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Bukumatula 1/2007

Wilhelm Reich und Anna Freud:
Reichs Vertreibung aus der Psychoanalyse

Transkript eines Vortrags von Lore Reich-Rubin am Goethe Institut in Boston am 21. März 1997,
anlässlich der Wiederkehr des 100. Geburtstags von Wilhelm Reich.
Lore Reich-Rubin, M.D.
Übersetzung aus dem Englischen: Wolfram Ratz; redigiert von Jutta Zopf

Editoriale Anmerkung:

Die Zustimmung zum Abdruck dieses Artikels wurde uns nach Durchsicht von Lore Reich-Rubin gegeben. Die in Zitaten angeführten Quellen sind zum Großteil auch auf Deutsch in Buchform erschienen. Indexangaben beziehen sich auf die englischsprachigen Ausgaben.

Der Artikel beschreibt die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Wilhelm Reich in der psychoanalytischen Gemeinschaft wegen seiner Marxistischen Ideologie und politischen Aktivitäten, sowie wegen seiner Kritik am Todestrieb. Es werden die Hintergründe beschrieben, wie es durch politische Manipulation im Zusammenspiel von Ernest Jones und Anna Freud zum Ausschluß Reichs sowohl aus den psychoanalytischen Gesellschaften in Wien und Berlin, als auch aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) kam.

Es werden die Reaktionen Reichs auf diese Ereignisse beschrieben und wie Druck auf andere Psychoanalytiker, die Reich unterstützten, ausgeübt wurde; ebenso eine Revision der Geschichte des Ausschlusses. Es wird der Begriff „verrückt“ diskutiert, so wie er in der psychoanalytischen Bewegung verwendet wurde. Weiters werden die persönlichen Eigenschaften Anna Freuds behandelt, die in der Gegenübertragung zur Vereinnahmung von Kindern und Frauen, insbesondere als Patientinnen führte. Kurz angesprochen wird die Einstellung zur Sexualität sowohl von Sigmund als auch von Anna Freud und wie dies zum Bruch mit Reich führte. Beschrieben werden auch Ähnlichkeiten in Anna Freuds Handlungen gegenüber den Kindern der Burlinghams und den Kindern Reichs.

Dieser Artikel behandelt die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Reich und Anna Freud in den 1920er und 1930er Jahren vor dem Hintergrund der ideologischen und politischen Hauptströmungen dieser Zeit. Die Auseinandersetzung wird sowohl aus politischer Sicht als auch mit Sicht auf Persönlichkeitsstörungen beschrieben. Sie endete mit dem Ausschluss Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Ich schreibe aus zwei Blickwinkeln. Zunächst als Psychoanalytikerin, die die vorhandenen Dokumente auf diesem Gebiet zu interpretieren versucht. Der zweite ist mehr persönlicher Natur. Wilhelm Reich war mein Vater.

Von Reichs Lehranalyse zur Theorie der Gegenübertragung

In den letzten Jahren sind viele geschichtliche Fakten aus Briefen und Biographien aufgetaucht, die erst nach dem Ableben gewisser Leute freigegeben worden sind. Beispielsweise erschienen zwei Bücher über Anna Freud, die ich als hauptsächliche Quellen zu Annas Persönlichkeit und Charakter heranziehe. Das eine ist eine Biographie von Elizabeth Young-Bruehl (1) und das andere: The Last Tiffanyvon Michael Burlingham (2). Seine Großmutter war Dorothy Burlingham, die Anna Freuds Gefährtin fürs Leben war.

Im letzten Jahr erschienen in Wien und Basel einige Bücher, die sich mit Reich beschäftigen: Karl Fallend schrieb Wilhelm Reich in Wien (3) und als Herausgeber mit Bernd Nitzschke: Der Fall Wilhelm Reich (4) und Fenichels Rundbriefe, die bei Stroemfeld erschienen sind (5). Die Rundbriefebeinhalten eine über zehn Jahre (1934-1944) geführte Korrespondenz zwischen Fenichel und einer kleinen Gruppe auserwählter Analytiker. Über meine Mutter kamen sie in meinen Besitz. Obwohl unter Druck gesetzt, begrub ich diese Briefe nicht in den Freud-Archiven im Library of Congress, sondern übergab sie einem Verleger. Persönliche Informationen über Reich erhielt ich durch Gespräche mit meiner Mutter und anderen Mitgliedern der Familie.

Ich werde jetzt meinen Vater beschreiben: Er war kein Heiliger. Er war ein sehr schwieriger Mensch, aber ich werde das heute, zur Feier der Wiederkehr seines Geburtstags, nicht weiter betonen. Mich interessierte die Tatsache, dass es da einen Mann gab, der sich enthusiastisch und tatkräftig der Psychoanalyse verschrieben hat. Zur Psychoanalyse kam er unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst nach Ende des Ersten Weltkriegs und als er noch Medizinstudent in Wien war.

Schließlich wurde Reich Direktor der Wiener Psychoanalytischen Polyklinik. Er leitete dort auch das Technische Seminar von 1924 bis 1930. Anhand von Quellen, die in diesem Artikel angeführt sind, läßt sich herauslesen, dass er sehr angesehen war und viele Freunde in der psychoanalytischen Gemeinschaft hatte (3:45), (6). Richard Sterba beschreibt die Gemeinschaft, die Reich außerordentlich wichtig war, als eine ungewöhnlich fest zusammengewachsene Gruppe, so dass Mitglieder, z.B. jüngere Leute, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Psychoanalyse gestoßen waren, oft innerhalb der Gruppe heirateten. Das war auch der Fall bei meinem Vater und meiner Mutter, die auch Psychoanalytikerin wurde.

Irgendwie bekam Reich dann Probleme mit seinem zweiten Analytiker, Paul Federn. Heutzutage sind wir an der Übertragung und Gegenübertragung sehr interessiert. Zwar wußte man damals schon etwas über die Übertragung, aber praktisch nichts über die Gegenübertragung. Ich glaube, dass Federn eine heftige Gegenübertragung meinem Vater gegenüber entwickelte und alle heute gültigen Regeln der Vertraulichkeit, was etwa das Sprechen über einen Patienten betrifft, ignorierte. Statt dessen verbrachte er Jahre damit, Freud dazu zu bringen, Reich loszuwerden, auch aus dem Technischen Seminar und der Polyklinik (3:195-202). Mein Vater beschwerte sich bei Freud, er betrachtete das als Verfolgung. Federn hatte keine Ahnung, dass er in eine Gegenübertragung verwickelt war. Er hielt Reich für verrückt und wollte ihn loswerden. Es sei hier angemerkt, dass Freud bis ca. 1930 nicht auf Federn eingegangen ist (4:250), bis sich andere Stimmen gegen Reich erhoben, insbesondere die von Anna Freud.

