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Bukumatula 1/1994

Wilhelm Reich und der 13. Kongreß der I.P.V.

Ich möchte dieses Buch nie geschrieben haben
Wolfram Ratz:

Wenn Bernd Nitzschke in seinem Artikel „Freuds Ungeduld wuchs“ („Die Zeit“, Oktober 1990) schreibt: „Was Freudianer gerne ‚der‘ Gesellschaft empfehlen – nämlich die Vergangenheit zu erinnern und durchzuarbeiten -, verweigerten ihre offiziellen Repräsentanten im ‚Fall‘ Reich bis heute. Und es sieht leider so aus, als werde diese Hartnäckigkeit auch Zukunft haben…“, dann hat das auch im Jahre 1994 noch Methode.

Im Text des Veranstaltungskataloges zur Ausstellung „Die Freudianer“ in Wien nimmt Elisabeth Brainin auch zu Wilhelm Reich Stellung: „Der Briefwechsel (zwischen Ernest Jones, und Anna Freud, damalige Zentralsekretärin der I.P.V.; Anm. der Redaktion) wirft auch ein neues Licht auf die Affäre Reich. Anna Freud zitierte ihren Vater, den ‚… die Vergewaltigung der Analyse ins Politische …“ beleidige.

Und Reich formulierte seine Auffassung in einem Brief an Anna Freud folgendermaßen: ‚… daß die Psychoanalyse ein Kernelement des Kulturbolschewismus ist und als solches von der politischen Reaktion bekämpft wird …-. Für Jones und die englische Gruppe war das politische Engagement Reichs weniger entscheidend, sie fanden ganz einfach, daß Reich ‚… in presenting psychoanalysis to a new audience, is seriously misrepresenting it and is not qualified to be an official exponent or teacher of it … that his Lehranalysen there, or any group he might found, would not receive official recognition …‘. Dies klingt nicht so, als ob es um eine gesellschaftliche Frage ginge, bei anderen politisch links stehenden Analytikern wurde die Frage eines Ausschlusses nie erörtert.

So wurde Friedjung 1934 von den Austrofaschisten inhaftiert, auch Edith Buxbaum kam für kurze Zeit ins Gefängnis, was keinerlei Konsequenzen für ihre Zugehörigkeit zur psychoanalytischen Vereinigung hatte. Bei der Debatte um Reich ging es unter anderem um den Aufbau einer neuen analytischen Gruppe, zuerst in Dänemark und dann in Norwegen. Dabei achtete man auf die psychoanalytische Qualifikation. Das Problem mit Reich war ja gerade, daß er die Psychoanalyse verwässerte, indem er sie als Teil des ‚Kulturbolschewismus“ betrachtete.“

Diese Art der Darstellung fügt sich nahtlos in die „Dokumentation“ von Volker Friedrich („Die Freudianer auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern“) ein, die von Bernd Nitzschke sehr präzise analysiert und kritisiert wurde; Rechtfertigungen seien nicht die Mittel der Wahl zur Aufarbeitung der Geschichte.

Da die Ausstellung auf den Grundlagen der Nachforschungen Friedrichs beruhen, heißt es dort auch dementsprechend: „In Luzern hielt Reich noch einen Vortrag, dann wurde er nicht mehr als Mitglied der I.P.V. geführt. Ob es sich um einen Ausschluß oder Austritt handelte, ist nicht geklärt.“

Wenn man sich mit den Hintergründen vertraut macht – etwa mit dem Briefwechsel über (bzw. mit Reich) zwischen Anna Freud und Ernest Jones und zwischen Martin Freud (Leiter des Internationalen Psychoanalytischen Verlages; Anm. d. Red. ) und Wilhelm Reich, und wenn man erfährt, auf welche Art und Weise man Reich in der DGP jedwede Solidarität aufgekündigt hatte – er wurde aufgefordert die Institutsräume des DGP in Berlin nicht mehr zu betreten – und das alles bereits im Jahr 1933, also einem Jahr vor dem Luzerner Kongreß – und wenn man dazu noch erfährt, daß Reich kurz vor dem Kongreß bei Anna Freud nachfragte, weshalb sein Name im Kongreßkalender nicht aufscheint und sie darauf antwortet, daß sie „nichts davon wisse“, dann ist man doch sehr versucht von einer wohlvorbereiteten Intrige zu sprechen. Unter dem Druck der politischen Ereignisse ergab sich die beste Gelegenheit den kommunistischen Sexualanarchisten Reich aus der psychoanalytischen Vereinigung loszuwerden.

