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Bukumatula 2/2017

Die Funktion des Orgasmus – 90 Jahre danach

Die Sexualtheorien Wilhelm Reichs und die heutige Relevanz für die moderne Körperpsychotherapie
von
Thomas Harms:

Einleitung

„So dick?“ – dies war die enttäuschende Reaktion Sigmund Freuds auf das Manuskript „Die Funktion des Orgasmus“, das Wilhelm Reich ihm anlässlich seines 70. Geburtstages im Mai 1926 überreichte. Es sollte nicht die letzte Zurückweisung sein, die Reichs Sexualtheorien erfuhren. Die Rezeption der Reichschen Orgasmustheorie ist bis heute eine Geschichte, die durchdrungen ist von irrationalen Attacken, inkorrekten oder verkürzten Darstellungen oder vehementer Ablehnung seiner Arbeiten.

Lange Zeit schien es so, als habe Reichs sexualtheoretische Grundlagenarbeiten in den neoreichianischen Schulen der Körperpsychotherapie ihre Heimat gefunden. Auch wenn dies nicht immer ausdrücklich formuliert wurde, so waren die Wiederherstellung der sexuellen Lust- und Hingabefähigkeit für viele neoreichianische Schulen ein anzustrebendes Ziel ihrer therapeutischen Bemühungen. Darüber hinaus finden sich Reichs sexualökonomische Modelle auch eingewoben in den Charaktertheorien und Entwicklungskonzepten, die auch heute noch in unterschiedlichen Versionen gelehrt werden. Was hat es nun mit diesen Forschungen auf sich, die Wilhelm Reich vor 90 Jahren in seinem Werk „Die Funktion des Orgasmus“ veröffentlichte.

Welchen Wert haben seine Beschreibungen der affektiven, körperlichen und verhaltensmäßigen Aspekte menschlicher Sexualität im Feld der heutigen Körperpsychotherapie? Wo sind sie wichtige diagnostische Systeme, die uns helfen uns in der Praxis der Körperpsychotherapie zu orientieren? Und wo müssen die Sexualtheorien hingegen – im Licht der heutigen Forschungsergebnisse – neu gelesen oder gar relativiert werden? Mein Anliegen für diesen Artikel ist es, die Komplexität und Stringenz der Reichschen Forschungen systematisch aufzubereiten.

Dazu werde ich in diesem Artikel

  1. den wissenschaftshistorischen Kontext der sexualtheoretischen Debatte zwischen Freud und Reich innerhalb der Psychoanalyse nachzeichnen
  2. die psychosomatischen Dimensionen der Genitalitätstheorie Wilhelm Reichs darstellen und reinterpretieren
  3. das Potenzial der Reichschen Sexualtheorie für die Praxis skizzieren und kritisch diskutieren

Der Verlust des Sexuellen in der Körperpsychotherapie

Im Jahre 1924 hielt der junge Psychoanalytiker Wilhelm Reich den Vortrag „Über das Problem der Genitallibido“ auf dem Kongress der IVP in Salzburg. In diesem Beitrag umriss Reich bereits die Kernideen, die drei Jahre später unter dem Titel „Die Funktion des Orgasmus“ als Buch veröffentlicht wurden (Reich, 1985). Er beschreibt in seiner Autobiografie, dass keine andere Arbeit so bedeutsam für sein Gesamtwerk gewesen sei, wie die tiefere Auseinandersetzung mit den psychischen, körperlichen, sozialen und energetischen Dimensionen des menschlichen Orgasmus.

War die Auseinandersetzung mit der sexuellen Ätiologie der Krankheitsentstehung in den Anfängen der Geschichte der körperbasierten Psychotherapie noch ein zentrales Thema, so ist das Sexuelle in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend aus den Diskursen der Körperpsychotherapie verschwunden. Dies hat mehrere Gründe.

Ursprünglich bauten die Konzepte der meisten körperpsychotherapeutischen Strömungen, die sich auf die Arbeiten Wilhelm Reichs beriefen, auf seinen Energie- und Sexualmodellen auf. Sie standen somit in einer Tradition der Psychoanalyse, die mit den libido- und triebtheoretischen Überlegungen Freuds begonnen hatten. Die sexuelle Erfüllung, das „Strömen“ der Bioenergien, das Lösen der Panzerungen und die Befreiung der verkapselten Körperenergie waren die alles bestimmenden Themen dieser Anfangszeit – zumindest in den neoreichianischen Strömungen der Körperpsychotherapie.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die zweite historische Quelle der Körperpsychotherapie, die in den Leib- und Bewegungstherapien liegt, diese Dominanz des Sexuellen nie teilte. Das achtsame Beobachten des Körpers, das Auswerten des gefühlten Körpers stand hier mehr im Zentrum als die Befreiung oder der Ausdruck der unterdrückten Sexualität (Geuter, 2015).

Mit Beginn der 80er Jahre betraten die neueren Säuglings- und Bindungsforschungen die Bühne der körperpsychotherapeutischen Foren (Dornes, 1993, Downing 1994). Die Pioniere dieser Arbeiten, wie Daniel Stern, Joseph Lichtenberg und John Bowlby u.a. verlagerten nun das Interesse auf die frühesten Beziehungserfahrungen von Säuglingen und Kleinkindern (Bowlby, 2005; Lichtenberg, 1991; Stern, 2006).

Zum einen wiesen sie mit ihren Babyforschungen nach, dass Säuglinge extrem kompetente, soziale und nach Reizen hungernde Wesen sind, die bereits präverbal sehr komplex mit ihrer Umwelt im Austausch stehen. Konzepte eines „primären Narzissmus“ oder einer „autistischen Phase“ der frühen Säuglingsentwicklung, wie sie Freud und seine Schüler ursprünglich vertraten – und die aufs engste mit den metapsychologischen Konzepten einer nach Entspannung strebenden Triebenergie verwoben waren, mussten unter dem Eindruck dieser neuen Ergebnisse aufgegeben werden.

Die Beobachtungen in den Mikroanalysen der Eltern-Kind-Interaktionen offenbarten, dass Säuglinge nicht alleine damit beschäftigt sind, ihre Spannungen direkt wieder los zu werden, wie dies von Freud in seinem Lust-Unlust-Prinzip beschrieben wurde. Freud hatte im Rahmen seiner Libidotheorie angenommen, dass der Spannungs- und Erregungszuwachs jeweils mit einem zunehmenden Unlusterleben einhergeht. Säuglinge, die noch keinen adäquaten Reizschutz haben, sind den inneren und äußeren Reizen in besonderer Weise ausgesetzt.

Dementsprechend, so folgerte Freud, müsste sich der Säugling vorerst in den schützenden Kokon seiner inneren Welt zurückziehen, um nicht von der bedrohenden Welt überflutet zu werden. Die Folge sei, dass Babys – in Ermangelung geeigneter Anpassungsstrategien – jeden Zuwachs von Erregung meiden. In der theoretischen Konsequenz bedeutete dies, dass sich der Säugling vorerst in einer autistischen und zurückgezogenen Welt aufhält, bevor er beginnt, sich aktiv für seine Umwelt zu interessieren.

Diese ursprünglichen Konzepte der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie konnten nun durch die neuere Säuglingsforschung widerlegt werden. Schon das neugeborene Kind sucht aktiv Beziehungsmomente, in denen die Erregung ansteigt. So beschreibt Stern in seinen frühen Arbeiten spezifische Lächelspiele, in denen der Säugling sich mit seinem erwachsenen Gegenüber auf ein immer höheres Erregungsniveau schraubt (Stern, 2006).