Die Reaktionen meines Vaters auf Federns Verfolgung finde ich interessant. Ich denke, dass er zuerst ziemlich deprimiert darüber war, obwohl das nirgendwo nachzulesen ist. Das stückle ich aus Bemerkungen meiner Mutter über eine schwere depressive Episode, in die mein Vater 1927 geschlittert ist und diezu einem Fall von schwerer Tuberkulose führte, zusammen.

Dann aber, nach seinem Aufenthalt in einem Davoser Sanatorium, entwickelte er eine brillante technische Innovation. Sie hatte damit zu tun, der negativen Übertragung des Patienten auf die Spur zu kommen. Es erscheint mir so, als ob er sich entschieden hätte – bewusst oder unbewusst – seinen Analytiker, Federn, zu lehren, wie er die Analyse hätte durchführen sollen. Reich schrieb dann das Buch Charakteranalyse(8). Auf fast einhundert Seiten wird die negative Übertragung behandelt und dass man diese verstanden haben muss, bevor man jemanden analysieren kann. Das ist heutzutage keine so erstaunliche Theorie mehr.

Die Psychoanalyse hat sich derart mit Übertragung und Gegenübertragung beschäftigt, dass diese Idee gang und gäbe geworden ist. Aber zu jener Zeit war das Konzept der Gegenübertragung ziemlich revolutionär – und für die Psychoanalytiker nicht akzeptierbar.

Reich hatte eine sehr kreative Art mit für ihn traumatischen Erlebnissen umzugehen. Dieses Muster – großen Unmut zu spüren, um dann daraus einen neuen theoretischen Schluss zu ziehen, war ein Muster seines Lebens. Sein anderer heilender Abwehrmechanismus trat langsam zur selben Zeit zutage: Wenn er aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde, gründete er eine neue Gruppe und schloss neue Freundschaften. Während seines ganzen Lebens entwickelte er viele neue Theorien als Antwort auf Rückschläge und bildete immer wieder neue Gruppen. Aber ich bin meiner Geschichte voraus.

Obwohl Federn darin nicht erfolgreich war, einen Keil zwischen Reich und Freud, bzw. die psychoanalytische Gemeinschaft zu treiben, gelang das Anna Freud sehr wohl, wie ich später erläutern werde.

Der „Austritt“ Reichs aus der IPV

Als Reich die Zugehörigkeit zu den Psychoanalytikern verlor, entwickelte er immer engere Kontakte zunächst zu den Sozialisten und dann zu den Kommunisten (3). Als er dann von der psychoanalytischen Gruppe ausgeschlossen worden war, übersiedelte er 1930 von Wien nach Berlin und gründete eine neue Gruppierung und ein neues Netzwerk. (Es muß erwähnt werden, dass Reich 1934 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde und – wie wir alle wissen, in späteren Jahren ein erklärter Antikommunist wurde.)

1930 verließ er Wien und ging nach Berlin. Da er zunehmend radikales Gedankengut vertrat, gab er vor nach Deutschland zu gehen, um gegen die Nazis anzukämpfen. Auch in Wien breitete sich der Nationalsozialismus immer mehr aus, und er sah sich dort einer potentiellen Gefahr ausgesetzt. Das war wahrscheinlich eines seiner Motive für den Umzug; aber er wurde auch aus der eigenen psychoanalytischen Gruppe hinausgedrängt – was ein persönlicher und schmerzhafterer Grund war.

Während der späten 1920er Jahre war er ein sehr lautstarker Kommunist. Gleichzeitig gab es in Wien viele Kollegen – wenngleich nicht alle – die sehr konservativ waren. Einige Psychoanalytiker waren sehr links eingestellt und radikal. Sowohl Anna als auch Sigmund Freud waren sehr konservativ. Es waren schwierige Zeiten, so dass Reichs Radikalität besonders auffiel. Die Freuds waren verärgert. Sie fürchteten, dass die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit mit Kommunismus gleichgesetzt würde.

Ich muss sagen, dass ich wirklich nicht weiß, wie sehr Sigmund Freud von sich aus noch engagiert war. Seine Krebserkrankung wurde 1923 diagnostiziert. Zunehmend übernahm Anna Freud die Geschäfte der psychoanalytischen Organisation. 1932 wollte mein Vater eine Abhandlung über den masochistischen Charakter herausbringen. Freud lehnte die Veröffentlichung strikt mit der Begründung ab, dass es eine kommunistische Abhandlung wäre.

Es gab einigen Druck auf Freud (4:35) und schließlich stimmte er einer Veröffentlichung unter der Bedingung zu, dass die Zeitschrift einen Hinweis anzubringen habe, dass es sich um einen kommunistischen Beitrag handle. Nur durch das Engagement von Leuten wie Ernst Kris und Siegfried Bernfeld wurde dieser Artikel in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyseveröffentlicht (8:208, 3:166). Eine Wiederveröffentlichung findet sich jetzt im Buch Charakteranalyse(8). Ich habe den Beitrag darin unlängst gelesen und erachte ihn als ausgezeichnete Darstellung des Masochismusproblems.

Reich griff darin den Todestrieb an, eine Theorie, die Freud in dieser Zeit entwickelt hatte. Die Kommunisten meinten natürlich, dass es keinen Todestrieb geben könne, weil das Leid der Menschen durch die Gesellschaft entstünde. Deshalb empfand Freud den Angriff meines Vaters auf den Todestrieb aus einer kommunistischen Sicht her kommend. Natürlich gibt es gegenwärtig einige wenigeTheoretiker, die an den Todestrieb glauben, jedoch die pessimistische Formulierung Freuds erheblich modifiziert haben.

Reichs Text war ein ganz ausgezeichneter psychoanalytischer Beitrag. Aber es war offensichtlich, dass Reich offen eine von Freuds Theorien angriff. Das war unter den Psychoanalytikern nicht üblich. Freud genoss große Verehrung und sie schrieben ihm ihre Ideen zu; wenn sie mit ihm unterschiedlicher Meinung waren, haben sie ihre eigenen Gedanken geschickt in spätere Beiträge eingebracht. Es gibt keinen Zweifel daran, dass mein Vater 1932 kein von den Freuds gerne gesehenes Mitglied mehr war und das auch wusste. Deshalb verbarg er es nicht länger, wenn er anderer Meinung war.

Nun wurden Briefe aus dem Jahr 1933 publiziert (9), in denen Anna Freud Ernest Jones nach England schreibt, dass Freud, ihr Vater, keine Zeit für Diskussionen habe und nur wünsche, Wilhelm Reich loszuwerden (9:59). Wie ich schon sagte, weiß ich nicht, ob dieses Ansinnen von Anna oder von Freud selbst kam. Aber die Korrespondenz zwischen Anna und Ernest Jones läßt keinen Zweifel offen, dass Anna intrigierte und Jones nach und nach von der Richtigkeit dieser Maßnahme überzeugte. Sie war besonders darüber erzürnt, dass Reich, nachdem er Deutschland verlassen hatte, 1933 wieder in Wien auftauchte und eine radikale Rede hielt. Sie meinte, dass das eine Gefahr für die psychoanalytische Bewegung wäre (4:68).

