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Bukumatula 4/1996

 

Vegetatives Nervensystem und Energetische Medizin, Teil 1

Bioenergetische und psychosomatische Ursachen von Gesundheit und Krankheit
Heike S. Buhl:

 

EINLEITUNG

Der vorliegende Artikel entstand aus einem Vortrag im Januar 1991. Ich überlegte damals, was ich zum Thema Körpertherapie aus meiner täglichen Arbeit als Ärztin mit den Reichschen Methoden besonderes beizutragen hätte. Falldarstellungen, emotionale Entladungstechniken, theoretische Konzepte der Arbeit – es schien alles richtig, aber eben nicht mein Thema. Daher versuchte ich mich zu erinnern, wie ich eigentlich „zu Reich“ gekommen war.

Ich war damals mitten in meinem Medizinstudium und hatte jahrelang alle möglichen Krankheitsbilder und Symptome auswendig gelernt. Auf die Frage, wie Krankheit eigentlich entsteht, wurde in meinem Studium nie eingegangen. Wir beschäftigten uns nur mit dem „Schaden“ und wie man ihn am besten repariert – ein bißchen wie bei einem kaputten Auto, das nicht mehr funktioniert, weil die einzelnen Teile eben nicht so gut gebaut sind. Bei vielen Krankheiten fand sich als Erklärung der Satz „Ätiologie ungeklärt“ oder „Autoimmunkrankheit“. Die großen Fragen – was eigentlich verbirgt sich hinter dem Ausdruck „Autoimmunkrankheit“, wie entsteht Krebs, wie kommt es zu Herz-Kreislauf-Krankheiten, – blieben ohne Antwort.

Und die Alternativmedizin schien auf den ersten Blick auch nicht so überzeugend – statt Pillen die Nadel, die Hochpotenz oder das Heilkraut, alles nur zu oft im Rahmen einer Allgemeinarztpraxis ohne ausreichende Kenntnis des zugrundeliegenden Denksystems angewandt oder auch nur wieder Symptomkuriererei mit weniger gefährlichen Mitteln an Stelle von Ursachenforschung. Die Psychosomatiker ließen sich als Randwissenschaft ausgrenzen und führten ihrerseits nun wieder alles auf die Psyche zurück, ohne ein einheitliches Konzept für Psyche UND Soma anzubieten.

Dies fand ich erst, als ich mich mit den Schriften von Wilhelm Reich beschäftigte. Er sprach von ungehinderter Pulsation, der Bedeutung der Sexualität, funktioneller Identität von Körper und Psyche. Ich blieb „bei Reich hängen“, einem Konzept, das den Menschen auch in seinem sozialen Umfeld sah und ein radikal psycho-somatisches Modell anbot, in dem nicht Körper auf Psyche reduziert war oder umgekehrt.

Ich möchte hier daher nicht soviel über Körpertherapie an sich schreiben, sondern über Reichs Konzept von Gesundheit und Krankheit. Unter Gesundheit verstehe ich dabei nicht nur Freiheit von körperlichen Symptomen, sondern ebenso psychisches Wohlbefinden. Ich möchte ausführen, auf welche auch in der Schulmedizin bekannten Konzepte sich das Reichsche Modell stützt und dabei insbesondere die Funktion des vegetativen Nervensystems erläutern.

Ich werde dann Reichs Begriff von Gesundheit als ungehinderter Pulsation und den Begriff der „Biopathie“ erläutern. Anhand einzelner Krankheitsbilder werde ich dann Störungen des vegetativen Nervensystems näher beschreiben und schließlich aus-führen, mit Hilfe welcher Techniken wir in der Körpertherapie auf das vegetative Nervensystem, die morphologische Grundlage der Pulsations-vorgänge, Einfluß nehmen können und damit ein gesundes Funktionieren des Gesamtorganismus Mensch anregen und unterstützen können.

