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Bukumatula 2/2006

Literarische Reise in die Bukowina

Die verdrängte Sprache des Lebendigen
Rückblende auf Reichs Gymnasiumsjahre in Czernowitz und assoziative Überlegungen
von
Gudrun Heininger:


Wilhelm Reich

  • geboren 1897 in Dobrzanica, Ostgalizien
  • bald nach seiner Geburt Übersiedlung der Familie nach Jurinetz in der nördlichen Bukowina, nicht weit von der Hauptstadt Czernowitz entfernt
  • Kindheit auf dem elterlichen Landgut, Unterricht durch Hauslehrer
  • von Frühjahr 1910 bis Sommer 1914 Besuch des deutschsprachigen Gymnasiums in Czernowitz; er lebt – zusammen mit seinem Bruder – als Pensionär bei einer kinderlosen Familie und verbringt die Ferien zuhause
  • Herbst 1910: Tod der Mutter
  • 1914: nach dem Tod des Vaters leitet er die Arbeiten auf dem Gut, unterstützt vom Verwalter
  • Sommer 1915: Flucht vor der russischen Invasion in den Süden der Bukowina, Matura, freiwillige Meldung zum Heeresdienst
  • ab 1918 Medizinstudium in Wien

Die Einflüsse aus Czernowitz reichten zu dieser Zeit auch bis nach Jurinetz bzw. bis zu einem weiteren Gut, auf das die Familie Reich 1907 übersiedelte. Die Hauslehrer kamen von dort; dort gab es familiäre Zusammenkünfte und Ausflüge in den „Volksgarten“; man suchte in Czernowitz Ärzte auf, und der Vater war in der Stadt bekannt und angesehen.

Die Bukowina – Schmelztiegel und Ort der Kreativität

Wir wissen wenig über Wilhelm Reichs Kindheit und Jugend, aber viel über das Land, in dem er aufgewachsen ist. Es gab zu dieser Zeit in Europa einen einzigartigen und ganz besonderen Ort, mit keinem anderen vergleichbar: die Bukowina.

Als östlichstes, selbständiges Kronland der Donaumonarchie, als südosteuropäischer Vielvölkerraum, dessen ethnische, kulturelle und spirituelle Landschaften sich kaum endgültig gegeneinander abgrenzen lassen und sich in der Hauptstadt Czernowitz zu einem ebenso fruchtbaren wie belastungsfähigen Beziehungsgefüge konzentrierten.
Wir wissen von diesem geistig-kulturellen Klima von den Autoren, die uns aus der Vergangenheit davon schreiben.

Auch wenn man in Rechnung stellt, daß in der Erinnerung viel idealisiert wird, auch wenn man das Elend, die der Zeit entsprechenden sozialen Verhältnisse und die unterschiedlichen individuellen Familiengeschichten in Betracht zieht, werden deutlich Übereinstimmungen sichtbar. Es bleibt eine Essenz, ein Destillat, das diese Zeit an diesem besonderen Ort durchtränkt und das zu viele Wirkungen zeigt, um bloß als Mythos abgetan zu werden. Ob, oder wie weit diese Atmosphäre den jungen Reich beeinflußt hat, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Was ihn mit den deutsch-jüdischen Dichtern der Bukowina verknüpft, ist eventuell eine interessante Randnotiz zu seiner Biographie.

Die Bukowina um die Jahrhundertwende bietet ein mehr als eigenwilliges Bild.- Wie in einem Auffangbecken sammeln sich Ukrainer, Rumänen, Deutsche und Juden als die zahlenmäßig am stärksten vertretenen Bevölkerungsgruppen, dazu Polen, Ungarn, Österreicher, Slowaken, Russen, Armenier, Huzulen, Gagausen und Zigeuner. Geographisch gelegen zwischen Galizien, Siebenbürgen, Bessarabien und der Moldau wird das Land zum Schnittpunkt sprachlicher, ökonomischer und religiöser Begegnungen von einer selbst für die Donaumonarchie einmaligen Komplexität.

Um 1888 zählt Karl Emil Franzos „… die Wege, auf denen diese halbe Million Menschen dem ewigen Heil zusteuert: römisch-, griechisch-, armenisch-katholisch, durch die Patienten aktiv ausgeübt möglichen Techniken in den betreffenden Segmenten, die im Sinne der Spannungsladungsformel eingesetzt werden können. Bolen greift dabei immer wieder auf seinen langjährigen Erfahrungsschatz zurück.

Anschließend wird dem „Geburtstrauma“ ausführlich Platz eingeräumt. Wenn auch das Prozedere einer Geburt seit den Zeiten Reichs zum größeren Teil der Vergangenheit angehört, stellt er Janovs Hypothese: „Wird ein Kind unter großem Stress geboren, indem es um sein Leben kämpfen muss, so wird es später im Leben in Krisensituationen aktiv werden und angreifen“ der immer mehr zur Routine werdenden „Kaiserschnittgeburt“ gegenüber, wo das Kind sozusagen übergangslos in die Welt fällt. „Häufig, wenn auch nicht immer, finden wir später im Leben unsichere und scheue Charaktere, die sich nicht zutrauen, das Leben aufgrund ihrer angeborenen Vitalität und Stärke zu meistern.“ Wenn man bedenkt, dass in den USA bereits 50 Prozent – und in Europa etwa 30 Prozent der Geburten per Kaiserschnitt erfolgen, kann man sich darüber schon Gedanken machen.

