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Bukumatula 2/2019

Das Einzige, was ich nicht empfand, war Pensineid….

Buchesrezension von
Beatrix Teichmann-Wirth:

„Erinnerungen an eine chaotische Zeit. Mein Leben als Tochter von Annie und Wilhelm Reich“
von Lore Reich Rubin (Psychosozial-Verlag, Gießen, 2019)

Oje, dachte ich, als ich das Buch durchsah, das ist eine Abrechnung mit meinem verehrten Wilhelm Reich. Und ja, mein inneres Bild von Reich, von dem ich ja bereits wusste, dass er als Mensch nicht gerade einfach war, hat ordentlich Schrammen abbekommen durch diese Autobiographie. Zwar wusste ich bereits von der Lektüre des „Traumvaters“ von Peter Reich, dass sich bei Reich die Konzepte über ein gesundes Aufwachsen von Kindern bisweilen gar nicht mit der tatsächlichen Realität seines Vaterseins deckten. Dass er jedoch immer wieder abgespalten von jeder Natürlichkeit im Umgang mit seinen Kindern war und dass es ihm – vegetative Identifikation hin oder her – derart an den Basics der Einfühlung in kindliche Bedürfnisse und Notwendigkeiten fehlte, überraschte mich dennoch.
Das Buch berichtet von einer Kindheit und Jugend, in welcher das Alleinlassen und Überfordern der Kinder an der Tagesordnung zu sein schien. Die Erinnerung hat sich tief in die Seele und das Gedächtnis von Lore eingegraben, sodass sie sich auch an die kleinsten Details der vielen traumatischen Erlebnisse erinnern kann.
Lore Reich Rubin beschreibt zwei Realitäten ihrer Kindheit. Zum einen waren es die Filme, die Wilhelm Reich über die Familie machte – hier erschien alles bunt, lustig, sonnig und die „Menschen spielen mit uns“ (S. 14) und die andere Wirklichkeit – ein grau getöntes Leben in Wien, in dem die Einsamkeit alles beherrschte, die Trostlosigkeit und das Alleingelassenwerden.

Der Vater

Es sind vor allem 3 Charakteristika ihres Vaters, unter welchen Lore Reich Rubin zu leiden hatte: – Reichs Unberechenbarkeit: Lore berichtet von einigen Wutanfällen nach geringsten Anlässen – zum Beispiel einmal, als Lore das Lied „Oh Tannenbaum“ und nicht die „Internationale“ sang. Selten war er bei guter Laune; das war dann, wie wenn der Schleier der Trostlosigkeit von der Familie weggezogen war.

So berichtet Lore von einer ungewöhnlichen Entspannt- und Gelöstheit ihres Vaters im Urlaub in Dänemark 1934. „Er war freundlich, gut aufgelegt, elegant in seinen sommerlichen Segeltuchhosen und er war sehr interessiert an seinen Kindern.“ (S. 59) Ich kann nicht umhin, seine eigene Theorie von der Notwendigkeit der orgastischen Erfüllung im Hinblick auf die Ausgeglichenheit und psychische Gesundheit auf ihn anzuwenden.

Zu dieser Zeit war er mit Elsa Lindenberg zusammen, mit welcher er offenbar ein befriedigendes Sexualleben hatte. Diese Verwandlung war jedoch nicht stabil und es genügte eine psychische Belastung wie etwa die Notwendigkeit eines Grenzübertritts oder die Reise nach Luzern Ende Juli 1934, Ereignisse, die für Reich eine große Belastung gewesen sein dürften, sodass er sich „erneut in den Vater verwandelte, den die Kinder aus Berlin kannten.“ (S. 63)

Reichs Unberechenbarkeit zeigte sich auch in seinen Doppelbotschaften – auf der einen Seite verlangte er bedingungslose Offenheit und aufrichtige Antworten, auf der anderen Seite reagierte er auf ehrliche Antworten aber mit Wutausbrüchen, so zum Beispiel, als er Lore, damals 14-jährig, fragte, ob auch sie meine, dass er „verrückt“ sei und sie das bejahte: „Er schrie mich an, befahl mir dann, aus seinem Leben und seinem Haus zu verschwinden und rief, dass er mich nie wieder erblicken wolle.“ (S. 160)

Die Beziehung zum Vater ist durch oftmalige Beziehungsabbrüche geprägt. Ohne irgendeine Art von Vermittlung verschwand Reich im Jahre 1934 aus ihrem Leben. „Natürlich hatte mir niemand erklärt, wohin oder warum er verschwand. Er war wie ausgelöscht, und es wurde auch nie über ihn gesprochen. Er verschwand aus meinem Bewusstsein in den Untergrund.“ (S. 80) Dann, im Jahre 1939 tauchte er in New York auf, „… dieser verrückte, eigentlich nicht existierende Fremde und bestand darauf, die Vater-Tochter-Beziehung mit uns dort fortzuführen, wo sie aufgehört hatte“.

Da er „viel zu bieten hatte“ (Autos, einen üppigen Lebensstil), ließ sie sich auf eine neuerliche Beziehung ein. Auch widerfuhr ihr einige Male eine für sie unverständliche Ignoranz von Seiten des Vaters, zum Beispiel einmal in Amerika, als sie spontan beschloss, ihn zuhause aufzusuchen und er sie nicht einmalmal grüßte; Ilse Ollendorf-Reich zufolge deshalb, weil er sich gerade einer Zahnoperation unterzogen hatte und er sich seines Aussehens schämte.