VEGETATIVES NERVENSYSTEM

Begriff des vegetativen Nervensystems

Wilhelm Reich beschäftigte sich anläßlich seiner Arbeiten zur Sexual-ökonomie in den Jahren 1934 bis 1938 mit der Erforschung der biologischen Grundlage von Sexualität und Angst. Dabei erkannte er die zentrale Bedeutung des vegetativen Nervensystems als Schnittstelle körperlicher und emotionaler Vorgänge: auf der einen Seite steht es in engem Zusammenhang mit den körperlichen Organfunktionen, auf der anderen Seite ist es über die Blut- und Plasmaströme Vermittler für das Empfinden von Emotionen, und es ist auch über die Verschaltungen des Zentralen Nervensystems mit den für Gefühlsempfinden verantwortlichen Hirnzentren verbunden.- Die Körpertherapie ist nach Reich Arbeit am körperlichen und seelischen Apparat zugleich. Die seelischen Energien werden aus der charakterlichen und muskulären Panzerung befreit.

Aufgrund der großen Bedeutung des vegetativen Nervensystems möchte ich an dieser Stelle etwas näher darauf eingehen, was das denn eigentlich ist, wie es funktioniert und was es mit Gesundheit und Krankheit zu tun hat.

Das vegetative Nervensystem ist ein Teil des Zentralen Nervensystems (ZNS) des Menschen. Dieses gliedert sich im wesentlichen in drei Teile, deren Funktionen eng miteinander verknüpft sind. Ein Teil regelt die Tätigkeit der willkürlichen Motorik, der Reaktion des Muskelsystems auf verschiedene Umwelteinflüsse; dieser Teil wird motorisches Nervensystem genannt. Ein anderer Teil verarbeitet die Informationen aus den Sinnes-organen, wie z.B. Auge, Nase, Tastsinn, zu bewußten Empfindungen. Dies ist das sogenannte sensorische Nervensystem.

Ein dritter Anteil des Nervensystems, mit dem wir uns hier eingehender beschäftigen werden, dient schließlich dazu, speziell die Funktionen innerer Organe aufeinander abzustimmen. Dieser Teil des ZNS wird als vegetatives Nervensystem bezeichnet. Es hat seinen Ursprung im Hirnstamm und Rückenmark und umfaßt die Nerven, die die glatte Muskulatur der inneren Organe, das Herz und die Drüsen versorgen. Die Regelkreise dieses vegetativen Nervensystems sind eng mit denen der beiden anderen Anteile vernetzt; es gibt daher zahlreiche Wechsel-wirkungen zwischen den einzelnen Systemen.

Abb. 1: Aufbau des Nervensystems
Abb. 1: Aufbau des Nervensystems

Innerhalb des vegetativen Nervensystems lassen sich zwei Teilstrukturen voneinander abgrenzen, die man als Sympathikus und Parasympathikus bezeichnet. Diese beiden Strukturen ziehen von Rückenmark und Hirnstamm zu den inneren Organen und regulieren deren Tätigkeit, d.h., sie regen sie an oder hemmen sie. In Rückenmark und Hirnstamm haben Sympathikus und Parasympathikus unterschiedliche Ursprungsorte, und sie unterscheiden sich auch in ihrer Reaktion auf biochemische Überträgersubstanzen.

Das vegetative Nervensystem ist der willkürlichen Kontrolle weitgehend entzogen, daher wurde es auch als autonomes Nervensystem bezeichnet. So können wir die Tätigkeit der inneren Organe nicht willentlich steuern, also nicht zum Beispiel willkürlich das Herz schneller oder langsamer schlagen lassen.

Abb. 2 Ursprund und Innervationsgebiete peripherer vegetativer Nerven [1]
Abb. 2 Ursprund und Innervationsgebiete peripherer vegetativer Nerven [1]

Funktion des vegetativen Nervensystems

Die meisten inneren Organe werden sowohl vom Sympathikus als auch vom Parasympathikus innerviert. Die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems sind dabei beide gleichzeitig aktiv, jedoch in unter-schiedlichem Maße. Sie beeinflussen ein bestimmtes Organ gegensätzlich oder antagonistisch, d.h., das Überwiegen des einen Teiles kann eine Organtätigkeit hemmen, das Überwiegen des anderen Teils die Tätigkeit des gleichen Organs verstärken.