Im Kapitel über „Grenzbereiche“ bezieht sich Bolen schwerpunktmäßig auf die kraniosacrale Therapie, die sich aus der Osteopathie herleitet: „Sie stellt eine Brücke zwischen der Arbeit am Körper und reiner Energiearbeit dar … diese Richtung meiner Arbeit geht weit weg von der Arbeit an den Muskeln und Gelenken hin zur intuitiven Arbeit.“ Und fügt hinzu: “Das System meiner Arbeit besteht aus Neugierde, Experiment, Erfahrung. Wiederholbare Erfahrungen nehme ich als Orientierung in mein Handeln auf. Ich lernte, trotz meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung als Arzt, dass es Phänomene gibt, die wirksam sind, auch wenn sie nicht bis ins Letzte erklärbar sind.“

In den letzten Kapiteln finden sich Fallbeispiele und eine Zusammenstellung von Begriffen der Abwehrmechanismen – und ein außerordentlich brauchbares Literaturverzeichnis.

Im Kapitel „Das Setting“ wird auf das Ziel der Therapie hingewiesen: Verdrängte und abgespaltene Erinnerungen an Traumata und die dazugehörigen Gefühle bewußt werden zu lassen, um sie im therapeutischen Kontext des Vertrauens, des Schutzes und der Unterstützung neu erleben zu können; ebenso auf die Fähigkeit des Therapeuten zur Empathie, auf den Begriff der vegetativen Identifikation und auf die Bedeutung des „Erstgesprächs“.

In „Diagnosen und Charakterstrukturen“ weist Peter Bolen auf die Bedeutung der Diagnoseerstellung zur Auswahl des therapeutischen Herangehens und die infragekommenden Techniken hin, warum auch nichtärztliche Therapeuten mit der Psychopathologie der Psychosen und den Grundzügen der Psychopharmakologie vertraut sein sollten und auf den Umgang mit suizidgefährdeten Patienten.- Zur Beschreibung der Charakterstrukturen und Körpertypologien stellt er seine persönlichen Erfahrungen den klassischen Beschreibungen von Reich, Lowen und Pierrakos gegenüber, wobei er insbesondere die Typologie von Pat Ogden als Grundlage nimmt.

Der in der Körperpsychotherapie so häufig vorkommende „Energiebegriff“ wird von Bolen pragmatisch gehandhabt – er dient als Bezeichnung der mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Erfahrungen. Auch wenn diese Art von Energie naturwissenschaftlichen Messungen unzugänglich ist und von Kritikern als esoterisch abgetan wird: gemeinsam ist dem Begriff eine ihr innewohnende fließende Kraft, die in der Therapie als nonverbale Kommunikation von zentraler Bedeutung ist. Behandelt werden Begriffe wie Aura, Orgon, die körpereigenen Energiesysteme wie die Atmung, der Blutkreislauf, der Fluß der Lymphe etc. Bolen: „Es geht bei dem von mir verwendeten Energiebegriff nicht um ein Glaubenssystem, sondern um wiederholbare Erfahrungen, die wir mit unseren Sinnen machen können.“

Ausführlich behandelt werden in den nächsten beiden Kapiteln („Die Topographie der Berührung“ und „Arbeit an den Reichschen Segmenten“) die Reichschen Körpersegmente und der Umgang mit bzw. die Wirkung von Berührungen. Es folgt eine Beschreibung der armenisch- und griechisch-orientalisch, augsburgisch, helvetisch und calvinisch, türkisch und jüdisch, kurz: nach jeglicher Facon wird man hier selig, oft nach sonderbarer, wie Popowzen, Unitarier und Bezpopwzen beweisen, oft nach gar keiner…“1)

Ermöglicht wird dieses vielfältige Panorama, von dem Franzos auch sagt, die Bukowina sei „… vielleicht in culturhistorischer Beziehung das interessanteste Land in Europa“, unter anderem dadurch, daß „… die einzelnen Nationalitäten nicht selten in schroffer Abschottung wohl ihre Eigenstämmigkeiten wahrten, aus der Alltagsnotwendigkeit heraus aber vielfach intensiv miteinander verkehrten.

So kam es, daß sich der Ruthene als Leiter einer staatlichen Depeschendienststelle der wienerisch gefärbten Amtssprache bediente und nichts auf seine k.u.k. Beamtenakkuratesse kommen ließ, daheim aber mit Frau und Kindern peinlich auf ruthenischen Lebensbrauch bedacht war. Der Pole wieder, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg dem Ungarn oder Juden in der Vaterstadt Czernowitz mit einem Fuhrwerk zu Diensten und mit beiden auf Deutsch verhandelnd, überließ sich im Freundeskreis der Sehnsuchtsschwermut podolischer Volkslieder.

Der Jude, der als uniformierter Bahnhofsvorsteher ein Musterbeispiel altösterreichischen Pflichtbewußtseins war und daheim seine Töchter Gedichte von Uhland, Schiller und Heine … aufsagen ließ, ja sogar noch nach 1914-1918 im Familienkreis alljährlich den `Kaisergeburtstag´ feierte, hörte dessenungeachtet dennoch nicht auf, ein `guter Jude´ zu bleiben, wie es in einer der chassidischen Geschichten des weißrussisch-jüdischen Erzählers Rappaport (1863-1912) heißt.

Der als Bergbauingenieur in Staatsdiensten nach Czernowitz versetzte und hier verheiratete, musikalische Grazer, der Violine spielte, traf sich mit dem das gleiche Instrument beherrschenden Juden, dessen Großvater aus Witebsk an der Düna hierhergekommen war, dem einer alteingesessenen rumänischen Familie entstammenden Bratschisten und dem aus Minsk eingewanderten ukrainischen Violoncellisten zur Streichquartettstunde.

