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Bukumatula 1/1996

Jede Therapiestunde ist eine Form von Tanz

Interview mit Ingeborg Hildebrandt
Beatrix Teichmann-Wirth:

Für BUKUMATULA führte Beatrix Teichmann-Wirth im Jänner dieses Jahres ein Gespräch mit Ingeborg Hildebrandt. Ingeborg Hildebrandt, Gründungsmitglied des WRI und ausgebildet in Vegetotherapie und Personenzentrierter Gesprächstherapie, arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis als Supervisorin und Lehrtherapeutin in Wien.

Beatrix: Ingeborg, ich möchte in diesem Gespräch über zwei Dinge mit Dir sprechen: Zum einen bist Du eine der meisterfahrenen Körper(Psycho)therapeutinnen in Österreich, und wir würden gerne etwas über Deine Erfahrungen bzw. Veränderungen in Deiner Arbeit erfahren. Außerdem bist Du Gründungsmitglied des WRI, und so wollen wir Dir eine Möglichkeit geben Dich zu äußern, was Dich in Bezug auf das Institut bewegt und was Du über Entwicklungen bei uns denkst. Also zu ersterem: Was würdest Du als Deine Pfeiler in der Arbeit bezeichnen?

Ingeborg: Ich glaube, daß im Laufe der Zeit der „wirkliche“ Ansatz der Gesprächstherapie immer stärker für mich spürbar wird. Das ist nicht etwas, was ich bewußt in die Arbeit hineingebracht habe, sondern wo ich zu Anfang auf eine, sagen wir mal, sehr komische Art und Weise versucht habe, die Grundvariablen zu „verwenden“. Und irgendwann einmal habe ich ganz damit aufgehört, und jetzt merk´ ich immer wieder, wie stark sie in meiner Arbeit eine Rolle spielen und wie sehr sie sich mit Körperansätzen verbinden. Ich merke oft bei den jungen Kollegen das Defizit im Verbalen – aber es ist nicht nur das Verbale – es geht um eine innere Haltung.

B: Vielleicht kannst Du etwas mehr über diese „Grundhaltung“ sagen. Es ist ja meines Empfindens nach auch nicht richtig von „Gesprächstherapie“ zu sprechen. Mir tut es beispielsweise gut, „personzentrierte Psychotherapie“ zu sagen, weil da alles drinnen ist, d.h. die Person des Klienten in ihrer ganzen Komplexität und das Darauf-Antworten des Therapeuten in seiner Person.

I: Ja, die Kommunikation und Interaktion ist in dieser Definition viel mehr präsent. Zunächst ist es sicher die Empathie dafür, was der Klient als wichtig erachtet und auch wie er es bewertet, wie er es formuliert. Ich werde immer hellhöriger auf Formulierungen, die dann oft wie eine Sonde in die Tiefe führen zu dem ursprünglichen Geschehen. Wenn man genau bei diesen Formulierungen bleibt, sind es sehr oft Symbole, die wie Schlüssel sperren. Es ist auch die Kongruenz, die eine große Rolle spielt, d.h., daß ich als Therapeutin mit meinem Fühlen und meiner Wahrnehmung, auch körperlich, in Kontakt gehe, wenn es für die Beziehung zum Klienten wichtig ist.

B: Also, daß Du als Therapeutin wirklich authentisch anwesend bist mit all dem, was Dich ausmacht.
I: Und das ist sicher nicht so leicht zu lernen und ist auch ein Prozeß, der Zeit erfordert, dieses Hin- und Hergehen zwischen sich und dem Klienten, dem Nachspüren und auch dem Reflektieren darüber – was spielt sich in mir ab und was zeige ich dem Klienten. Das scheint mir das Schwierigste am Anfang. Zu zeigen, auszusprechen, was passiert und zu entscheiden, ob das jetzt Relevanz hat, oder ob es bedeutet, daß ich ihn – indem ich ihn damit konfrontiere -, nur in seinem Prozeß störe.

B: Das wäre eigentlich vergleichbar mit einem bestimmten Verständnis von Abstinenz, d.h., daß Abstinenz nicht als Berührung-tabu gesehen wird, sondern als angemessene Authentizität, als Abgestimmtsein. Manchmal kann auch radikale Authentizität das hilfreiche Medium sein.

I: Mir fällt die Geschichte von Prof. Erwin Ringel ein, der eine Supervision machen sollte mit einem Patienten. Ein Kollege schickt ihm diesen, weil er mit dessen Suizidabsichten nicht klar kommt. Er fängt also an in seiner depressiven Art zu erzählen, warum er sich umbringen will. Ringel hört ihm eine Weile zu. Plötzlich richtet er sich auf und schreit ihn an: „Was, und deswegen wollen Sie sich umbringen!“- Eine solche Spontanreaktion ist ja oft ein Aufrütteln und stellt damit auch eine Relation her.

Wahrscheinlich ist es nicht so wichtig, mit welcher therapeutischen Schule man zu arbeiten beginnt, und ich sage das jetzt ein bißchen provokant, das hebt sehr viel von dem Schulenstreit und der Konkurrenz auf.- Wenn der Prozeß, an sich zu arbeiten, mit dem, was man erlernt hat, in Verbindung bleibt und sich immer mehr verknüpft, dann wird daraus so etwas wie eine therapeutische Persönlichkeit. Und das ist das eigentlich Wirksame im Kontakt mit dem Klienten. Daß überzeugend spürbar ist, wer einem da gegenüber sitzt.