Hier kann nicht versucht werden, Einzelheiten dieses verwickelten Vorganges darzustellen. Reichs Ausschluß aus der I.P.V. war der bezeichnende Abschluß eines Kampfes, der begonnen hatte, als Reich erstmals seine Thesen zur Genitalität vortrug.

Schon etwa zehn Jahre vor seinem Ausschluß fand sich Reich zwar von Freud und den anderen, wesentlich älteren Analytikerkollegen, als hervorragender Kliniker quasi „schulterbeklopft“ anerkannt. Die meisten aber standen ihm reserviert gegenüber; einige – Reich nennt dabei Federn und Nunberg – waren schon damals gegen ihn eingenommen. Seinen Tatendrang kanalisierte man in Posten mit viel Arbeit und wenig Einfluß (Technisches Seminar, Psychoanalytisches Ambulatorium). Spätestensaber 1927, mit dem Erscheinen seines Buches „Die Funktion des Orgasmus“, war Reichs Position innerhalb der psychoanalytischen Bewegung bereits im Abseits.

Als Reich Sigmund Freud zum 70. Geburtstag, am 26. Mai 1926 das Manuskript seines Buches überreichte, etwa 200 Seiten, meinte Freud lapidar: „So dick?“ – In dem Interview mit dem New Yorker Analytiker Eissler („Reich speaks of Freud“) erinnert sich Reich, daß Theodor Reik damals an ihn herangetreten sei, um ihm zu sagen: 11 … daß er den Vortrag hervorragend fand, aber: „Ich möchte dieses Buch nicht geschrieben haben.“ Das war sein Kommentar. Ich glaube das charakterisiert die ganze Situation.

Neben den inhaltlichen Differenzen mit der Psychoanalyse Freuds, haben auch Reichs politische Betätigungen nur vordergründig eine Rolle gespielt. Die Feindseligkeit war schon vor seinem politischen Engagement da und überdauerte es bis heute.

Schließen wir wieder mit Bernd Nitzschke:

„Der Fall ‚Reich‘ ist offensichtlich noch immer nicht ausgestanden, denn dabei geht es stets auch um die Politik der organisierten internationalen Psychoanalyse gegenüber Hitler-Deutschland. Der Luzerner Kongreß im Jahre 1834 war ein Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Psychoanalyse, denn hier wurden – zunächst nur auf organisatorischer Ebene – die Weichen für das künftige Schicksal der Psychoanalyse, scheinbar nur in Deutschland, gestellt. Tatsächlich aber geschah mehr: Die Psychoanalyse entschied sich für ein Bündnis mit den Herrschenden – und seither steht die Frage zur Debatte, welche organisatorischen, praktischen und wissenschaftlichen Auswirkungen dieses noch längst nicht aufgearbeitete Trauma für die Psychoanalyse noch immer hat.

Die düsteren Wolken, die auf manchen der Bilder Gidals über Luzern und auch in den Gesichtern einzelner Kongreßteilnehmer zu sehen sind, liegen also bis heute über der Psychoanalyse selbst. Was damals geschah, mag im Rückblick verständlich, vielleicht gar verzeihlich sein, denn es ging bei all dem immer auch um Leben und Tod, und es steht den Nachgeborenen, in vergleichsweise sicheren Verhältnissen Lebenden, schlecht an, sich in der Gewißheit zu wiegen, sie hätten wohl entschiedener Widerstand geleistet als jene, deren Entscheidungen äußerst fragwürdig waren – und sind.