Annas Ansicht war, dass man Politik nicht mit der Psychoanalyse vermischen dürfe (9:59). Jones, der zunächst das Recht, eigene politische Meinungen haben zu können vertrat, näherte sich langsam Annas Sichtweise an. Nachdem er Reich persönlich getroffen hatte und ihn mochte, zögerte er eine Entscheidung zu treffen; Anna trieb ihn an, indem sie ihm belastendes Material aus ihrer Analyse mit Reichs Frau, meiner Mutter, preisgab (9:60). Danach begann Jones eine heftige Kampagne gegen Reich. Er schrieb der Dänischen Regierung (9:59) und später der Holländischen Regierung (9:71), um sie vor Reich zu warnen.

Und sowohl er als auch Freud schrieben an die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung und verlangten eine Auflösung der Mitgliedschaft Reichs (9:71). Jones und beide Freuds befürchteten, dass die Psychoanalyse mit Kommunismus gleichgesetzt werden würde. Nachdem Jones mit seinem britisch geprägten bürgerlich-liberalen Gewissen gekämpft hatte, schlug er vor, dass Psychoanalytiker sich nicht aktiv in der Politik engagieren sollten.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass Anna oder Sigmund auch mit Max Eitingon in Kontakt waren. 1933, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war, schrieb Eitingon (4:69), der das Berliner Institut leitete, Reich, dass er sich vom Institut fernhalten solle, da sie nicht wünschten, dass er in dessen Räumlichkeiten festgenommen wird.
Eitingon übermittelte diese Botschaft an Reich, der aus Gefälligkeit seine Mitgliedschaft am Berliner Institut zurücklegte. Eine Anmerkung sei hier gemacht: Als Reich 1930 Wien verließ, teilte ihm Anna mit, dass er nicht gleichzeitig der Wiener und der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft angehören könne. Daher legte er auf ihre Aufforderung hin seine Mitgliedschaft in Wien zurück.

Diese Darstellung des freiwilligen Rücktritts Reichs aus der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, die von den meisten Psychoanalytikern geglaubt wurde und die ich in der ursprünglichen Fassung auch teilte, stellt sich als gänzlich falsch heraus. Beim neuerlichen Lesen der RundbriefeFenichels (5:Brief VIII), die mir im Original vorlagen – geschrieben einzeilig und auf Florpostpapier – wurde mir eindeutig klar, dass Reich keine Ahnung hatte, dass er von der Mitgliederliste gestrichen worden war.

Er fand es heraus, als er die Veranstaltungsbroschüre der IPV bei seiner Ankunft beim Kongress 1934 las. Und ironischerweise wandte er sich an Anna Freud in der Annahme um Hilfe, dass dies Müller-Braunschweig in eigener Verantwortung angerichtet habe. (Letzterer war Nachfolger von Eitingon.) Details zur Geschichte von Reichs Ausschluss aus der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und dass er darüber nicht informiert worden war, kann man bei Fallend nachlesen (3:224-25).

Bei Fallend & Nitzschke (4:Kapitel 2) kann man ersehen, wie es den deutschen Analytikern unter den Nazis ergangen ist. Ob die Analytiker mit den Nazis kooperierten oder nicht ist umstritten. Nitzschke meint, dass sie das taten. Um diese ganze Periode ins rechte Licht zu rücken: Ich bin mir sicher, dass sowohl Ernest Jones als auch die Freuds – wie auch Winston Churchill zu dieser Zeit (1934) – dachten, dass die Kommunisten eine größere Bedrohung als die Nazis wären.

1934 fand einer der Sommer-Kongresse der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung im schweizerischen Luzern statt. Mein Vater fuhr völlig ahnungslos dorthin. Er lebte in Dänemark und war nahe daran, ausgewiesen zu werden – wie sehr Jones als Anstifter dabei verantwortlich war, ist nicht bekannt. Er kam zu diesem Kongress und fand heraus, dass er von der Mitgliederliste der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft gestrichen worden war. Zu dieser Zeit war Anna Freud Vorstandsmitglied und Ernest Jones Präsident der IPV.

Sie teilten Reich mit, dass er nicht mehr Mitglied der IPV wäre, da er kein Mitglied der Berliner oder irgendeiner anderen lokalen Organisation mehr sei. Die Statuten der IPV besagten, dass er kein Mitglied mehr sein könne. So warfen sie ihn wegen eines formaltechnischen Grundes, der von ihnen selbst kreiert worden war, hinaus. Sie meinten, dass er natürlich zurückkommen könne, sobald er einer nationalen Organisation beigetreten sei. Aber da hatte Jones sich schon mit allen Vertretern der assoziierten Gesellschaften getroffen und sie dazu gebracht, dass sie Reich nicht akzeptieren würden (5:Brief VIII). Des weiteren wurde der Antrag der Skandinavischen Gesellschaft um Aufnahme zurückgestellt, nachdem sie die Bedingung nicht akzeptiert hatten, Reich die Mitgliedschaft zu verweigern.

Als dann ein, zwei Jahre später – mein Vater war inzwischen nach Norwegen gezogen – die Norweger als neu gegründete nationale Organisation um Mitgliedschaft in der IPV ansuchten, wurden sie abgelehnt. Daher konnte Reich nie wieder Mitglied werden (5:Brief VIII). So wurde das arrangiert. Zuerst manövrierten sie ihn aus seinen nationalen Gesellschaften und erklärten ihm dann, dass er, da kein Mitglied einer nationalen Organisation, auch kein Mitglied der internationalen Vereinigung sein könne.

Fenichel plante ursprünglich, Anträge zur Verteidigung Reichs zu stellen, beschränkte sich dann aber auf Proteste bezüglich Verfahrensfragen. Ein kleiner Ausschuss – bestehend aus Fenichel, Hartmann, Wälder, Glover, Sarasin und Anna Freud – behandelte Fenichels Anträge. Fenichel wurde mitgeteilt, dass Reich wieder aufgenommen werden würde, falls ihn die Mitglieder wünschten, dass er aber unerwünscht sei. Daher wäre es besser, wenn sich Reich wegen seiner politischen Aktivitäten und seiner Kritik an Freuds Todestrieb aus der IPV heraushalte. Reich habe beides in die Theorie der Sexualökonomie aufgenommen und dafür würde der IPV verantwortlich gemacht werden (5:Brief VIII).

Aus den Rundbriefengeht ganz klar hervor, dass Fenichel keine Ahnung hatte, dass Anna Freud mit Jones dieses Komplott geschmiedet hatte. Es war ihr möglich, sich gänzlich im Hintergrund zu halten, so als wäre sie wie alle anderen in dieser Gruppe.