Die Erregung des einen Anteils des vegetativen Nervensystems führt dabei zwangsläufig zu einer Dämpfung des anderen Anteils, ohne daß dieser deswegen ganz abgeschaltet wäre. Es kann also, bezogen auf ein bestimmtes Organ, niemals gleichzeitig der Sympathikus und der Parasympathikus maximal tätig sein, sondern die Tätigkeit des einen überwiegt auf Kosten des anderen. Dies entspricht in der chinesischen Medizin der Vorstellung, wie die sogenannten „Yin- und Yang-Stadien“ der Organe ineinander verflochten sind.

Sehen wir uns die Tätigkeit des vegetativen Nervensystems, bezogen auf die glatte Muskulatur verschiedener innerer Organe etwas genauer an: die Wirkung des Sympathikus auf den Herzmuskel ist z.B. eine erhöhte Herz-frequenz, während ein Überwiegen des Parasympathikuseinflusses eine erniedrigte Herzfrequenz zur Folge hat. An diesem Beispiel sieht man deutlich, daß es keine gleichzeitige Erregung des Herzens durch Sym-pathikus und Parasympathikus geben kann, denn das Herz kann nicht gleichzeitig schnell und langsam schlagen.

Es gibt aber auch nicht nur die Option „Herzrasen“ oder „Herzstillstand“. Je nach Überwiegen des einen oder anderen Einflusses wird der Herzschlag schneller oder langsamer: die Impulse von beiden Anteilen werden so gegeneinander verrechnet.

Am Darm führt eine Reizung des Parasympathikus zu verstärkter Bewe-gung der Darmmuskeln, eine Reizung des Sympathikus dagegen unter-drückt die Darmbewegung. An der Bronchialmuskulatur führt die Aktivität des Parasympathikus zu einer Anspannung der Muskeln, während der Sympathikus eine Entspannung herbeiführt. Am Auge führt Reizung des Sympathikus zu einer Erweiterung der Pupille über die Aktivierung des dafür zuständigen Augenmuskels, Reizung des Parasympathikus zu einer engen Pupille.

Der Funktionszustand eines inneren Organs, das sympathisch und parasympathisch innerviert wird, hängt somit immer von der Balance der Aktivitäten zwischen Sympathikus und Parasympathikus ab. Es steht aberjeweils der, bezogen auf dieses Organ, erregende oder der hemmende An-teil des vegetativen Nervensystems im Vordergrund.

Tab. 1:Effekte bei der Aktivierung des Sympathikus und Parasympathikus <sup>[2]</sup>
Tab. 1: Effekte bei der Aktivierung des Sympathikus und Parasympathikus [2]

Wirkung des vegetativen Nervensystems auf den Gesamtorganismus

Bisher haben wir die Wirkungsweise des vegetativen Nervensystems auf einzelne Organe besprochen. Man kann jedoch auch, auf den Gesamt-organismus bezogen, von einer sympathikotonen oder parasympathiko-tonen Reaktionslage sprechen. Dabei werden die Organe nicht gesondert, sondern in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sie werden je nach Bedürfnis des Organismus im Dienst einer bestimmten Leistung aktiviert; sie wirken zum Erreichen dieser Leistung zusammen.

Reichs Definition von Gesundheit beruht auf der Fähigkeit eines Lebewesens, in rhythmischer Oszillation zwischen diesen beiden Zuständen – des Gerichtetseins auf die Umwelt und der Orientierung auf den inneren Zustand – hin- und herzuschwingen. Reich bezeichnet diese Grundfunktion als „Pulsation des Lebendigen“.

Reich definiert also Gesundheit nicht als Abwesenheit von Symptomen, Krankheiten oder Einschränkungen, sondern im Gegensatz dazu als eine „Funktion des Wechselspiels, der Wechselwirkung von Subjekt und innerer und äußerer Welt, als ständig sich verändernde pulsierende Auseinandersetzung des Organismus mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt „.[3]

Bei einem äußeren Streß zum Beispiel schaltet der Körper auf sog. „Abwehrverhalten“, bei dem der Sympathikus maximal aktiviert wird. Die Atmung wird gesteigert, die Pupillen sind erweitert; bei Tieren sieht man noch die gesträubten Nackenhaare. Der Blutdruck, die Muskeldurch-blutung und die Herzfrequenz nehmen zu, während die Darmdurchblutung und Darmbeweglichkeit sowie die Hautdurchblutung abnehmen. Die Auf-merksamkeit ist dabei ganz auf außen konzentriert.