Und nichts daran scheint für den Säugling unlustvoll zu sein. Ganz im Gegenteil: Das Baby genießt diesen gemeinsamen Tanz und es juchzt vor Freude, wenn die Erregung in der lebendigen Interaktion immer mehr anwächst. Diese bahnbrechenden Forschungen zeigten, dass Freuds Energiekonzepte und die daran gebundenen Modelle der Spannungsreduktion nicht oder nur unzureichend geeignet waren, um komplexe Interaktionsprozesse im menschlichen Miteinander adäquat zu beschreiben (Harms, 1993).

Theoretische Grundlagen

Zum Problem der Spannungslust

Bereits zu Beginn seiner Karriere beschäftigte Reich sich mit einer theoretischen Frage, die im Rahmen der Freudschen Sexualtheorie bis dahin unbeantwortet war. Wie kann es sein, dass der Spanungsaufbau im sexuellen Vorspiel subjektiv lustvoll erlebt wird? Wieso bewegen sich Menschen freiwillig in Zustände, in denen die Erregung ansteigt?

Freud hatte für das Verständnis der erwachsenen Sexualität bereits eine Unterscheidung von einem Vorlust- und einem Endlustmechanismus vorgenommen. Prägenitale Antriebe (wie Küssen oder Streicheln, etc.) dienen quasi als Vorbereiter der genitalen Vereinigung, sie ordnen sich dem „Primat der Genitalität“ unter.

Prägenitale wie genitale Triebe unterliegen beide der Regulation des Lustprinzips, d.h., beide Triebarten streben nach Abfuhr aufgebauter Sexualerregung. Hier beginnt jedoch das Problem: Wenn wirklich jede Spannungserhöhung mit Unlustgefühlen einhergeht, wie Freud es im Lustprinzip annimmt, dann bleibt natürlich fraglich, warum die enorme Erhöhung der Sexualspannung in der Phase der Vorbereitung überhaupt lustvoll erlebt werden kann? Weiterhin bleibt offen, warum es überhaupt zu einer derartigen Spannungssteigerung kommt, wenn doch die prägenitalen Triebe, ebenso wie der Genitaltrieb, nach Spannungsabfuhr drängen?

Hierzu Freud: „An den Spannungscharakter der sexuellen Erregtheit knüpft ein Problem an, dessen Lösung ebenso schwierig wie für die Auffassung der Sexualvorgänge bedeutsam wäre. Trotz aller in der Psychologie darüber herrschenden Meinungsverschiedenheiten muss ich festhalten, dass ein Spannungsgefühl den Unlustcharakter an sich tragen muss. Für mich ist entscheidend, dass ein solches Gefühl den Drang nach Veränderung der psychischen Situation mit sich bringt, treibend wirkt, was dem Wesen der empfundenen Lust völlig fremd ist.

Rechnet man aber die Spannung der sexuellen Erregtheit zu den Unlustgefühlen, so stößt man sich an der Tatsache, daß dieselbe unzweifelhaft lustvoll empfunden wird. Überall ist sie bei der durch die Sexualvorgänge erzeugten Spannungslust dabei; selbst bei den Vorbereitungsveränderungen der Genitalien ist eine Art von Befriedigungsgefühl deutlich. Wie hängen nun diese Unlustspannungen und dies Lustgefühl zusammen?“ (Freud, 1967)

Reich sieht, dass das Problem nur dadurch zu lösen ist, indem man annimmt, dass die genitalen bzw. prägenitalen Strebungen innerhalb der erwachsenen Sexualität unterschiedlichen Funktionsgesetzen gehorchen. Lediglich der Genitaltrieb sei in der Lage die Sexualspannung adäquat abzubauen.

Die prägenitalen Triebe hingegen würden für einen Aufbau der Spannung und Erregung sorgen. Nur durch die Aussicht und Vorwegnahme einer baldigen Befriedigung und Entspannung, so Reich, könne die Erregungssteigerung überhaupt lustvoll erfahren werden. Die Antizipation auf eine zu erwartende Endlust sei quasi die Voraussetzung dafür, dass eine Spannungssteigerung in Kauf genommen werde.

Dass ein Mensch sich einer Spannungssteigerung in seiner Sexualität hingeben kann, ist nur dadurch möglich, dass zuvor ein hinreichendes Maß an lustvollen Befriedigungen biografisch erfahren und als Erinnerungsspur gespeichert werden konnte. Dass Sexualerregung nicht per se lustvoll ist wird z.B. sichtbar, wenn Menschen während des Liebesaktes jäh unterbrochen werden.

Dann wird der unlustvolle Charakter der aufgebauten Sexualspannung sofort offenbar. In seiner frühen Schrift „Zur Triebenergetik“ veranschaulicht Reich diesen Gedanken: „Wenn ich durch eine öde Gegend in geschäftlicher Angelegenheit reise, z.B. in höherem Auftrag, der mich persönlich wenig tangiert, so wird die resultierende Spannung auf die baldigste Erledigung des Auftrags gehen und nur unlustvoll sein. Anders, wenn mich eine geliebte Person im Ankunftsort erwartet: die Spannung wird vielleicht eine höhere, aber zum Teil (in Erwartung des Wiedersehens) lustvoll sein. Meine Reise bringt mir Positives.

Wir erkennen also aller aus dem Ich resultierenden Spannung, sofern nicht sexuelle Komponenten mitspielen, den Unlustcharakter zu, sagen aber von der sexuellen Spannung des Genaueren aus, in ihr alterniere Lust mit Unlust. In der Phantasie erleben wir momentan die realiter erst kommende Lust. Die dabei gewonnene, allerdings sehr geringe Lust verleiht der Spannung den Lustcharakter….“ (Reich, 1985a)

Anders als Freud, der immer wieder betont, dass Unlust der Motor der Veränderung sei, wird bei Reich gerade die Aussicht auf die zu erreichende, „große“ Lust treibendes Moment der sexuellen Aktivität. Spannungsaufbau in der sexuellen Vorlust und die lustvolle Entspannung in der genitalen Vereinigung bilden im Reichschen Verständnis eine untrennbare Funktionseinheit.

Der lustvolle Aufbau der Sexualspannung und deren zunehmende Konzentration am Genital sind in dieser Sichtweise sogar notwendige Bestandteile eines umfassenden Lusterlebens. Indem Reich die Funktion der prägenitalen und der genitalen Triebe voneinander unterscheidet, wird nun die zentrale Bedeutung der Genitalität für die Regulation des erwachsenen Energiehaushalts verständlich. Lediglich in der genitalen Sexualität, und hier speziell durch die Funktionen des Orgasmus, käme es zu einer umfassenden Entladung von der zuvor aufgebauten sexuellen Erregung. In der genitalen Lust während des sexuellen Höhepunktes käme es somit zu einer Regulation der psycho-vegetativen Erregungshaushalts.

Klinische Beobachtungen in der sexuologischen Praxis

Reich beschäftigte sich mit praktischen Beobachtungen, die sich nicht in die grundlegenden Annahmen der Sexualtheorie Freuds einfügen wollten. So berichtet er über einen jungen Patienten, den Freud ihm zur Behandlung geschickt hatte, der unter einer anhaltenden Erektionslosigkeit litt. In der Therapie war es ihm gelungen, den traumatischen Grundkonflikt aufzudecken und psychoanalytisch zu deuten (Reich 2000). Dies galt in den Anfängen der damaligen Psychoanalyse als wesentliches Ziel der Therapie, um eine Verbesserung der psychischen bzw. psychosomatischen Symptomatik zu bewirken.