Nachwirkungen des Ausschlusses – die „linken“ Analytiker

Es sind die Nachwirkungen dieses Ausschlusses, über die ich sprechen möchte. Jenen Sommer verbrachte ich mit meinem Vater. Auf Umwegen reisten wir in die Schweiz. Mit dem Schiff fuhren wir – um Deutschland zu meiden – von Dänemark nach Belgien. Den ganzen Sommer verbrachten wir zusammen. Er war in einer ausgesprochen guten Stimmung, es ging ihm gut. Aber nach seinem Ausschluss aus der IPV ging er, wie meine Freunde das zu nennen pflegen „buchstäblich in die Luft“.

Er war außer sich vor Wut und stritt mit meiner Mutter und stritt auch mit ihr, wenn wir Kinder zugegen waren. Ich bin mir sicher, dass er mit allen möglichen Leuten Streit hatte. Er war wirklich sehr aufgebracht. Er erholte sich rasch, indem er seinen effektiven Problembewältigungsmechanismus einsetzte, den ich zuvor erwähnt habe. Zuerst gründete er um sich herum eine neue Gruppe in Norwegen, deren Mitglieder, soweit sie noch am Leben sind, sich gerne an ihn erinnern. Dann durchbrach er den psychoanalytischen Schranken, den Körper zu berühren und entwickelte sich in Richtung Vegetotherapie (aus der später die Bioenergetik hervorging).

Um zur Geschichte zurückzukehren: Wichtig ist anzumerken, dass die Psychoanalytiker, die Reich unterstützten – Fenichel, eine ganze Gruppe in Berlin und viele Leute in Wien – sich eingeschüchtert fühlten. Sie konnten sich nicht äußern. Sie hatten Angst davor, selbst ausgeschlossen zu werden. Ich meine, dass diese Gefahr real war. Fenichel zum Beispiel fühlte sich 1936 noch behandelt wie ein verlorener Sohn, der in den Schoß der Gemeinde zurückgekehrt war, um von seinen Wiener Kollegen gesagt zu bekommen: „Nun siehst du, dass Reich verrückt ist“ (5:280). Als meine Mutter 1931 nach Berlin übersiedelte, wurde ihr zum Beispiel die Aufnahme in die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft aus undurchschaubaren Gründen verweigert – sie hatte sich Anna Freuds Wünschen widersetzt, indem sie wieder mit meinem Vater zusammenging.

Aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus fand Fenichel im Schreiben seiner RundbriefeTrost. Es gab damals keine Kopiergeräte. Er fertigte jeweils dreizehn Kopien mit Blaupause auf Florpostpapier auf seiner Schreibmaschine an und sandte sie an alle Freunde, die linksgerichtete bzw. marxistische Analytiker waren. Diese Briefe waren streng vertraulich und geheim. Meine Mutter war eine von denjenigen, die die Rundbriefeerhielten.

Als meine Mutter viele Jahre später im Sterben lag, wurden sie von einem anderen Empfänger der Rundbriefe aus ihrem Schrank entwendet, um zu verhindern, dass jemand weiß, dass sie überhaupt existierten, bzw. wer sie erhalten hatte – aus Angst, dass deren marxistische Vergangenheit bzw. Opposition zur organisierten Psychoanalyse bekannt werden würde. Das zeigt, wie verängstigt diese ehemals linken Analytiker waren; niemand sollte wissen, dass sie je die Rundbriefeerhalten haben. Der Dieb bekam jedoch Schuldgefühle, gestand mir den Diebstahl und überbrachte mir die Rundbriefein einem Einkaufssack. So wurden die Papiere gerettet. Es gibt bestimmt noch weitere Kopien, aber ich habe das kompletteste Set.

Wie erging es nun dem Rest der Analytiker? Die Mitglieder des linken Flügels befürchteten, auch ausgeschlossen zu werden und hielten sich bedeckt; aber sie bildeten eine geheime Gruppe, die zusammenhielt – und sie hatten die Rundbriefe. Die restlichen Analytiker verbanden sich durch Stillschweigen. Die Geschichte von Reichs Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ist nur in Fenichels Rundbriefenachzulesen. Niemand anderer hat je erwähnt, was mit Reich geschehen ist.

Die Umschreibung der Geschichte – Dabeisein ist alles

Dann kam es zu einer Umschreibung der Geschichte. Ernest Jones schrieb eine Biographie über Sigmund Freud, in der nachzulesen ist, dass Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung „ausgetreten“ sei – „Reichs politische Einstellung führte sowohl zu einer persönlichen als auch zu einer wissenschaftlichen Entfremdung“ (10:191). Der Ausschluss wurde aber von Jones selbst vorangetrieben! Wahr ist, dass Reich – nachdem er ausgeschlossen und zurückgewiesen worden war, bzw. mitgeteilt bekommen hatte, dass er wegen seiner „sexualökonomischen“ Ideen kein Mitglied sein könne -, böse wurde und Jones anbrüllte, dass er dann eben nur ein Sexualökonom wäre.

Die Analytiker begannen hervorzustreichen, dass Reich „verrückt“ sei und dass das der wahre Grund für seinen Ausschluss gewesen sei. Es sollte hier angemerkt werden, dass die Bezeichnung „jemand sei verrückt“ dafür verwendet wurde, eine Reihe anderer Leute, einschließlich Rank, Rado und Tausk aus der analytischen Gemeinschaft hinauszuwerfen. Es hatte Versuche gegeben, auch Ferenczi aus demselben Grund auszuschließen. Tatsächlich legte Anna Freud genau in der Zeit, in der Reich ausgeschlossen wurde auch den Grundstein zu Rados Hinauswurf (11:281-282).

Einige Analytiker begannen mit großem Vergnügen Geschichten zu erzählen. Das ist typisch für den Wiener Humor. Sie sagten, dass Reich nach Luzern kam und ein Zelt direkt vor dem Kongreßhotel aufgestellt habe und er mit seiner Geliebten dort logiert habe. Sie sagten auch, dass er ein großes Messer bei sich getragen habe. Die Wahrheit ist vergleichsweise profan. Reich hat sein Zelt nicht vor dem Hotel, sondern am Campingplatz aufgestellt.

Die Frau war nicht seine Geliebte, sondern seine Lebensgefährtin. (Meine Mutter strebte eine Scheidung an und hatte ihn verlassen.) Er hatte kein Geld, daher campierte er, und es ist dabei üblich ein Messer mit zu haben. Sie wiesen auch auf seinen Wutanfall nach seinem Ausschluss hin, um hervorzuheben, wie wenig er sich selbst unter Kontrolle hatte. Niemand hat das alles je gegenüber seinen Kindern erwähnt. Wir hatten keine Ahnung, warum er bei diesem Kongreß so wütend war. Es schien, als ob plötzlich seine Sicherungen durchgebrannt wären.

