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Bukumatula 5/1990

Allem Krieg ein Ende?

Sissi Mikula:

„Es gibt einen Punkt der Beziehung der Geschlechter, an dem sich entscheidet, ob auf der Erde Krieg oder Frieden sein wird.“

Wilhelm Reich hat den „Charakterpanzer“ des Menschen auf die eingeschränkte Möglichkeit, die volle Lebensenergie zu leben, insbesondere in Bezug auf unerfüllte ‚Sexualität, zurückgeführt. Stell dir vor, du bist Forscher aus Berufung und entdeckst, daß die sexuelle Energie der Antriebsmotor für alles Lebendige ist. Du entdeckst das zuerst in dir, dann in anderen, die von deinen Entdeckungen angezogen werden. Und du stößt auf eine Menge Menschen – die Gesellschaft -, die alles tut, um deine Entdeckung zu nivellieren, zurückzudrängen oder zu ignorieren.

In dir rumort das Leben, die Sehnsucht nach Hingabe, Aufgabe und Einlösung, dein Körper und dein Geist können das allein gar nicht fassen, du weißt, daß du an der Quelle des Lebens bist, – und du bist allein.

Wer wird da nicht verrückt?

Wilhelm Reich war an der Quelle. Und er war allein.

Aber er hatte eine Entdeckung gemacht, die er kurz vor seinem Tod den „Kindern der Zukunft“ gewidmet hat.

10 Jahre nach seinem Tod:

Die Studentenrevolte in Europa proklamiert die „freie Liebe“ als Ausstieg aus Unterdrückung, Anpassung und Lebensmüdigkeit. Die Kommunen I und II in Berlin proben den täglichen Aufstand gegen Moral und Sitte in den eigenen (und fremden) Zellen. „Wer zweimal mit derselben ‚pennt, gehört schon zum Establishment“.

Hier macht sich Platz, was zu lange in bürgerlichen Moralverpflichtungen eingekerkert war. Die Frauen kommen historisch erst später zu Wort. Anfang der siebziger Jahre entsteht der Feminismus als Antwort auf knallharte Männerparolen, auf chauvinistische und patriarchale Neuzeitsprüche.

Aber die Feministinnen sind auch nicht glücklich, denn sie verleugnen ihren Gegenpol – und das ist der Mann. Die Männer, die noch im Spiel bleiben wollen, werden „Softies“, ihr Markenzeichen ist der geknickte Mars.

Allem Krieg ein Ende?
Mitnichten!

Der Geschlechterkonflikt ist auf seinem Höhepunkt angelangt. Die Frau ist nicht mehr Frau und der Mann ist nicht mehr Mann.

So kann das doch nicht gemeint gewesen sein.

Die menschheitliche Entwicklung vollzieht sich -offensichtlich – in Amplituden.
Homo Sapiens — der Wissende – ist das Ziel … und der Weg.
Was weiß der Mann von der Frau? Und was weiß die Frau vom Mann?

Es reicht nicht aus, wenn ein Mann von einer Frau weiß, was sie sich sexuell wünscht. Denn jedesmal, wenn er zu anderen Frauen kommt, ist sein Selbstzweifel wieder da. Und umgekehrt» Was in diesem Bereich fehlt, ist die Kommunikation, die Freundschaft zwischen Mann und Frau und die Solidarität auf einem menschheitlichen Entwicklungsweg.

Warum sind Adam und Eva aus dem Paradies gegangen? Weil sie wissen wollten, was es mit der Polarität auf sich hat.

Wenn man sich anschaut, was Wilhelm Reich einmal initiiert bzw. visioniert hat, ist davon heute noch nicht viel verwirklicht. Sicherlich wurden seine Forschungsansätze weiterentwickelt, verfeinert, die Körpertherapie hat sich dank der Arbeit von Lowen, Boadella, Pierrakos, Boadella, Kurtz, etc zu einer nicht mehr wegzudenkenden Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeit für den einzelnen herauskristallisiert.