„Er war etwa zwei Jahre alt. Seine Mutter gebar ein Kind. Er konnte vom Nebenzimmer den Vorgang genau beobachten. Der Eindruck eines großen blutigen Lochs zwischen den Beinen prägte sich scharf ein. Dabei blieb im Bewusstsein nur das Empfinden einer `Leere´ in den eigenen Genitalien. Nach dem damaligen Stande des psychoanalytischen Wissens verband ich nur die Erektionslosigkeit mit dem schwer traumatischen Eindruck vom `kastrierten´ weiblichen Genitale zweifellos richtig. (…) Ich berichtete über den Fall im Technischen Seminar.

Man lobte die korrekte Aufhellung der traumatischen Urszene. Das Symptom der Erektionslosigkeit hatte ich theoretisch völlig aufgeklärt. Da der Patient arbeitsam und eingeordnet war, `realitätsangepasst´, wie man sagte, fiel keinem von uns auf, dass gerade diese Stille im Affektleben, diese unerschütterliche Ausgeglichenheit der schwerkranke Boden war, auf dem sich die erektive Impotenz halten konnte.“ (Reich 2000)

Das neurotische Symptom blieb erhalten, obwohl die psychoanalytische Kur eine Bewusstwerdung der innerpsychischen Konflikte erreicht hatte. Dies widersprach den Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie. Wieso hatte die Bewusstwerdung der verdrängten frühkindlichen Sexualkonflikte zu keiner Besserung geführt? Was fehlte, damit die volle sexuelle Lust- und Erlebnisfähigkeit des Patienten sich wieder einstellte?

Reich argumentierte konsequent innerhalb des psychoanalytischen Denkgebäudes: Wenn ein Mensch in frühem Lebensalter gezwungen wird, seine frühkindlich-sexuellen Bedürfnisse zu verdrängen, sind spätere Einschränkungen der Erlebnis-und Funktionsfähigkeit in der erwachsenen Sexualität die logische Folge. In Reichs Lesart der Freudschen Konzepte durfte es keinen neurotisch erkrankten Patienten geben, der nicht auch massive Störungen und Erlebniseinbußen seiner erwachsenen Sexualität aufwies.

Doch die von ihm durchgeführten Erhebungen unter seinen Patienten – hier vor allem unter den Besuchern des psychoanalytischen Ambulatoriums für Mittellose, das 1922 in Wien gegründet worden war – ergaben ein sehr widersprüchliches Bild. Unter den weiblichen Patienten, die mit diversen neurotischen Problemen die Behandlung aufsuchten, ließen sich bei ausnahmslos allen Patientinnen schwere Beeinträchtigungen in ihrer Sexualität nachweisen. Hingegen waren nur bei 60% der Männer, die die Ambulanzen besuchten, manifeste Sexualstörungen wie erektive Impotenz oder verfrühter Samenerguss, nachweisbar. 40% der Männer, die aufgrund diverser psychischer Störungen die Therapien in Anspruch nahmen, schienen in ihrer Sexualität keinerlei Beeinträchtigungen auszuweisen (Reich, 1985b).

Diese ersten Erhebungen Reichs widersprachen zentralen Annahmen der damaligen psychoanalytischen Theorie. Wie kann es sein, dass erwachsene Menschen, die mit Angst- oder Zwangs- oder anderen Persönlichkeitsstörungen in die Therapiestunden kamen, trotzdem eine intakte Sexualität aufwiesen? War dies überhaupt denkbar? Konnte es sein, dass die erwachsene Sexualität als quasi eigenständiges Gebilde völlig unberührt ist von den sonstigen affektiven und erlebnismäßigen Störungen, mit denen die jeweiligen Menschen kämpften? Oder war es eher so, dass die erwachsene Sexualität eingebettet ist in eine psychosomatische Ganzheit, in der die sonstigen charakteristischen Muster des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens sich nahtlos auch in den unterschiedlichen Erlebensformen der Sexualität zeigten.

Diese offenen Fragen sollten für Reich der Ausgangspunkt sein, um genauer zu erforschen, wie die Erwachsenen ihre genitale Sexualität subjektiv erleben bzw. wie sich der Entwicklungsprozess in der Therapie in einem veränderten Erleben und Ausdruck abbildet. In diesen Anfängen der Psychoanalyse war eine derartige genaue Evaluierung der unterschiedlichen Erlebensformen in der erwachsenen Sexualität ein eher unübliches Vorgehen.

Man begnügte sich oftmals mit oberflächlichen Informationen, ob und wie oft die Patienten mit ihren jeweiligen Partner sexuellen Kontakt hatten. Reich begann als einer der ersten Psychoanalytiker seiner Zeit die Sexualität seiner Patienten qualitativ genauer zu evaluieren. So richtete sich das Interesse darauf, welche sexuellen Präferenzen die Menschen haben, wie sie die sexuelle Lust affektiv erleben; wann sie während der Sexualität den emotionalen Kontakt zu sich oder zum Partner verlieren. Dies waren für die damalige Zeit ungewöhnliche Fragestellungen, die jedoch Einsichten eröffneten, die zu einer kompletten Neubewertung der Rolle der genitalen Sexualität in Theorie und Praxis führten.

Phänomenologische Betrachtungen der sexuellen Erlebensstörung

In den ursprünglichen psychoanalytischen Modellen ging Freud davon aus, dass sich die sexuelle Entwicklung im Rahmen der Ontogenese entlang von psychosexuellen Phasen entfaltet. Spezifische, hocherregbare Körperzonen sind Organisatoren von jeweiligen prägenitalen Betätigungen. So ist die orale Triebstufe bestimmt durch die Lust am Saugens und Küssen (Freud, 1991). Der Säugling findet im Saugen demnach eine Befriedigung seiner prägenitalen Sexualbedürfnisse. In der frühkindlichen genitalen Phase wechselt das Lustzentrum zum Becken und den Genitalorganen, die durch Selbststimulation und Doktorspiele entdeckt und erstmals bewusst als Lustquelle erfahren werden.

In der erwachsenen Sexualität dient dann das Streicheln, Küssen und Anschauen, um die sexuelle Erregung aufzubauen und zu erhöhen. Freud ging hier von einem „Primat der genitalen Sexualität“ aus. In der genitalen Sexualität werden die unterschiedlichen psychosexuellen und affektiven Entwicklungsstufen als Ganzheit integriert.
Als Reich begann jene männlichen Patienten genauer zu analysieren, die mit ihrer Sexualität zufrieden und angeblich ohne Erlebnisstörung waren, fand er heraus, dass bei durchwegs allen Männern eine tiefe Einschränkung ihrer sexuellen Erlebens- und Hingabefähigkeit zu finden waren.