Im Laufe der Jahre sind nun eine Reihe von Analytikern auf mich zugekommen. Sie kommen mit diesem naiven Gesichtsausdruck, irgendwie verlegen und meinen: „Er war wirklich ein großer Mann. Was geschah mit ihm? Ist das nicht traurig?“ Normalerweise geht man nicht zu jemandes Kind und sagt: „Dein Vater war verrückt.“ Man tut das einfach nicht, das wäre unhöflich. Aber es steckt da eine Art Drang dahinter. Sie müssen das tun, es ist zwanghaft. Ich glaube, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie alle beim Kongress mit dabei waren. Sie alle wussten über die Geschehnisse Bescheid und niemand sprach darüber. Und dann begannen sie die Geschichte umzuschreiben.

Ich will nur ein paar Beispiele anführen: Sterba etwa. Er war ein enger Freund meines Vaters. Es gibt Bilder, die sie beim Schifahren zeigen, ich glaube, das war 1931, und sie verbrachten eine schöne Zeit miteinander (7). Aber er erzählte Sharaf (6:147), dass er mit Reich seit 1927 Schwierigkeiten gehabt hätte. Warum ging er dann mit Reich in den dreißiger Jahren Schifahren? Sterba war nach Detroit emigriert. In den 50ern kam er nach New York, um einen Vortrag zu halten (12).

In seinem Vortrag, er findet sich abgedruckt in „Psychoanalytic Quaterly“, spricht er davon, was die Charakteranalysenicht für ein schlechtes Buch sei. Sterba meinte, dass man schon beim Lesen des Buchs Wilhelm Reichs Paranoia erkennen könne. Was hat Sterba dazu veranlasst, das zu tun? Sein Vortrag war kein Beitrag, der psychoanalytisches Wissen gefördert hätte; vielmehr ging es ihm darum, sich in der psychoanalytischen Gemeinschaft wieder zu etablieren. Weil er ein Freund Reichs war, war er suspekt. Um bei den aus Europa emigrierten Analytikern, die besonders in New York Anna Freud außerordentlich nahe standen, „in“ zu sein, präsentierte er diesen Beitrag.

Eine andere Person, die Geschichte umgeschrieben hat war Helene Deutsch, die die Biographie Confrontation With Myself – Selbstkonfrontation. Die Autobiographie der großen Psychoanalytikerin(13) geschrieben hat, in der sich eine drei Seiten lange Lobeshymne auf Anna Freud findet (13:140-143). Das Buch wurde 1973 herausgegeben und vermutlich in den Jahren davor geschrieben. Paul Roazen schreibt in der Einleitung der 2. Auflage seiner Deutsch-Biographie (11:vii-viii), dass Anna Freud enormen Druck auf Helene ausgeübt hat, nachdem sie Werbung für Roazens Buch Brother Animal – Bruder Tier gemacht hatte. In dem Buch geht es um eine kritische Betrachtung von Sigmund Freuds Umgang mit Victor Tausk.

Roazen meint, dass dies Helene veranlasst habe, mit ihm über etliche Jahre hinweg keinerlei Kontakt zu pflegen. Mit anderen Worten: Deutsch schrieb ihre Autobiographie ein, zwei Jahre nach ihrer ernsthaften Auseinandersetzung mit Anna Freud. Es kommt mir vor, als ob dieser Abschnitt der Autobiographie, der mit Anna Freud zu tun hat, Teil ihres Versuches war, um in die Gunst des engeren Kreises wieder aufgenommen zu werden. Anna hatte zu dieser Zeit enorme Macht in der IPV und in der American Psychoanalytic Association, besonders an der Ostküste.

Jahre später söhnten sich Deutsch und Roazen wieder aus und sie gab ihm die Erlaubnis, ihre Briefe durchzusehen und ihre Biographie zu schreiben (11). Darin taucht ein gänzlich anderes Bild bezüglich ihres Verhältnisses zu Anna und Sigmund Freud auf. Offensichtlich hatte sie eine Menge Schwierigkeiten sowohl mit Anna als auch mit Sigmund Freud. Es steht eindeutig fest, dass Deutsch Wien verlassen hat und 1933 nach Boston gekommen ist, aber nicht nur wegen der politischen Situation in Österreich, sondern weil sie sich auch in dem Kreis, den Anna rund um Freud in seinen letzten Jahren aufgebaut hatte, nicht wohl fühlte. „Was gut ist für Freuds Genie und sein Alter und für Anna, die sich dem väterlichen Leitgedanken ausgeliefert hat, wird für die anderen zur Massenneurose.“ (11:288)

Aber zusätzlich hielt es Deutsch für notwendig, die Geschichte, Reich betreffend, zu verdrehen. Trotz der enormen Reputation Deutschs in der Psychoanalyse glaube ich, dass sie sich durch ihre Verbundenheit mit Reich „belastet“ fühlte und sich wieder zu etablieren versuchte. Mit Schrecken hatte sie mitverfolgt, wie Rado aus dem engeren Kreis hinausgedrängt wurde. Neben anderen Problemen hat „Anna die Herzlichkeit der Denkschrift für Ferenczi, die Rado 1933 veröffentlicht hat, nicht gutgeheißen“ (11:281). Dies läßt darauf schließen, dass Anna versuchte, diejenigen, die sich freundlich gegenüber Leuten verhielten, die „out“ waren, auch ins „Out“ zu drängen.

Deutsch hatte sich auch positiv über Reich geäußert. Sie hatte es vorgezogen, sein Seminar zu besuchen und nicht Annas, das zur gleichen Zeit stattfand. Laut Sharaf (6:152) hatte sie „das Technische Seminar mit Reich genossen und großen Nutzen daraus gezogen“, obgleich sie in ihm einen „Fanatiker“ sah. Sie war sogar eine der wenigen Psychoanalytiker, die Reich getroffen haben, nachdem er nach Amerika ausgewandert war.

Aber in ihrer Autobiographie ist sie nicht nur Reich gegenüber sehr kritisch, was sie wirklich gewesen sein könnte, sondern sie schreibt, dass sie selbst ein Seminar mit der Absicht iritiiert habe, um „seine Ideen zur ausschließlichen Handhabung der negativen Übertragung in der Eröffnungsphase“ unglaubwürdig zu machen (13:157-158). Aber das kann nicht ganz stimmen. Nicht nur weil sie geäußert hat, dass sie es genossen habe, sondern auch deshalb, weil das Seminar 1924 begonnen hat und Deutsch in diesem Jahr in Berlin war. Daher gehe ich davon aus, dass sich Deutsch – um in die engere Gruppe um Anna Freud wieder zurückkommen zu können – gezwungen sah, ihre Illoyalität von vor fast fünfzig Jahren wiedergutzumachen, indem sie verbreitete, dass sie nur an Reichs Technischem Seminar teilgenommen hätte, um es in Misskredit zu bringen.

