Zurück zu Bukumatula 1999

Bukumatula 1/1999

Das Leben, das ich führen will, muß erst erfunden werden

„Vortrag“ zum Vortrag von Christa Falkenstein im „Sommercamp“ am 25. Juli 1998:
Beatrix Teichmann-Wirth:

Heute Abend werden wir Christa Falkenstein kennen lernen. Christa lebt seit Frühjahr dieses Jahres im ZEGG und hat sich davor im EOS-Netzwerk in Hannover engagiert; und jetzt engagiert sie sich im ZEGG in der Küche und im politischen Salon. In ihrem Vortrag wird sie ihre persönliche Geschichte mit dem ZEGG und den politischen Gedanken des ZEGG darstellen.

„Das Leben, das ich führen will, muss erst erfunden werden.“

Guten Abend. Jetzt ist das Sommercamp schon 24 Stunden alt, und ich denke, dass die meisten von Euch auch schon so einen gesteckt vollen Tag gehabt haben, wo das Zegg sich vorgestellt hat, wo die ganz unterschiedlichsten Menschen das von ganz unterschiedlichen Seiten gesehen haben. Ich will das jetzt irgendwie bündeln und mit meiner persönlichen Erfahrung und meinen Gedanken über das Zegg zusammenbringen. Es gibt so einen Leitsatz für den Vortrag, der gefällt mir gut und der heißt: „Das Leben, das ich führen will, muss erst erfunden werden.“ Und ich hoffe, dass Ihr durch dem Vortrag ein bisschen versteht, warum ich glaube, dass das Zegg ein Ort ist, der diese gewünschte Lebensweise zwar noch nicht unbedingt anbietet, aber die besten Chancen für ihre Erfindung anbietet.

Also zunächst zu meiner persönlichen Geschichte: Ich habe das Projekt Meiga vor jetzt etwas mehr als drei Jahren kennengelernt, nicht hier im Zegg, sondern an einem anderen Ort, auf Lanzarote, und in der darauffolgenden Zeit wurde das Zegg für mich immer wieder der Ort in Deutschland, wo man die Verbindung halten kann zu diesen Gedanken. Was mich immer wieder hierhergezogen hat, auch wenn ich es manchmal nicht ganz leicht fand, das will ich ganz kurz an so einem Erlebnis an einem meiner ersten Wochenenden erzählen.

Da fand ich mich plötzlich morgens in der hier üblichen Sonntagsmatinee sitzend mit Tränen in den Augen, in so einem richtig aufgeweichten inneren Zustand. Und ich habe überhaupt nicht gewusst warum, ich war ja schließlich nicht unglücklich, also es gab keinen Grund dafür. Ich weiß noch genau, dass es eine Matinee war, in der es um das Thema ging, dass die ganze Welt aus Energievorgängen aufgebaut ist, alles, auch das, was uns hier als fester Körper erscheint.

Und ich konnte da zuhören und habe alles verstanden, obwohl solche naturwissenschaftlich-technischen Vorträge und Gedankengänge nicht unbedingt mein Heimatplatz sind. In der Nacht vor dieser Matinee war ich sexuell mit einem Mann auf eine ganz innige und schöne Art und Weise zusammen gewesen. Und vor der Matinee hatte, wie das auch oft so ist, der Chor gesungen und ich wusste, dass ich die Berührung, die dadurch in mir entstanden war, nicht als sentimentale Regung abtun musste, sondern, dass sie ihren Platz haben durfte.

Das heißt kurz zusammengefasst, ich habe an dem Wochenende das erlebt, was der Zegg-Prospekt meint, wenn da geschrieben steht, das Zegg ist ein Platz in dem der Mensch als „Ganzes“ landen kann. Und das machte die Tränen in den Augen, das Gefühl, hier kann ich ankommen als Ganzes mit Geist und Herz und Sex und Seele. Und das ist ja ungeheuer viel. In den drei Jahren in Hannover war dann das Zegg immer wieder ein Ort für mich, um sich mit den Gedanken, die mir wichtig waren zu verbinden. Vor allem mit dem Gedanken der Gemeinschaft, Gemeinschaftsbildung, der freien Liebe und den politischen Gedanken, die ja einen wichtigen Hintergrund des Zegg bilden.