Dies bedeutete zum einen, dass der Sexualakt selbst andere Ziele verfolgte, als den des reinen Lustgewinns. Die untersuchten Männer setzten die Sexualität ein, um sich zu beweisen, ihren Selbstwert zu erhöhen oder ihre Dominanz zu unterstreichen. Ein überwiegender Teil dieser Männer mangelte es – trotz erektiver Potenz – an zärtlich, liebevollen Strebungen zu ihren Partnerinnen. Es ging ihnen darum schnell zu „kommen“ oder ihre Potenz unter Beweis zu stellen. Bei genauerer Analyse des Sexualverhaltens und -erlebens dieser Männer kamen zudem jede Menge destruktive, sadistische Impulse zum Vorschein.
Hierzu Reich:

„Der Akt bedeutete für den angeblich potenten Mann, Durchbohren, Bewältigen oder Erobern der Frau. Sie wollten ihre `Potenz´ just beweisen oder wegen der erektiven Abfuhr bewundert werden. Diese `Potenz´ ließ sich durch Aufdeckung der Motive leicht zerstören. Dahinter kamen schwere Störungen der Erektion und der Ejakulation zum Vorschein. Bei keinem dieser Fälle gab es auch nur eine Spur von Unwillkürlichkeit oder Verlust der Aufmerksamkeit.“ (Reich, 2000)

Auch bei den Frauen, die Reich behandelte, ließen sich neben den manifesten Funktionsstörungen der Sexualität (mangelnde Erregungsfähigkeit des Genitals etc.) auch Strebungen nachweisen, wo diese den Sexualakt passiv, erduldend und ohne emotionale Beteiligung erlebten. Reich ging es in seinen Erhebungen somit nicht darum, ob und wie oft jemand konnte, sondern vielmehr darum, wie es um die Qualität des genitalen Lusterlebens bestellt war. Konnte sich die lustvolle Erregung langsam aufbauen? Konnten die Partner in der sexuellen Verbindung den Kontakt zu sich und zum Gegenüber halten? Wo bekamen sie Angst und welche Bedürfnisse hielten sie zurück und getrauten diese nicht ihren jeweiligen Partnern zu offenbaren?

Folgende Aspekte sind nach Reich zentrale Kennzeichen einer sexuellen Erlebniseinschränkung, die er später unter dem Begriff der „orgastischen Impotenz“ subsumierte:

  1. Erregungsaufbau wird unlustvoll erlebt. Aufgrund der ausgeprägten psychischen und körperlichen Abwehrprozesse ist die Fähigkeit, den Zuwachs von Erregung und Spannung zu tolerieren, sehr eingeschränkt. Die jeweilige Person erlebt die Erregung nicht lustvoll, sondern fühlt sich von dieser bedrängt, erfährt sie unlustvoll, nicht aushaltbar oder gar schmerzhaft. Es besteht eine hohe Neigung, den Zuwachs an Erregung frühzeitig abzubrechen.
  2. Mangel an Zärtlichkeit in der Vorlustphase. Wie oben schon bereits beschrieben, ist die zärtliche und aufnehmende Seite der Sexualität kaum entwickelt. Vielmehr dominieren die motorischen und aktiven Aspekte in der Sexualität. Es fällt der Person schwer, sich berühren und über die Haut sinnlich stimulieren zu lassen sowie den Partner ganz in sich aufzunehmen.
  3. Mangel an Einfühlung in den Partner. Ein wesentlicher Hinweis für die Einschränkung der sexuellen Regulationsfähigkeit ist die geringe Fähigkeit, sich mit dem jeweiligen Sexualpartner emotional zu verbinden. Während des Liebesaktes findet eine geringe Einfühlung in die Wünsche und Bedürfnisse des Partners statt. Oftmals kreist die betroffene Person in egozentrischer Weise um die eigene Bedürfnisbefriedigung und verliert das Gegenüber komplett aus dem Blick.
  4. Störende Phantasien während des Sexualaktes. Während der sexuellen Begegnung berichten die Betroffenen von allerlei Gedanken und Phantasien, die den sexuellen Kontakt stören. Entscheidend ist hierbei, dass die Person nur eingeschränkt oder gar nicht fähig ist, seine Aufmerksamkeit und affektive Energie auf den Sexualpartner zu konzentrieren.
  5. Fehlen von Unwillkürlichkeit während des Orgasmus. Die Unfähigkeit sich fallen und bewegen zu lassen, ist ein weiterer Aspekt der sexuellen Erlebnisstörung. Speziell in der Endphase des Lust- und Erregungsaufbaus bleiben die Bewegungen willkürlich und „gemacht“. Die Patienten berichten, dass sie während des Liebesaktes „arbeiten“ und willentlich diese oder jene Technik verrichten. Aufgrund der starken affektiven Kontrolle fehlt das unwillkürliche Moment beinahe komplett. Die Personen beschreiben, dass sie sich während des gesamten Sexualaktes beobachten, kontrollieren oder im Griff haben.
  6. Atemverflachung. Ein wesentliches Kennzeichen für den Abbruch des lustvollen Sexualerlebens ist die Unterdrückung und Verflachung der Atemtätigkeit. In dem Augenblick, wo die sexuelle Erregung unlustvoll erlebt wird, hält die betroffene Person während des Liebesaktes die Luft an. „Flache Atmung“ meint, dass aufgrund einer Zwerchfellspannung eine tiefe seufzende Ausatmung nicht mehr gelingt. Die Atmung findet nur mehr in den oberen Bereichen des Körpers statt, was eine schwächende Wirkung im Sexualerleben zur Folge hat.

Die Gefahr einer solchen phänomenologischen Beschreibung eines fehlregulierten Sexualerlebens ist offenbar: allzu schnell werden solche Schemata in mechanistischer Weise normativ und wertend gegen Menschen eingesetzt. Dabei handelt es sich um eine Summation von klinischen und therapeutischen Beobachtungen. Selbstverständlich können akute Belastungen und Stresszustände die Erlebnispotenz eines Menschen temporär schwächen. Problematisch wird es erst dann, wenn eine Person nach Abschluss einer Belastungsphase nicht in der Lage ist, in einen öffnungs- und genussfähigen Modus zurückzukehren.

Hingabefähigkeit als Kern des genitalen Sexualerlebens

Schon in seiner frühen psychoanalytischen Phase beschreibt Reich die erwachsene Sexualität, wie wir es auch heute als Körperpsychotherapeuten tun würden. Dabei fokussierte er nicht allein auf die unterschiedlichen Verhaltensaspekte der Sexualität, sondern vielmehr auf das Wie des Erlebens während der verschiedenen Phasen der Sexualität. 1927 umreißt er phänomenologisch zwei unterschiedliche Formen des Sexualerlebens. Er spricht hier erstmals von „orgastischer Potenz“ bzw. „orgastischer Impotenz“. Was genau versteht Reich unter diesen Begriffen?

Er versteht den Begriff der orgastischen Potenz als Fähigkeit „zu voller Befriedigung gelangen zu können, die der jeweiligen Bedürfnisspannung entspricht; die Fähigkeit, weit häufiger zu dieser Befriedigung gelangen zu können, als den Störungen der Genitalität unterworfen zu sein, die auch beim Gesündesten den Orgasmus gelegentlich stören. Die orgastische Potenz fehlt bei neurotischen Menschen.“ (Reich, 2000).

An anderer Stelle beschreibt Reich die orgastische Potenz als die „Fähigkeit zur Hingabe an das Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung, die Fähigkeit zur Entladung der hochgestauten sexuellen Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckung.“ (Reich, 2000)

Werfen wir hier einen genaueren Blick auf einige psychosomatische Kennzeichen, die darauf hinweisen, dass die Fähigkeit zu ungestörten sexuellen Erlebnis- und Regulationsfähigkeit vorliegt („orgastische Potenz“):
Aktiver Erregungs- und Lustaufbau. Entscheidend ist hier, dass der Erregungsaufbau ausgedehnt und lustvoll erlebt wird. Die Steigerung der Lust wird in der Vorlustphase aktiv gesucht. Die Partner formulieren ihre Bedürfnisse und verschaffen sich durch individuell unterschiedliche Praktiken ein Höchstmaß an sexueller Stimulation und Lust.