Von einem Vorkommnis aus dem Jahr 1986 möchte ich noch erzählen. Sharaf und ich waren von der American Psychoanalytic Association zu einer Podiumsdiskussion über die Geschichte der Psychoanalyse eingeladen worden. Die Kinder von Wiener Psychoanalytikern wurden gebeten über ihre Eltern zu sprechen. Eingeladen waren die Kinder von Reich, Siegfried Bernfeld und von Ernst Kris. In meinem kurzen Beitrag erwähnte ich, dass Robert Wälder Reichs Beitrag zum Masochismusproblem nicht veröffentlicht hatte und fuhr dann in meiner Rede fort. Ganz am Ende der Diskussion stand Gutmacher, ein in der Zwischenzeit verstorbener Analytiker aus Philadelphia, auf und sagte: „Haben sie nicht etwas vergessen?“

Ich fragte: „Was?“. Ich wusste nicht, was er wollte. Er sagte: „Reich war verrückt. Das ist es, was sie ausgelassen haben.“ Ich erkannte erst später, warum er das gesagt hat: weil ich Wälder dafür kritisiert habe, dass er den Masochismus-Artikel nicht veröffentlichen wollte. Und Gutmacher war ein Schüler Wälders. Damals verstand ich überhaupt nicht, was los war. Beim Abhören der Tonbänder der Podiumsdiskussion stellte ich zu meinem Bekümmern fest, dass genau zu dem Zeitpunkt, als es zu diesem Vorfall gekommen war, die Bänder gewechselt wurden; so gibt es darüber keine Aufzeichnung.

Anna Freuds Charaktereigenschaften und ihre Einstellung zur Sexualität

Aber warum gab es soviel Aufregung um Reich? Was war das für eine Stimmung, die sie dazu brachte, so ruhig zu bleiben und dann die Geschichte umzuschreiben, um sich von Reich zu distanzieren? Der schreckliche Aufruhr in Europa war ein Teil davon. Die Nazis waren an der Macht, Menschen wurden verhaftet, und die Kommunisten betrieben aktiv einen Umsturz. Die Psychoanalytiker waren verängstigt. Aber es passierte auch einiges in der psychoanalytischen Gemeinschaft. Bis 1911 (14) hatte sich eine orthodoxe Haltung etabliert; aber in den späten zwanziger und in den dreißiger Jahren hatten die Probleme mit dieser Haltung mit Anna Freud zu tun, die aufgebaut wurde, die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft zu übernehmen und dann auch die internationale.

Freud unterstützte sie, um ihre Macht zu festigen. Aber Anna hatte auch eine – nennen wir es – Persönlichkeitsstörung. Sie musste wirklich immer die Nummer Eins sein (15). Das heißt, Anna schien eine sehr unaufdringliche Person zu sein. Niemand hätte erwartet, dass sie so manipulativ und bestimmend war – und dass es für sie so wichtig war, die Nummer Eins zu sein und von allen bewundert zu werden. Tatsache ist: Wenn man sich nicht mit ihr zusammentat, war man „out“.

Sterba war zum Beispiel „out“, aber alle Leute, die in Wien „in“ waren, waren ihre großen Freunde. Als sie 1938 nach England kam, trat diese Charaktereigenschaft noch deutlicher zutage. Das bekamen alle mit, auch Ernest Jones, der sie zuvor so verteidigt hatte. In England angekommen fand Anna heraus, dass Melanie Klein, ihre große Rivalin in der Kinderanalyse und mit der sie bezüglich Theorie und Technik eine unterschiedliche Auffassung hatte, dort behaglich lebte und von allen bewundert wurde. Anna begann das gleiche Spiel von neuem – dass man ihr gegenüber loyal war, sonst „war man kein Analytiker“.

Dasselbe hat sie auf subtile Art und Weise auch in Wien getan. Aber jetzt tat sie es öffentlich. Die Briten haben sich aber um einiges mehr der Demokratie verschrieben und wollten davon nichts wissen. So bildete sich eine Gruppe um Melanie Klein und Anna Freud zog sich mit einer kleinen Gruppe loyaler Gefolgsleute nach Hampstead zurück, aber ihren tatsächlich engsten analytischen Kreis gab es in den USA. Der Rest der britischen Analytiker wurde als „mittlere Gruppe“ bezeichnet; sie enthielten sich einer Parteinahme.

Um zur Situation in Wien zurückzukehren: Ich muss sagen, dass mein Vater auch kein „Teamspieler“ war. Er musste auch die Nummer Eins sein. Damit war ein Zusammenprallen der Persönlichkeiten vorprogrammiert. Es ging vor allem darum, dass er Anna Freuds Drang zur Nummer Eins nicht durchschaute. Ich habe schon erwähnt, dass sie ruhig und zurückhaltend war. Laut Fenichel gab es im Wiener Institut einen Gang, an dessen einem Ende in einem Klassenzimmer Anna Freud das unterrichtete, was später als das Ich und die Abwehrmechanismenpubliziert wurde, während am anderen Ende Reich unterrichtete, was dann als Charakteranalyseerschien.

Beide hielten ihren Unterricht zur selben Zeit, und man konnte nicht an beiden teilnehmen. Da diesen zwei Büchern sehr unterschiedliche Zugänge zur Theorie der Charakterstruktur zugrundelagen, kann man im Rückblick erkennen, dass es in Wien bereits eine Stimmung zur Parteinahme bezüglich der Theorie gab. Das ist der Grund, warum Deutsch, die das Seminar meines Vaters besuchte, in späteren Jahren bezüglich ihrer Achtung für ihn einen Rückzieher machen musste.

Der Gedanke, dass Uneinigkeit in der Theorie akzeptierbar war, hat sich in den 1950er Jahren bis New York herumgesprochen. Als ich in Ausbildung am New York Psychoanalytic Institute war, hatte Melanie Klein einfach einen schlechten Ruf. Ihre Bücher wurden nicht gelesen, man schaute auf sie herab, während Anna Freud als großer Guru angesehen wurde. Heute wird Melanie Klein geschätzt und als Vorreiterin der gängigen Objekt-Beziehungstheorie angesehen, die der heutigen Psychoanalyse viel näher steht. Anna Freud muss sich mit den Ich-Psychologen abfinden, und nur wenig von ihrer Arbeit wird zitiert.

Es waren auch verdeckte Gegenübertragungen, die Anna Freud wünschen ließen, Reich loszuwerden. Zunächst wurde über Anna Freud in Wien spaßhaft von der „Eisernen Jungfrau“ gesprochen; das war ein mittelalterliches Foltergerät in Form einer hohlen Frauenfigur, die das bedauernswerte Opfer mit Eisenspitzen durchbohrte. Während der Zeit, in der Reich sie kannte, hatte sie offensichtlich keinen Sexualpartner und der Spitzname war wohl auch ein Hinweis darauf.