Es war für mich auch immer wieder ein Ort, wo ich auftanken konnte, wo es fast so was wie eine Supervision gab, zu dem, was man erlebt hat, was man gemacht hat und wo ich immer wieder andere getroffen habe, die das gleiche taten und wo viel Verbindung, Freundschaft entstanden ist, weil man die gleichen Themen, die gleichen Fragen teilte. Es ging immer wieder darum, wie ich das, was ich hier höre und was mir hier gefällt, in meinem eigenen Leben umsetzen kann. Wie kann ich daran weiter arbeiten in der Stadt, da wo ich bin.

Solche Fragen stellen sich wahrscheinlich einige von Euch, oder sie kommen noch auf während des Sommercamps. Die muss natürlich jeder für sich beantworten, dazu kann ich ja nichts Allgemeingültiges sagen. Trotzdem sage ich ein paar Sätze zu meinen eigenen Antworten. Meine Antworten hatten viel zu tun mit meiner Mitarbeit im EOS, diesem Stadtzentrum in Hannover, das heißt auch damit, dass ich mich mit diesen Gedanken von Gemeinschaft und freier Liebe immer wieder selber veröffentlicht habe.

Diese Arbeit war ein Punkt und meine Antworten haben viel zu tun gehabt mit dem Liebesthema, von Anfang an eigentlich. Einmal gab es da für mich als damals vierzigjährige Frau so einen neuen sexuellen Aufbruch, fast wie so ein zweites Mal, nachdem ich das erste Mal so mit sechzehn, achtzehn die Sexualität entdeckt hatte – es gab so einen zweiten Aufbruch, mich selbst noch einmal als sexuelles Wesen zu entdecken, in einem Alter, wo ja vielfach Frauen in unserer Gesellschaft glauben, dass sie, was das zumindest angeht, bereits zum alten Eisen gehören oder zumindest, oder auf jeden Fall mal für jüngere Männer nicht mehr interessant sind.

Und der zweite Punkt beim Liebesthema: Meine Antworten haben etwas zu tun gehabt mit einer neuen Art, meine Liebesbeziehung zu definieren, wo es dann nicht mehr mein Ziel war, einen Mann ganz für mich alleine zu haben, sondern gerade dadurch, dass es für ihn auch andere Frauen und für mich auch andere Männer gab, etwas darüber zu verstehen, was er eigentlich für einer ist, was er braucht und sucht und was ich für eine bin, was ich brauche und suche.

Und meine Antworten haben viel damit zu tun gehabt, wieder in eine Art persönliche Auseinandersetzung mit mir selber zu kommen. Die hat eigentlich da vor drei Jahren noch mal ganz neu angefangen. Damit bin ich auch bei einer anderen wichtigen Funktion, die das Zegg für mich gehabt hat und immer noch hat. Es ist für mich ganz stark ein Ort auch der persönlichen Entwicklung. Oft genug war es mir hier mulmig zumute unter den Blicken der anderen, wenn man so hier über den Platz geht oder irgendwas tut oder was sagt, und ich habe mich gefragt, wohin eigentlich meine Souveränität hin verschwunden ist, also die Souveränität, die man so hat, wenn man, was ich lange getan habe, in einer gehobeneren beruflichen Position arbeitet.

Das ist eine Souveränität, die gewinnt man einfach, weil es so ein Stützkorsett gibt von Rolle, Verhaltenskodex, institutioneller Rahmen, wo man so drinsitzt, ja, das hat man dann hier alles nicht mehr, das ist ein bisschen entblößend. Klar, dass es um eine andere Art, um innere Souveränität geht. Eigentlich muss man sagen „Substanz“, und die kann nicht verliehen werden. Auch im Forum oder in den Gruppen gab es immer wieder Situationen, wo ich mich selbst wieder erkannt habe in der Darstellung der anderen und wo auch die anderen in meinen Auftritten Dinge gesehen und erkannt haben, die ich vielleicht lieber nicht gezeigt hätte.