Aber diese Mahnung, sich selbst zu bescheiden, bedeutet nicht, noch heute gruppenspezifische Rechtfertigungsstrategien gutzuheißen und weiterzupflegen, deren Sinn es war und ist, eigenes Versagen zu bemänteln und die Schuld bei anderen zu suchen. Es ist nicht unser Verdienst, in einem Land zu leben, in dem derzeit die freie Rede vergleichsweise wenig bedroht ist; um so mehr sollten wir davon Gebrauch machen.“

Da die Fakten, die zum Ausschluß Wilhelm Reichs aus der I.P.V. führten durch Geschichtsfälschung von offiziellen Dokumentatoren der Psychoanalyse wie Ernest Jones, Peter Gay oder Volker Friedrich nicht gänzlich rekonstruierbar sind, lassen wir Reich selbst dazu Stellung nehmen. Der nachfolgende Text erschien 1935 in der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“, Band 2, Seite 54 bis 61.

DER AUSSCHLUSS WILHELM REICHS AUS DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG

Im Bericht des Zentralvorstandes der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 1935/1) fehlt die Darstellung eines peinlichen Ereignisses. Wir ergänzen daher den offiziellen Kongreßbericht zur Orientierung der Mitglieder der I.P.V.

Auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Luzern (26.-31. August 1934) wurde Wilhelm Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Damit ist die erste Etappe eines schweren, 11 Jahre lang andauernden Kampfes um die korrekte naturwissenschaftliche Psychologie und Sexualtheorie abgeschlossen worden.

Eine ausführliche Darstellung der Motive dieses Ausschlusses und der Differenzen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung kann hier nicht gegeben werden. Wir sparen sie uns für den Zeitpunkt auf, in dem weitere voraussehbare Katastrophen in der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychoanalyse eine genaue historische Begründung erfahren werden. Hier soll nur kurz dargestellt werden, wie sich heute bürgerliche wissenschaftliche Vereine gegen die Arbeit von Forschern wehren, die bestrebt sind, die wissenschaftliche Forschung unbekümmert ernst zu nehmen.

Die Art in der der Ausschluß Wilhelm Reichs erfolgte, ist derart grotesk, daß sie dem Außenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird. Die Sexpol hat es sich zum Grundsatz gemacht, groteske, scheinbar sinnlose Methoden des Kampfes nicht einzelnen Funktionären von Organisationen zuzuschreiben, sondern immer wieder auf die objektiven Verhältnisse hinzuweisen, die hinter derartigen Persönlichen Methoden wirken. Es ist notwendig, wenn man den Ausschluß begreifen will, sich klarzumachen, in welch peinlicher Situation sich der derzeitige Vorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung befindet. Als Organisation hat er eine ihrem Wesen und theoretischen Ursprung nach revolutionäre Wissenschaft zu vertreten.

Doch die Vertreter dieser Organisation sind derart verwachsen mit der Ideologie und dem Lebensmilieu der Groß- und Mittelbourgeoisie, sind selbst derart überzeugt von der Unveränderlichkeit des heutigen Seins, daß sie mit ihrer eigenen Theorie in Konflikt geraten mußten: dies geschah in dem gleichen Maße, in dem sich die politische Situation in der Welt reaktionär gestaltete und jede korrekte wissenschaftliche Arbeit mit der Vernichtung der Existenz der Wissenschaftler bedrohte. Darüber hinaus hatten die führenden Vertreter der psychoanalytischen Bewegung niemals die Konsequenzen aus der psychoanalytischen Sexualtheorie und klinischen Erfahrung ziehen wollen.

