen Korrektur der Geschichte zugunsten einer Bürokratie, deren Opfer Reich wurde – und in einem gewissen Sinn recht verstanden: werden wollte.

Friedrichs lobenswerter Fleißarbeit, die vielen Analytiker der dreißiger Jahre auf den Photos des Bandes über den Luzerner Kongreß zu identifizieren und dem Leser ein handliches Faltblatt zum raschen Erkennen der Abgebildeten anzubieten, stehen also die von mir zitierten Schmähreden auf einen Emigranten gegenüber, der im Exil schriftlich das Gegenteil von dem versichert hatte, was Friedrich ihm 1990 unterstellt.

Friedrichs Behauptung vom angeblich „freiwilligen“ Austritt Reichs stützt sich auf ein einziges „Dokument“, nämlich auf einen Brief, den Anna Freud im Dezember 1934 an Ernst Simmel schrieb. Die Interessenlage der Briefschreiberin kennen wir, sie hatte schon im April 1933 Jones mitgeteilt, ihr Vater könne Reichs Hinauswurf aus der Vereinigung kaum erwarten, sie sei aber nicht dafür, Reich den Anspruch eines „politischen Märtyrers“ zu gönnen; man müsse andere Wege suchen, ihn loszuwerden. Und Simmel, an den Anna Freuds Schreiben gerichtet war, in dem von Reichs angeblich „freiwilligem“ Verzicht auf die Mitgliedschaft die Rede ist (Friedrich zitiert den Wortlaut nicht, er beruft sich lediglich auf das ihm bekannte unveröffentlichte Dokument), war eben jener Mann, der schon im Sommer 1933 in Berlin den Antrag gestellt hatte, Reich aus der DPG auszuschließen.

Das Skandalöse der Wortwahl vom „freiwilligen“ Austritt Reichs liegt aber nicht in erster Linie in der völlig unzulänglichen Berücksichtigung der bekannten Dokumente durch Friedrich. Es liegt darin, daß genau diese Wortwahl in der Geschichte der Psychoanalyse während der Zeit des „Dritten Reiches“ eine unappetitliche Rolle gespielt hat. Nachdem die Vorstandsebene der DPG, einem ausdrücklichen Wunsch Freuds folgend, im Herbst 1933 „arisiert“ worden war – für diesen Antrag hatte im Mai 1933 bereits die Jüdin Edith Jacobsohn gestimmt, dagegen hatte sich im Mai 1933 noch der „Arier“ Harald Schultz-Hencke gewandt; so verrückt waren damals die Fronten innerhalb der DPG, wenn es um die Frage ging, welche Kompromisse mit dem neuen Regime zu schließen seien -, stand Ende 1935 die Frage an, ob nunmehr die gesamte Mitgliedschaft DPG zu „arisieren“ sei, um so, wie man meinte, abermals einem drohenden Verbot der Organisation durch die Nazis zu entgehen.

Der IPV-Präsident Jones hatte, nach einigem Zögern und Versuchen, diesen Schritt zu verhindern, schließlich doch aus London an Therese Benedek, die Beauftragte der jüdischen Gruppe, telegraphiert, er rate den Juden in der DPG „dringend“ zum „freiwilligen Austritt“. Die Sinnlosigkeit eines solchen Opfers und den Schaden, den sich eine auf diese Weise „gerettete“ Psychoanalyse selbst zufügen würde, hatte nun aber Wilhelm Reich immer wieder dargelegt, als man von ihm ähnliche Opfer verlangte.