Übergriffigkeit: Die Szene, auf welche Lore Reich im oben genannten Zitat anspielt, zeugt von einer der vielen Verhaltensweisen von Wilhelm Reich, wo er, bar jeglicher Einfühlung und von Konzepten geleitet das Kind überforderte. Sie „ertappte“ die Eltern „in flagranti“ und während die Mutter sie aufforderte, das Badezimmer zu verlassen, meinte ihr Vater `nein, lass sie zuschauen´. „Und so sehe ich ihre ganz angeschwollenen Genitalien. Nun habe ich meine `Erklärung´ ohne jedoch vollständig aufgeklärt zu sein. Ich bin in Ehrfurcht…. Das Einzige, was ich nicht empfand, war Penisneid. Der Anblick des Geschlechtsteils meines Vaters war viel zu sonderbar.“ (S. 26)

Auch machte er Fotos indem er ein Motiv aus der Kleinkindzeit der Töchter nachstellte, wo die bereits 6-jährige Lore nackt auf dem Schoß der 10-jährigen Schwester Eva sitzt – ein Bild, das er in seinem Zuhause in Maine im Gang hängen ließ, sodass es alle Besucher sehen konnten.

Auch wenn ich nicht glaube, und so wie es klingt, auch Lore Reich Rubin nicht glaubt, dass er per se sexuell übergriffig war, so fehlte ihm, offenbar blind einem Ideal der sexuellen Offenheit folgend, jegliche Sensibilität für die Grenzen und die Schamgefühle von Kindern in Bezug auf die Sexualität. (S. 62)

Ebenso versetzten die eingehenden, inquisitorisch anmutenden Fragen zum Sexualleben des Kindes/der Jugendlichen, von welchen auch Peter berichtete, Lore in große Scham und waren ebenso wie andere Erziehungsmaßnahmen von Konzepten gesteuert und nicht von einem natürlichen Empfinden im Umgang mit Kindern.

– seine Orientierung an (idealistischen) Konzepten aus dem Kommunismus bzw. der Psychoanalyse: Reich war ein Rebell, ob bei den Psychoanalytikern oder den Kommunisten. Er lehnte die Institution der Kleinfamilie ab, und in diesem Sinne folgte er (und teilweise auch Annie) dem Ideal, dass es gut sei, dass die Kinder aus der Familie heraus in diverse Institutionen, wie Lore Reich Rubin sagt, „abgeschoben“ wurden.

Im Gegensatz zu den „Kindern der Zukunft“, deren bedürfnisgerechtem Aufwachsen Wilhelm Reich sein spätes Werk widmete, waren die Kinder der Vergangenheit, man könnte es flapsig sagen, einfach nur vernachlässigt.

Liest man Lore Reich Rubins Buch so scheint es, dass ihr Vater Wilhelm Reich bei ihr lebenslänglich keine Chance hatte. Neben Reichs unberechenbarem Verhalten, das tiefe Verunsicherung und Schmerz in ihr verursachte, dürfte auch der Umstand, dass Eva, die ältere Schwester, Reichs Liebkind gewesen sei, wie auch die „Interventionen“ einer Beziehung nicht eben förderlich gewesen sein.

Auch seine Autoritätshörigkeit gegenüber der Psychoanalyse war einer verlässlichen väterlichen Verbindung zu den Töchtern abträglich. Er möge sich fernhalten von seinen Töchtern, damit die psychoanalytische Behandlung der Töchter nicht gestört würde, meinte Berta Bornstein zu ihm. (S. 79) Obwohl Lore eingesteht, dass ihre Mutter ihren Beitrag für die schlechte Beziehung zwischen Vater und Tochter leistete, hält sie immer wieder eher zu ihr als zu ihm. „Diese Auseinandersetzungen zeigten mir, dass dieser Mann unberechenbar und zornig, penetrant und schwierig sein konnte.“ (S. 151)

„All diese Gefühle ihm gegenüber, die Scham ihm nachgegeben zu haben, die stille, tiefe Abneigung, das Misstrauen wegen seiner Stimmungsschwankungen und die Verachtung seiner Furcht, habe ich nie überwunden. Sie schwelten in mir und obwohl es später mehrere Versuche gab sich einander anzunähern und es auch Zeiten gab, in denen wir gut miteinander auskamen, war dies der Anfang einer immer größer werdenden Kluft in unserer Beziehung“ (S. 64)

Sie beschreibt ihre Beziehung zu ihrem Vater als „Gerichtsverfahren, bei dem ich der Richter war“. (S. 152) Auch seine „tapferen Versuche“, ihr seine Arbeit näher zu bringen fruchteten nicht. Dass Lore Reich kein „echtes Interesse für die Dinge, an denen er arbeitete, aufbringen“ konnte, scheint auch neben all dem anderen Belastenden ein Grund dafür gewesen zu sein, dass die Beziehung immer nur „oberflächlich“ blieb und sich nie „vertiefen“ konnte. (S. 153) Für Reich – das wird in seinen Biographien, die ich anlässlich der Arbeit an der Rezension nochmals studierte, scheint die Arbeit immer im Zentrum gestanden zu haben. So forderte er immer auch ein intensives Interesse an den gerade aktuellen Forschungsschwerpunkten von seinen Frauen.