Manche meinen, dass Dorothy Burlingham später ihre Geliebte wurde. Andere meinen, dass das niemals eine sexuelle Beziehung war, obwohl sie später gemeinsam lebten. Jedenfalls weiß man mit Sicherheit, dass sie nie einen männlichen Liebhaber hatte. Solange mein Vater Mitglied der psychoanalytischen Gemeinschaft war, hielten sowohl Sigmund als auch Anna Freud viel von Sublimation durch Arbeit. „Man muß Sexualität nicht offen ausleben, man könne sie sublimieren“ (1:107). Aus dem Buch The Last Tiffanygeht zum Beispiel klar hervor, dass Dorothy Burlingham sich nach ihrem Mann gesehnt hat, sich nach Sexualität gesehnt hat.

Die Freuds taten alles, um Dorothy von ihrem Ehemann getrennt zu halten. Sie behaupteten, dass man keinen Sex braucht, wenn man hart arbeite. Freud sagte das zu Robert Burlingham, als dieser ihn für ein Interview aufsuchte. Anna Freuds ganzer theoretische Schwerpunkt lag in der Abwehr von Instinkten. Deshalb bin ich mir sicher, dass sie sich durch Reich persönlich angegriffen fühlte, wenn er behauptete, dass man neurotisch wäre, wenn man keinen vollständigen Orgasmus habe – dass ein unvollständiger Orgasmus die Quelle von Neurosen wäre. Und hier ist diese Frau, die keinen Orgasmus kennt. Laut Young-Bruehl hatte Anna in ihrer Jugend Schwierigkeiten zu masturbieren, woraufhin Freud sie in Analyse nahm (1:103-107). Das heißt, dass er tatsächlich seine eigene Tochter bezüglich ihres Sexuallebens analysierte!

Inzwischen lebte Freud in großer Enthaltsamkeit. Nachdem seine Frau nach der Geburt von sechs Kindern sich ihm verweigerte, gab er im Alter von vierzig Jahren sein Sexualleben auf. Also hatten beide, Anna und Sigmund, sehr altmodische Anschauungen über Sexualität. Freuds frühere Interessen hatten sich geändert. Wie aus den neuen, komplett vorliegenden Briefen von Freud an Fließ (15:44) hervorgeht, hatte Freud in seiner ersten Ehezeit große Sexualprobleme. Er begann über die Behandlung der Neurasthenie nachzudenken. „Die einzige Alternative wäre freier Geschlechtsverkehr zwischen jungen Männern und ungebundenen jungen Frauen … sonst blieben als Alternativen Masturbation, Neurasthenie … Syphilis … Durch die Unmöglichkeit eines solchen Lösungsansatzes scheint die Gesellschaft zum Opfer unheilbarer Neurosen verdammt zu sein.“

Das heißt, Freuds ursprüngliche Gedanken über Sexualität und Gesellschaft waren den Verkündigungen meines Vaters, Jugendlichen sexuelle Freiheit zu gewähren und die Notwendigkeit, die Gesellschaft durch eine Liberalisierung des Geschlechtslebens der Bevölkerung zu ändern, viel näher. Dennoch waren sich Reich und Freud, was Masturbation betrifft, nie einig. Als Freud um die Sechzig war und Krebs hatte, war er vermutlich am Thema Sexualität nicht mehr sonderlich interessiert. Mein Vater scheint zu spät in der Psychoanalyse angekommen zu sein.

Peter Heller schreibt über einen Urlaubsaufenthalt Anna Freuds am Grundlsee (16) im Jahr 1930 (ich habe auch viele Sommer am Grundlsee verbracht, und ich bin mir nicht sicher, ob Hellers Datierung korrekt ist): Sie blieb an dem einen Ende des Sees und am anderen Ende vergnügten sich die jungen Analytiker mit Sonnenbaden und Sexspielen. Anna hat das sehr mißbilligt (16:337-338). Heller erzählt, wie Berta Bornstein in einem Boot mitten am See Sex hatte (16:340). Obwohl sie gleichen Alters waren, muss man annehmen, dass diese jungen Analytiker sehr anders als Anna Freud waren.

Unglücklicherweise ist Reich gerade in der Zeit zur Psychoanalyse gestoßen, in der die ganze Theorie über Sexualität eine Änderung erfuhr – der Schwerpunkt verschob sich hin zur Erforschung des Ich. Für Anna mußten Reichs Theorien bedeutet haben, dass sie nicht „normal“ war.

Eine andere Quelle der Gegenübertragung Annas auf Reich hat mit Annas komplizierten Beziehungen zu ihren Patienten und zu Kindern zu tun. Einerseits führt Steiner (9) die gute Seite ihrer mütterlichen Hingabe an – veranschaulicht durch ihre Besorgnis gegenüber potentiellen Flüchtlingen (nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren) – außer Reich -, die sie ihre „Sorgenkinder“ nannte. Andererseits wurden Leute zu Rivalen, wenn sie ihre fürsorgliche Rolle nicht einnehmen konnte. Sie hatte auch einen ausgeprägten Hang gegenüber ihren Analysanden, besonders den Kindern, besitzergreifend zu sein und die Tendenz, sie von Konkurrenten fernzuhalten. Ihre eigenen Worte beziehen sich auf zwei der Kinder der Burlinghams als Patienten: „[Ich habe]Gedanken, die mich bei meiner Arbeit begleiten, aber nicht dort hin gehören … manchmal denke ich, daß ich sie nicht nur gesund machen will, sondern gleichzeitig … für michselbst habenwill.“ (1:133)

Ungeachtet dieser aufschlußreichen Aussage und zum Schaden der Kinder der Burlinghams hat Anna ihrer Sehnsucht nachgegeben, so dass sie schließlich über die Mutter und über die vier Kinder verfügte, indem sie sowohl die Rolle als deren anderer Elternteil, als auch als deren Analytikerin einnahm (2). Und Sigmund Freud, bereits in schwächlichem Zustand, schloss sich diesem Programm an. In der Folge hat Anna Freud Theorien zur Technik der Kinderanalyse mit Betonung darauf entwickelt, dass das Kind keine erwachsene Person sei, und der Analytiker das Kind ebenso „erzieht“ und das in Wirklichkeit besser mache als die Eltern. Ich bin mir sicher, dass dieses „Besitzergreifen“ in ihrer Beziehung zu meiner Mutter, die 1927 ihre Patientin war, eine große Rolle spielte (siehe unten).

Anna Freuds Einflußnahme auf die Kinder der Burlinghams und Reichs

Zwischen den Vorkommnissen in meiner Familie und jenen in der Familie der Burlinghams gibt es einige Ähnlichkeiten. Der Beginn Anna Freuds Analyse mit den vier Kindern der Burlinghams fiel in die selbe Zeit wie der Beginn ihrer engen Freundschaft zu deren Mutter. Beide Freuds waren sehr bemüht, die Kinder von deren Vater, Robert Burlingham, fernzuhalten, weil er „verrückt“ war. Er hatte offenbar eine Bipolare Affektive Störung und so wurde ein Kontakt mit ihm für die Kinder als schlecht erachtet.