B: Das ist natürlich ein Weg, den man wirklich gehen muß. Also ich habe gefunden, daß es gut ist, wenn man sich am Anfang treu an das Gelernte hält. Man sichert sich damit auch ab. Damit meine ich beispielsweise in der Gesprächstherapie das komisch anmutende „Spiegeln“ oder in der Reichianischen Therapie das „Aufladen-Entladen“. Mit zunehmender Erfahrung und dem Fortschreiten des eigenen Prozesses wird man immer freier und riskiert auch immer mehr. Es ist wie eine Art Tanz…

I: Ja, unbedingt. Jede Therapiestunde ist eine Form von Tanz, der ganz unterschiedlichen Charakter hat, vom Walzer, dem Menuett bis zur Polka, und das ist nicht nur unterschiedlich von Person zu Person, sondern auch von Stunde zu Stunde, d.h. es ist einmal der Walzer und einmal das Menuett und einmal die Polka dran.

B: Das heißt, um das wahrzunehmen braucht man zweierlei: Einerseits ist es eine Energiearbeit, wo ich spüren muß, welche „Musik“ heute gespielt wird, d.h. welcher Rhythmus bei mir ankommt. Das zweite ist, daß ich eine hohe Flexibilität brauche, um darauf antworten zu können, d.h., daß ich viele „Tanzformen“ integriert haben muß.

I: Ja, das ist ganz sicher so und hat auch damit zu tun wo Ladung „gehalten“ wird. Wo finde ich mein Gegenüber zu diesem Zeitpunkt. Sitzt er irgendwo in einem Loch unten drinnen, wo es ganz finster ist, so ist angesagt mit ihm einen Weg zu gehen, wo er sich vitaler, lebendiger und heller spüren kann, mehr „oben“ sozusagen. Ist er irgendwie nicht ganz da, „oben“ irgendwie unterwegs und möchte nicht so gerne mit der Erde und den Menschen in Kontakt kommen, dann werde ich mit ihm Polka tanzen oder Trommeln schlagen.- Aber Du bist ja ohnedies auch Tanztherapeutin. Das ist ja auch Deine Richtung, wenn wir das jetzt so auf Tanz und Instrumente umlegen.

B: Es geht also darum, daß ich vieles zur Verfügung habe, daß ich mitschwingen kann; das bedarf auch der Pflege.- Aber nun interessiert mich, was für einen Stellenwert die „klassische“ Reichi-anische Therapie dabei für Dich hat. Ich weiß, daß Du eine Zeitlang mit diesem Setting gearbeitet hast. Ich kann mich erinnern, als ich damals bei Dir in Therapie war, hat mir diese Arbeit sehr gut getan und sie war richtig für mich. Wie ist es jetzt? Gibt es Klienten, mit denen Du ausschließlich mit diesem Setting arbeitest?

I: Weißt Du, es klingt vielleicht banal, aber es ist so, daß wir zum richtigen Zeitpunkt immer die Klienten bekommen, die wir „brauchen“ und die uns zu diesem Zeitpunkt brauchen. Natürlich wächst das Repertoire im Laufe der Zeit. D.h. man sitzt in einer Stunde und hat die Möglichkeit mit allen Sensoren einfach zu schauen, welches Instrumentarium heute angesagt ist. Und dann kann man das auch anbieten.

Am Anfang ist die Auswahl eingeschränkter; sie wird aber immer größer. Die Möglichkeit Interventionen untereinander zu verknüpfen, für diese eine Situation, und dadurch ein ganz neues Bukett zu kreieren, ist eine Herausforderung an die Kreativität des Therapeuten. Eine lustvolle, will ich sagen, die ich nicht missen möchte. Und die den Klienten neugierig macht auf einer sehr grundsätzlichen Ebene: nämlich offener zu sein für seine Wahrnehmungen für seinen Körper und seine Gefühle und für die Bereitschaft, Veränderungen vertrauensvoll anzugehen.

B: Dann ist es also so, daß Du die klassische Arbeit – also die Arbeit auf der Matte – nicht mehr in dieser reinen Form anwendest?

I: (Pause) Die klassische Form spielt punktueller, über weite Strecken verfeinerter eine Rolle. Verfeinerter nicht im Sinne einer Wertung, sondern im Sinne einer noch stärkeren Differenzierung.

B: Sag mehr darüber, über dieses „verfeinert“, „differenziert“ oder vielleicht auch, wie Du es früher verstanden und gemacht hast.

I: Ja. Es ist nicht mehr so sehr notwendig das Rahmensetting einzuhalten, also „Zieh dich aus, leg dich hin, atme“, sondern sehr oft fängt es in einer Form des Berührens durch meine Wahrnehmung schon an, wenn der Klient hereinkommt und sich hinsetzt. Seine verbalen Informationen sind dabei ein Stück noch mehr an Bestätigung. Ich nehme ihn einmal wahr, er erzählt von sich, und ich bekomme eine Bestätigung und noch eine genauere Differenzierung dazu, worum es heute geht, was Thema ist, und ich fange schon an, das zu verbinden mit einer Form körperlicher Arbeit – er macht z.B. Bewegungen, die ich mit einbeziehe. Ich gehe energetisch damit um und begleite ihn dabei. Und gleichzeitig läuft schon oft ein Stück Kognitives und Gefühlswahrnehmung natürlich und Gefühlsausdruck. Das alles spielt sich in einem Wechsel von Sitzen, Liegen, Stehen, Gehen, Halten ab. Das geht ineinander über.