Dann kommt so eine Frage, weiß ja eh‘ schon jeder, was mit mir los ist; das ist einem natürlich nicht immer sympathisch. Und dann hat man das eben, das Gesehenwerden, das will man ja schließlich auch, und dann ist es anstrengender, als man gedacht hat. Bei mir zumindest hat es oft zu so was Mulmigem geführt oder zu einer Aufgewühltheit, die ich sonst so nicht kenne. Ich werde dann meistens erstmal schüchtern, bei anderen passiert genau das Gegenteil, ist auch klar, und das rückt sich dann zurecht.

Auf jeden Fall habe ich ganz schnell begonnen, auf die Menschen im Zegg zu projizieren, das heißt die ganzen Wünsche nach Ankommen, auch nach Führung, nach Menschen, die einen bei der Hand nehmen und einem sagen, wie das Leben geht, was unsere Eltern meistens nicht so richtig konnten, diese ganzen Sehnsüchte auf die Leute hier zu werfen. Wenn man das macht, statt sich nüchtern anzusehen, was fehlt noch, dann nimmt man wahrscheinlich irgendwann übel, dass man das alles nicht kriegt, was man sich erhofft hat; und dann hat man vergessen seinen eigenen Beitrag zu leisten. Denn ein Projekt wie das Zegg lebt ja auch von dieser Auseinandersetzung, das kann ja auf Dauer ohne ein lebendiges Außen, ohne diesen Austausch nicht bestehen.

Ich kann mich jedenfalls an diese Unsicherheiten und an diese verschiedenen Durchläufe, die ich hier erlebt habe, und dass ich dann manchmal gar nicht kommen wollte, an das alles kann ich mich noch gut erinnern. Ich habe jedenfalls gedacht, dass man nicht umsonst von „Durchläufen“ spricht, und dass das Zegg wahrscheinlich ein Durchlauferhitzer ist. Auf jeden Fall ist es ein Katalysator oder ein Vergrößerungsglas für die Themen, die man sowieso schon hat, das wird ja hier nicht erzeugt. Jetzt kommt ein kurzes Zitat und damit der Übergang vom persönlichen zum allgemeinen Teil: „In alten Zeiten gab es besondere Treffpunkte, um Freundschaften zu pflegen, um Erfahrungen auszutauschen, um Bildung weiterzugeben, um sich zu amüsieren, um miteinander anzubändeln und um sich mit den Kräften der Natur zu verbinden.

Nach der nordischen Göttin der Fruchtbarkeit und der Weisheit Aka nannte man diese Treffen zu ihren Ehren Akademia.“ Davon habe ich hier immer wieder etwas erlebt und daher wäre das einmal eine mögliche Antwort auf die Frage „was ist das Zegg?“. Wahrscheinlich ist es eine unterstützende Antwort, denn sie spricht auch die Zielgestalt dieses Ortes an, und deshalb gefällt sie vielen auch so gut und wird öfter zitiert. Das sind Sätze von Heide Göttner-Abendrot. Bei meiner Vortragsvorbereitung, auf der Suche nach Gedanken und Anregungen, habe ich die Zegg-Magazine der letzten Jahre durchgeblättert, und ich habe festgestellt, dass so über den Daumen gepeilt in jedem zweiten eine Reflexion über das Zegg drinnensteht und dass diese Reflexionen immer wieder neue Definitionen liefern.