Eintauchen in das Hier und Jetzt. Während des Sexualprozesses sind die Partner in der Lage, ganz in einem Gegenwartsmoment zu versinken. Es ist nur bedeutsam, was gerade geschieht. Vergangenes und Zukünftiges spielen keine Rolle und werden kurzfristig komplett ausgeblendet.

Erleben einer Phase der Unwillkürlichkeit. Auf dem Höhepunkt des Erregungsablaufs kommt es zu unwillkürlichen und ganzkörperlichen Körperreaktionen. Die Betroffenen beschreiben einen Kontrollverlust, in dem sie sich den Bewegungen des Körpers auf dem Höhepunkt sexueller Erregung komplett überlassen. „Es bewegt mich, statt Ich bewege mich.“

Kurzzeitige Bewusstseinstrübung und Einstellen der Denktätigkeit. Während des orgastischen Höhepunktes der Sexualerregung werden kurzzeitig alle höheren neokortikalen Denkaktivitäten eingestellt. Die Betroffenen berichten oftmals, dass sie in der sexuellen Erfahrung aufgehen. Während des Sexualaktes kommt es zu veränderten Bewusstseinszuständen, die als „ozeanisch“ oder „kosmisch“ beschrieben werden.

Dankbarkeit und Erfüllung nach dem sexuellen Höhepunkt. Nach dem sexuellen Höhepunkt beschreiben die Betroffenen eine tiefe Dankbarkeit und Wertschätzung für das Erleben und das Zusammensein mit dem Partner. Nach der sexuellen Begegnung erfüllt die Partner ein Gefühl tiefer Entspannung und emotionaler Sättigung.

Verbundenheit und Nähe nach der sexuellen Umarmung. Ein weiteres Kennzeichen, das hier erwähnt werden soll, ist das erweiterte Gefühl der Verbundenheit und Nähe zum Partner, welche sich nach dem Liebesakt einstellt. Die sexuelle Begegnung hat einen stärkenden Effekt auf den Beziehungs- und Bindungsprozess zwischen den Partnern.

Reichs Terminologie der orgastischen Potenz/Impotenz sind qualitative Begriffe, mit denen unterschiedliche Aspekte der Regulationsfähigkeit in der Sexualität des Einzelnen beschrieben werden können.

Mit dem Wissen heutiger Säuglings-, Bindungs-, Achtsamkeits- und neurobiologischer Forschung ließen sich die wichtigsten Kennzeichen der orgastischen Erlebnis- und Hingabefähigkeit in anderen Termini beschreiben. Mit der folgenden Auflistung möchte ich zeigen, wie komplex und differenziert Reich die unterschiedlichen Funktionen und Regulationssysteme beschreibt, die in der genitalen Sexualität zusammentreffen:

  1. Fähigkeit zur körperlichen Entspannung: Ist die Person fähig, sich während und nach dem Sexualprozesses hinreichend zu entspannen?
  2. Fähigkeit zur Erregungsmodulation: Kann die Person in den einzelnen Phasen der Sexualität die auftretenden Erregungszustände so modulieren, dass sie zu den Erlebens- und Erregungsqualitäten des Partners passen?
  3. Fähigkeit zur Selbstwirksamkeit: Kann die Person den Sexualprozess aktiv steuern und beeinflussen, so dass die eigenen Wünsche und Sexualbedürfnisse hinreichend befriedigend werden? Hier geht es auch darum, dass die Person lernt, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, auszudrücken und dann den Mut aufbringt, dem Sexualpartner zuzumuten.
  4. Fähigkeit zur achtsamen Selbstbeobachtung: Ist die Person in der sexuellen Begegnung in der Lage, die Verbindung zum eigenen Körper aufrecht zu erhalten und diesen achtsam zu beobachten?
  5. Resonanz- und Einfühlungsfähigkeit: Kann die Person sich in die inneren Stimmungen, Affekte und Bedürfnisse des Partners einstimmen und diese in angemessener Weise aufnehmen und beantworten?

Wenn Wilhelm Reich im Rahmen seiner sexualökonomischen Arbeiten von sexueller Hingabefähigkeit spricht, meint er, dass der jeweilige Mensch in seiner Sexualität unterschiedliche Erlebensqualitäten erfahren kann. Diese reichen von einer aktiven und willkürlichen Suche nach bestimmten Erregungsformen bis hin zu einem Eintauchen in eine vegetative Dimension des psychischen Erlebens. Hier wird die Person eins mit seiner lustvollen Erregung, den unwillkürlichen Bewegungen und der Verbindung mit seinem Partner.

Aus diesen Beschreibungen wird bereits ersichtlich, dass Reichs Sexualtheorie den Blick nicht auf die genitale Sexualität verengt, wie ihm dies von diversen Kritikern vorgeworfen wurde. Reich beschreibt klinisch, wie die Einflüsse einer damals überaus sexualfeindlichen Umwelt sich in den psychischen und körperlichen Strukturen bereits in der frühen Kindheit und Jugend so verankern, dass die spätere Liebes- und Erlebnisfähigkeit in der erwachsenen Sexualität nachhaltig geschwächt wird. Gesellschaftliche (Sexual-)Ideologie findet somit in erstarrten Körperstrukturen und spezifischem Körpererleben ihren Niederschlag. Doch für Reich ist die strukturelle Störung des Orgasmuserlebens weit mehr als eine Angelegenheit, die allein das Schicksal unserer sexuellen Lust betrifft.

In seiner Sexualtheorie ist Verlust der sexuellen Hingabefähigkeit vielmehr untrennbar verbunden mit einer Genuss- und Erlebniseinbuße, die dann ihre negative Wirkung auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens ausübt. So geht er davon aus, dass die tief verankerte Angst vor dem Loslassen und Strömen in der Sexualität (Orgasmusangst) auch die Grundlage dafür legt, dass wir uns auch in anderen Bereichen unseres Lebens nicht mehr einlassen und treiben lassen. Z.B. im Bereich des Wissenserwerbs verknüpft Reich die Angst vor tiefen Erkenntnissen (Wahrheitsangst) mit der Abwehr von tiefen vegetativen Sensationen, wie wir sie in der genitalen Sexualität erleben können.

Psychosomatische Dimensionen der sexuellen Erlebnisstörung

Schon in der psychoanalytischen Frühphase seiner Sexualtheorie betont Reich die physiologischen Grundlagen der sexuellen Erlebnisstörung. Er unterscheidet psychische und körperliche Aspekte des Sexualprozesses, die lediglich zwei Seiten eines einheitlichen Vorgangs darstellen. Noch deutlicher wird diese körperanalytische Dimension der Sexualstörung bei Reich, als er sich ab Mitte der 30er Jahre mit den Funktionen des Autonomen Nervensystems beschäftigt. Diese Betrachtung unterstützt die Sichtweise Reichs, dass die lustvolle Sexualerregung tief in den vegetativen Grundfunktionen menschlichen Lebens verankert ist (Reich, 1984).

Der zuvor beschriebene Vorlust- und Endlustmechanismus der Sexualität wird nun spezifischen vegetativen Funktionen zugeordnet. Die zärtlich-lustvolle Vorlustphase benötigt eine moderate Dominanz des parasympathischen Nervensystems. Dieser Ruhezweig des vegetativen Nervensystems bewirkt eine allgemeine Öffnungsbereitschaft, ein „Hin-zur-Welt“. Dies bewirkt die Weitung der äußeren Blutgefäße, die Schwellung der Genitalien und eine Hinwendung zum Gegenüber.