B: Das heißt, es ist nicht mehr so, daß der Klient weiß, daß, wenn er hier herein kommt, er sich auszieht und hinlegt…

I: Nicht mehr so, aber nicht immer. Ich erlebe es auch für die meisten Klienten – zumindest am Anfang – viel zu stressig. Irgendwann habe ich entdeckt, daß ich genauso gut arbeiten kann, wenn ich sie durch die Kleider berühre. Sich ausziehen heißt sich auch ein Stück mehr zeigen – nackt sein ist nun mal eine andere Qualität. Aber meine Erfahrung ist, es macht in der Regel mehr Streß und das Mitgehen im Prozeß bleibt flüssiger, wenn ich diesen Streß nicht forciere. Es kommt dann schon bisweilen vor, daß es konkret um eine Massage bzw. um eine Berührung an der Haut in irgendeinem Bereich geht – zur Vitalisierung oder um den Hautkontakt intensiver zu haben. Dann ist das Ausziehen ein Thema; sehr klar und explizit im Kontext zur Arbeit.

B: Mhm… Das ist interessant, weil ich eine umgekehrte Entwicklung gemacht habe. Ich komme von diesem, in dieser Art differenzierten „Interventionstanz“. Und da war es wirklich für mich so, daß ich mir damals gedacht hab´, nein, das ist jetzt wirklich zuviel, daß sich der auszieht. Meine Haltung dazu hat sich sehr verändert, und damit hat sie sich auch beim Klienten verändert. Es ist sehr selten wirklich ein Streß. Solange es ein Streß ist, würde ich auf den „richtigen“ Zeitpunkt warten, damit das Ausziehen nicht noch mehr Kontraktion erzeugt. Was ich damit ansprechen möchte ist, daß das vielleicht auch etwas mit Deiner veränderten Haltung zu tun hat. Daß anderes für Dich wichtig geworden ist und Dir das auch von den Klienten entgegenkommt. Ich kann mir aber auch vorstellen, daß, wenn man sich selbst darin selbstverständlich bewegt, diese Selbstverständlichkeit auch für den Klienten gilt.

I: Mhm. Ja. In dem Ausmaß, in dem sich meine Arbeit in einem energetischen Feld abspielt, das sehr oft unmittelbar über dem Körper, aber nicht am Körper ist, hat sich das mitverändert. Es ist aber auch eine Frage der Störung.

B: Ich hab jetzt beim Zuhören gespürt, da bewegt sich sehr viel. Also Du bewegst Dich sehr viel, auch innerlich. Und ein bißchen hab´ ich mir gedacht, was ist denn das, was hier hält, das Feste, nicht im Sinne von Unbewegt, aber sozusagen der Grund, die Basis, das, wovon Du Dich auch theoretisch leiten läßt. Das ist es, was ich an der Reichschen Arbeit so schätze und genieße, daß es hier sehr wohl eine Orientierung gibt: die der Pulsation, der Energiefluß und die Richtung davon. Das ist meine Leitlinie, und da hilft mir auch das klassische Setting mit seiner Sparsamkeit, mich darauf zu fokus-sieren. Durch die scheinbare Einschränkung kann ich mit meiner Aufmerksamkeit voll und ganz auf die energetische Bewegung orientiert sein und schauen, wo geht das jetzt hin.- Und da ist jetzt auch meine Frage, was im Sinne von Reich bei Dir in Deiner Arbeit geblieben ist.

I: Also ganz sicher geblieben ist diese unmittelbare Wahrnehmung: was passiert im Körper und mit dem Körper, ob es jetzt die Bewegung ist, die Atmung, der Ausdruck, etc. – und das Arbeiten damit. Es gibt ein Grundthema, das sich von Anbeginn der Arbeit im Körper, in den Gefühlen und in der Geschichte dieses Menschen durchzieht. Das ist sozusagen der Rahmen. Und mit diesem Rahmen arbeite ich auf allen drei Ebenen. Es ist also ein Thema mit Variationen wie bei einer Symphonie, aber es taucht immer wieder das Grundthema auf. Und wir erledigen es, indem wir es integrieren und es als Ressourcen erkennen. Aber es gibt ein Grundthema, und das ist am Schluß genauso da, nur ist dieses Grundthema am Schluß dann etwas, das akzeptiert und gut lebbar im weiteren Leben ist.

B: Also auch in dem Sinne, wie es Michael Smith gesagt hat: Der Unterschied ist, ob du den Panzer hast oder ob der Panzer dich hat.- Also die charakterliche Disposition bleibt, und es ist ja auch ein Potential drinnen, eine Kapazität.

I: Ja, es ist wichtig, das auch als ein Potential zu erkennen, das ich dankbar annehmen kann und mir zur Verfügung steht.

B: Da gibt es übrigens, das fällt mir gerade ein, ein interessant zu lesendes Buch von einem österreichischen Bioenergetiker – Dietrich heißt er -, mit dem Titel „Bioenergetische Analyse“, wo er anhand von Mythen, Märchen aber auch Beispielen aus der Kunst bioenergetische Charaktertypologien beschreibt. Und das Schöne daran ist daß er zu jeder Struktur – also z.B. zur schizoiden, der oralen oder psychopathischen – jeweils ein Interview mit einem österreichischen Lehranalytiker gemacht hat, der diese Struktur hat; und die sind naturgemäß sehr versöhnlich mit ihrer Struktur, d.h. es tönen auch jeweils deren Potentiale durch. Ich finde, das ist eigentlich ein sehr schöner Umgang damit, wo vielleicht der Reichschen Sicht eine größere Strenge anhaftet; hier gibt es aber auch den Gesundheitsbegriff der „Genitalität“, der dem neurotischen Charakter gegen-übergestellt ist.

I: Wobei mir auffällt, daß wir von der Reichschen Arbeit einen Eindruck haben, der nicht in seine letzte Zeit hineinreicht. Da hat Eva Reich sicher eine Menge dazu beigetragen. Zum Teil hat das Formen angenommen, die halt sehr schwierig nachzuvollziehen sind und sehr skurril gewirkt haben. Aber ich denke, daß Reich auch in die „Verfeinerung“ hineingegangen ist in seiner Arbeit, mit Klienten. In der Zeit in Rangley, in Maine, hat sich seine Arbeit mit Klienten, soweit er sie überhaupt noch gemacht hat, sehr viel subtiler abgspielt, als wir es von seinen früheren Arbeiten her kennen.