Durch den äußeren Reiz schaltet der ganze Organismus auf einen Zustand, in dem er alle Energien innen sammelt, um sich auf Angriff oder Flucht vorzubereiten (deshalb auch „flight or fight reaction“ genannt). Er kontrahiert sich und ist im Zustand der Spannung. Dies wird von W. Cannon als „Notfall-reaktion“ bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist, wenn jemand Streit mit seinem Chef hat: in solch einer Situation ist der Sympathikus maximal aktiviert.

Im Kontrast zum Abwehrverhalten steht das „Freßverhalten“. Nach Nahrungsaufnahme – wir alle kennen das nach einem üppigen Mahl – wird der Parasympathikus stärker erregt. Die Aufmerksamkeit wird von der Umgebung abgezogen, wir werden schläfrig, die Darmtätigkeit wird angeregt, der Bauchraum mit den Verdauungsorganen stärker durchblutet.

Die Durchblutung der Skelettmuskeln geht dabei zurück, der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer und am Auge sieht man eine Verengung der Pupillen. Der Organismus zieht sich hier nicht zusammen, sondern erweitert sich, dehnt sich energetisch nach außen aus, und befindet sich im Zustand der Entspannung. Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit eher nach innen gerichtet.

Die Oszillation zwischen diesen beiden Zuständen des vegetativen Nerven-systems hat auch grundlegende Einflüsse auf das hormonelle und emotionale Befinden des Körpers. Die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus hat über die Verengung und Erweiterung der Blutgefäße großen Einfluß auf die Flüssigkeits- oder Plasmabewegungen im Körper, die für Reich Grundlage für das Empfinden von Emotionen sind. Der Flüssigkeitsstrom kann vom Zentrum nach außen gerichtet sein (Expan-sion) oder von der Peripherie nach innen (Kontraktion). Das Gefühl von Lust ist funktionell identisch mit ungehinderter Pulsation, das Gefühl von Angst mit eingeschränkter Pulsation des vegetativen Nervensystems.

Das vegetative Nervensystem ist außerdem eng mit dem „Muskelpanzer“ verzahnt: chronische Muskelspannungen behindern das Strömen von Kör-perflüssigkeiten und eingeschränkte vegetative Pulsation spiegelt sich in chronisch angespannten Muskeln wieder.

Die beiden, in ständiger Wechselwirkung stehenden Systeme von Sym-pathikus und Parasympathikus, sind funktionell nicht zu trennen, erst ihr Zusammenspiel ermöglicht eine harmonische Funktion des Gesamt-organismus.[1] „Der Lebensprozeß spielt sich in stetem Wechsel von Expansion und Kontraktion ab.“BIOPATHIEN

In der Schulmedizin trifft man häufig auf ein Krankheitsbild, in dem das Symptom aus dem „Nichts“ in einem ansonsten gesunden Körper entsteht. Der Arzt wird zum Biotechniker, der den Schaden repariert. Es ist jedoch der ganze Mensch krank und nicht nur eines seiner Teile. Reichs Ver-ständnis ist, daß Krankheit entsteht, wenn die natürliche Pulsation des Gesamtorganismus gestört ist. Reich bezeichnet diesen Krankheitsprozeß, der sich am autonomen oder vegetativen Lebensapparat abspielt, als BIOPATHIE.

Die Biopathie ist also eine typische Grunderkrankung des vegetativen Nervensystems. Sie ist zunächst eine rein funktionelle Störung, die den gesamten Organismus betrifft, sich aber einmal in Gang gesetzt, später auch in verschiedenen Krankheitsbildern morphologisch äußern kann. In sehr stark fortgeschrittenen Prozessen kann es zur sogenannten „Schrumpfungsbiopathie“ und damit zur Entstehung von Krebs kommen.