Auf jeden Fall mehr, als man für einen Vortrag zu dem Thema „Was ist das Zegg?“ gebrauchen kann. Das Zegg ist ein Gemeinschaftsprojekt, ein Kulturmodell, ein Forschungslabor, ein internationaler Treffpunkt, ein Vernetzungspunkt; das Zegg ist ein Studienort für neue Lösungen der menschlichen Grundfragen, ist ein Platz für die Liebe, ist eine Erfahrungsschule. Das Zegg ist ein politischer Ort, ein Tagungszentrum, eine Sende- und Empfangsstation, eine Aufklärungs- und Informationsstätte und, und, und. Es gibt noch mehr, ich wollte aber nicht alle aufzählen. Augenfällig finde ich jedenfalls, dass es bei Zegg ein Innen und ein Außen gibt.

Es gibt die Gemeinschaft der Bewohner und es gibt all die nach außen gerichteten Aktivitäten: die Seminare, die Tagungen, Veröffentlichungen, die Bücher, die Öffentlichkeitsarbeit, alles was so dazugehört. Warum beides, Innen und Außen, eng zusammengehört und warum das Zegg gerade dadurch, durch diese Verbindung, für mich ein politischer Ort ist, dazu will ich jetzt noch was sagen. Dabei geht es nicht um alle Themen mit denen man sich hier im Zegg beschäftigt – von Kunst, über Ökologie, Technologie, Gartenbau bis zu Pädagogik und Spiritualität, sondern es geht um die, die ich für ausgesprochene Spezialitäten des Zegg halte: es geht um die Forschungsschwerpunkte sozusagen, und damit meine ich Gemeinschaftsaufbau und freie Liebe – ganz zufällig die Themen der beiden Sommercampwochen – das hat sich getroffen.

Das Zegg ist ein Forschungsort für die Grundfragen des Lebens. Zum Beispiel: wie leben Männer und Frauen zusammen in Liebe und erotischer Atmosphäre ohne Gewalt, ohne Eifersucht, ohne Clinch, auch ohne Resignation und Einsamkeit. Oder wie kann der Mensch mit der Natur und ihren Kreaturen zusammenleben ohne Zerstörung, ohne Ausbeutung, ohne Gewalt. Oder: Wie kann der Mensch eine neue Religiosität aufbauen ohne Dogma, ohne Denkverbot, ohne Kolonialismus und ohne Missionierung. Oder und wie können unsere Kinder aufwachsen ohne emotionale Ausbeutung und ohne Abhängigkeit.

Zu solchen Fragen geschieht im Zegg eine Art Selbstversuch. Das heißt, wie es das in der Wissenschaft immer schon bei engagierten Pionieren gegeben hat, machen auch die Menschen, die hier leben, eine Art Selbstversuch. Welche Bedingungen sind notwendig, damit eine Entwicklungsenergie entsteht und dauerhaft erhalten bleibt? Wie muss ein Alltagsleben gestaltet sein, wie muss die Arbeit gestaltet sein, wie die Ernährung usw., damit diese notwendige Energie nicht einfach aufsteigt und wieder verschwindet.

Deshalb ist es notwendig, immer eine innere Bewegung hier am Platz zu haben, deshalb ist hier gerade – nur zum Beispiel – ein Gemeinschaftskurs zu Ende gegangen, deshalb zieht man hier öfter mal um, deshalb wechselt man seine Arbeit, seine Ernährung oder alles gleichzeitig. Tatsächlich ist es ja so, dass man sich in diesen Grundfragen von Gemeinschaft – Macht und Sex und Geld und Liebe – das sind wahrscheinlich die wichtigsten, dass man sich da erstmal selbst zum Gegenstand der Forschung machen muss.

Wir kennen einige Antworten, aber wir wissen nicht alle Bestimmungsstücke dieser Antwort, das heißt also, dass da der Lehrer sich selber unterrichten muss oder der Heiler sich selber heilen muss, der Forscher muss sich erst mal selber zum Gegenstand seiner Beobachtungen und Experimente machen. Das Zegg kann auf Dauer nur ein Ort der Forschung und der Vermittlung dieser Ergebnisse sein, wenn es im inneren von einer lebendigen Gemeinschaft getragen ist und wenn es die Ideen, die es kommuniziert, selbst ständig erprobt und weiterentwickelt.