Dieser lust- und erregungssteigernde Prozess geht langsam in eine zunehmend motorische und expressive Phase der Sexualität über, die dann vom sympathischen Nervensystem gesteuert wird. Zeichen hierfür sind deutliche Erregungssteigerung, Vertiefung der Atmung, Spannungserhöhung, vermehrte Motorik. Dieser Erregungsablauf mündet dann in einen tiefen, unwillkürlich gesteuerten Prozesse des Los- und Fallenlassens, im Orgasmus, in körperlicher Entspannung und einem Zurückfluten der aufgebauten Erregung („Hin-zu-Mir“), der dann erneut vom parasympathischen Zweig des Vegetativums dominiert wird.

Neuere Forschungen des amerikanischen Psychophysiologen Stephen Porges über den Aufbau und die Funktionen des Autonomen Nervensystems bestätigen die sexuologischen Pionierarbeiten Reichs. Porges argumentiert in seinen Forschungen, dass die bisher übliche duale Sicht des autonomen Nervensystems, die einen Gegensatz von Vagus und Sympathikus annimmt, unzureichend ist. Vielmehr weist er nach, dass es entwicklungsgeschichtlich neuere und ältere Formen des Vagus gibt. Der Vagus ist somit zweigeteilt und folgerichtig nennt er seine Theorie auch Polyvagal-Theorie (Porges, 2010).

In dieser Polyvagaltheorie beschreibt Porges einen ventralen und einen dorsalen Zweig des Vagus. Der ventrale Vagus tritt dann in Erscheinung, wenn sich Menschen sicher und aufgehoben fühlen. Dieser entwicklungsgeschichtlich neuere Zweig des Autonomen Nervensystems versorgt jene Organe, die wir für die Organisation unserer sozialen Kommunikation benötigen.

So wird die Gesichtsmuskulatur (Mimik), die Mittelohrmuskeln (Zuhören), der Kopfdrehermuskel (Hinwendung) und die Modulation der Stimme (Sprechen) durch diesen „sozialen“ Vagus reguliert. Im Optimalfall ist die beschriebe sexuelle Vorlust-Dynamik geprägt von einer Entspannungslage des ventralen Vagus, die eine ausgeprägte prosoziale Orientierung in der Sexualität bewirkt. Die Sexualpartner nehmen Blickkontakt auf, sie berühren einander, sie wenden sich zu, sie lächeln sich an oder sie sprechen liebevoll miteinander.

Die wechselseitige Kontaktaufnahme der Sexualpartner bewirkt eine Verstärkung des ventro-vagalen Regelkreises. Aber umgekehrt bewirkt die entspannende und öffnende Wirkung des ventralen Vagus, dass es leichter wird, sich auf das jeweilige Gegenüber einzulassen, seine nonverbalen Mitteilungen zu erfassen und diese adäquat zu beantworten. Das Erleben von Beziehungssicherheit ist somit gleichzeitig Ursache und Folge einer Aktivierung des ventralen Vagus des Autonomen Nervensystems.

Gemäß des polyvagalen Modells von Porges geht die sensorisch-aufnehmende Vorlustphase der Sexualität in eine spannungsreichere Phase über. In dieser Phase des sexuellen Erregungszyklus steigern sich der Muskeltonus, die Motorik und Expressivität, ohne jedoch unlustvoll erlebt zu werden, wie in bedrängenden Stress- und Gefahrensituationen.

Man könnte sagen, dass der Sympathikus unter dem Einfluss der ventralen vagischen Steuerung bleibt, so dass das Sicherheitserleben nicht leidet. Die Lust- und Spannungssteigerung mündet dann in eine „positive“ Immobilisation (im Gegensatz zum „Einfrieren“ bei einer akuten Schrecklähmung), die unter der Führung des dorsalen Vagus steht. Die Partner bleiben nun eng beieinander, die periphere Erregungs- und Körperspannung löst sich auf und es entsteht eine tranceartige Stille und innige Verbundenheit zwischen den Partnern.

Sexualstörung und Autonomes Nervensystem

Reich versteht die hohe Stress- und Anspannungslage bei Menschen mit ausgeprägter Sexualstörung als Ausdruck ihrer biografisch erworbenen Affektabwehr. Die chronischen Muskel- und Gewebeblockaden, die den „Sinn und die Geschichte ihrer Entstehung“ (Reich, 2000) enthalten, sind untrennbar verwoben mit einer chronischen Dysregulation des autonomen Nervensystems, in dem nun oftmals der Sympathikus („Weg von der Welt“) dominiert.

Reich schreibt: „Die Neurose ist nicht etwa nur Ausdruck einer Störung des psychischen Gleichgewichts, sondern in einem weit berechtigteren und tieferen Sinne noch der Ausdruck einer chronischen Störung des vegetativen Gleichgewichts und natürlichen Beweglichkeit.“ (Reich, 2000)

Eine charakterstrukturell bedingte Stresslage verhindert gleichermaßen den sinnlich aufnehmenden Genuss in der Vorlustphase, aber auch das komplette Überlassen in der Endphase der sexuellen Begegnung, die dann mit einem tiefen Fallenlassen und Rückfluten der lustvollen Erregung einhergeht.

In einer Stresslage des Organismus, die z.B. vorliegt, wenn ein Mensch sich während des Sexualaktes ängstlich-gehemmt und unsicher erlebt, sind genau jene öffnenden, verbindenden und prosozialen Aspekte des Vorspiels sehr eingeschränkt. Die Person ist nun mehr verschlossen und zurückgezogen. Die Dominanz des sympathischen Nervensystems ist Ausdruck einer innerpsychischen Bedrohungslage.

Die Atmung ist flacher, das Herz schlägt schneller, das Zuhören und Anschauen sowie das Einstimmen auf den Sexualpartner fällt schwer. Durch die vermehrt auftretenden Körperspannungen kann sich die Erregung nur unzureichend im gesamten Körper – und besonders an der Hautoberfläche – verteilen. Die Folge ist eine ungleiche Verteilung der Erregung. Manche Bereiche des Körpers – wie etwa das Genital oder die Brüste – sind extrem erregt, während andere sich unbelebt und vom Sexualerleben ausgespart anfühlen.

In Momenten von überwältigendem Stress, wie dies in Zuständen von Schock- und Schrecklähmung der Fall ist, dominiert die Funktion des dorsalen Vagus. In diesen Phasen wird die Coping- und Anpassungsfähigkeit überschritten und die betroffene Person wechselt in einen Zustand des „Einfrierens“ und „Erstarrens“. Dies ist z.B. bei traumatisierten Menschen der Fall, die in ihrer Sexualität immer wieder mit dissoziativen Flashbacks konfrontiert sind. (Porges, 2010)

Folgen dieser dauerhaften Fehlregulation des autonomen Nervensystems können gleichermaßen der Verlust der sexuellen Spannungs- und Erregungstoleranz sein (wie etwa im vorzeitigen Samenerguss des Mannes) oder aber das Verharren in einem entspannten Zustand des „Kuschelns“, in der eine Intensivierung von Erregung und Lusterleben nicht vorkommt oder gar vermieden wird. Während im ersten Fall die Störung eher in einer Überfunktion des Sympathikus liegt, besteht sie im zweiten Fall in einer Dominanz des parasympathisch-beruhigenden Astes des autonomen Nervensystems (Lowen, 1980).