B: Was verstehst Du unter „subtiler“?

I: Daß der Therapeut noch mehr von seinem persönlichen Instrumentarium mit einbeziehen kann, das aus seiner eigenen Entwicklung und Erfahrung gewachsen ist.

B: Das heißt, es muß gar nicht so sein, daß man körperlich interveniert – im Sinne von Eingreifen und Lösen der Muskelpanzerung durch direkte Intervention -, sondern der Therapeut wirkt als Ener-giekörper an sich.

I: Ganz genau. Die Interventionen werden gezielter und sparsamer.

B: Das ist es, was Du unter „subtiler“ verstehst?

I: Ja. Es geht um die eigene Präsenz – und es ist eine ständige „Arbeit“, daß das So-da-Sein wirksam werden kann.

B: Da wären wir eigentlich wieder bei dem, was Du am Anfang gesagt hast – bei der Verbindung zur personzentrierten Therapie. Carl Rogers hat so gearbeitet. Ich habe ihn ja noch miterleben können. Meine Erfahrung dabei war, daß er tief energetisch gearbeitet hat, ohne daß er den Klienten auch nur irgendwie berühren mußte. Das hat auch seine Wirksamkeit ausgemacht. Und es war auch ein Grad an Intimität da, ohne eine spektakuläre Geschichte, innerhalb von Minuten. Er hat es riskieren können ohne technische Mittel zu wirken. Das ist vielleicht auch so ein Weg, die Mittel zu transzendieren und als Person selbst wirksam zu werden.

I: Ja. Mitzugehen in eigenen Lebensabschnitten, um in diesem Prozeß der Transzendenz auch unterwegs zu sein. Und jeder Abschnitt davon hat andere Qualitäten. Und ich denke mir manchmal, es ist kein Zufall, daß wir zu einem Zeitpunkt, wo wir älter werden und unsere Kapazität auf einer sehr manifesten körperlichen Ebene ja auch ein Stück nachläßt – wie ich es ja auch an mir selbst merke -, stärker in diese Bereiche gehen können und die Möglichkeit haben, von daher wirksam zu werden.

B: Was mich auch noch interessiert, Ingeborg: Du hast vom „Grundthema“ eines Klienten gesprochen. In welchem theoretischen Gebäude lokalisierst Du diese Themen? Ich meine, das kann man analytisch sehen oder eher humanistisch oder auch charakter-analytisch. Was sind z.B. diese Themen, welche fallen Dir da ein?
I: Für mich ist der analytische Hintergrund in der Arbeit in dem Bereich ein sehr wichtiger, wo es um die Aufarbeitung geht.

B: Wie geschieht diese Aufarbeitung? In jeder Therapie wird die Kindheit berührt, es kommt nur darauf an, ob ich das intendiere, die Vergangenheit also aufsuche, oder ob ich, wenn sie auftaucht, dem einfach Raum gebe. In der klassischen Vegetotherapie tauchen beispielsweise ohnedies Erinnerungen auf, welche ich dann sich ausdehnen lasse; damit ist dann ein größeres Verständnis dafür da, und die Integration findet so statt. Und das reicht meiner Meinung nach auch schon. Die Frage ist jetzt, warum ist für Dich das ganz bewußte Ansprechen, das direkte verbale Heranführen des Klienten an die Vergangenheit so wichtig?

I: Die Bezugnahme zur Vergangenheit entsteht über einen körper-orientierten Ansatz oder aus der Übertragungssituation, in der Interaktion zwischen mir und dem Klienten. Das wäre so der Ursprung davon. Der nächste Schritt ist, mit den Gefühlen zu gehen. Der ist in beiden Fällen gleich: der Ausdruck von Gefühlen. Und im dritten Schritt dann kommen entweder Erinnerungen, Phantasien oder Symbole, die bearbeitet werden, und hier spreche ich es auch an, einfach um es auch erkennbar zu machen, es noch einmal zu verdeutlichen.

B: Und das findest Du als unabdingbar, genauso wie das Peter Bolen mit seiner „Emotionalen Reintegration“ intendiert, daß es also notwendig ist, daß Erlebnisse sehr bewußt auch auf einer kogni-tiven Ebene aufgegriffen werden und Bezüge zur Kindheit hergestellt werden?

I: Ja. Ich glaube, daß Menschen, die zu uns in Therapie kommen einmal von vornherein etwas mitbringen, was wie eine Schachtel von Puzzlesteinen ist, mit denen sie nicht klar kommen, wie die eigentlich zusammengehören. Und daß ein Teil der therapeutischen Arbeit darin besteht, sich persönlich kennenzulernen und zu erfahren, daß dieses Puzzle ein Bild ergeben kann, ein Bild der eigenen Geschichte und der eigenen Persönlichkeit.

B: Ja. In der Vegetotherapie zeigen sich diese Puzzleteile, die anfangs noch kein klar erkennbares Bild abgeben ja darin, daß – sagen wir einmal so -, die Energie „noch nicht weiß wie sie fließen soll“, weil sie eben zu Zerstreuung und Ballungen und zu Mangel an bestimmten Stellen neigt – zu Anfang der Therapie. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß, je mehr diese Energie ihren eigenen Weg findet – und da gibt es ja auch durchaus energetische Gesetzmäßigkeiten vom Energiefluß im ungepanzerten Organismus, die ja Wilhelm Reich eingehend beschrieben hat -, also je mehr sie diesen Fluß findet, um so mehr findet Integration und damit Vervollständigung statt. Und meine Erfahrung ist, daß dies genügt, d.h. es braucht nicht immer und unbedingt diese kognitiv ausgerichtete Zuwendung, um das Bild zu vervollständigen, wenngleich diese kognitive Zuwendung ja auch in Reichschen Therapien stattfindet, wenn es ansteht, nur nicht mit System sozusagen. Die Integration aber geschieht.