Aber was nützt die beste Therapie, wenn man in einem sozialen Umfeld lebt, das die gerade eben gewonnene Erkenntnis sofort wieder in einen „geordneten Rahmen“ verbannt?

Es geht bei der Entwicklung der Menschheit also um mehr als „nur Therapie“. Therapie heißt vom Ursprung des Wortes her: Heilung.

Aber da der Mensch Teil des Gesamtorganismus „Menschheit“ oder „Erde“ ist, kann er allein als Teil keine dauerhafte und vollständige Heilung finden. Vollständige Heilung bedeutet in diesem Sinne: Heilung des Ganzen. Also sind wir herausgefordert, neben der persönlichen Erkenntnis eine soziale Erfindung zu machen, die es uns ermöglicht, diese persönliche Erkenntnis auch in die Tat und Handlung, sprich in das tägliche Leben umzusetzen.

Da es sich bei der Befreiung des menschlichen Organismus so sehr um die sexuelle Energie dreht, brauchen wir eine soziale Struktur, in der wir diese sexuelle Freiheit erleben können. Die Ehe oder Zweierbeziehung mit ihrem sexuellen Ausschließlichkeitsanspruch ist viel zu eng, um der Kraft des Eros gerecht zu werden. Eros ist ein anarchistischer Gott, und der anerkennt keine Eheverträge.

Die sogenannte „freie Ehe“ führt auch nicht zu der ersehnten Freiheit, denn wenn es zwischen dem Ehepaar und den jeweiligen Liebespartnern keine Freundschaft, keine Transparenz gibt, steht man irgendwann wieder vor der Entscheidung: entweder – oder.

Unter den Bedingungen der Isolation, der Verschwiegenheit in allem, was „Privatleben“ genannt wurde, konnten wir nicht lernen, dem Geliebten zu vertrauen, wenn er auch andere liebt.

Dieser immer wiederkehrende Entscheidungszwang hat mich vor vielen Jahren zu einer Gruppe von Menschen geführt, die – aus unterschiedlichsten Richtungen und Erfahrungsräumen kommend – ein Experiment gewagt haben: den Aufbau einer funktionierenden Gemeinschaft, in der die Liebe eines Menschen zu einem anderen in einem Dritten nicht mehr dieses Maß an Angst und Haß hervorruft, wie es bisher der Fall war. Wo ein Mann, weil er eine dauerhafte Liebesbeziehung hat, für andere Frauen nicht mehr Tabu ist. Wo seine Freundin Freundschaft schließen kann mit den anderen Frauen. Eine Frauenfreundschaft, die überhaupt erst entsteht, weil die Frauen erkennen, warum sie diesen Mann lieben und sich darüber verständigen können. All dies gilt natürlich umgekehrt auch für den Mann.

Wenn eine Frau ihre sexuelle Lust entdeckt, dann wird sie sich nicht mehr auf den Einen beschränken wollen, denn sie erfährt ihre Lust unabhängig von einem bestimmten Mann. Diese Erkenntnis ist ein historischer Wendepunkt: der Lust der Frau ist bisher in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Eigenleben zugestanden worden. Aber um die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende eingeimpfte Keuschheit zu überwinden, braucht es einen Freiraum, in dem die Frau diese Lust „ungestraft“ und ohne moralische Vorwürfe erleben kann. Da kann sie erfahren, daß sie als Frau viele Bilder in sich vereinigt: die Gattin, die Geliebte, die Hure, die Mutter, die Schwester, die Beraterin oder Freundin. Und alle diese Bilder haben einen sexuellen Charakter.

Natürlich sehnt sich jeder nach einem Partner seines Vertrauens. Aber wenn ein Mensch einem anderen alles sein soll, dann ist er restlos überfordert. Die Konsequenz: Wut über unerfüllte Wünsche, Mißtrauen, Langeweile, ein immer mehr abflauendes Sexualleben. Ein freies Sexualleben und eine intime Partnerschaft schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie bedingen einander.