„Die Biopathie kann in einem Karzinom resultieren, aber ebenso in einer Angina pectoris, einem Asthma, einer kardiovaskulären Hypertonie, einer Epilepsie, Katatonie, paranoiden Schizophrenie, Angstneurose, in multi-pler Sklerose, Chorea, chronischem Alkoholismus, etc.“[9]

Unfälle und typische Infektionskrankheiten gehören also nicht zum Zustand der Biopathie, da sie nicht auf Störungen des autonomen Lebensapparates beruhen, begrenzt sind und eine Störung der biologischen Pulsation nur sekundär herbeiführen. Liegt eine primäre Pulsationsstörung vor, so kann die Biopathie „als emotionale Störung des seelischen Apparates, also als Neurose oder Psychose, in Erscheinung treten. Sie kann sich aber auch unmittelbar im Funktionieren der Organe auswirken und als Organerkrankung zum Vorschein kommen“.[10]

Dabei geht die funktionelle Störung der Pulsation den Organveränderungen voraus. So können zum Beispiel starke, krampfartige Bauchschmerzen zunächst ohne organisch erkennbare Ursache vorliegen, die dann aber in späteren Jahren zu morphologischen Organveränderungen führen.- „Krankheit“ in der Schul-medizin liegt erst dann vor.

Der Zustand eingeschränkter vegetativer Pulsation ist gekoppelt an eingeschränkte sexuelle Erlebnisfähigkeit. Störungen im biosexuellen Erregungsablauf begründen Störungen des biologischen Funktionierens. Die Fähigkeit des Organismus, sich energetisch aufzuladen und zu entladen, ist eine Grundfunktion des Lebendigen, die vor allem in der Sexualität und der Entladungsmöglichkeit des Orgasmus beobachtet werden kann.

Die Qualität sexueller Lust ist funktionell identisch mit voller vegetativer Reaktionsbereitschaft. Ist diese Fähigkeit eingeschränkt, bedingt z.B. durch repressive Sexualerziehung in der Kindheit, so führt dies über eine gestörte Ladungs- und Entladungsmöglichkeit des Organismus zu gestörter Pulsation. Dies bedingt auf sexuellem Gebiet verminderte Erregung und eingeschränkte Orgasmusfähigkeit. Auf den Gesamtorganismus bezogen entsteht eine Pulsationsstörung als Grundlage für eine Biopathie.

Abb. 3: Ursachen der Pulsationsstörung
Abb. 3: Ursachen der Pulsationsstörung

Die Biopathie beginnt laut Reich immer mit einem chronischen Über-wiegen der Kontraktion und mit Hemmung der Expansion des autonomen Lebensnervensystems. Er fand in seinen klinischen Studien heraus, daß das chronische Verharren des Organismus in einem Zustand, der vom Sym-pathikus dominiert wird und in dem definitionsgemäß keine Pulsation mehr stattfindet, subjektiv als unlustvoll, als Angst erfahren wird.

Dieser Zustand entspricht laut Reich einem Rückzug von der Welt wie im Schreck. In diesem Zustand wird – wie schon vorhin beim „Abwehr-verhalten“ geschildert – die Haut bleich und kalt, der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck erhöht sich, die Pupillen werden weit, die Skelettmuskulatur ist gelähmt oder stark angespannt.

Der Parasympathikus betont nach Reich eher die lustvolle Seite des menschlichen Lebens, das „Hin zur Welt“. Wenn der Parasympathikus aktiv ist, ist die Haut warm und rosig, das Herz schlägt langsam und kraftvoll, der Blutdruck ist gesenkt, die Pupillen eng und die Muskulatur locker, die Verdauungstätigkeit angeregt, wie vorhin beim „Freßverhalten“ geschildert.

Diese Definition der Biopathie, wie sie zunächst von Reich in „Die bio-elektrischen Untersuchungen von Sexualität und Angst“ beschrieben wurde, ist meiner Meinung nach unvollständig. Der Zustand des Parasympathikus erscheint als der „Gute“, der des Sympathikus als der „Böse“. Wer jemals einen Asthmaanfall oder Migräne hatte – beide durch ein Verharren in stark parasympathikotonem Zustand gekennzeichnet, kann dem schwer folgen: auch er hat diesen Zustand als unlustvoll, in sich gefangen und mit Angst besetzt erfahren, keineswegs als ein lustvolles Strömen hin zur Welt.