I: Mir fällt gerade auf, wo wir hier miteinander reden: das ist der Unterschied zwischen der Arbeit mit Kollegen und der Arbeit mit Klienten. Ich rede, merke ich gerade, von der Arbeit mit Kollegen in der Ausbildungssituation und da ist es natürlich ein wirklich wichtiges Thema. Aber bei Klienten, da gebe ich Dir vollkommen recht, ist das ausreichend. Für den Klienten reicht der Teil, wo er sagt, da kann ich damit glücklich leben. Dagegen ist es für die Aus- und Weiterbildung wichtig, möglichst umfassend sich zu erkennen und zu erfahren.

B: Da ist für mich ein Haken dabei. Da kann Energie zu fließen beginnen, und dann kommt es zu einem Schnitt. So und jetzt gehen wir dazu über, die Puzzleteile zusammenzufügen. Da ist für mich etwas unterbrochen. Ich erlebe das jetzt sehr stark, wenn ich Artikel von Peter Geissler oder Peter Bolen lese, wo ich die Empfindung habe, irgendwann hört das Vertrauen auf, in das, was ich als die Essenz des Reichschen Ansatzes verstehe: nämlich daß es da eine funktionelle Identität gibt, daß es eben nicht notwendig ist, das noch gesondert aufzugreifen, daß auch ich als Kollegin in meinem Lern-prozeß das nicht so bewußt zusammenbringen muß. Wenn es nicht ein akademisches Interesse ist, brauche ich mich nicht dafür zu interessieren, was da alles in meiner Kindheit stattgefunden hat.

I: Jetzt wird es ein bißchen deutlicher. Das, was Du sagst würde bedeuten, daß der Stop durch meine Intervention entsteht.

B: Ja genau, so wie ein Absetzen, so und jetzt…

I: Nein, nein, es ist umgekehrt. Wenn ein Stop im Prozeß entsteht, dann gehe ich auf diese Ebene, d.h., nicht ich stoppe, sondern der Prozeß hat einen Stop, und dann greife ich das auf.

B: Gut, das hat ja Reich auch am Beginn seiner vegetotherapeutischen Arbeit gesagt, daß, wenn Panzerung nicht über den Körper aufzulösen ist, er dann charakteranalytisch ansetzt. D.h. es geht darum, zu sehen, wo sind jetzt im Moment Zugänge, um die Panzerung aufzulösen.

I: Ja, das ist sicher ein starker Teil meiner Arbeit – immer wieder auf die Arbeit mit dem Charakter zurückzugreifen und immer wieder dem Prozeß energetisch zu folgen – in dieser Balance.

B: Du hast die Übertragung angesprochen. Nun hast Du aber eine starke humanistische Tradition. Wie gestaltet sich Deine Arbeit mit der Übertragung jetzt genau? Ich meine, da gibt es das eine Extrem bei den Analytikern, die durch ihre Abstinenz die Übertragung fördern. Ich nehme nicht an, daß das bei Dir so ist.- Ist es so, daß Du einfach sehr sensibel darauf bist, was auf Dich übertragen wird?

I: Genau. Es wird sehr bald deutlich für mich spürbar, was da in der Interaktion an Gefühlen und Phantasien auf mich zu laufen beginnt und mit dem gehe ich dann, und zwar auf allen Ebenen.

B: „Damit Gehen“ heißt, Du beantwortest es auch. Wenn Du zum Beispiel, eine Übertragung auf Dich als gute Mutter spürst, dann „gehst“ Du damit, indem Du das gibst?

I: Nein, das wäre voreilig. Ich lasse zunächst einmal Klarheit und Ausdruck entstehen über all die Gefühle, die in Richtung einer „guten Mutter“ gehen, und erst wenn diese Palette vom Ausdruck her aufgefächert ist, dann kommt meine Antwort darauf in Form von „Geben“. Und dann kann man schauen, wie kann er umgehen mit dem, was er gekriegt hat, jetzt. Kann er damit umgehen, gut, wenn nicht, was fehlt noch. Und erst dann, am Schluß, erfolgt die Auflösung der Übertragung.

B: Mhm… Und die Auflösung der Übertragung – was kann man sich da darunter vorstellen?

I: Es ist das Erkennen, daß in dem Fall minimal meine Person daran beteiligt ist – im Sinne von Gemeintsein – und daß es wirklich um die Kindheitsgeschichte und deren Erledigung geht.

B: Freiwerden davon, meinst Du?

I: Ja, …und das, wenn Du so willst, zu erinnern, wem es wirklich gegolten hat, d.h. an den Ursprung zurückzugehen und dann auch klar für sich herauszufinden: ja, wie kann ich denn jetzt damit umgehen, was ist mir jetzt möglich, und wie läßt sich das verbinden. Also aus der These und Antithese eine Synthese zu finden.

B: Ich merke gerade, was meine Schwierigkeit jetzt auch im Gespräch ist, daß wir uns in unterschiedlichen Denkwelten bewegen. Ich denke in anderen Begrifflichkeiten und Kategorien. Für mich ist es so: wenn etwas von einer Person mich wirklich erreicht, weil es aus dem Kern kommt, dann habe ich nicht die Erfahrung gemacht, daß – auch wenn jemand sich ausstreckt, um Halt zu finden, und ich gebe das und ich es nicht genau analysiere -, ich etwas zudecke, sondern daß das ohnedies auch an dessen frühkindliche Versagungen anklopft und daß es dann ohnehin so gelöst wird. Das heißt, es braucht diesen Zwischenschritt des Nachfragens nicht, was da jetzt auf mich übertragen wird. Ich tue mir schwer das richtig auszudrücken, weil sich das alles für mich in der energetischen Arbeit in einer größeren Unmittelbarkeit abspielt.