Auch wenn ich Ansätze von Verständnis für die Spannungszustände ihres Vaters erkennen kann, mangelt es für mich an menschlichem Mitgefühl. Besonders deutlich wird das, als sie in einer Zeitungsnotiz von der Verhaftung ihres Vaters erfährt und nichts als Scham und Verlegenheit und eine Besorgnis darüber empfindet, was ihre Kollegen über sie, die Tochter von Wilhelm Reich, denken mochten. (S. 245) Man muss ihr zugestehen, dass sie sehr ehrlich über diesen Mangel an Mitgefühl und Würdigung spricht. Offenbar ist in deren Beziehung zu viel passiert, sodass keine wirkliche Aussöhnung stattfinden konnte.

In meinen ergänzenden Recherchen über die Beziehung von Reich zu seinen beiden Töchtern konnte ich Interessantes finden, was bisweilen ein gänzlich anderes Bild zeigt: Vor allem in den autobiographischen Aufzeichnungen „Jenseits der Psychologie“ bedauert Reich an vielen Stellen den Verlust seiner Kinder durch die Trennung von Annie und seine eindeutige Priorität, die er auf sein Werk legte: „Ich leide sehr unter dem Fernsein von ihnen.“ (S. 46 und S. 283)

Auch leidet er darunter, dass ihm der Zugang zu ihnen verwehrt wird und er keinen Einfluss auf die Erziehung haben darf. Mit seinem ihm eignen wissenschaftlichen Interesse bemerkt er schmerzlich deren Zurückhaltung und „Oberflächlichkeit“ und vor allem ihre Ängstlichkeit (vor ihm).

In Reichs Aufzeichnungen finden sich wie auch in Lores Buch Hinweise, dass Annie Reich bestrebt war, den Kontakt des Vaters zu den Kindern zu unterbinden. So ließ sie Briefe und auch Geschenke verschwinden. Reich schreibt am 5. Oktober 1939: „Lore hier – Annie begrenzt ihre Zeit mit mir. Lore glaubt, dass die Mutter alle „Rechte über die Kinder hat, der Vater keine“. (S. 351)

In den Briefen an Annie und Alfred Pink (Annies Vater) wird deutlich, dass Reich im Gegensatz zu Lores Wahrnehmung – wenn auch aus der Ferne, sehr wohl an deren Entwicklung interessiert war, und es wird auch sein Bemühen um einen Kontakt deutlich.

Lore hat sich gegenüber Eva immer zurückgesetzt gefühlt, und der Start als unerwünschtes Kind, das eigentlich abgetrieben werden sollte, war ihrem Gefühl, eine geliebte Tochter zu sein, sicher nicht förderlich. Demgegenüber findet sich zu meinem und vielleicht auch ihrem Erstaunen eine kleine Notiz, wo Reich schreibt: „Lore ist ein entzückendes Mädel und mir ganz ähnlich. Sie liebt mich ganz offensichtlich.“ (S. 340)

Ein Brief an sie hat mich besonders berührt, er stammt vom 24. September 1937. Reich bedankt sich darin, dass Lore ihm Fotos geschickt hat und bittet um weitere. Er drückt seine Freude über ihren Wunsch aus, Harmonika zu lernen und bekundet auch, dass er ihr ein Instrument schenken werde und dass sie sich einen wirklich guten Lehrer suchen möge. (S. 189)

Um es neutral zu formulieren zeigen die Aufzeichnungen, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können. Hier der desinteressierte, ignorante, selbstbezogene Vater, da derjenige, der für den Kontakt zu seinen Kindern kämpft, ein waches Interesse an ihrer Entwicklung hat und seine Zärtlichkeit „Lorchen!“ gegenüber ausdrückt.

Die Mutter

Im Gegensatz zur Verständnislosigkeit und Geringschätzung ihrem Vater gegenüber, finden sich in der Beschreibung ihrer Mutter immer wieder Ansätze, sie aus ihrer Situation heraus zu verstehen, ihre Arbeit zu würdigen und eine Akzeptanz für das, was sie für die Kinder getan hat.

Zum einen war Annie Pink eine „enthusiastische, sachkundige, kultivierte Intellektuelle, die mit beiden Beinen selbstsicher im Leben steht, und auf der anderen Seite eine deprimierte, zurückgezogene Frau, die im Sessel zusammensinkt.“ Diese Depression scheint mit der Trennung von Wilhelm Reich zusammenzuhängen. (S. 15)

Es scheint, als ob die Mutter zu sehr mit der Existenzsicherung, dem oftmaligen Aufbau einer Praxis (Wien, Prag, Amerika) beschäftigt war, als dass sie sich wirklich um die Kinder kümmern konnte. Auch erlebte Lore ihre Mutter als ganz und gar nicht fürsorglich. „Ich habe keinerlei Erinnerung an ihre Fürsorge, wie mich baden, mich anziehen, mich füttern, oder sogar mich einfach in ihren Armen zu halten.“

Verständlich, dass die Kinder sich in erster Linie als „Störung“ empfanden, mussten sie sich doch immer den Notwendigkeiten unterordnen. Auch wenn Lore Reich Rubin anerkennen kann, dass ihre Mutter ihr Bestes gab, z.B. indem sie dafür sorgte, dass „ich Spaß im Leben hatte… und am Nachmittag etwas zu tun hatte“. Und auch wenn sie ein Verständnis für die Situation der Mutter aufbringen kann und eine wirkliche Versöhnung zu Lebzeiten stattfinden konnte, so finden sich doch immer wieder Passagen, wo sie das, was ihre Mutter zu geben hatte, z.B. die Einladung zu gemeinsamen Urlauben, geringschätzig als „Bestechungsversuche“ bezeichnet.