Die Leitung der I.P.V. konnte gegen Wilhelm Reichs wissenschaftliche und klinische Anschauungen nichts einwenden. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre wurde seine Arbeit (Genitalitätslehre und Charakteranalyse) von einer großen Anzahl von Mitgliedern der I.P.V. als konsequente Fortführung der ursprünglichen revolutionären Lehre Freuds betrachtet. Mit guter Begründung konnte man ihn also nicht ausschließen. Man forderte daher schon seit Jahren, daß er freiwillig austrete. Reich wies das zurück und erklärte, daß er niemals freiwillig austreten werde. Da bot sich in einem Durcheinander von Mißverständnissen die Gelegenheit, sich von der schweren Belastung, die Reich für die I.P.V. bedeutete, zu befreien. Die ursprüngliche Absicht, die Gesellschaftsfähigkeit der Psychoanalyse unauffällig und leise zu sichern, mißlang allerdings.

Reich erhielt vor dem Kongreß folgenden Brief:

Sehr geehrter Herr Kollege!

Der Verlag will zum Kongreß einen Kalender mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung herausbringen. Die Situation läßt es nun dringend geboten erscheinen, daß Ihr Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht enthalten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gegebenen Verständnis entgegenbringen, die etwaige persönliche Empfindlichkeit im Interesse unserer psychoanalytischen Sache in Deutschland zurückstellen und sich mit dieser Maßnahme einverstanden erklären würden. Sie sind als wissenschaftliche und schriftstellerische Potenz in der internationalen psychoanalytischen Gelehrtenwelt zu bekannt, als daß Ihnen, wie einem Neuling etwa, durch diesen Fortfall der geringste Schaden erwachsen könnte. Und überdies wird mit der Anerkennung der Skandinavier-Gruppe auf dem Kongreß und Ihrem zukünftigen Erscheinen in der Liste dieser neuen Gruppe das jetzige Problem gegenstandslos werden. Darf ich Sie um umgehende Äußerung bitten?

Reich antwortete mit einem ausdrücklichen Protest gegen die geplante Maßnahme und schrieb gleichzeitig an das Zentralsekretariat der I.P.V. folgenden Brief:

Sehr geehrtes Frl. Freud!

Ich erhalte heute die Mitteilung, daß im jetzt erscheinenden Taschenkalender mein Name ausgelassen wurde. Man gibt mir davon indirekt Kenntnis und erwartet, daß ich „sine ira auf Anführung verzichten“ werde. Mir ist dabei sehr vieles unverständlich und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären könnten, welchen Sinn diese Maßnahme hat.

Zunächst weiß ich nicht, ob der Akzent in der fraglichen Mitteilung auf „sine ira“ oder auf „verzichten“ liegt. Es ist mir auch ein Rätsel, weshalb man sich nicht direkt an mich in einer derart entscheidenden Frage wandte, vorausgesetzt, daß als Beweggrund nicht mehr in Frage kommt als gewisse taktische Rücksichten. Mir ist weiter unerklärlich, was man dadurch zu erzielen hoffte, da ich doch zum Kongreß einen Vortrag angemeldet habe und ich keine Möglichkeit sehe, mich dort vor der deutschen Öffentlichkeit zu verstecken.

Daß man, noch immer nur „gewisse“ Rücksichten vorausgesetzt, nicht zur Auskunft griff, mich in eine andere Gruppe zu übertragen, daß überhaupt derartiges ohne mein Wissen, hinter meinem Rücken geschieht, macht es mir wahrscheinlich, daß sehr Peinliches im Gange ist. Der Welt muß die Auslassung meines Namens ein Zeichen sein, daß ich entweder ausgeschlossen wurde oder selbst austrat. Da ich das Letzte nicht beabsichtige, das Erste meines Wissens nicht zutrifft, kann der eingeschlagene Weg, aus der Schwierigkeit herauszufinden, kaum zum Ziele ihrer Bereinigung führen.

Ich hatte schon im vergangenen Jahre Gelegenheit zu zeigen, daß ich tiefes Verständnis für die Verlegenheit, die ich darstelle, habe, trotzdem aber aus sachlichen Gründen nichts selbst dazutun kann, sie zu beheben. Ich bitte Sie daher mir mitzuteilen, ob die Auslassung meines Namens mit Wissen des Zentralvorstandes erfolgte, wenn ja, welche Gründe dafür sprachen und weshalb ich davon nicht verständigt wurde; es ist für mich auch wichtig zu erfahren, welche Beziehung diese Maßnahme zu meiner Mitgliedschaft in der I.P.V. hat.