Wenn man innerlich der Arroganz erliegt zu denken, man hätte es schon, oder man sei mit irgend etwas schon fertig, dann wird man auch im Äußeren funktionärshaft, dann wird man unglaubwürdig. Man erliegt dann einem typischen kleinfamiliären Denken. Übrigens muss man nicht im Zegg wohnen, um auf so eine Idee zu kommen, dass man’s schon hätte. Also die Art der Fragen, diese Grundfragen, über die ich gesprochen habe, die sind ein wichtiger Grund dafür, warum Innen und Außen zusammengehören. Das forschende Innen ist eine Voraussetzung, sonst kann man nichts nach außen vermitteln, sonst wird’s leer.

Außerdem sehe ich ganz viele der Themen, mit denen sich das Zegg beschäftigt unter der verbindenden Überschrift „Öffnung“. Es geht ganz vielfach und immer wieder um Öffnung. Das muss auch so sein, es gibt keine geschlossenen Systeme auf der Welt. Es geht um die Öffnung des einzelnen mit seinen persönlichen Themen in die Gemeinschaft hinein, auch mit den Themen Liebe und Sexualität. Damit ist keine Öffnung um ihrer selbst willen gemeint, weil Öffnung einfach gut, oder Selbsterfahrung spannend ist, oder sonst irgendwas, es geht um eine Öffnung, die aus dem Wissen heraus kommt, dass die Themen des einzelnen nicht nur für das Individuum stehen, sondern dass sie umfassende Themen sind, geschichtliche Themen, universelle Themen.

Diese Öffnung und diesen Blickwechsel zu vollziehen – von der Schau auf die eigenen Themen als was ganz Privates zu dem Blick auf die eigenen Themen als was Geschichtliches, was Umfassendes – ist ganz einfach eine persönliche Entscheidung, wie man die Dinge betrachten möchte. Allerdings ist es eine Entscheidung, mit der man sich einiges einhandelt. Was ich damit meine, will ich kurz am Thema freie Liebe erläutern und das gilt für andere Themen in ähnlicher Weise. Freie Liebe ist ja nicht bloß in erster Linie eine Alternative zur bürgerlichen Ehe – das ist sie nebenbei auch, aber sie ist vor allem eine Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft.

Denn die bürgerliche Gesellschaft beruht genau auf diesem privaten Denken, und zur freien Liebe gehört ein universelles Denken. Das heißt also, freie Liebe ist eine Daseinsform, bei der man vor der interessanten Aufgabe steht, Schwierigkeiten beim Sex, in der Liebe, mit der Eifersucht, mit all diesen Dingen nicht mehr als private Neurose zu sehen oder auf sein persönliches Schuldkonto buchen muss, sondern sie im Sinne eines geschichtlichen Kategorienwechsels sehen kann. Dieser Blickwechsel auf das, was ich in der Liebe an Schönheit und Erfüllung, aber auch als Sehnsucht und Scheitern erlebe, der wirkt auch unmittelbar auf die Gemeinschaft zurück.

Wenn ich mich selbst mit diesem geschichtlichen Blick betrachte und mich nicht mehr mit schlechtem Gewissen und Schuldfragen abmühe, dann weitet sich sofort auch mein Blick auf die anderen, die ich dann auch nicht mehr ganz persönlich als erfolgreich, attraktiv oder blöd betrachte, vielmehr kann ich verstehen, welches Thema sich da personifiziert – bei mir wie auch bei den anderen. Wenn man diesen Blickwechsel, also diese Öffnung vollzieht, dann hört man auf, sich für seine eigenen Neurosen zu geißeln und sie als privates Versagen zu betrachten.