Dieser scheinbare Widerspruch in den Reichschen Erkenntnissen läßt sich überwinden, wenn man den Zustand der natürlichen Pulsation, in dem der Organismus je nach Tageszeit oder äußeren Erfordernissen zwischen den beiden Zuständen Parasympathikus/Sympathikus hin- und herschwingt, von dem Zustand eines chronischen Verharrens in einem der beiden Extreme unterscheidet. Es gibt äußere Umstände, die eine starke Aktivität des Sympathikus durchaus wünschenswert machen: z.B. wird eine Katze beim Mäusefangen sicher völlig nach außen gerichtet sein, keineswegs entspannt, aber auch nicht unlustvoll kontrahiert.

Ebenso wird es einem Rennfahrer während eines Rennens gehen, oder einem Wissenschaftler bei einer spannenden Forschungstätigkeit. Wenn die äußeren Umstände sich ändern, wird ganz von alleine eine vegetative Umstimmung des Organismus hin zum Überwiegen des Parasympathikus stattfinden: die Katze schläft nach dem Mäusefang, Rennfahrer oder Wissenschaftler erholen sich nach ihrer Arbeit und entspannen sich. Diese natürliche Pulsation unterscheiden wir von einem chronischen Verharren, einem „Festgefahrensein“ in einem der beiden Zustände.

Ein chronischer Sympathikustonus führt zu den von Reich beschriebenen unangenehmen subjektiven Empfindungen: der Körper geht in eine Art innere „Kampfbereitschaft“, hervorgerufen durch äußeren oder auch inneren Streß oder Schreck. Da es aber weder zu Kampf noch zu Entwarnung kommt, verharrt der Organismus in diesem Zustand. Eine Pulsation im vorhin beschriebenen Sinne findet nicht mehr statt.

Ein chronisches Verharren im Zustand des Parasympathikus fühlt sich aber nicht unbedingt besser an: zum einen ist der Organismus im Extremzustand der Entspannung, was sich als starke Müdigkeit, Schlaff-heit und Antriebslosigkeit bemerkbar macht. Die Verdauungstätigkeit ist stark angeregt, was Durchfälle oder Magenkrämpfe zur Folge hat.

Die Bronchialmuskulatur verkrampft sich, dies führt zu der Empfindung, nicht genug Luft zu bekommen und kann im Extremfall sogar zu dem tödlichen Ausgang eines Asthmaanfalls führen. Statt Kampfbereitschaft liegt hier vielmehr Resignation und Rückzug, ein inneres Aufgeben, vor.

Die Pulsation kann demnach an jeder beliebigen Stelle „festgefahren“ sein. Maßgeblich ist weniger, in welcher Stellung (Sympathikus  oder Parasym-pathikus) die Pulsation angehalten wird, als vielmehr die Tatsache, daß sie angehalten wurde.

Die Tätigkeit von Sympathikus und Parasympathikus ist im Kern funk-tionell identisch: zu Grunde liegt beiden die vegetative Erregbarkeit. So schreibt Reich auch am Ende des Buches „Sexualität und Angst“:

„Das vegetative Nervensystem ist mit der Fähigkeit zur Kontraktion und Expansion ausgestattet. Aus der Mittellage des vegetativen Gleichgewichts vermag es, jeweils in der Richtung zur Welt zu wirken, also sich zu strecken oder in sich zurückzukriechen, das heißt zu kontrahieren. Es könnte auch aus dem einen in den anderen Zustand schwingen oder in einem der beiden extremen Zustände festgehalten werden. Etwas schematisch ausgedrückt würde das vegetative Gleichgewicht dem Zustand entsprechen, in dem es weder festgehaltene Expansions- noch Kontrak-tionsstellungen gibt.“[8]

Eine weitere Besonderheit des vegetativen Nervensystems ist bemerkens-wert: es kann nicht nur rhythmisch zwischen Sympathikus und Parasym-pathikus  hin- und herschwingen,  sondern die jeweiligen  Extremzustände können auch ineinander übergehen. Ein extremer und chronischer Sympathikustonus kann umschlagen in einen extremen und chronischen Parasympathikustonus und umgekehrt. Dies ist der Grund dafür, warum man in Situationen extremer Sympathikusaktivierung, wie z.B. Prüfungs-streß, vor Aufregung Durchfall bekommen kann (der eigentlich auf eine starke Stimulierung des Parasympathikus schließen läßt).