Ich bitte Sie gleichzeitig, dem Vorstand der I.P.V. mitzuteilen, daß ich gegen diese Maßnahme protestiere und noch einmal ersuche, die bestehenden Differenzen und schwebenden Fragen wie üblich vor der Öffentlichkeit unserer Leser- und Mitgliedschaft auszutragen. So peinlich die Umstände und der Zwang der Verhältnisse auch sein mögen, und zwar für alle Teile: Ich muß mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden. Die uns alle bewegenden, in mancher Hinsicht sowohl für die Zukunft der Psychoanalyse wie die ihres Forschungsgebietes entscheidenden Erörterungen brauchen das Licht der Welt nicht zu scheuen.

Am 8. August erhielt Reich von Anna Freud folgenden Bescheid:

Sehr geehrter Herr Doktor!

Das Kongreßprogramm ist eben in Druck und wird erst in den nächsten Tagen an die Mitglieder verschickt werden. Die Verständigung, wann Ihr eigener Vortrag angesetzt ist, haben Sie sicher inzwischen erhalten.

Ihre Beschwerde gegen die Deutsche Vereinigung leite ich mit gleicher Post an Dr. Jones weiter. Mir war von der ganzen Angelegenheit nicht das mindeste bekannt, ich frage Jones, ob er etwas davon gewußt hat. Er wird Ihen direkt Nachricht geben.

Am Vorabend des Kongresses traf Reich zufällig ein Mitglied des internationalen Vorstands in der Halle des Kongreßsaales. Dieser teilte Reich privat folgendes mit: Vor acht Tagen hatte die Deutsche Psychaoanalytische Vereinigung den Ausschluß Reichs beschlossen. Dieser Beschluß sei tatsächlich durchgeführt worden, bedeute aber „nur eine Formalität“, da man mit Bestimmtheit damit rechne, daß die Aufnahme der skandinavischen Gruppe auch die Frage der Mitgliedschaft Reichs in befriedigender Weise lösen werde. Kurz darauf erfuhr Reich, daß der frühere Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und des Internationalen Lehrausschusses, Max Eitingon, schon vor einem Jahr in einer geheimen Vorstandssitzung den Ausschluß Reichs aus der deutschen Vereinigung -und damit auch aus der internationalen – durchgesetzt hatte.

Von diesem Beschluß hatte bis zum Kongreß niemand etwas erfahren. Als der Ausschluß Reichs bekannt wurde, reagierten die anwesenden Kongreßteilnehmer teils mit Unglauben, teils mit Empörung, teils mit der tröstlichen Stellungnahme, das ganze wäre ja nur eine Formalität und Reich würde jederzeit in die skandinavische Gruppe aufgenommen werden. Niemand zweifelte daran, daß der Vorstand der I.P.V den Ausschluß nicht bestätigen werde. Doch es stellte sich sehr bald heraus, daß der Ausschluß Reichs durch den Vorstand der I.P.V. bestätigt war.

Entscheidend war in der ganzen Frage die Haltung der Norweger. Der Vorstand der I.P.V. versuchte die Aufnahme der norwegischen Gruppe mit der Bedingung zu verknüpfen, daß sie sich verpflichten sollte, Reich nicht als Mitglied aufzunehmen. Doch die Norweger vertraten den korrekten Standpunkt: „Wir lassen uns keine Bedingungen diktieren. Entscheidet, ob ihr uns aufnehmt oder nicht. Wenn ihr uns nicht aufnehmt, dann treten wir aus.“ Das scharfe und aufrechte Auftreten der anwesenden Norweger (Schjelderup, Hoel, Raknes) machte großen Eindruck und schüchterte den Vorstand ein. Sie wurden als Orstgruppe der I.P.V. ohne jede Bedingung eingegliedert; doch die schwedische Gruppe wurde von der norwegischen getrennt, um sie dem Einfluß Reichs zu entziehen. Reich hielt nach seinem Ausschluß sein Referat nur mehr als Gast.