Sie kriegten sich aus nationalistischen Gefühlsaufwallungen heraus gelegentlich in die Wolle und gaben bedenkliche Sentenzen von sich. Doch sie ließen es sich nicht nehmen, bei Haydn und Mozart einige Flaschen Grünen Veltliner aus der Weinhandlung des Slowaken zu leeren, der ihnen das Getränk als `a guets Tröpferl´ angepriesen und danach gemeinsam mit seinem Bruder über die Vier geschimpft hatte.

Daß solcherlei Symbiose nur durch ein gerüttelt Maß an gegenseitiger Akzeptanz und Bereitwilligkeit zum Zugeständnis möglich war, auch an schmunzelnder Toleranz den Eigenheiten des Anderen gegenüber wie an unbewußter Annahme der von ihm ausgehenden Einflüsse, liegt auf der Hand.“ (Hans Bergel: „Bukowiner Spuren“)

Natürlich darf man nicht vergessen, daß dieser Blick ein literarischer ist und soziale Ungerechtigkeit, Armut, Unwissenheit und Fatalismus den Alltag sicher genauso bestimmt haben wie Liberalität und Toleranz, daß „patriarchale Autorität, ein starker Ordnungsstaat und eine eindeutig herrschende Leitkultur das unwahrscheinliche Gelingen multikulturellen Zusammenlebens“2) begünstigt haben.

Czernowitz – Eine selbstbewußte Stadt

Czernowitz ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine selbstbewußte Stadt mit moderner Infrastruktur, die zwischen 1880 und 1940 mehrere Generationen von Künstlern und Intellektuellen inspiriert. Czernowitz, das heißt: ca. 80.000 Einwohner (davon ein Drittel jüdischer Abstammung – 1918 sind es 47 Prozent), 6 Nationen, 4 Sprachen und ein Dutzend unterschiedlicher Konfessionen in über 150-jähriger, relativ friedlicher Koexistenz.

Alle nationalen Gruppierungen besitzen ihre eigenen Repräsentationsbauten, Schulen, Büchereien, Vereine, literarischen Gesellschaften, ihr eigenes Theater- und Konzertleben und ihre eigene Presse.- Als man um 1780 „…auf Kosten der Regierung zum Unterricht der Jugend Normalschulen eröffnete und die Unterweisung derselben unentgeltlich veranstaltete, da erklärte sich der größere Haufe, daß er lieber zu den Türken und in die Moldau emigrieren als seine Kinder in die Schule schicken wolle.“3)

Zwischen 1848 und 1940 dagegen wurden in der Stadt 370 verschiedene Zeitungen verlegt – darunter 200 deutsche, 68 ukrainische, 50 rumänische, 28 polnische und 24 jiddische. Vor 1914 lagen gleichzeitig fünf Czernowitzer Tageszeitungen, mehrere Wochenzeitungen und eine jiddische Zeitung auf; in den Kaffeehäusern „Habsburg“ meint er: „Ich verdanke dieser Therapie einiges. Sie war dynamisch, machte mir Mut, lehrte mich bewußt zu sein und brachte mich in Kontakt mit dem Zen-Buddhismus und dem japanischen Kampfsport Aikido.“

Reich kannte die Charakterstrukuren nicht, mit denen sich die heutige Psychotherapie zu beschäftigen hat – etwa frühe Störungen wie die Borderlinepersönlichkeit. Ihm waren zu Lebzeiten nur die „harten Strukturen“ vertraut – so wie Freud sich mit Phänomenen wie der hysterischen Blindheit, hysterischen Lähmungen, etc. auseinandergesetzt hat, die es heute kaum mehr gibt. Will Davis hat für frühe Störungen den Begriff der „soft structures“, also der „weichen Strukturen“, eingeführt.

Diese Charakterstrukturen haben nicht das Problem ihre Gefühle zu äußern, sondern werden von ihnen geradezu überschwemmt. Es geht in der Therapie also darum, diese Emotionen „halten“ zu können, um das sogenannte „Containing“ – also innerhalb des therapeutischen Settings Sicherheit, Schutz, Grenzen und Unterstützung zu erfahren.- „Ich begab mich auf die Suche nach einer körperorientierten Technik, die nicht Streß als Methode einsetzte und dennoch an die tiefen Emotionen heranführte.“

Die „Gelenksarbeit“ ist der eigentliche Beitrag Peter Bolens zur Körperpsychotherapie. Dazu wird in zwei Kapiteln ausführlich auf deren Bedeutung und Handhabung eingegangen.

Frühe Beobachtungen als Arzt in einer neuroorthopädischen Ambulanz über starke emotionale Reaktionen nach manualtherapeutischen Deblockierungen von Gelenken „… lenkten meine Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen Gelenk und Psyche … und führten mich zu Wilhelm Reichs Entdeckung der chronischen segmentalen Muskelanspannung aufgrund von unterdrückten Emotionen.“

Es folgt eine Beschreibung der Grundlagen zur Gelenksarbeit und er kommt zu dem Schluß: „… Allein aus diesen neurophysiologischen Tatsachen ist es verständlich, warum emotionale Faktoren einen wesentlichen Einfluß auf die muskuläre Grundspannung, die Körperhaltung und den Bewegungsausdruck besitzen. Umgekehrt können wir natürlich über Einflußnahme auf die Gelenks- und Muskelspannung, die Körperhaltung und den Bewegungsausdruck das Limbische System, also das Zentrum für Emotionen, beeinflussen.“

Im Kapitel „Wozu Wiedererinnern?“ wird auf das Unbewußte eingegangen. „Der Grund, warum Geschehnisse im Unbewußten deponiert werden, ist, dass sie unangenehme, peinliche und schmerzhafte Erinnerungen beinhalten, welche zum Zeitpunkt, als sie geschahen, für uns nicht verarbeitbar waren … Weitere Merkmale des Unbewußten sind, dass es viele Kindanteile enthält und dass im Unbewußten die Dimension Zeit fehlt. Das heißt, gestern und heute sind dort gleichzeitig vorhanden.“- Das neurotische Verhalten besteht darin, dass Menschen in bedrohlichen Situationen nicht mit den Möglichkeiten eines Erwachsenen reagieren, sondern auf kindliche Reaktionsweisen zurückgreifen.