Analog könnte man sagen, daß die ständige Kampfbereitschaft in Resignation, aber umgekehrt auch der innere Rückzug bei zunehmendem Streß in Kampfbereitschaft umschlagen kann. Dieser Mechanismus macht auch verständlich, warum eine Krankheit nicht nur durch Verharren in einem der chronischen Zustände entstehen kann, sondern auch durch un-reguliertes und nicht aufeinander abgestimmtes „wildes Hin- und Her-schlagen“ zwischen sympathikotonem und parasympathikotonem Zustand.

Maßgeblich für das physische und psychische Wohlbefinden ist meiner Meinung nach eine „gesunde Spannung“, ein ausgeglichener Zustand, in dem aus der Mittellage des vegetativen Gleichgewichts heraus die Oszillation zwischen Sympathikus und Parasympathikus ungehindert statt-findet. Leider findet man in unserer Kultur, streß- und sexualökonomisch bedingt, eher eine Verschiebung der Mittellage zugunsten des Sympathi-kus, so daß die Entspannungsfunktion des Parasympathikus nicht genug zum Zuge kommt.

Der amerikanische Internist Robert A. Dew weist darauf hin, daß die Biopathien zu nicht lokalisierbaren Veränderungen am Gesamtorganismus führen können, wie z.B. bei Bluthochdruck, Arteriosklerose oder Diabetes, daß sie sich aber auch in Form klar umrissener Organmanifestation zeigen können wie bei Gallensteinen oder einem Magengeschwür. Dew stellt eine Klassifikation der Biopathien nach zunehmendem Schweregrad auf, wobei er die abnehmende vegetative Reaktionsbereitschaft des Organismus zu Grunde legt:[7]

Dew sieht, entspr. Reich, alle Krankheiten als primär sympathikoton bedingt an (die Sympathikotonie könnte man schon fast als Kennzeichen unserer Kultur bezeichnen). Parasympathische Symptome sind für Dew Ausbruchsversuche des vegetativen Systems aus der Starre. Wenn die Energie sich nicht in der ursprünglichen Pulsation entladen kann, kann sie im Organismus zu verschiedenen Arten von „Durchbrüchen“ (Krankheits-schüben) führen.

Wenn diese Durchbrüche nicht mehr stattfinden können, reagiert der Organismus mit Resignation oder Schrumpfung. Krankheiten können also ein zwar unteroptimaler, aber doch unter gegebenen Umstän-den noch bester Versuch des Körpers sein, einen Teil vegetativer Pulsation aufrechtzuerhalten.

Wir werden nachher noch ausführlicher darauf eingehen, welche Auswir-kungen die chronisch eingeschränkte Pulsation an einzelnen Organen haben kann. An dieser Stelle möchte ich nur noch einmal darauf hinweisen, daß Krankheit in dem Moment entsteht, in dem die Pulsation gestört bzw. unterbrochen ist.

BEEINFLUSSUNG DER PULSATION

Technik

Aus der ursprünglichen Reichianischen Arbeit haben sich heute viele Schulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten entwickelt. Ich werde hier nur exemplarisch einige Techniken aufführen, die in meiner Arbeit eine Rolle spielen.

Die grundlegendste Technik der von Reich entwickelten Körpertherapie ist die Anregung der Atmung. Durch willkürlich vertiefte Atmung verstärkt sich die energetische Ladung des Körpers, die Muskelverspannungen werden deutlicher spürbar und können so bewußt gemacht und bearbeitet werden. Die Atmungstiefe hat auch direkt anregende Wirkungen auf Zentren des vegetativen Nervensystems. Bei Streß ist der Atem flach und gehalten, bei Entspannung tief und voll.