I: Ja, da gibt es schon diesen abwägenden Anteil, wo ich für mich differenziere – ist es jetzt von meiner Wahrnehmung, meiner Erfahrung und meinem Gefühl her angesagt einfach zu geben, oder zuerst kommen zu lassen, was damit verbunden ist, etwa mit der Körperhaltung.

B: Ja. Das ist wahrscheinlich auch ein energetisches Wahrnehmen. D.h. wahrzunehmen, ob dies ein Impuls ist, der einen anderen Impuls überdeckt, z.B. sexuelle Verführung die von jemandem ausgeht, wie das bei mißbrauchten Frauen oft der Fall ist und wo das Verführerische ein Schutzsuchen und Bedürfnis nach oraler Nahrung überdeckt. Ich glaube nur nicht, daß dies in erster Linie über die Überlegung geht, sondern vertraue darauf, daß, wenn ich – sagen wir mal so -, in mir selbst verankert bin, daß ich das dann auch nicht beantworten würde. Aber die Frage stellt sich natürlich immer, in jedem Moment.

I: Ja, es ist völlig richtig was Du sagst. Und junge Kollegen fragen dann oft: wie erkenne ich denn das, wie tue ich denn da? Wir beide sind uns jetzt sehr einig, daß das nicht wirklich ein Prozeß ist, der über den Kopf läuft, sondern aus einer energetischen Ebene sehr wohl seine Reaktion bekommt.

B: Jetzt möchte ich Dich gerne etwas Einfacheres fragen. Und zwar hätte ich gerne, daß Du uns etwas über Deine wichtigsten Lehrer erzählst.

I: Ja. …Eva Reich ist für mich zuerst als Freundin, aber auch in ihrer bedingungslosen Zuwendung, mit der sie mit Menschen arbeitet, ein Vorbild gewesen. Ebenso wichtig und anregend war in der Zu-sammenarbeit mit ihr die von ihr entwickelte Form des Umgangs mit frühen Störungen. Darüber erscheint dieses Jahr übrigens ein Buch von ihr im Kösel-Verlag.- Agnes Wild-Missong hat mir mit dem Focusing wichtige Zugänge zur symbolhaften Verknüpfung mit körperorientierter Arbeit eröffnet. Sehr wichtig am Beginn meiner therapeutischen Ausbildung war Wolfgang Keil. Vom körperorientier-ten Ansatz war es Peter Bolen… Ah. Ich merke, es fällt mir schwer, weil ich eigentlich jede Begegnung als wichtig erlebe, auch wenn jemand nicht explizit mir als Lehrer begegnet, d.h. auch wie wir zwei z.B. jetzt zusammen sind – ein Stück bist Du für mich jetzt auch in diesem Sinn wichtig.

B: Ja. Alles, was „wirklich“ geschieht ist bedeutsam und bereichernd.- Ich habe gemerkt, jetzt beim Zuhören, daß zuerst einmal sehr unmittelbar Eva Reich gekommen ist und dann hast Du angefangen zu überlegen, und damit ist es auch „überlegter“ geworden und hat weniger Kraft gehabt.- Für mich war es sicher Michael Smith – und was vor allem von ihm bei mir angekommen ist, war zuallererst die-ses ungeheure Ausmaß an Liebe, die einfach durch ihn anwesend war und auch die Intimität, mit der er da war. Mich würde interessieren, was da bei Dir angekommen ist durch Eva.

I: Du hast es eigentlich schon gesagt. Es ist diese Fülle an Liebe, die sie für Menschen grundsätzlich hat und die ich speziell im freundschaftlichen Kontakt, aber auch im Kontakt als meine Lehrerin immer wieder von ihr erfahren habe.- In der Zusammenarbeit mit Männern ist es ganz sicher auch Christian Bartuska. Er ist einer der liebevollsten männlichen Therapeuten, die mir begegnet sind, reich an Erfahrung und Kompetenz, auch bei sehr frühen Störungen.

B: Um gleich anzuschließen: was würdest Du sagen ist heilsam, was heilt?

I: Liebe und Akzeptanz.

B: Du meinst das so als ganz grundsätzliche Haltung dem Leben gegenüber…

I: Ja. Das schließt überhaupt nicht aus, daß ich Dinge wahrnehme, die mich stören, die mich irritieren, die ich nicht mag…

B: Und weil ich auch die Frage gehabt habe, was macht einen guten Therapeuten aus, wäre das eines dieser Kriterien – Liebesfähigkeit?

I: Ja.

B: Fällt Dir noch etwas anderes auch ein?

I: Ich glaube, es ist wirklich eine Herausforderung, diesen Weg zu gehen als Mensch und im besonderen als Therapeut. Wir begegnen immer wieder Menschen, wo wir sagen, den mag ich nicht so gerne, mit dem kann ich nicht – und es geht darum, daß dieser Kreis kleiner werden kann. Ganz wird es nicht gelingen, wir sind Menschen und haben unsere Bewertungen und Grenzen. Aber daß aus diesem Akzeptierenkönnen, daß dieser Mensch so ist wie er geworden ist und ihn trotzdem grundsätzlich mögen können, das scheint mir erstrebenswert zu sein.

B: Ja. Daß man selbst „weiter“ wird und damit auch die Grenzen weiter werden…

I: Und jeder, bei dem ich spüre, daß ich ihn nicht mag und der mich dazu bringt, an meine Grenzen zu gehen, daß ich weiter werden kann, dem bin ich dafür dankbar.