Es ist wichtig zu betonen, dass durch den Einbezug des autonomen Nervensystems die klinischen Beobachtungen aus der Frühphase der Sexualtheorie Wilhelm Reichs eine physiologische Fundierung bekamen. An der grundlegenden Stoßrichtung seines Denkgebäudes veränderte sich hingegen nichts.

Abschließend sei angemerkt, dass die faszinierenden Modelle der modernen Psychophysiologie nur sehr begrenzt in der Lage sind, die Komplexität und Tiefe menschlichen Sexualerlebens zu erfassen. Sie dienen uns als Orientierungssysteme und hilfreiche „Landkarten“, aber wir sollten nicht vergessen, dass diese Landkarten niemals identisch sind mit der Schönheit der Landschaften, die sie repräsentieren.

Sexuelle Erlebnisstörung und Verflachung der natürlichen Atmung

In besonders deutlicher Weise zeigt sich die Erlebnis- und Hingabestörung in einer Störung der natürlichen Atemtätigkeit. Die Atmung ist eine gut beobachtbare, vegetative Funktion, die in den verschiedenen Phasen des Sexualprozesses ihre Qualität verändert. So ist die Atmung in der zärtlichen und aufnehmenden Phase des Vorspiels Teil einer entspannt-parasympathischen Regulation.

Die Zwerchfellmuskulatur dehnt sich hier tief in die Region der Bauchorgane aus, was einerseits den Atemraum erweitert und die Bauchdecke nach vorne wölbt. Die entspannte „Bauchatmung“ wird mit Zunahme der Erregung abgelöst durch eine Hinzunahme der brustbetonten Atmung, die sympathisch gesteuert ist und immer dann auf den Plan tritt, wenn eine Erregungssteigerung (wie z.B. in akuten Stresszuständen) passiert.

Im orgastischen Erleben ist die spontane und tiefe Ausatmung dann wiederum ein Zeichen dafür, dass die vagalen Anteile des autonomen Nervensystems die Oberhand haben. (Harms, 2016b, Fischer 2015)
Schon in den 30er Jahren beschreibt Reich eindrücklich wie spezifische sexuelle Erlebnis- und Erregungsstörungen seiner Patienten mit einem Verlust einer natürlichen Atemmodulation einhergehen. So berichtet er von einem Patienten, der aufgrund starker Zwerchfellverspannung nicht mehr fähig ist, in der Ausatmung komplett loszulassen.

Die Person presst die Atmung förmlich heraus, ist aber nicht mehr in der Lage stimmlich mit der Ausatmung zu seufzen und zu entspannen. Genau hier, in dieser strukturellen Atemstörung, sieht Reich den physiologischen Kernmechanismus, der in der Sexualität verhindert, dass die betroffenen Menschen sich dem inneren Strom ihrer Erregung hingeben und treiben lassen können. Aus diesem Grund fokussierte Reich in seinen vegetotherapeutischen Arbeiten sehr auf die Analyse der vorliegenden Atemstörungen und die Wiederherstellung der natürlichen vegetativen Schwingungsfähigkeit in der Atmung. (Reich, 1977)

„Das wichtigste Mittel, den Orgasmusreflex auszulösen, ist eine Atemtechnik, die sich mir im Verlaufe der Arbeit von selbst ergab. Es gibt keinen neurotisch kranken Menschen, der imstande wäre, in einem Zuge tief und gleichmäßig auszuatmen. Bei den Kranken haben sich alle erdenklichen Praktiken eingenistet, die das tiefe Ausatmen verhindern. Sie atmen abgehackt aus, oder sie gehen aus der Ausatmungsstellung in die Einatmung zurück. Manche Kranke beschreiben die Bremsung, die sie dabei verspüren, wie folgt: `Es ist, als ob eine Meereswelle an einen Felsblock stieße. Es geht nicht weiter.´“ (Reich, 2000, Hervorhebung im Original).

An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Art, wie Reich die Atem- und Körperanalyse therapeutisch einsetzt, gebunden ist an ein Konzept der Erregungs- und Ladungserhöhung. Durch künstliches Vertiefen der Atemtätigkeit werden spezifische körperliche Blockierungen und Abwehrsysteme verstärkt und sichtbar. In der neueren Literatur der Körperpsychotherapie wurde bereits kritisch diskutiert, ob dieses Vorgehen, mit erhöhten Ladungsmengen zu arbeiten, sinnvoll ist, da im Zuge des vertieften Atmens auch die vorhandenen Abwehrsysteme aufgeladen und verstärkt werden. (Davis, 1999; Harms, 2016b)

Hingabefähigkeit und Orgasmusreflex

Schon bei Babys lässt sich in entspannten Zuständen beobachten, wie der Atemfluss die verschiedenen Regionen des Körpers von Kopf bis Fuß miteinander verbindet. Reich spricht in diesem Zusammenhang von einer vegetativen Koordination des Gesamtorganismus. Mitte der 30er Jahre beschreibt Reich einen Prozess innerhalb der erwachsenen Sexualität, der dieser natürlichen Atemwelle des Säuglings funktionell entspricht. Reich spricht in diesem Zusammenhang von einem „Orgasmusreflex“. Für ihn ist es der objektiv sichtbarste Ausdruck eines umfassenden psychischen und körperlichen Integrationsprozesses innerhalb der menschlichen Sexualität.

Was genau ist aber unter dem „Orgasmusreflex“ zu verstehen? Reich hatte in seinen vegetotherapeutischen Arbeiten beobachtet, dass mit der schrittweisen Lösung der psychischen Abwehrsysteme und der körperlichen Zurückhaltungen, die Atemtätigkeit seiner Patienten freier und fließender wurde. Während dieser Prozesse beobachtete Reich bei seinen Patienten eine überaus sanfte, den gesamten Körper durchströmende Wellenbewegung.

Das Ganzwerden findet darin seinen Ausdruck, dass der Organismus in Momenten größter Intimität und Intensität auf eine basale Funktionsstufe zurückfällt, die dann als ursprüngliche Ausdrucksbewegungen zeigen, wie sie auch in der Tierwelt – z.B. den anmutigen Bewegungen einer Qualle oder den wippenden Körperbewegungen einer Libelle – zu beobachten sind. Reich bezeichnete diese sanften, unwillkürlich ablaufendenden Erregungs- und Bewegungswellen als „Orgasmusreflex“.

Innerhalb seiner sexualökonomischen Theorie ist die Tatsache, dass die Patienten lernen, sich den spontanen Ganzkörperbewegungen lustvoll hinzugeben und diese für sich zu genießen, ein zentraler Hinweis dafür, dass die vegetative Selbstregulationsfähigkeit und die Integration unterschiedlicher psychosomatischer Funktionen wieder hergestellt sind. Über die Atem- und Körperarbeit wird in der Arbeit auf der Matte ein Stück des sexuellen Erlebnisprozesses in einen therapeutisch beobachtbaren Raum überführt. Es wird erkennbar, wo jemand innehält, ausweicht und wie der jeweilige Mensch vorgeht, um eine Intensivierung des Lusterlebens zu vermeiden.