Zu einer Heilung kann es nur dann kommen, wenn das Geschehen im Hier und Jetzt wiedererlebt werden kann – und zwar im geschützten therapeutischen Rahmen. Der von Arthur Janov so bezeichnete „Urschmerz“ ist im Gehirn als elektrisches Potential gespeichert. Der innere Streß – der Versuch des Organismus, den Urschmerz bewußt werden zu lassen und dessen gleichzeitiger Blockierung – erzeugt eine innere Unruhe, die zu Nikotin-, Alkohol- und anderen Drogenabhängigkeiten führen kann.

Im Kapitel „Über das Wesen der Heilung – Selbstregulation“ wird allgemein auf die z.B. auch in der Natur kontinuierlich ablaufenden Prozesse zur Gleichgewichtsherstellung hingewiesen und im speziellen – über den Weg der bewußten Aufmerksamkeit – auf deren Bedeutung im therapeutischen Heilungsprozeß.

Zum Verständnis des therapeutischen Prozesses wird insbesondere auf den von Staemmler und Bock beschriebenen „Neuentwurf der Gestalttherapie“ zurückgegriffen: der Stagnation folgt im Idealfall die Phase der Polaritäten, das Stadium der Diffusion, die Kontraktion und die Expansion.- Das Ende der Therapie sei erreicht „…wenn wir nicht mehr mit Fragen zu unserem Therapeuten gehen müssen, sondern die Antworten in uns selbst finden“.

Der sanfte Weg – der Untertitel des Buches – leitet sich von Peter Bolens persönlicher Erfahrung und aus der Entwicklung seines therapeutischen Handelns ab. Zu der in der Anfangszeit klassischen konfrontativen Arbeit am Muskelpanzer – mit starker energetischer Aufladung, um an die blockierten Emotionen heranzukommen – und „de l`Europe“ konnte man 160 internationale Tageszeitungen lesen.4)

Die soziokulturelle Struktur der Stadt stand allerdings unter eindeutiger Hegemonie der deutschen Sprache und wurde getragen von einem emanzipierten jüdischen Bürgertum, das sich überwiegend zur deutschsprachigen Kultur- und Geisteswelt bekannte und sich dort auch beheimatet fühlte. In Abgrenzung zur rückwärtsgewandten, heimat- und brauchtumsverhafteten Tradition der sogenannten Volksdeutschen orientierten sich die Czernowitzer Juden nach Wien und Berlin und entwickelten eine urbane, mehr intellektuelle Auseinandersetzung zu zeitgemäßen Fragen.

Uriel Birnbaum (*1894), Autor phantastischer Novellen, expressionistischer Lyriker und Zeichner aus Wien, lebte vom 14. bis zum 17. Lebensjahr in Czernowitz und bezeichnete die Jahre in der Bukowina als die „wichtigsten seines Lebens“.

Die Dichterin Rose Ausländer erinnert sich: „Man las viel, nicht nur Zeitungen, Zeitschriften, Sekundärliteratur und Unterhaltungslektüre, sondern gute, beste Literatur. Man diskutierte mit Feuereifer, musizierte und sang. Das Stadttheater war immer gut besucht, bei Gastspielen ausverkauft.

Ein beträchtlicher Teil der Jugend, geistig aufgeschlossen, war von unersättlicher Wißbegier. Das zentrale Interesse vieler Intellektueller galt nicht einem technisch höheren Lebensstandard, es ging ihnen vielmehr um erkenntnisreiche Einsichten, sei es auf Wegen der Wissenschaft, Philosophie, Politik oder durch das Erlebnis von Mystik, Kunst, Dichtung und Musik.

Czernowitz war eine Stadt von Schwärmern und Anhängern. Es ging ihnen, mit Schopenhauers Worten, um das Interesse des Denkens, nicht um das Denken des Interesses. Karl Kraus hatte in Czernowitz eine große Gemeinde von Bewunderern, man begegnete ihnen, die `Fackel´ in der Hand, in den Straßen, Parks Wäldern und an den Ufern des Pruth… Man schwärmte für Hölderlin, Stefan George, Trakl, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Hermann Hesse, Gottfried Benn, Bertold Brecht.

Man verschlang die klassischen und modernen Werke der fremdsprachigen Literatur. Jeder Jünger war von der Mission seines Meisters durchdrungen. Man huldigte selbstlos und mit vehementer Begeisterung: Ein Wort, das die moderne Kritik als Pathos oder Sentimentalität ablehnt… Eine versunkene Stadt. Eine versunkene Welt.“5)

Rose Ausländers Antwort auf die Frage, warum sie schreibt: „Vielleicht, weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein. Das viersprachige Czernowitz war eine musische Stadt.“

Historischer Hintergrund dieser Entwicklung:

Nach mehreren Jahrhunderten im Herrschaftsgebiet verschiedener Fürstentümer – des ungarischen König- und des osmanischen Reichs – wurde die Bukowina 1774 der Habsburgermonarchie zugesprochen. Jüdische Kaufleute gab es auf dem „Tartarenweg“ zwischen Lemberg und Byzanz schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts, ebenso deutsche Handwerker und Baumeister.