Dennoch: Anders als ihrem Vater gegenüber kann sie würdigen, welche große Anpassungsleistungen ihre Mutter zu vollbringen hatte und wie würdevoll sie doch durch all die Schwierigkeiten durchgegangen ist, auch wenn sie meint, dass ihre Mutter die wissenschaftlichen Arbeiten auf ihrem „jugendlichen Rücken schrieb“. (S. 174)

Die Eltern

Als Lore auf die Welt kam, war die Beziehung zwischen den Eltern bereits sehr belastet. Reich wollte kein weiteres Kind, und dies scheint ein weiterer Beitrag zur Zwietracht gewesen zu sein. Die Kinder wurden oftmals Zeuginnen von Streitereien, lauten Auseinandersetzungen, in welchen der Vater die Mutter anbrüllte und diese sich verzweifelt in sich zurückzog. Im Gegenzug zur väterlichen Gewalt übte ihre Mutter Macht aus, indem sie den Vater bei den Kindern schlecht machte, ihn als „verrückt“ bezeichnete, seine Briefe den Kindern vorenthielt, ihm über wichtige Schritte, wie die Auswanderung nach Amerika, keine Mitteilung machte und sich nur bedingt um eine vernünftige Regelung der Elternschaft bemühte.

Reich begriff sich als Feminist und „glaubte daran, dass Frauen dem Manne gleichgestellt seien, Karriere machen und ihren Teil zur Ehe beitragen sollten. Der Feminismus meines Vaters war extrem und letzten Endes, obwohl seine Einstellung gut soziologisch begründet war, doch eigennützig. Er ging auf jeden Fall nie auch nur in die Nähe der Küche oder erledigte andere Haushaltsarbeiten.“

Letztendlich blieb die Sorge um das kindliche Wohl und um die nötigen Mittel dafür, z.B. in Form von Dienstmädchen, ganz in den Händen der Frau, was für Annie Reich eine große Belastung zu sein schien. Der Anspruch auf Gleichstellung des Mannes und der Frau während der Arbeit und in Bezug auf das Einkommen, wirkte sich sehr zu Ungunsten von Annie Reich und den Kindern aus, da sie nicht über die gleichen Einkommensmöglichkeiten verfügte und die Familie daher oft in Armut leben musste.

So erhielten Lore (und wahrscheinlich auch Eva) ein sehr widersprüchliches Bild der Beziehung zwischen Mann und Frau. Zum einen sollte die Frau auf eigenen Beinen stehen – die Ebenbürtigkeit in einer Beziehung war in kommunistischen, aber auch psychoanalytischen Kreisen ein hohes Gut, andererseits gab es nur wenig (finanzielle) Unterstützung von Seiten des Vaters. Die patriarchale Macht war spürbar. So „gönnte“ sich Reich – Ollendorf-Reich zufolge – in all seinen Beziehungen immer wieder teilweise auch längere Affären und Beziehungen zu anderen Frauen, war aber seinerseits sehr eifersüchtig, was sich in exekutiven Verhören ausdrückte.

In den „persönlichen Aufzeichnungen“ finden sich auch Briefe von Reich an Annie aus den Jahren 1934-1939, als ihre Beziehung schon längst zerrüttet schien. Zu meinem Erstaunen zeugen diese Briefe von einem Interesse an Annie, und sie haben eine freundschaftliche Note. Auch drückt sich hier ein Bemühen um eine erwachsene, vernünftige Beziehung aus, die auch den anderen zu Gute kommt. Es verwundert fast, dass es Lore Reich Rubin mit einem derartigen Beziehungsvorbild möglich war, eine Beziehung mit ihrem Mann Julie Rubin aufzubauen, die auf Wertschätzung und gegenseitiger Achtung basierte.

Die Schwester

Eva, die ältere Schwester war angehalten, auf Lore aufzupassen – sei dies auf dem Schulweg in Berlin oder auch auf der langen Bahnfahrt von Berlin nach Wien, welche die Kinder allein zu bewältigen hatten. Auch wenn Eva „die einzige Konstante“ (S.87) in Lores Kindheit war und sie Trennungen von ihr als sehr schmerzlich empfand, war sie oftmaligen Quälereien durch sie ausgesetzt, indem sie ihr z.B. den Schlaf raubte oder andere Kinder gegen sie aufhetzte. Lore spricht von „zerstörerischer Eifersucht und Neid“ von Seiten der Schwester.