Man darf ruhig sagen, daß der Kongreß völlig unter dem Eindrucke dieser peinlichen Affäre stand.

Am Vorabend der Geschäftssitzung wurde, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, eine gemeinsame Sitzung mit je einem Vertreter der verschiedenen Ortsgruppen und Reich unter dem Vorsitz von Anna Freud abgehalten, in der man „Reichs Argumente hören wollte“. Das ganze war eine Geste, denn man kannte seine Argumente sehr gut. Reich konnte dort nur wiederholen, was er in seinen Schriften und in seiner Korrespondenz mit den I.P.V-Funktionären seit Jahren vertreten hatte: Der Forderung des I.P.V.-Vorstandes, freiwillig auszutreten, könne er nicht Folge leisten. Wenn der I.P.V.-Vorstand ihn ausschloß, so könne er dagegen nichts unternehmen. Er verstände zwar den bereits vollzogenen Ausschluß vom Standpunkt der Todestrieb-Theoretiker durchaus, denn seine eigenen Anschauungen hätten sich so weit von den heutigen offiziellen Lehrmeinungen entfernt, daß ein gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich wäre.

Er erklärte aber gleichzeitig, daß er sich als den konsequentesten und legitimsten Vertreter und Fortsetzer der ursprünglichen klinisch-naturwissenschaftlichen Psychoanalyse betrachte und von diesem Standpunkt aus den Ausschluß nicht anerkennen könne. Die Nichtanerkennung des Ausschlusses durch ihn hätte zwar keinerlei organisatorisches Gewicht; doch er müsse darauf bestehen, daß die Gründe des Ausschlusses im offiziellen Organ der I.P.V. publiziert werden. Dies wurde zugesagt, aber nicht eingehalten. Daß sich später das Gerücht verbreitete, der Vorstand hätte sich mit Reich bezüglich „des Austritts geeinigt“, entsprach nur der tiefen Verlegenheit, die der bereits vor einem Jahr vollzogene Ausschluß für alle Beteiligten bildete.

Die meisten Kollegen in der I.P.V., mit denen Reich seit 16 Jahren in engem persönlichen bzw. sachlichen Kontakt gestanden hatte, trösteten sich über das ganze mit der bereits erwähnten Auskunft hinweg, daß es sich ja nur um eine formale Angelegenheit handle und der Wiedereintritt in die I.P.V. durch die norwegische Vereinigung möglich wäre. Die Vertreter der norwegischen Gruppe erklärten Reich gegenüber, daß er Mitglied ihrer Vereinigung werden könne. Reich entgegnete, daß er sich die Vor- und Nachteile eines Wiedereintrittes überlegen müßte, jetzt noch nichts sagen könne, daß er sich aber verpflichtet fühle, die norwegischen Mitglieder auf die Komplikation aufmerksam zu machen, die seine Wiederaufnahme für sie als Gruppe bedeuten würde. Es ist besonders hervorzuheben, daß zahlreiche Mitglieder sämtlicher Ortsgruppen der Welt, die am Kongreß anwesend waren, es für eine Selbstverständlichkeit hielten, daß Reich wieder Mitglied werde.

Zu erwähnen ist noch das komplette Versagen der Opposition, die sich auf Anregung Reichs unter Führung von Otto Fenichel gebildet hatte. Fenichel war den Anforderungen der Situation, die offenes und mutiges Auftreten erforderte, in keiner Weise gewachsen. Es zeigte sich, daß bürgerliche Psychoanalytiker, die keinen Anspruch erheben, dialektische Materialisten genannt zu werden und nur fachlich mit der heutigen Richtung der Psychoanalyse unzufrieden sind, viel eindeutiger waren als diejenigen, die sich dazu berufen fühlten, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Fenichel fiel später vollständig um, als er mit allen Mitteln gegen die Wiederaufnahme Reichs in die norwegische Gruppe agierte.