Als er sich beispielsweise weigerte, „freiwillig“ von einem mit dem Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien abgeschlossenen Vertrag für sein Buch „Charakteranalyse“ zurückzutreten, beschwerte sich Anna Freud in einem Brief an Jones, Reich habe endlich zugegeben, es sei ihm wichtiger, seine Bücher erschienen weiterhin im Verlag, „als ob die Berliner Vereinigung samt Lehrinstitut geschlossen wird oder nicht.“

Eben! Schon sehr früh, nämlich in einem am 17. März 1933 nach Wien geschriebenen Brief, hatte Reich diese Kompromißlosigkeit gegenüber dem Terror politisch begründet: „Ich sehe … die wichtigste Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis (nämlich auf Kosten selbstzerstörischer Kompromisse mit den Nationalsozialisten), sondern die Psychoanalyse und ihre Weiterentwicklung zu sichern.“ Und das konnte, nach Reichs Meinung, nur durch entschiedene und äußerlich klare Gegnerschaft zur Ideologie und Praxis der Nationalsozialisten geschehen.

Wenn nun Friedrich heute, im Jahre 1990, unbedrängt von nationalsozialistischer Barbarei, behauptet, Reich sei 1934 in Luzern „freiwillig“ von seiner Mitgliedschaft zurückgetreten, so wird damit ein Mann, der für seine Entschiedenheit ein persönlich sehr schmerzhaftes Opfer erbringen mußte, noch im nachhinein um seine Argumente, um seinen politisch motivierten Widerstand betrogen. Hätte Friedrich recht, so stünde Reich am Ende nicht anders da als jene bedauernswerten jüdischen DPG-Mitglieder, die 1935 tatsächlich dem Wunsch ihrer „arischen“ Kollegen, aber eben auch dem ausdrücklichen Rat des IPV-Präsidenten Jones folgten und die DPG verließen, um auf diese Weise die Psychoanalyse zu „retten“. Genau dieser Art von „Rettung“ hatte Wilhelm Reich von Anfang an, nämlich seit dem Frühjahr 1933, entschieden widersprochen.

Der „Fall“ Reich ist offensichtlich noch immer nicht ausgestanden, denn dabei geht es stets auch um die Politik der organisierten internationalen Psychoanalyse gegenüber Hitler-Deutschland. Der Luzerner Kongreß im Jahre 1934 war ein Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Psychoanalyse, denn hier wurden – zunächst nur auf organisatorischer Ebene – die Weichen für das künftige Schicksal der Psychoanalyse, scheinbar nur in Deutschland, gestellt. Tatsächlich aber geschah mehr: Die Psychoanalyse entschied sich für ein Bündnis mit den Herrschenden – und seither steht die Frage zur Debatte, welche organisatorischen, praktischen und wissenschaftlichen Auswirkungen dieses noch längst nicht aufgearbeitete Trauma für die Psychoanalyse noch immer hat.

Die düsteren Wolken, die auf manchen der Bilder Gidals über Luzern und auch in den Gesichtern einzelner Kongreßteilnehmer zu sehen sind, liegen also bis heute über der Psychoanalyse selbst. Was damals geschah, mag im Rückblick verständlich, vielleicht gar verzeihlich sein, denn es ging bei all dem immer auch um Leben und Tod, und es steht den Nachgeborenen, in vergleichsweise sicheren Verhältnissen Lebenden, schlecht an, sich in der Gewißheit zu wiegen, sie hätten wohl entschiedener Widerstand geleistet als jene, deren Entscheidungen äußerst fragwürdig waren – und sind.

Aber diese Mahnung, sich selbst zu bescheiden, bedeutet nicht, noch heute gruppenspezifische Rechtfertigungsstrategien gutzuheißen und weiterzupflegen, deren Sinn es war und ist, eigenes Versagen zu bemänteln und die Schuld bei anderen zu suchen. Es ist nicht unser Verdienst, in einem Land zu leben, in dem derzeit die freie Rede vergleichsweise wenig bedroht ist; umso mehr sollten wir Gebrauch davon machen.

Tim N. Gidal:
Die Freudianer auf dem 13 Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern

Mit einem dokumentarischen Anhang von Volker Friedrich; Verlag Internationale Psychoanalyse, München 1990, 184 S., Abb., DM 98.-

Dieser Artikel von Dr. Bernd Nitzschke mit dem Titel „Freuds Ungeduld wuchs“ erschien im Oktober 1990 in der Wochenzeitung „Die Zeit“.

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