Auch hier, wie schon in ihrem Verhältnis zur Mutter und zum Vater, kann Lore kein Verständnis für Evas Situation aufbringen, die sie zu derartigen Reaktionsweisen veranlasste, wie sie ihr auch keinerlei Eigenständigkeit in ihrem Interesse, das väterliche Werk weiterzuentwickeln, zugesteht. Für sie war sie seine „Sklavin“. (S. 237) Kein Wort über die große Bedeutung, die Eva in Bezug auf die natürliche Geburt und ein organismisches Aufwachsen von Kindern weltweit hatte.

Alleingelassen, überfordert, abgeschoben

Gerade die ersten Lebensjahre Lores waren von einem oftmaligen Wechsel des Wohnortes gekennzeichnet: zunächst in Wien, folgte eine Übersiedlung nach Berlin (1931-1933), dann erneut nach Wien ohne Eltern, dann nach Dänemark, um den Vater zu besuchen; dann erneut nach Wien in der Obhut von Grete Fried (1934-1936) und 1936 die Übersiedlung nach Prag, wo Annie gemeinsam mit dem neuen Mann an der Seite bis 1938 lebte und schließlich 1938 nach Amerika. Da war Lore erst 9 Jahre alt.

Es ist schier unglaublich für mich zu lesen, wie unsensibel die Schwestern behandelt wurden und welchen ungeheuren Zumutungen sie ausgesetzt waren. Bereits in ihrer frühen Kindheit wurden sie der Obhut eines Kindermädchens überlassen, weil die Eltern „ihre Klienten betreuten“. Schon bald – bereits im Jahre 1929 wurden die einjährige Lore und die dreieinhalb Jahre ältere Eva – für vier Monate allein in der Obhut von `Mitzi´ gelassen, weil die Eltern die revolutionäre Bewegung in Russland studierten. Dieses Alleinlassen, man könnte es auch „Abschieben“ nennen, fand viele Male statt. Und es scheint, dass es keine Vorbereitung, keine Empathie dafür gegeben hat, was das für derart kleine Kinder bedeuten mag.

Niemals waren die Kinder – so scheint es – Priorität. Die Aufmerksamkeit der Eltern galt ihrer intellektuellen Aktivität, der Analyse, wie auch der Mitarbeit an der gesellschaftlichen Revolution. Lebten sie zusammen mit den Eltern in einem Haushalt, so mussten sie in erster Linie still sein, um die Analysen der Eltern, die im Nebenzimmer stattfanden oder auch ihr wissenschaftliches Arbeiten nicht zu stören.

Das steht natürlich in einem eklatanten Widerspruch zu Reichs Ansatz, wie wichtig die Ausdrucksfreiheit auf jeder Ebene für ein gesundes Heranwachsen von Kindern ist. Ideologisch begründet, wurden die Kinder immer wieder in kommunenähnliche Institutionen untergebracht, wie schon im Jahre 1931 kurz nach der Ankunft in Berlin, wo sie in eine kommunistisch geführte Kinderkommune „abgeschoben“ wurden – Lore war nur 3 Jahre, Eva grade einmal sieben Jahre alt.

Ohne auch nur im geringsten auf die Bedürfnisse derart kleiner Kinder zu achten, wurden die Schwestern voneinander getrennt. Dies muss eine höchst traumatisierende und überfordernde Erfahrung gewesen sein. Nicht nur, dass Lore aufgrund von Unterernährung an Rachitis erkrankte, gruben sich diese Erfahrungen tief in ihre Seele ein. „Ich möchte an dieser Stelle die lang anhaltenden Folgen des Lebens in der Kinderkommune festhalten. Es war wie eine Bestätigung der Erfahrungen, die ich schon in Wien machen musste: Man kann sich nicht auf seine Familie verlassen, da diese jederzeit verschwinden kann und man stets bereit sein muss verlassen zu werden.“ (S. 22)

Aus dieser Zeit stammt auch die mittlerweile legendäre, weil häufig kolportierte Erinnerung von Eva Reich, wonach der Vater sie zu ihrer großen Freude in der Kommune besuchte und dann aus einem eigenartigen Gerechtigkeitssinn über gemeinschaftliches Teilen heraus abzählte, wer mit ihm im Auto fahren durfte; und da war seine Tochter nicht dabei.
Nicht viel später wurden die Kinder – als Rettungsmaßnahme vor dem aufkeimenden Nationalsozialismus – in einen Zug von Berlin nach Wien verfrachtet.

Die achtjährige Eva und die nicht einmal fünfjährige Lore wurden ohne vorher aufgeklärt zu sein, einem Schaffner übergeben. Eindrücklich schildert Lore, wie sich der Horror dieses Erlebnisses in ihr Gedächtnis einbrannte. Welch eine Überforderung! In Wien angekommen erwartete sie das großelterliche Haus mit einem Übermaß an Sorge um das körperliche Wohl, was bei Lore eine sofortige Regression ins Säuglingsalter bewirkte. Dennoch wird diese Zeit von Lore als eine Zeit geschildert, in der ein Stück „Nachnährung“ stattfinden konnte.

Die beständige Entwurzelung, das „Fortgeschickt werden“ und das Alleingelassen sein hatte langanhaltende Folgen in der jungen Seele, die in ihrer Symptomatik der einer posttraumatischen Belastungsstörung – Ängste, Depression, Schlaf- und Essstörungen, Zwangsverhalten, Dumpfheit, Erstarrung, ein Misstrauen anderen Menschen gegenüber – gleichen.