Anna schrieb ihm, dass seine Besuche aus Amerika seine Kinder belastet hätten und er nicht mehr kommen solle (2:201-202). Gleichzeitig bemühte sich Anna die Kinder zu überzeugen, dass Treffen mit ihrem Vater schlecht für sie seien. Anna brachte auch Freud dazu, Dorothy in Analyse zu nehmen – und dann fuhren alle gemeinsam in den Urlaub – Freud, Dorothy, ihre Kinder und Anna. Das war sehr gemütlich und überhaupt nicht abstinent, wie es die psychoanalytische Technik in dieser Zeit einforderte. Als Robert trotzdem kam, teilte ihm Freud mit, dass er, Freud, Dorothy helfen würde, ihre sexuellen Bedürfnisse in Bezug auf Robert zu überwinden (2:203, 208). Die Kinder kamen nie darüber hinweg, dass sie von ihrem Vater getrennt wurden.

Unglücklicherweise hat diese Geschichte Parallelen zu den Geschehnissen in meiner Familie. Meine Mutter war 1927 in Analyse bei Anna Freud. Anna erklärte ihr, dass sie den sexuellen Kontakt zu Reich einstellen solle, weil er „verrückt“ sei. Anna sagte meiner Mutter, dass sie kein zweites Kind bekommen solle. (Das bin ich.) Ich glaube, dass Anna – eingeweiht in die Ehestreitigkeiten meiner Eltern – versucht hat, Freud gegen Reich zu beeinflussen, genauso wie es Federn getan hat. Meine Mutter widersetzte sich Anna und ging 1931, kurz nachdem sie sich getrennt hatten, wieder zu meinem Vater zurück. Ich glaube, dass Anna ihr diese Illoyalität nie verziehen hat, so dass meine Mutter danach immer kämpfen musste, um im engeren Kreis der Wiener Analytiker bleiben zu können.

Meine Schwester, aber glücklicherweise nicht ich, wurde in Analyse zu Berta Bornstein geschickt, die in Supervision bei Anna Freud war (obgleich das Young-Bruehl bezweifelt). Es gab niemand anderen, der als Supervisor in Frage gekommen wäre. Meine Schwester erzählte mir, dass die Analyse mit Berta darin bestanden habe, dass sie wieder und wieder betonte, dass ihr Vater „verrückt“ sei. Das war die Analyse.

In Erinnerung habe ich eine Bergtour – meine Schwester muss damals um die zwanzig Jahre alt gewesen sein – mit meiner Mutter, Berta Bornstein und meiner Schwester. Berta Bornstein fing wieder an: „Nun siehst du, dass er verrückt ist. Erkennst du das nicht?“ Schließlich spuckte meine Schwester sie an, so verärgert war sie. Um zur Analogie der Situation der Burlinghams zurückzukehren: Berta Bornstein schrieb an meinen Vater einen Brief (unveröffentlichter Brief von Wilhelm Reich an Annie Reich, Bornstein zitierend, 1934), in dem sie ihm mitteilt, dass er sich von seinen Kindern fernhalten soll, auch nicht schreiben oder anrufen soll, weil das Evas Analyse beeinträchtigen würde.

Er, der ehrenwert und naiv war und keinen Hang zum Manipulieren hatte, akzeptierte dies. Er meinte sogar: „Ich möchte mich in die Analyse nicht einmischen“. Das hatte eine sehr schädliche Auswirkung auf mich, da mein Vater für etliche Jahre aus meinem Leben verschwand. Und ich hatte keine Ahnung, warum. Diese Erfahrung verursachte auch spätere Trennungen.

Um zusammenzufassen: Anna Freud hatte viele neurotische, persönliche Motive, die sie antrieben, Wilhelm Reich loszuwerden und gleichzeitig machte es ihre Persönlichkeit den anderen Analytikern schwer, mit Wilhelm Reich ein ungestörtes Verhältnis zu haben. Im gegebenen politischen Rahmen dieser Zeit war es für diese beiden Menschen unmöglich einen Zusammenprall zu vermeiden, was letzt-lich zu Reichs Vertreibung aus der Psychoanalyse geführt hat.

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Anhang:

1) Young-Bruehl E. Anna Freud: a biography. New York: Summit Books; 1988.
2) Burlingham M. The last Tiffany: a biography of Dorothy Tiffany Burlingham. New York: Atheneum; 1989.
3) Fallend K. Wilhelm Reich in Wien: Psychoanalyse und Politik. Wien: Geyer Edition; 1988.
4) Fallend K., Nitzschke B. Der Fall Wilhelm Reich: Beiträge Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Ed. (Hg.) Karl Fallend & Bernhard Nitzschke. Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch #1285; 1997.
5) Fenichel O. Vol. I, 119 Rundbriefe: (1934-1945). Ed. Johannes Reichmayer & Elke Mühlleitner. Frankfurt/Main und Basel: Stroemfeld; 1998.
6) Sharaf M. Fury on earth: A biography of Wilhelm Reich. New York: St. Martins Press; 1983.
7) Sterba R. Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers. Frankfurt/Main: S. Fischer; 1985.
8) Reich W. Character analysis: Third Edition. New York: Orgone Institute Press; 1949.
9) Steiner R. It is a new kind of diaspora. Int. R. Psycho-Analysis 1989; 16:35-72.
10) Jones E. Vol. III, The life and work of Sigmund Freud. New York: Basic Books;1957.
11) Roazen P. Helene Deutsch: A psychoanalysts life. 2nded. New Brunswick: Transaction Publisher; 1992.
12) Sterba R. Character resistance. Psychoanalysis Quaterly 1951; 20:72-76.
13) Deutsch H. Confrontations with myself: an epilogue. New York: WW Norton & Co. 1973.
14) Bergman,M. The historical roots of psychoanalytic orthodoxy. Int. Journal of Psychoanalysis. 1997; 78:69-86.
15) Freud S. The complete letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fließ: 1887-1904. Ed. Jeffery Masson. Cambridge MA: Belknapp Press; 1985.
16) Heller P. A child analysis with Anna Freud. Madison CT: International Universities Press; 1990.

Anmerkung zur Autorin:

Lore Reich-Rubin promovierte an der NYU/College of Medicine und schloß ihre Fachausbildung als Psychiaterin am Albert Einstein Medical Center Bronx, ab. Sie graduierte am New York Psychoanalytic Institute und ist Mitglied der American Psychoanalytic Association und der Psychoanalytischen Gesellschaft in Pittsburgh und im dortigen Institut Lehrbeauftragte. Vor kurzem hat sie ihre Arbeit als klinische Assistenzprofessorin für Psychiatrie an der Medical School der University of Pittsburgh zurückgelegt.

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