Die Habsburger legten Wert auf eine Germanisierung dieser östlichsten Provinz und nachdem die österreichische Militärverwaltung zuerst schon versuchte, die Rechte der Juden massiv einzuschränken, wurde auch nach dem „Toleranzpaket“ Josephs II. ihr Akkulturierugsprozeß mit Härte forciert und die Immigration von deutschen Handwerkern, Arbeitern, Bauern und von Ärzten, Lehrern, Anwälten und Beamten – viele davon jüdischer Herkunft und den Lebensgewohnheiten der deutschen Kultur verbunden – gefördert.

Die Monarchie setzte die Juden zur Ausbreitung und Stabilisierung der deutschsprachigen Kultur ein und ließ ihnen dafür größere Bevorzugung – und damit einen gewissen Schutz vor dem latenten Antisemitismus der übrigen Bevölkerungsgruppen – angedeihen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfaßte dieser Prozeß weite Teile des Judentums und allmählich wurden sie zu den eigentlichen Repräsentanten des österreichischen Staatsgedankens, auf deren Loyalität sich die Zentralregierung verlassen konnte und zum Träger eines idealistischen deutsch-österreichischen Lebensgefühls.

Doch obwohl sich nirgends sonst eine deutsch-jüdische Kultursymbiose (zumindest für einige Jahrzehnte) in ähnlicher Intensität entwickelte, „…bewahrten sie in weit stärkerem Maße als anderswo jüdisches Erbe und jüdische Tradition. Ja, sie entwickelten einen recht originellen Pragmatismus, der es ihnen erlaubte, moderne

In den ersten drei Kapiteln behandelt Bolen die Frage, warum in der Psychotherapie die Arbeit am und mit dem Körper – Berührung, Wahrnehmung der Haltung, der Bewegung, der Gestik, der Mimik – so wichtig ist und weist darauf hin, dass Körperpsychotherapie nicht nur Körperarbeit, sondern auch verbale therapeutische Kommunikation ist. Sie unterscheidet sich von rein verbalen Methoden dadurch, dass sie frühes Material, welches im Körper gespeichert ist, durch Körperinterventionen bewußt machen kann.

Das Gehirn bezeichnet er als „Biocomputer“, wobei bis zum 4. Lebensjahr von den Erziehungspersonen Programme installiert werden, ohne dass sich das Kind dagegen wehren kann, auch wenn sie für seine Entwicklung nicht förderlich sind. „Und welche Möglichkeiten haben wir nun zu erkennen, ob die Basis unserer Handlungen eigener Wille sind, oder ob es sich um ein Fremdprogramm handelt?“ Antwort: „Überraschender Weise sind es unsere Gefühle, auf die wir uns dabei verlassen können, also jener Bereich unserer Persönlichkeit, den wir gerne unserem logischen Verstand unterordnen.“

Bei vielen Menschen ist der Bezug zum eigenen Gefühl derart verschüttet, dass es in der Therapie oft lange Zeit braucht, um ihnen wieder einen Zugang dazu zu eröffnen. Der Widerstand dagegen besteht aufgrund von Schmerzen, die bei der Wiedererinnerung nochmals auftauchen, sodass „…wir in unserem Erwachsenenleben wie programmierte Roboter herumlaufen, ohne uns dessen bewußt zu sein … wir leiden wegen der Vergewaltigung unserer Gefühle unter psychischen und psychosomatischen Symptomen“.

In der Psychotherapie wird versucht an diese Programme der frühen Kindheit heranzukommen – Myron Sharaf benannte diese Bemühungen einmal treffend als „digging for oil“ -, um sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen.
Die körperorientierte Psychotherapie vermag Traumata auch aus frühester Kindheit wieder zu erinnern und sie einer Verarbeitung zugänglich zu machen.- Statt des direkten Angriffs auf den Muskelpanzer, wie es etwa Aexander Lowen versuchte, folgte z.B. Gerda Boyesen Reichs Beobachtungen der vegetativen Reaktionen und beschäftigte sich in der Folge mit dem visceralen System.

Ihr Ansatz besteht aus der Hypothese, dass sich ungelöste Konflikte als latente dynamische Anspannung der Viscera (Eingeweide) manifestieren- Erkenntnis berufen kann. Dass wir uns dennoch mit der Wissenschaft auseinandersetzen liegt daran, dass wir nicht isoliert sind. Wir sind in eine kulturelle Umwelt eingebettet, die im wesentlichen wissenschaftlich ist. Daher nehmen wir an diesem wissenschaftlichen Dialog teil.Nur die Ermunterung meiner Freunde und Mitarbeiter bewog mich letztlich dazu, mein während meines beruflichen Lebens erworbenes Wissen in dieser Form weiterzugeben.