Eine weitere, vielleicht die schlimmste Erfahrung in der frühen Kindheit von Lore war, dass sie ebenso wie zuvor in Berlin, einfach eines Tages im November des Jahres 1933 von der Großmutter in einem Park auf einem Spielplatz bei Grete Fried zurückgelassen wurde, was bedeutete, dass sie von nun an in deren „Kinderpension“ zu leben hatte, eine Einrichtung, die Kinder aus der ganzen Welt beherbergte, weil sich deren Eltern einbildeten, dass sie eine Psychoanalyse einer in Wien ansässigen Therapeutin bedürften.

Auch wenn Lore die Kinder als einen durchaus „interessanten und freundlichen Haufen“ bezeichnet, war die Atmosphäre der Kälte und Gefühlsarmut – „ein Leben in der Eistruhe“ (S. 58), welche Grete Fried schuf, mehr als belastend; vor allem war es jedoch eine beständige Überforderung, die schon dabei anfing, dass sie sich – klein wie sie war, nicht selbst die Schnürsenkel zubinden konnte, und offenbar bereits ein gebranntes Kind, sich auch nicht mehr um Hilfe zu bitten getraute, sie also mit ihren Ängsten oder Wünschen komplett allein gelassen war. Ebenso wie die mangelnde Fürsorge und Empathie für die Bedürfnisse eines kleinen Kindes muss es eine große Überforderung gewesen sein, allein in die Schule und von dort zu Bornstein in die Therapie zu fahren.

Die Eltern tauchten immer wieder – unangekündigt – auf, ohne dass auf ihre Besuche Verlass gewesen wäre. Entscheidungen wurden über die Köpfe der Kinder hinweg getroffen und ohne dass diese eingeweiht waren, vollzogen. Schon gar nicht wurde deren Lebensrealität (Einbindung in ein soziales System bzw. in einen Schulzusammenhang) berücksichtigt. Das Alleingelassen sein bei wesentlichen Unternehmungen wie beim ersten Schultag oder beim ersten Friseurbesuch in New York, wie auch das Aufnahmegespräch im College von Oberlin, schmerzt allein beim Lesen.

Die Flucht/Auswanderung nach Amerika scheint eine besondere Herausforderung gewesen zu sein. Nicht nur, dass im Unterschied zu den anderen Übersiedelungen die Kinder der englischen Sprache nicht mächtig waren, hatten sie es, wie im Übrigen auch die Mutter mit den kulturellen Unterschieden zu tun, was eine große Anpassungsleistung erforderte. Lore Reich berichtet, dass ihre eigene (europäische) Ernsthaftigkeit mit der witzelnden Art der amerikanischen Jugend inkompatibel war.

Ebenso befremdlich muss für sie die „Dating-Kultur“, der Puritanismus, der Wert der Jungfräulichkeit, die von den Frauen verlangte Zurückhaltung bei gleichzeitigem neckischem Spiel mit den weiblichen Reizen gewesen sein. „Für zwei Mädchen, die in einer radikalen europäischen Familie aufwuchsen und deren Vater Vorreiter in Sachen sexueller Emanzipation für Jugendliche war, waren diese amerikanischen Sitten natürlich vollkommen unverständlich.“ (S. 143)

Die Praxis der Psychoanalyse

Das Buch gibt einen Einblick in die damaligen, für mich teilweise bizarr anmutenden psychoanalytischen Gepflogenheiten.

Ich bin äußerst erstaunt, dass es zur damaligen Zeit durchaus üblich war, dass sich die Psychoanalytikerinnen hinter dem Patienten sitzend mit Handarbeiten beschäftigten. So nähte Lores Mutter oder stickte, während die Kinderanalytikerin Berta Bornstein für die Kleinen Pullover strickte und Anna Freud die Erbsen für das Abendessen schälte. Männer hingegen rauchten, wie ja auch Sigmund Freud, teilweise exzessiv – alles heutzutage unvorstellbar.

Es war offenbar üblich, Kinder, die man als neurotisch einschätzte, in Psychoanalyse zu schicken, was im Falle von Lore und Eva Reich bedeutete, dass sie in Wien, wo es renommierte Kinderanalytikerinnen gab, in der Kinderpension von Grete Fried untergebracht waren. Auch hier mangelt es meiner Ansicht nach an einem natürlichen Empfinden, was ein Kind wirklich braucht, um heil zu werden.

Auch die heute unbedingt geforderte professionelle Abgrenzung des Analytikers wurde nicht berücksichtigt. Berta Bornstein, die Analytikerin, bei welcher Eva jahrelang in Analyse und Lore eine Zeit lang in Therapie war, teilte sich nach dem Auszug von Wilhelm Reich die Wiener Wohnung mit der Familie. Auch war von Abstinenz offenbar noch keine Rede: So berichtet Eva von Predigten Bornsteins gegen den verrückten Vater. Bornstein war ihrerseits in Supervision bei Anna Freud, welche ja federführend im Kampf gegen Wilhelm Reich und ganz auf der Seite der Mutter war. Die Therapie glich mehr einer „Gehirnwäsche“ als einer wirklichen therapeutischen Begleitung.