Um die Pulsation auf der segmentalen Ebene anzuregen, arbeiten wir mit der direkten Aktivierung der chronisch kontrahierten Muskulatur. Auf der körperlichen Ebene wirken wir über die Aktivierung der Muskeln auf das Wechselspiel des vegetativen Nervensystems ein, auf der seelischen Ebene werden analog die bisher zurückgehaltenen Gefühle bewußt erlebbar gemacht. Zunächst muß der Patient lernen, die Verspannung bewußt zu spüren. Dann können die Muskelverspannungen mit Hilfe verschiedener Techniken aufgelöst werden.

Dazu kann die Anspannung der Muskeln willkürlich verstärkt werden – z.B. durch Übertreiben des jeweiligen Gesichtsausdruckes oder durch die von Alexander Lowen entwickelten Streßpositionen der „Bioenergetik“. Dadurch wird gleichzeitig auch die Tätigkeit des Sympathikus in diesem Bereich noch weiter verstärkt.

Die willkürliche Anspannung sollte möglichst lange gehalten werden, da nach Loslassen der angespannten Muskulatur eine vegetative Umschaltung stattfindet. Die Muskeln entspannen sich in diesem Bereich, sie werden warm durchblutet und ein Entspannungsgefühl setzt ein, das von einem Gefühl inneren Strömens oder von unwillkürlichen Muskelzuckungen begleitet sein kann.

Eine weitere Möglichkeit der Pulsationsanregung ist die direkte Bear-beitung von Muskeln und Bindegewebe durch den Therapeuten, wie z.B. in der „Points and Positions“-Technik nach Will Davis. Dabei geschieht die Auflösung muskulärer und bindegewebiger Verspannungen durch Druck auf Muskelansatzpunkte und bindegewebige Verhärtungen, wodurch über die Beeinflussung der bindegewebigen Grundsubstanz der Status quo aufgelöst wird zugunsten einer angeregten oder vertieften Pulsation.

Die Muskeln können auch durch Bewegung aktiviert werden. So kann man z.B. die Schultermuskeln gut durch Schlagbewegungen lockern helfen, die Kinnmuskulatur durch Beißübungen oder die Beckenmuskeln durch Treten.  Der Patient  kann  auch  aufgefordert  werden,  selber  „in die Verspannung hineinzuspüren“ und herauszufinden, welchen Bewegungsim-puls er darin zurückhält.

Ausdruck und Emotion

Die rein mechanische Anregung der Muskeltätigkeit ist nur dann langfristig erfolgreich, wenn die Pulsation auf der Ebene des vegetativen Nervensystems wieder maximal stimuliert ist. Dies geht einher mit vermehrtem Blutstrom auf der einen Seite (vermehrte Durchblutung von Muskel und Haut, Strömen) und mit Auflösung emotionaler Blockaden auf der anderen Seite.

Durch ihre Anspannung behindert die Muskulatur die Bewegung der Körperflüssigkeit und des Blutstromes. Wenn eine muskuläre Panzerung aufgelöst wird, tritt eine der drei biologischen Grunderregungen, wie Reich sie nannte, auf: Angst, Wut oder Lust. Angst entsteht dabei bei zentralem Rückzug von Energie ins Körperinnere, Wut bei Störung des lustbetonten Strömens von Energie nach außen, Lust wird empfunden bei ungestörtem Strömen der Flüssigkeit, ungehinderter Pulsation.

Wenn die in den Muskeln gebundene Energie frei wird, kann es daher zu kathartischen Erlebnissen kommen mit Erinnerungen aus der Kindheit und erneutem Erleben frühkindlicher Gefühle. In den Therapiestunden werden zunächst die unangenehmen Gefühle wieder auftauchen, wie Angst, Wut und Trauer. Nach Durchleben dieser Gefühle wird jedoch auch die Fähigkeit zu angenehmen Empfindungen wie Freude, Lust und Hingabe steigen.

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[1]Schmidt-Thews S. 115
[2]Schmidt -Thews S.117
[3]Lassek ZDN Abs. 3
[4]Forssmann/ Heym S.189
[5]Reich Funktion des Orgasmus S.217
[6]a.a.O. S.224
[7]Dew J. of Org. 2,No. 2, S.166
[8]Reich Sexualität und Angst S. 126
[9]Reich Der Krebs S. 167
[10]a.a.O. S.169

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