Ich bin zufrieden, wenn es so gut geworden ist, dass es für die praktische Arbeit mit Patienten brauchbar ist. Fehler darin zu finden wird durchaus möglich sein, ich hoffe aber, dass die Leserin und der Leser in diesem Buch auch neue Ansätze und Sichtweisen der Psychotherapie entdecken können, die sich sonst nirgends in der Literatur finden. Damit hätte dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

Primär für Ausbildungskandidaten der Emotionalen Reintegration gedacht, enthält dieses Buch jedoch Anregungen für alle Körperpsychotherapeuten. Falls Psychotherapeuten anderer Schulen sich für die psychotherapeutische Körperarbeit interessieren, sollte es auch für sie eine nützliche Einführung darstellen. Ich versuchte, dieses Buch – mit Ausnahme des Kapitels über die neurophysiologischen Grundlagen der Gelenksarbeit – so einfach zu schreiben, dass auch Laien und Psychotherapiesuchende hier Antworten auf ihre Fragen finden können.

Zuletzt scheute ich nicht auch Grenzbereiche anzusprechen, die ich persönlich in meiner Arbeit anwende und die sich nicht naturwissenschaftlich begründen lassen. Dieser persönliche Ansatz ist jedoch nicht Allgemeingut innerhalb des Arbeitskreises für Emotionale Reintegration und der darin vertretenen Therapeuten.- Ohne diese Hinweise wäre dieses Buch aber unvollständig geblieben. Die Persönlichkeit des Therapeuten schwingt ja immer in seiner Arbeit mit und eine Ausblendung dieses Aspekts wäre reduktionistisch. Ich wollte auch wahrhaftig bleiben und meine Arbeit so darstellen, wie ich sie praktiziere.“

Damit ist schon Einiges gesagt. Inhaltlich ist das Buch in 18 Kapitel unterteilt.

Menschen zu sein und gleichzeitig vom Judentum das zu behalten, was ihnen moralische Stütze im Leben gab und ihre ethnische Identität bewahren ließ.“6) 1867 erhielten die Juden die volle rechtliche Gleichstellung und spätestens nach der Universitätsgründung in Czernowitz, 1875, kam eine reiche und lebendige künstlerische, literarische und intellektuelle Entwicklung in Schwung, die sich bis 1914 ungehindert entfalten sollte.

Die Kinder dieser Zeit, die in dieses einmalige Biotop hineinwachsen, werden später (ab 1919, als die Bukowina unter rumänische Herrschaft fällt und ab 1941, mit Beginn der deutsch-rumänischen Schreckensherrschaft) Biographien aufweisen, ohne die eine Beschreibung der Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts undenkbar wäre.

Aber: „Verlust und Zerstörung der heimatlichen Welt, Deportationen, Emigrationen, Familienzerreißung, Flucht, Sprach- und Kulturwechsel, vielfache Rückbindung an durchlaufene Stationen wie an Menschen, über Länder, ja Kontinente verstreute Spuren, unerwartete Ausblicke. Kann einer über das 20. Jahrhundert mitsprechen ohne diese Erfahrungen?“ (Hans Bergel)

Wenige Namen sind in Erinnerung geblieben von dieser in der Bukowina geborenen oder aufgewachsenen Generation, noch weniger sind über einen kleinen Kreis von Literaturwissenschaftlern und -liebhabern hinaus bekannt geworden: Rose Ausländer, Erwin Chargaff, Paul Celan, Wilhelm Reich.

Genaue Differenzierungen würden den Rahmen dieses Textes sprengen, der fürs erste nichts anderes will als ein paar Bilder aus der Stadt zu liefern, in deren Umfeld Wilhelm Reich seine Jugendjahre erlebt hat. Auch ist der Fokus eingeschränkt auf die Zeit vor 1914, denn nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Aufkommen der NS-Ideologie und dem Holocaust verschieben sich die Koordinaten aller Assoziationsmöglichkeiten. Aber da war Reich schon lange in Wien, Berlin und Skandinavien, wo er unter anderen Vorzeichen mit denselben Ausbrüchen der Irrationalität und des Hasses konfrontiert war wie die deutsch-jüdischen Dichter der Bukowiner Literaturlandschaft.

Der junge Reich

Aus autobiographischen Notizen des 22-jährigen Reich ergeben sich einige Anhaltspunkte, wenn man sich im weglosen Gelände seiner Jugendjahre orientieren will:

Einerseits ein brutaler, jähzorniger Vater, zerrüttete Eheverhältnisse der Eltern, eine Mutter, die den Sohn an sich bindet und ihn nicht gehen lassen kann, bis zum 11. bzw. 12. Lebensjahr keine Beziehungen zu Gleichaltrigen (außer zum jüngeren Bruder), sexuelle Erfahrungen des Kindes mit erwachsenen Frauen. Andererseits ein extrovertierter, zielstrebiger und pragmatischer junger Mann, dessen intellektuelle Neugier, Erfahrungshunger und in Naturbeobachtung geübter Blick immer in die Tiefe zielen, hinter die Fassade und die oberflächlichen Erklärungen, hinter die Heuchelei und die Lügen der Erwachsenen – und sehr früh die Notwendigkeit, allein und selbständig zu entscheiden durch das Wegfallen der elterlichen Autorität.

„… Ich träumte, träumte mit offenen Augen, träumte, wenn ich mathematische Formeln an die Tafel schrieb, träumte, wenn ich deutsche Gedichte oder Lesestücke vortragen sollte! Ich war einer der ersten Schüler der Klasse, ohne daß es mir besondere Mühe machte.