Erheiternd finde ich die damalige für mich absurd anmutende psychoanalytische Deutungspraxis. Um ein Beispiel zu nennen: Steff Bornstein, Schwester von Berta Bornstein, bei welcher Lore in analytischer Therapie war, deutete ihre Ablehnung des vom Stiefvater Thomas hergerichteten Essens, (dünn geschnittene Fleischstücke und Pommes), dass diese „für mich dünn geschnittene Segmente seines Penis waren.“ (S. 103)

Mit Lores immer wieder durchklingendem Humor beschreibt diese auch die Wortwahl ihrer sexuellen Aufklärung, „dass der Penis so hart wie ein Nagel werde, um die Vagina zu penetrierten, als sehr unglücklich.“ (S. 103)

Darüber hinaus gibt das Buch Einblick in die Intrigen, die oftmals ausgehend von Anna Freud gegen Reich – sie war die treibende Kraft für seinen Ausschluss aus der Psychoanalytischen Vereinigung – oder andere vom rechten Weg Abgekommene wie Karen Horney, Sandor Rado u.a. gesponnen wurden.

Ressourcen

Im EMDR Prozess, einer traumatherapeutischen Therapiemethode, erstellt man nicht nur eine sogenannte Belastungs- sondern auch eine Ressourcenlandkarte. So will ich mich auf die Suche nach Unterstützendem, Freudigem, Bekräftigendem, Wärmendem, Sicherheitsspendendem machen.

Man mag es vielleicht nicht glauben, dass sich in einem derart an Belastungen reichen Leben dennoch freudvolle, bekräftigende Elemente finden. Aber es gab sie, auch wenn oftmals nach dem Bericht über eine freudvolle Zeit, ein neuerliches Enttäuschungserlebnis folgt.

Interessanterweise zählen die auf Annie folgenden Frauen von Wilhelm Reich zu den Ressourcen in Lores Leben. Elsa Lindenberg bereicherte ihr Leben mit ihrem Tanz, mit der Lockerheit in ihrem Wesen einen Sommer lang in Dänemark. Ilse Ollendorf-Reich bemühte sich beständig um Kontakt zwischen Reich und Lore und lud beide Töchter zu gemeinsamen Aktivitäten ein, für welche die Mutter zu beschäftigt war. Sie war es auch, die nach dem Tod von Wilhelm Reich und als die Mutter Annie bereits krank war, für einen Zusammenhalt der Familie sorgte und uns das Gefühl gab, eine Familieneinheit zu sein.“ (S. 250)

Eine weitere „Wärmequelle“ war Nushi (Emma Plank), die Lehrerin in der Wiener Montessori Schule, welche es mit ihrem Mitgefühl und ihrem Interesse möglich machte „mich auszubreiten und mich wie zu Hause zu fühlen.“ (S. 55) Ihr konnte sie auch ihr Leid über die elterliche Trennung offenbaren. Auch die Montessori Schule selbst war eine Quelle der Inspiration, ebenso wie die öffentliche Schule in New York.

Steff Bornstein, Schwester von Berta, Lores Analytikerin, war eine Ressource und Unterstützung. (S. 103)
Und auch Thomas Rubinstein, der zweite Mann von Annie war, wenn auch ungeliebt – so doch durch seine Beständigkeit, seine Fürsorge in Form von Kochen eine haltgebende Person. Überhaupt wird die Zeit in Prag als eine glückliche beschrieben. (S. 108)

Zu den freudvollen Erlebnissen zählen auch die Urlaube am Grundlsee und das gemeinsame Skifahren.
Immer wieder fand sie in Gruppen das Erleben von Aufgehoben sein, Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit. Zunächst in der Montessori Schule, dann in der Richman High School und schließlich in der SWP, in der sozialistischen Jugend, wo sie sich endlich mit anderen in einer Idee vereint fühlte, wenngleich sie diese Vereinigung nach einer Zeit als eine Sekte erkennen musste.

Wie schon erwähnt, ist es erstaunlich, dass Lore Reich mit einem derartigen elterlichen Vor-Bild einer Beziehung zwischen Mann und Frau in eine, so wie es scheint liebevolle, wertschätzende Beziehung eintreten konnte; und so zählt auch ihr Mann, Julius (Julie) Rubin, dem sie als 17-jährige begegnete, zu einer großen Ressource. „Endlich hatte ich jemanden getroffen, der sich gut ausdrücken konnte, Bücher las und intelligente Gespräche führen konnte.

…. Und ich hatte jemanden gefunden, mit dem ich mich verbunden fühlte und mit dem ich ich selbst sein konnte.“ (S. 222) Die umsichtige Art, welche die beiden pflegten, wenn sie Konflikte hatten, kontrastiert stark zu den Erfahrungen, die sie bei elterlichen Auseinandersetzungen machte. Die Beschreibung ihrer Beziehung und vor allem der Hochzeit zählen zu den wenigen Abschnitten im Buch, die von Heiterkeit und Leichtigkeit durchtönt sind.

Nicht zuletzt sind es Lores innere Ressourcen, welche ich erwähnen möchte – ihr offensichtlicher (Über-)Lebenswille, ihre intellektuelle Begabung, ihre Reflexionsfähigkeit und ihre Zähigkeit, die dieses Leben zu einem wertvollen machten.