Die Arbeit an diesen persönlichen Themen ist deshalb eine politische Arbeit, weil es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen dem „Kleinkrieg“ in den Liebesbeziehungen und dem realen Krieg in der Welt. Viele Menschen meiner Generation würden sich selbst als „gewaltfrei“ bezeichnen. Wenn es aber darum geht, den Heißgeliebten für sich zu gewinnen oder ihn zu halten, dann ist dazu fast jedes Mittel recht. Plötzlich ist man mit der eigenen Intriganz oder gar Mordlust konfrontiert.

Ob Frauen und Männer sich über ihre tiefsten Wünsche in der Liebe und in der Sexualität zu verständigen beginnen, wird mit darüber entscheiden, ob auf der Erde Krieg oder Frieden herrschen wird.

In meiner langjährigen Arbeit als Gruppentherapeutin habe ich festgestellt, daß das Selbstbewußtsein eines Menschen erst dann auf gesunden Füßen steht, wenn er sich voll und ganz als sexuelles und spirituelles Wesen, als Individuum und Gemeinschaftsmitglied annehmen kann. Dazu braucht er die anderen, als Spiegel seiner Person. In meinen Seminaren liegt der Schwerpunkt deshalb auf der „Begegnung“ und der „direkten Kommunikation“. Die innere Gestalt, die es für jeden Menschen im Laufe seiner Inkarnation zu entwickeln gilt, kann eben oft nicht mit eigenen Augen voll gesehen werden. Die Gemeinschaft – z.B. ein intensiver Freundeskreis, aber auch eine sich regelmäßig treffende Gruppe, – „bespiegelt“ jeden einzelnen von so vielen Seiten, daß alle Facetten seiner Persönlichkeit beleuchtet werden.

Das Zusammenleben in Gemeinschaften hat natürlich nicht nur diesen „therapeutischen“ Wert: der Mensch ist per se ein kommunitäres Wesen. Kinder suchen von Anfang an viele Bezugspersonen, die sie lieben und von denen sie lernen können, wenn man es ihnen ermöglicht. Die Liebeskraft des Menschen ist unerschöpflich. Die totale Fixierung auf einen Liebespartner ist das Resultat unserer Verlassenheit, und zwar im psychischen Sinn, aber auch im spirituellen Sinn. Ob wir das ganze nun Gott nennen oder Schöpfung, wir befinden uns in einem geschichtlichen Prozeß der Suche nach der Wiederverbindung mit dem Ganzen.

Den Hintergrund für meine Arbeit bildet das Projekt Meiga, das den Aufbau von funktionierenden Gemeinschaften zum Ziel hat. „Funktionierende Gemeinschaften“ heißt, ein menschliches Biotop zu entwickeln, in dem Begriffe wie Heimat,Treue, Abenteuer, sinnliche und geistige Vielfalt wieder zum Leben erweckt werden. Das Individuum findet Platz für sein persönliches Wachstum, aber auch den Mut, sich wieder mit anderen zu verbinden. Es geht darum, Gemeinschaften aufzubauen in einer Zeit, die durch Grenzüberschreitungen in allen Bereichen des Lebens gekennzeichnet ist.

Das Projekt Meiga (auch unter Sexpeace bekannt) beginnt im nächsten Jahr mit dem Aufbau eines internationalen Forschungszentrums für den Entwurf eines humanen Gesellschaftsmodells. Für eine humane Zukunft, die jenseits der herkömmlichen politischen Systeme liegt, brauchen wir funktionierende soziale Systeme. Viel zu viel Energie ist in der Vergangenheit in menschliche Mißverständigungen wie Konkurrenz, Neid, Eifersucht, Machtkämpfe, etc. geflossen. Dieses Zentrum wird allen Suchenden die Möglichkeit bieten, für kürzere oder längere Zeit einen schützenden Raum aufzusuchen, um den Fragen nach dem Sinn des Lebens, einer sinnlichen Zukunft und der persönlichen Aufgabe nachgehen zu können.

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