„…Ich verkehrte wenig mit Kameraden, las viel, fraß Belletristik und Wissenschaft, phantasierte stundenlang am Klavier, gab Stunden, um mein Taschengeld zu erhöhen. Ich arbeitete, las, spielte, grübelte, träumte und onanierte! Ich zog mich von der Welt zurück, ließ Kameraden Kameraden sein, denn mich widerte ihr laszives Gespräch und Getue und Gerauche an. Nur einen Freund behielt ich mir zehn Jahre lang – eben den, der später starb.“7)

Er liebt Schauspiel, Ballett, liebt die Schwester eines Freundes, herrlich langes blondes Haar, liebt Storms „Aquis submersus“, Schillers „Geisterseher“, Hauffs „Märchen“, liebt die Russen, haßt die Franzosen (russische bzw. französiche Literatur) und liebt den „herrlichen Strindberg, dessen Lebensgeschichte ich in einer Zeit lese, wo mein Inneres eine einzige Wunde ist.“8)

„…Ich bin ernst und mürrisch geworden vor der Zeit und lechze nach Lust und Leben… Ich rackere tagsüber wie ein Lasttier und liege nachts in Bordellen. Ich habe die Empfindung, daß ich jemanden finden, auf irgend ein Erlebnis stoßen müsse…“9)

Er lebt in Büchern und Träumen, macht Ausflüge, spielt Fußball und Tennis, liebt die Schwester eines Kollegen „… 18 Jahre, schwarz, rote Lippen, kleiner Fuß in zierlichen Halbschuhen, sanfte Linie vom schlanken Hals über die Taille bis zur schönen Hüfte“, stürzt sich in erotische Abenteuer und tobt seine Sinnlichkeit in Bordellen, Stiegenhäusern und Kellern aus, mit leicht-sinnigen Frauen.

Er ist unentrinnbar, unentwirrbar in die Umstände des Todes seiner Mutter verstrickt und übernimmt die Verantwortung während des Bankrotts und der tödlichen Erkrankung des Vaters. Kurze Zeit später wird der Erste Weltkrieg inszeniert. Reich ist 17 Jahre alt.

In „Leidenschaft der Jugend“ skizziert er an einigen Beispielen die Grundzüge seiner sexuellen Entwicklung als Kind und Jugendlicher. Behindert durch Ver- und Gebote, Heimlich- und Zweideutigkeiten und den Zynismus der Erwachsenen; durch Sehnsüchte, Wünsche, Neugier, Unklarheiten, Irrtümer, Experimente hindurch bricht sich sein Lust- und Wissenshunger, sein Lebenshunger schließlich freie Bahn.- Wer würde sich da nicht wiedererkennen?

Reich und Celan

Eine Reihe eigenwilliger junger Leute bevölkerten die Gymnasien zur selben Zeit und durchstreiften die Stadt: Alfred Margul-Sperber (*1898), Albert Maurüber (*1896), Erich Singer (*1896), Ninon Hesse (*1895), Moses Rosenkranz und David Goldfeld (*1904), Alfred Kittner (*1906), Georg Drozdowski (*1899), Jonas Lesser (*1895), Klara Blum (*1904), Rose Ausländer (*1901), Erwin Chargaff (*1905) – und später Immanuel Weißglas und Alfred Gong (*1920), Else Keren und Selma Meerbaum-Eisinger (*1924), Paul Celan (*1920) … eine unvollständige Aufstellung.-

Wann immer ich die Namen Wilhelm Reich und Czernowitz höre, denke ich auch: Paul Celan.
So unterschiedlich beider Biographien und vor allem ihre Arbeitsgebiete sind, so fallen doch markante Übereinstimmungen auf, Verwandtschaften. (Die politischen Verhältnisse haben sich geändert, nachdem die Bukowina 1919 an Rumänien gefallen war. Das geistige Klima der Vorkriegszeit erhielt sich aber noch für zwei Jahrzehnte in verdichteter Form.) Bedingt durch die geschichtlichen Ereignisse und eine Generation voneinander getrennt, schlagen sie verschiedene Wege ein und gehen doch parallel.

Auch für Celan gilt: Ein autoritärer, Disziplin fordernder, hohe Ansprüche stellender Vater, eine liebevoll-zärtliche, idealisierte Mutter, die vom Sohn erwartet, sie für die Enttäuschungen und die Entfremdung in ihrer Ehe zu entschädigen und die ihn wohl in seiner intellektuellen und künstlerischen Entwicklung unterstützt und fördert, dafür aber seine ganze Liebe und Hingabe beansprucht.

Über beide wird eine familiäre Katastrophe hereinbrechen, die für ihr Leben prägend sein wird:

  • Eine Liebesaffäre der Mutter, Eifersuchtsdramen, ihr Selbstmord – nach mehreren mißglückten Versuchen – und vier Jahre darauf der Tod des Vaters, Eltern, die den Sohn unausweichlich in ihre persönliche Verzweiflung hineinziehen und dem 13-jährigen Reich in diesem Zusammenhang Verantwortung und „Schuld“ aufladen.
  • Die Deportation und Ermordung der Eltern Paul Celans durch die NS-Herrscher. Celan hatte sich ein sicheres Versteck organisiert, aber aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und Mißverständnissen zwischen seinen Eltern und ihm kam es dazu, daß er der Gestapo entging, während jene aus der Wohnung „abgeholt“ wurden. Daß sie auf die Todesmärsche und in die Zwangsarbeitslager gehen mußten, ohne seinen Beistand, hat er sein Leben lang als diffuse Schuld begriffen, obwohl die einzige Schuld natürlich auf seiten der Täter ist.
  • Für den einen, wie für den anderen blieb die schwierige Vaterbeziehung ungelöst.Gemeinsam ist ihnen auch ein frühes Interesse für Naturwissenschaften und große Empfindungsfähigkeit – Celan hat ein Medizinstudium begonnen, um „mehr über den Menschen zu erfahren“10), abbrechen mußte er es aus politischen Gründen; bei Reich ist ein ähnlicher „Neigungswinkel seiner Existenz“11) fühlbar.
  • Beide – der Wissenschaftler und der Dichter – werden sich später in eine Position der äußersten Ausgesetztheit und zunehmender Einsamkeit begeben: Reich, den seine Tätigkeit als Arzt und Psychoanalytiker zur Arbeit mit den vielfältigen Manifestationen der Lebensenergie führt – Celan mit seiner Erforschung der Sprache und ihrer Möglichkeiten zwischen Verstummtsein und existentieller Notwendigkeit, sich mitzuteilen.
  • Der eine hat für das Wahrzunehmende eine wissenschaftliche Sprache gefunden, die die bisherigen Beschränkungen durch Meinungen und Vorurteile hinter sich läßt – der andere eine Sprache entwickelt, die es ihm ermöglicht, das „…im Zusammenhang der Shoa Erlittene als Dichter im Gedächtnis zu bewahren und zu betrauern“12) und die sich der Verharmlosung entzieht – und zwar in der deutschen Muttersprache, die auch die Sprache der Mörder ist.
  • Was Reich auf der biologischen und energetischen Ebene verstehbar und nachvollziehbar gemacht hat, wird durch Celan auf der Basis des sprachlichen Ausdrucks erlebbar. Der rote Faden durch beider Werke ist einerseits der Ausdruck, die Entfaltung und der Schutz des Lebendigen – immer auf der Spur des Fühlens und Gewahrseins – andererseits das aufmerksame Hinhören und Hinschauen auf Dinge, die geschehen und das In-ständigem-Austausch-mit-ihnen-Sein, kein Rückzug, keine Resignation, nur Präsenz.

Wo Celan versucht durch das exakte benennen und Ertragen des in der Vergangenheit Geschehenen einen Heilungsprozeß in Gang zu setzen, ist Reichs Blick immer auf die Zukunft gerichtet. Inspiriert ist beider Leben und Arbeiten von einer machtvollen unterirdischen Strömung, die beides verbindet und eine unbedingte Liebe zu größtmöglicher Wahrhaftigkeit trägt.

In Celans sogenannter „hermetischer Lyrik“, die gar nicht so hermetisch (in sich geschlossen, für Außenstehende unverständlich) ist, wenn man sie in Beziehung zu den realen Begebenheiten und Erfahrungen setzt, zu den Verletzungen der Menschen in diesem – und nicht nur diesem Jahrhundert -, teilt sich das Lebendige in Gestalt der Sprache mit. Sie geht „durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten … durch furchtbares Verstummen … durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“ hindurch und tritt „wieder zutage … angereichert von alldem“.13)

Das erinnert an „Steckenbleiben“, Blockierung, Stauung, Sprachlosigkeit, Ausdruckslosigkeit des ursprünglichen, lebendigen Erlebens und dessen Verwandlung in Destruktivität – und schließlich an das Weitergehen, Durchgehen (durch therapeutische oder andere heilende Begegnungen, durch kathartische Erlebnisse oder Leib und Seele einbeziehende Erkenntnisse), sein Wiederauftauchen, angereichert von alldem und an eine Möglichkeit der Heilung.

Seine Gedichte erreichen durch die Beschränkung auf das Allernotwendigste und das Weglassen der üblichen Zuschreibungen, der üblichen Denkverführungen eine Konzentration, einen Gang nach innen in den Kernbereich des Erlebens, von dem aus dem Leser, der Leserin, die Celan zu folgen bereit sind, die Bewegung zurück nach außen möglich wird – es wird die Expansion möglich, das Entspannen und Ausatmen, das Wiedererschaffen und Wiedererleben einer Welt, die vorher scheinbar der Zerstörung und dem Vergessen ausgeliefert war.

Die Texte, die wirklichkeitsnäher nicht sein könnten, werden in einer Öffentlichkeit der 50er bis 70er Jahre, in der die Verdrängung des Geschehenen und die Rechtfertigung der Täter dominieren, als verschlüsselt, abgehoben und unzugänglich diffamiert. Durch absichtliches Mißverstehen, Verdrehung der Tatsachen oder durch lobende Kritik im Sinne von erdrückender Umarmung wird versucht, den Autor als Person und Sprechenden auszulöschen.

Paul Celan war nicht wie Reich so direkten und massiven Angriffen von Seiten der öffentlichen Institutionen, der Medien und der Regierung ausgesetzt. Im Gegenteil: es wurden ihm literarische Auszeichnungen zugestanden – allerdings unter der Voraussetzung einer mißverstehenden und verfälschenden Interpretation seiner Arbeit. Die Verfolgungen der emotionalen Pest, deren schleichendes Gift der Gleichgültigkeit und deren Unfähigkeit, zu fühlen, an denen Reich gestorben ist, lassen auch Paul Celan den Tod in der Seine suchen.

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Anhang:

1) Karl Emil Franzos: „Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galicien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien“
2) Winfried Menninghaus: „Czernowitz/Bukowina als Topos…“ in Merkur 600
3) Ludwig von Schlözer, zit. in: „Versunkene Dichtung aus der Bukowina“
4) Evelyn Scheer/Gert Schmidt: „Die Ukraine entdecken“
5) Rose Ausländer: „Erinnerungen an eine Stadt“
6) Israel Chalfen: „Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend“
7)8)9) Wilhelm Reich: „Leidenschaft der Jugend“
10) Israel Chalfen, s.o.
11) Paul Celan: „Darmstädter Rede“
12) Wolfgang Emmerich: „Paul Celan“
13) Paul Celan: „Bremer Rede“

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