Schluss

Das Buch gibt einen tiefen Einblick in die Lebensrealität von Lore Reich Rubin als Kind von Wilhelm und Annie Reich. Die Erinnerungen der mittlerweile 91-jährigen sind sehr lebendig und hautnah.

Die Lektüre ist mir dennoch nicht leicht gefallen. Das hat damit zu tun, dass das Buch – zumindest was die Beziehung zu den Eltern und der Schwester betrifft, eine für mich unversöhnliche Note trägt. Zwar schreibt Lore am Schluss, dass das Niederschreiben ihr ermöglichte „negative Emotionen, die während der Kindheit entstanden sind“ und damit auch „die vollkommene Ablehnung der Eltern“ loszulassen, sodass das Niederschreiben „diese Gefühle im Nichts verschwinden lässt“; dies bleibt jedoch für mich nach 252 Seiten eine nicht erfüllte Absichtserklärung.

Sieht man von den letzten Seiten des Buches ab, so kann ich über weite Strecken nicht erkennen, dass ein diesbezüglicher Prozess stattgefunden hat. Ich vermisse eine reflektierende Distanz, aus welcher heraus die Eltern und auch die Schwester in ihrem Schicksal, ihrer Geschichte und ihrem Geworden sein verstanden werden.

Besonders krass ist dieses Unverständnis dem Vater, Wilhelm Reich, gegenüber. Man könnte sagen Lore Reich Rubin lässt kein gutes Haar an ihm. Reich ist der Verrückte, einer, dessen Interesse nur seiner Arbeit galt, der andere als VerehrerInnen und bedingungslose Gefolgsleute missbrauchte, einer, der unfähig war, mit anderen in einer liebevollen, respektvollen Beziehung zu sein, ein Narziss, dem es immer nur um seinen Vorteil, die Bewunderung und das Interesse an seinem Werk ging.

Und ja, vielleicht war das in ihrer Wahrnehmung und einiger anderer auch so. Aber was bedeutet es, wenn jemand wie Lore Reich Rubin, selbst Psychoanalytikerin und von klein auf in analytischen Therapien, von den Personen und den Geschehnissen in einer Art berichtet, wie wenn sie, die beim Verfassen des Buches ja bereits eine reife Frau gewesen war, nach wie vor eine Jugendliche ist.

Ich vermisse den Versuch auch nur ansatzweise dem ganzen Menschen Reich gerecht zu werden. Mit Ausnahme der Aufzählung der vielen Forschungsbereiche von Reich auf den letzten eineinhalb Seiten des Buches wird niemals auch nur eine Andeutung von Würdigung seines Werks deutlich. Vielmehr kann ich in dem Buch kein wirkliches Interesse für seine Arbeit erkennen. Und das nicht nur für seine spätere Forschungstätigkeit, was nicht verwunderlich wäre, konnten ihm da auch viele andere nicht mehr folgen, sondern auch im Hinblick auf seinen therapeutischen Ansatz.

So bezeichnet Lore Reich Rubin diesen als „bioenergetische Körpertherapie“, ein Begriff, den Reich meines Wissens nie gebraucht hat und der den Ansatz von Alexander Lowen bezeichnet. In diesem Sinne finde ich die abschließende halbseitige Würdigung seines Werks mehr als unglaubwürdig, und es stimmt mich ärgerlich, wenn ich derart flapsige Sätze wie diesen lesen muss: „Seine bioenergetische Körpertherapie scheint Wirkung zu zeigen, auch wenn die ihr zugrunde liegende Theorie nicht ganz korrekt war.“ (S. 252)

In all dem wird Lore Reich Rubin dem eigenen, am Schluss geäußerten Anspruch, wonach das Erwachsenwerden darin besteht „seine Eltern als Menschen mit guten und schlechten Seiten zu sehen und sie für die Menschen, die sie sind, zu würdigen“ in meinem Empfinden nicht gerecht.

Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass die (durchaus schwierige) Persönlichkeit Wilhelm Reichs herangezogen wird, sein Werk als das eines Verrückten gering zu schätzen und sich darüber hinaus gar nicht damit zu beschäftigen. Ich hege die Befürchtung, dass dieses Buch ein weiterer Beitrag dazu sein mag – und die bislang vorliegenden Rezensionen lassen eine derartige Vermutung zu. So möchte ich mich Wolfram Ratz anschließen, der in seinem Vorwort schreibt, dass der Einblick in Reichs Persönlichkeit nicht dazu dienen möge „seine Errungenschaften, seinen großen Geist und sein Wirken in den Schatten zu stellen.“

Dennoch – und das ist bei aller Kritik ehrlich gemeint: Das Buch ist ein wertvolles Zeitdokument, und ich habe vieles mir bisher Unbekanntes erfahren. Sei es über die Praxis der Psychoanalyse in ihren Anfängen, über die Lebensverhältnisse im damaligen Wien, der sozialistischen Bewegung wie auch der Lebenssituation in Amerika während des Krieges. In diesem Sinne ist die Lektüre für Menschen, welche am geschichtlichen Kontext der Psychoanalyse aber auch am allgemein-geschichtlichen Kontext interessiert sind, empfehlenswert.
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Lore Reich Rubin: „Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich“, 252 Seiten, Broschur (ISBN 978-3-8379-2793-1); Psychosozial-Verlag, Gießen, 2019; € 29,90

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