B: Und dennoch, und das ist die andere Seite davon, gibt es Leute, mit denen Du gerne arbeitest. Welche sind das denn?

I: Vermutlich stimmt es schon, daß man mit den Leuten, die die eigene Störung haben, am liebsten arbeitet…
B: Na, welche sind das denn bei Dir?

I: Na, …das sind sicher gespaltene und hysterische Strukturen, also frühe Störungen und ödipale Störungen. Das ist lebendig für mich und ich kann hier in weite Bereiche hinein mitgehen, wo andere schon sagen, wo ist er da, was tut er da, was soll das sein, wo ich mir denke, ja, ja…

B: (lacht) Aha, deswegen haben wir uns damals so gut verstanden in der Arbeit…

I: Ich liebe diese Arbeit, da ist so viel Buntheit und Lebendigkeit drinnen.

B: Was ich so faszinierend finde an der Arbeit mit diesen Menschen ist die Nähe zur Wahrhaftigkeit, wie ich sie empfinde und auch das Ringen darum und nicht in der Verblendung bleiben zu wollen, auch wenn ein Leiden damit verbunden ist.

I: Und die Dünnhäutigkeit, die es inkludiert und die Antennen, …wenn die frei werden, welche Pracht sich dann entfaltet, das ist einfach so schön…

B: Als Stichwort die Pracht, die sich entfaltet. Eine abschließende Frage, was diesen Teil des Gesprächs betrifft: Da gibt es doch in der Reichschen Therapie das Ziel der „Genitalität“, und nun ist meine Frage: hat das für Dich eine Realität, so wie Du es erfährst an Dir selbst und in der Arbeit, oder ist das etwas, was im Gegenteil etwas von einer differenzierten Sicht wegnimmt, wohin sich Menschen individuell entwickeln können, also im Sinne eines Dogmas, eines Mythos, der drückt?

I: Mhm… Ich glaube, daß unser ganzes Potential an Kraft und unsere Pracht in Vollendung erst wirklich durch die Orgasmusfähigkeit sichtbar und fühlbar werden kann. Es gibt eine Ausstrahlung und ein Wahrnehmen in sich selbst, das viel mit dem Leben ganz grundsätzlich zu tun hat, mit der Lust am Leben…

B: Ist das auch das, was Du konkret immer wieder erlebst? Daß, wenn sich der Orgasmusreflex ausbilden kann, dann die Fülle des Lebens zugänglicher wird, und daß vielleicht die Menschen mit größerer Kraft im Leben stehen?
I: Nicht nur innerlich, das Feld dieser Menschen fängt an sich auszudehnen, …du spürst es relativ weit, die Farben fangen an sich zu verändern…

B: Mhm (lacht). Das beruhigt mich jetzt, weil es so eine starke Tendenz gibt, den Reichschen Ansatz zu kastrieren, finde ich…

I: Das ist auch eine Lebensfeindlichkeit.

B: Ja, Lebensfeindlichkeit. Aber auch wirklich Kastration im Sinne, dem Ansatz die Potenz zu nehmen. Das wird dann so gesehen: man hat ein bißchen Spaß am Leben, wie Alexander Lowen das beispiels-weise sagt. Der spricht von „Spaß“, alleine das Wort ist schon ganz anders als „genitale Potenz“.

I: Ja, da kommt die Kraft nicht durch, Spaß ist keine Kraft.

B: Und damit ist auch das Radikale und Gefährliche weg, denn wenn ich mit dieser genitalen Kraft in die Welt gehe, dann rüttelt das auch an Grundfesten.

I: Ja, das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb Du sagst, Du spürst diese Kastrationsversuche so stark, daß nämlich die Angst vor der Potenz – die Leute werden ja nicht bequemer dadurch -, immer wieder da ist.

B: Gut, kommen wir nun zum Reich-Institut. Du bist ja Gründungsmitglied. Was siehst Du, sozusagen als eine Mutter von uns, an Entwicklungen von Leuten, die beim WRI sind? Jetzt war ja SKAN sehr stark das Thema in den letzten Jahren. Welche Gefühle berührt das in Dir?

I: Also ich hab´ einige Erinnerungen. Weißt Du, es ist wie mit einem Kind, das immer wieder schwere Krankheiten hat.
B: (lacht) Würdest Du SKAN als eine Krankheit bezeichnen?

I: Nein, ich rede vom WRI.

B: Ja, aber SKAN hat sehr viel ausgemacht, weil viele von uns sich darin bewegt haben.

I: Ja, es ist ein bißchen für mich wie mit einem Kind, das immer wieder schwere Krankheiten hat. Trotzdem, und das berührt mich sehr, erlebe ich, daß es lebt, wächst und kräftiger wird.

B: Und welche Krankheiten hast Du schon miterlebt?

I: Für mich waren das Situationen, in denen es um Machtkämpfe gegangen ist und wo ich den Eindruck hatte, es besteht wirklich die Gefahr, daß das Institut daran zugrunde geht.

B: Du meinst ganz zu Anfang war das so…

I: Auch. Und es ist schön zu sehen, daß sich immer wieder ein Kreis schließt; es ist wie eine Krise vor einem neuen Lebensabschnitt, Wachstumsabschnitt. Also ich denke, jetzt habe ich nicht mehr wirklich eine Angst darum. Es lebt und wächst, und es findet immer wieder Menschen, die es tragen, wobei ich Wolfram Ratz für einen Menschen halte, der viel davon auf seinen Schultern getragen hat.

B: Das stimmt.

I: Es ist sehr eindrucksvoll, mit welcher Konsequenz und Treue er das tut, das ist es, was mich berührt, …auch die Treue zu einer Idee und zu einer Arbeit.