„Wir wollen uns zur Erleichterung des Verständnisses eines Beispiels bedienen. Eine Schlange oder ein Wurm zeigt eine gleichmäßige, den ganzen Organismus beherrschende wellenförmig-rhythmisch ablaufende Bewegung. Stellen wir uns nun vor, dass einige Segmente des Körpers gelähmt oder irgendwie festgehalten wären, so dass sie sich nicht im Rhythmus des Gesamtkörpers mitbewegen könnten. Dann würde sich der übrige Körper nicht in seinen Teilen wie bisher bewegen, sondern es wäre der Gesamtrhythmus durch die Aussperrung einzelner Muskelgruppen gestört.

Die Vollständigkeit der Körperharmonie und Beweglichkeit hängt also von der Einheitlichkeit, Ganzheit und Ungestörtheit der Körperimpulsivität ab. Ein Mensch, der im Becken zurückhält, mag sonst noch so beweglich sein, seine Haltung und Bewegung sind gebremst. Nun besteht der Orgasmusreflex gerade darin, dass eine Welle von Erregung und Bewegung vom vegetativen Zentrum über Kopf, Hals, Brust, Ober- und Unterbauch bis zum Becken und dann zu den Beinen abläuft. Wird diese Welle an irgendeiner Stelle aufgehalten, verlangsamt oder gesperrt, dann ist der Reflex `zersplittert´.“ (Reich, 2000)

Hatte Reich in den Frühphasen seiner Sexualtheorie die Wiedererlangung der „orgastischen Potenz“ als Ziel seiner psycho- und charakteranalytischen Arbeit beschrieben, so bekam dies in der Vegetotherapie sein physisches Pendant in der Gestalt des integrierten Orgasmusreflexes, der quasi zum Sinnbild einer wiedererlangten psychophysischen Ganzheit wurde.

Fazit

Betrachten wir Reichs Sexualforschungen mit dem Wissen heutiger Forschungen, so besticht die Komplexität seiner affektiven, körperlichen, vegetativen sowie verhaltens- und erlebensmäßigen Analysen der genitalen Sexualität. Reich beschreibt überaus präzise, wie sich die neurotischen Störungen in der Einbuße der sexuellen Erlebens- und Hingabefähigkeit eines Menschen niederschlagen. Seine zentrale These lautet, dass die Pulsations-, Erlebnis- und Beziehungsstörungen nirgends so deutlich offenbar werden wie in den hohen Erregungszuständen genitaler Sexualität. Diese Aussage hat meines Erachtens auch heute noch für die moderne Körperpsychotherapie eine hohe Relevanz.

Die Beschreibung der „Orgasmusfunktion“ war ursprünglich mit seiner Energietheorie untrennbar verwoben. In seiner Theorie sind die Etablierung des Orgasmusreflexes und der „orgastischen Potenz“ zentrale Parameter für die Wiedererlangung einer Selbstregulationsfähigkeit, die den Haushalt der sexuellen Energien sicherstellt.
Ganz bewusst habe ich mich in diesem Artikel nicht mit den bio-energetischen Metatheorien Reichs auseinandergesetzt. Reichs prägnante Diagnostik der sexuellen Hingabe- und Erlebnisstörung erscheinen mir wertvoll, ganz unabhängig davon, ob die Energiekonzepte in der Zukunft der Körperpsychotherapie einen Platz haben oder nicht.

In Bezug auf die körperpsychotherapeutische Praxis ergeben sich durch die Verbindung der sexualtheoretischen Überlegungen Reichs mit den humanistischen, achtsamkeits- und bindungsbasierten Modellen der Körperpsychotherapie neue Wege, um an den psychischen wie körperlichen Einschränkungen der sexuellen Hingabe-, Erlebnis- und Genussfähigkeit zu arbeiten. Die wichtigsten Punkte fasse ich nochmals skizzenhaft zusammen:

  1. Die Analyse des Körper- und Erregungsflusses bzw. seiner Zersplitterung wird erweitert durch eine Ebene, in der die intrapsychischen Erlebensbrüche innerhalb der Sexualität erkundet werden.
  2. Mit dem Prinzip der Selbstanbindung verlagert sich der Fokus der therapeutischen Befreiung des (genitalen) Lusterlebens auf die Erweiterung des Sicherheitserlebens in der Sexualität. Das Ziel der Arbeit ist demnach nicht mehr alleine, ob sich ein ganzkörperliches „vegetatives Strömen“ und Lusterleben etabliert, wie Reich es forderte. Vielmehr geht es darum, ob die Person in allen Phasen der Sexualität die innere Verbindung zu den Körperempfindungen aufrechterhalten kann.Mit dieser etablierten Selbstanbindung ist gewährleistet, dass die Sexualität sicher und offen erlebt wird. Umgekehrt ist der Verlust dieser inneren Verbindung ein Hinweis darauf, dass die Person während der Sexualität nicht mehr hinreichend „bei sich“ ist, dass sie teilweise oder ganz die verkörperte Erfahrung der Sexuallust einbüßt. Ein stressbedingter Abriss des Bezugs zum verkörperten Selbst ist damit gleichbedeutend mit dem körperlichen und emotionalen Abstimmungsverlust mit dem Anderen.
  3. Das Prinzip der Selbstanbindung betont die Fähigkeit zur Differenzierung und Autonomie in der Sexualität. Durch die verkörperte Selbstbeziehung ist es für die Person einerseits leichter möglich, mit dem eigenen Erleben, den Wünschen und Sehnsüchten in Verbindung zu bleiben und, andererseits ist sie fähig, sich auf den/die Partner/in einzustimmen und feinfühlig dessen/deren Bedürfnisse zu beantworten.
  4. Durch die Nutzung des Selbstanbindungsmodells bekommt die Person ein Mittel in die Hand, um Brüche und Abrisse der inneren Verbindung eigenwirksam zu beheben. Indem der Patient in der sexuellen Begegnung gewahr wird, wann seine Selbstanbindung verloren geht, erhält er ein diagnostisches Instrument, um frühzeitig zu spüren, wann die sichere Erlebensbasis in der sexuellen Begegnung verloren geht. Diese wahrgenommenen „Brüche“ der inneren Verbindung werden zum Signal, um die verkörperte Selbstverbindung zu reaktivieren oder vorhandene Störungen in der Beziehung auszudrücken und aktiv zu verändern.

Ziel des hier vorgestellten Ansatzes ist – und hier folge ich den ursprünglichen Ideen Wilhelm Reichs – der (Wieder-)Aufbau einer umfassenden Hingabe-, Liebes- und Erlebnisfähigkeit in möglichst vielen Bereichen des menschlichen Seins. Nur der Weg dorthin hat sich verändert.

Literatur

Bowlby, J. (2005). Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. München: Reinhardt.
Davis, W. (1999). Instroke und Neuordnung. In: Lassek, H. (1999): Wissenschaft vom Lebendigen. Berlin: Leutner.
Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt/M.: Fischer.
Downing, G. (1994). Körper und Wort in der Psychotherapie. München: Kösel.
Fischer, M., Kaul, E. (2016). Einführung in die Integrative Körperpsychotherapie (IBP). Bern: Hogrefe Verlag.
Fogel, A. ( 2013). Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie. Vom Körpergefühl zur Kognition. Stuttgart: Schattauer.
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Harms, T. (1993). Diesseits des Lustprinzips. Eine kritische Auseinandersetzung mit den triebökonomischen Modellen der Freudschen Psychoanalyse und der Reichschen Sexualökonomie und ihre Relevanz für die moderne Säuglingsforschung. FU Berlin: unveröffentlichte Diplomarbeit.
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(rev. Fassung aus „Körperpsychotherapie und Sexualität“; Hsg. Thomas Harms und Manfred Thielen, Psychosozial-Verlag,2017)

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