Allerdings kann man dann auch nicht mehr denken, dass irgend etwas damit getan wäre, dass man ein schlechtes Gewissen hat, oder dass man sagt, es geht ja bloß um mich, sondern man handelt sich mit diesem Blickwechsel Verantwortung ein für das, was man tut, weil man weiß, was ich für mich löse, löst sich auch für andere und wo ich blockiere, da blockiert es auch die anderen. Das ist auch in einer Gemeinschaft sicherlich eine Energiefrage.

So wie sich der einzelne öffnet mit seinen Themen und sich selbst zum Forschungsgegenstand macht mit der Frage, für welches Thema stehe ich hier, so betrachte ich auch die Gemeinschaft als einen größeren Organismus, der sich selbst zum Forschungsgegenstand macht, also eine Stufe größer geweitet, vom Individuum auf die Gemeinschaft, kommt derselbe Blickwechsel, dasselbe Thema noch mal. Bei Zegg heißt dieser Forschungsgegenstand kummunitäre Gemeinschaft. Die Bildung oder die Erfindung einer solchen Gemeinschaft, denn das gibt es wahrscheinlich noch gar nicht auf der Welt, ist auf jeden Fall eine hohe innere Aufgabe und es ist eine politische Aufgabe.

Diese Aufgabe bedeutet für jeden einzelnen ein Ich zu entwickeln, das aus der Wahrnehmung und der Anteilnahme handelt. Das ist etwas ganz anderes als ein Ego, das aus der Emotionalität heraus handelt – einmal so und einmal anders. Kommunitäre Gemeinschaften definieren sich weniger über die Gemeinschaft selbst, als über die einzelnen, die sie bilden. Diese Einzelnen müssen Verantwortung dafür annehmen, was um sie herum passiert und das was da passiert, was sie wahrnehmen, verbindlich in die Kommunikation einbringen; und man muss immer wieder Orte finden, von denen aus man geistig auf die Gemeinschaft und die eigene Aufgabe darin schauen kann. Für mich steht dem Begriff der kommunitären Gemeinschaft die charismatische Gemeinschaft gegenüber, wo die einzelnen sich um einen Führer oder einen Guru scharen.

Ich glaube, dass solche Gemeinschaften durch Emotionen zusammengehalten werden und dass sie letztlich in ihrer Grundstruktur nichts anderes sind als eine Serie von Zweierbeziehungen, nämlich die Beziehung jedes einzelnen zu seinem Führer oder seinem Guru, also im Prinzip gleichartige Zweierbeziehungen. Solche Gemeinschaften führen individuell in die Abhängigkeit und kollektiv ist das letzten Endes Faschismus. Das Zegg hat die Aufgabe, eine andere Form lebendiger Gemeinschaft zu entwickeln, die für jeden einzelnen den höchstmöglichen Freiraum, Sinn, Verantwortung, Freundschaft und Liebesmöglichkeit bietet. Mit diesem Thema Gemeinschaftsbildung und Forschung ist das Zegg also zutiefst ein politisches Projekt. Es macht die bisher privaten Themen von Sex und Liebe, Zusammenleben und Kommunikation öffentlich.

Diese Themen öffentlich zu machen, das heißt politisch zu bearbeiten, heißt, sie in einem allgemeingültigen, verallgemeinerbaren Sinn zu bearbeiten und in einem Kulturmodell zusammenzuführen. Mit einem solchen Vorhaben kann man nicht an irgendeiner Grundstücksgrenze haltmachen oder bei einer Unterscheidung zwischen Bewohnern und Gästen, da gehören Innen und Außen auf jeden Fall zusammen, sonst hätten da Inhalt und Form nichts miteinander zu tun.

Das Lebensmodell, das im Zegg aufgebaut wird, basiert also deshalb auf einer Gemeinschaft, weil Gemeinschaft ein von Menschen geschaffenes größeres Biotop ist, das genau diesem Ziel dient, nämlich den Menschen aus seinem persönlichen, alltäglichen, privaten Denken herauszuführen. Nur in der Gemeinschaft kann man diesen größeren Blick üben, den einzelnen stellvertretend für ein Thema für etwas Größeres zu sehen.