B: Mhm. Das wird uns auch daran hindern, daß BUKUMATULA mit anderen Zeitschriften zusammengelegt wird.
I: Ich weiß gar nicht, ob das schlecht ist. Wichtig ist, daß es seine Eigenständigkeit bewahrt. Solange es etwas sehr Individuelles ist, sind viele Verbindungen möglich. Eine Verbindung kann auch eine Be-fruchtung und Bereicherung sein.
B: Ich meine das ohnedies so, aber nur dann, wenn es seine Identität behält, die meiner Ansicht nach darin besteht, daß es nicht Verpflichtungen wie wissenschaftlicher Reputation genügen muß oder irgendwelche sekundäre Interessen berücksichtigen muß, wie z.B. Anerkennungsanliegen, d.h., wenn man uns so nimmt, wie wir sind….

I: Das hat etwas mit dieser Lebendigkeit und Treue zu tun, die ich meine. Sich wirklich in seinem „So-Sein“ treu bleiben, …was nicht heißt, sich zu verschließen.

B: Und wie hast Du das empfunden – ich meine, Du hast ja sehr viel mitbekommen durch Leute, die beispielsweise bei Dir in Supervision sind -, wie hast du diese starke SKAN-Ausrichtung der letzten Jahre erlebt?

I: Ich kann das gegenwärtiger sagen: Ich habe die Form, die SKAN hineingebracht hat, als einen frischen Wind erlebt, der eine Menge Impulse und Anregungen bringt.- Ich hoffe, daß Klarheit und ent-sprechender Umgang mit Verführung da auch wirksam werden kann. Und ich denke, daß ein liebevoller Umgang, die Entwicklung des Herzens auch in der Arbeit in einer Institution ganz wichtig ist. Wenn das verloren geht, zieht Kälte und Kampf ein. Man kann das Aller-beste vertreten, wenn das aber verloren ist, ist alles verloren.

B: Das wäre ein gutes Schlußwort, findest Du nicht?

I: Ja, Danke, es war schön, das auf diese Weise mit Dir zu tun.

B: Was heißt auf diese Weise?

I: Ich brauche Kontakt, den Austausch …

B: …ist doch gut, auch hier den energetischen Weg zu gehen, nicht?

I: Ja.- Worüber wir noch nicht gesprochen haben, ist die Spiritualität.

B: Ja, genau. Das habe ich mir nämlich noch notiert. Deshalb nämlich, weil in unserer Gruppe, nach so langer Zeit der Körperarbeit, das Interesse an Spiritualität und Meditation jetzt zu wachsen beginnt, und es fühlt sich gut an, weil es eine Sehnsucht danach gibt, im Sinne eines konsequenten Weitergehens.

I: Ja das erlebe ich auch so.

B: Und welchen Weg gehst Du da?

I: Ich glaube, daß jeder Mensch seinen ganz eigenen spirituellen Weg finden muß. Wenn das Interesse daran zu wachsen beginnt – und das erlebe ich sehr unterschiedlich bei Menschen, geht es darum, sie dabei zu begleiten, ihre ganz individuelle Spiritualität und ihren Umgang damit zu finden. Ich glaube, daß das mit zu den grundsätzlichen Bedürfnissen jedes Menschen gehört.

B: Und Du hast Deinen Weg gefunden?

I: Ja, ich glaube, ich habe meinen Weg gefunden in diese Richtung, der viel mit Meditation zu tun hat, viel mit einem Erkennen und Glücksgefühlen über die ganzheitliche Verbundenheit in dieser Welt, in diesem Leben zu sein und mit dem Spüren, daß es da eine Form des Ordnens und Funktionierens gibt, die sich meiner Begrifflichkeit entzieht, die ich einfach als solche wahrnehmen kann und damit gehen kann oder mich dagegen stellen und daran zerbrechen oder krank werden kann, …und von der aber spürbar ist, daß von daher wichtige Impulse ausgehen, die mich fördern, unterstützen und entwickeln, letztendlich zum Tod hin.

B: Das ist so schön beschrieben in dem Buch „Der Traumfänger“. Die australischen Aborigines unterscheiden ja zwischen den sogenannten „Wahren Menschen“ und den „Veränderten“ und sie sagen,“Veränderte“ erleiden so große Angst, weil sie die Verbindung verloren haben, zeitlich und räumlich. Damit sind sie immer verloren, immer bedroht, man muß sich vor dem Tod fürchten…

I: …vor dem Leben, vor den Menschen, vor allem, …kann ich voll unterstreichen…

B: …daß die Angst aus der Trennung kommt, die ihrerseits wieder Angst bewirkt.

I: Ja. Es ist das Herausfallen aus der Einheit; und im Grunde genommen ist es ja das, woran wir arbeiten: diese Einheit wieder herstellen zu helfen.

B: Das ist ja wirklich das Geniale an Reich, daß er das geschafft hat – verbunden zu denken, so umfassend und so weit zu denken. Und deshalb hab´ ich so Schwierigkeiten damit, wenn es heißt, man fügt etwas hinzu, also man erweitert es oder so. Ich denke, da ist alles drin´, ich kann nur meine persönliche Form finden, aber grundsätzlich, was will man da noch hinzufügen…?

I: Du, ja. Ich denke, er hat sicher den großen Wurf gemacht, aber wie immer bei solchen Ideen ist es wichtig, diesem Umfassenden gerecht zu werden. Es ist etwas sehr Weitgreifendes geworden, und was wir tun ist nichts anderes als es auf individuelle Weise differenziert auszuformulieren. Und ich finde es schön, daß auch das Raum hat – und daß Reich es so groß gespannt hat…

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