Zum Schluss noch mal die ganz politische Seite: Das Zegg ist ja als politischer Ort eine Aufklärungs- und Informationsstätte mitten in Deutschland und ich denke, das ist richtig so. Das Zegg kann und soll keine Insel oder Klause sein, das ist kein Rückzugsort, sondern ein ausgesetzter Ort und ich glaube, dass das vom inneren Sinn dieses Platzes her auch stimmt. Man könnte sonst das Ziel, diese Gedanken zu vermitteln und drumherum ein wachsendes Netzwerk aufzubauen, dann nicht verfolgen. Vermitteln kann man ja nur etwas, wenn man außer dem eigenen Standpunkt auch den Standpunkt, die Umwelt, die ganze Gedankenwelt des anderen kennt.

Wenn man das nicht kennt, führt man letztlich ein Selbstgespräch. Und deshalb ist es richtig, dass das Zegg mittendrin ist, auch da geht es ja um Verbundenheit und Öffnung. Natürlich ergeben sich daraus immer wieder Spannungen. Es ist ein Spagat zwischen bundesdeutscher Wirklichkeit und Vision – es knirscht zwischen Alltag und Utopie. Ich denke aber, die Aufgabe des Zegg ist es, dies als sein politisches Thema zu verstehen, das heißt eben es nicht zu beklagen, sondern es anzunehmen. Dem Zegg geht es da wie den meisten einzelnen Menschen, wie den meisten Individuen: man bewegt sich in der Spannung zwischen den kleinen intimen Träumen, die man für sich selber hat und den großen geschichtlichen Visionen.

Das Zegg als politischer Ort ist eben eine Sende- und Empfangsstation. Es sendet Bücher und Seminare, Tagungen, Briefe Diskussionen, Talkshows und natürlich auch Menschen, die für diese Ideen stehen. Und es empfängt Informationen und Erfindungen über Lebenswissen und Technologien, Bausteine alter und neuer Kulturen und auch wiederum Menschen, die dieses Wissen verkörpern und dafür stehen.

Das Zegg als Schnittstelle zwischen Senden und Empfangen steht also notwendigerweise in so einer Spannung zwischen der Aufgabe, die Botschaft so zu senden, dass der Empfänger sie dechiffrieren kann und der Notwendigkeit diese Botschaft nicht zu schmälern, nichts zurückzunehmen und nichts ungesagt zu lassen, was gesagt werden muss.

Das Zegg ist also ein politischer Ort. Nur so gesehen machen diese ganzen Grenzgänge und Experimente und Spannungen, über die ich gesprochen habe einen Sinn; man könnte es sonst weiß Gott gemütlicher haben. Aber ich denke, wir sind – und wir sollen es auch sein – Weltverbesserer, nicht als Schimpfwort, auch nicht als Zeichen für Weltfremdheit und Spinnerei, sondern weil es eine Notwendigkeit gibt, die Welt zu verbessern.- Danke.

Wer sich näher für das ZEGG interessiert:
Forschungs- und Bildungszentrum GmbH
Rosa-Luxemburg-Straße 89
D-14806 Belzig
Tel 0049 33841/595 10, Fax -12

Bücher:
Duhm Dieter: Aufbrauch zur neuen Kultur. Von der Verweigerung zur Neugestaltung. Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative. Verlag Meiga 1993
Duhm, Dieter: Der unerlöste Eros. Verlag Meiga 1991
Lichtenfels, Sabine: Der Hunger hinter dem Schweigen. Annäherung an sexuelle und spirituelle Wirklichkeiten. Verlag Meiga 1996
Lichtenfels, Sabine: Weiche Macht. Perspektiven eines neuen Frauenbewusstseins und einer neuen Liebe zu den Männern.
Verlag Berghoff and Friends, 1996a

Zurück zu Bukumatula 1999