An dieser Stelle muß ausdrücklich betont werden, daß die dialektisch-materialistische Psychologie vollkommen identisch ist mit der personellen Sexualökonomie und daß niemand das Recht hat, sich dialektisch-materialistischer Psychoanalytiker zu nennen, wenn er nicht auch die Konsequenzen zu tragen bereit ist, die mit der Vertretung der Theorie der Sexualökonomie verknüpft sind. Die Sexpol lehnt jede Verantwortung für die von Fenichel unter der Bezeichnung „dialektisch-materialistische Psychologie“ vertretene Anschauung ab.

Die peinliche Rolle, die dabei Fenichel spielte, erfuhr noch eine Verschärfung. In der IMAGO (1934, 4. Heft) erschien von Redakteur ROBERT WÄLDER im Auftrage der Leitung der I.P.V. eine längere Besprechung der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ (Herausgeber Ernst Paroli), die mit folgenden Sätzen endet:

„Es hat schon viele Richtungen gegeben, welche sich der Psychoanalyse bedienen, ihr mehr oder weniger große Stücke unter Ablehnung anderer entnehmen, andere für ihre Zwecke modifizieren und präparieren, nach der Parole: ‚Herausbrechen und anderswo einfügen‘. Wie ist es zu rechtfertigen, gerade dem vorliegenden Unternehmen an dieser Stelle so viel Aufmerksamkeit zu widmen? Nun, an der Spitze steht ein Mann, der durch eine Reihe von Jahren durch seine klinischen Beiträge verdienstlich gewirkt hat. Seine Arbeiten haben, wenngleich vielfach schematisierend, doch insgesamt befruchtend gewirkt.

Die Wiederbelebung des allmählich in Vergessenheit geratenen Gedankens vom aktualneurotischen Kern der Psychoneurosen; der Rat, in der klinischen Analyse stets von der oberflächlichsten Schichte, vom behaviour, auszugehen und erst allmählich, ohne Kurzschluß, zum Unbewußten vorzudringen; die häufige Mahnung an das Vorkommen der im Bilde einer positiven Übertragung auftretenden latenten negativen Übertragung, die gewiß leicht übersehen wird; der – in dieser Form übertriebene – Rat, in Widerstandssituationen sich der Analyse der Widerstandsmotive zu widmen und das etwa gleichzeitig ausströmende Material beiseite zu lassen; dies und manches andere hat die Diskussionen zu Fragen der Technik vielfach belebt und es gibt viele, die diesen Anregungen Reichs für ihre technische Sicherheit viel zu danken haben.

Aber die Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muß denn in aller Klarheit gesagt werden, daß die hier vorliegenden ‚wissenschaftlichen‘ Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, daß niemand, der REICH auf seinem Wege folgt mehr das Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen, als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalytischen Gedankenguts, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für ihre Zwecke verwenden.“

In der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ hatte Otto Fenichel (1. Nummer) einen Aufsatz „Die Psychoanalyse als Keim einer dialektischen materialistischen Psychologie“ publiziert. In der scharfen Ablehnung der Zeitschrift und ihrer Autoren, die mit Namen angeführt werden, wie Reich und Parell, fehlt der Name Otto Fenichel, und auch sein Aufsatz war nicht erwähnt. Die Zukunft wird zeigen, ob die Anschauung, die die Sexpol über diese Tatsache gebildet hat, zurecht besteht.

Klar ist jedoch, daß die I.P.V.-Leitung mit ihrer Warnung, Reich auf seinem Weg zu folgen vollständig Recht hat. Denn Reich hat die Todestrieblehre, die bürgerlichen Moralanschauungen, die Inkonsequenz zwischen Theorie und Praxis, die Akademismen und die Grundeigenschaft jeder bürgerlichen Wissenschaft, von den Hauptproblemen durch spitzfindige Detailierung nebensächlicher Fragen abzulenken, über Bord geworfen. Er hat aus dem Gebäude der Psychoanalyse gerade das „herausgebrochen“, was ihr nicht nur die Feindschaft der Welt im Beginne eingetragen hatte, sondern ihr auch eine große Zukunft sichert: Die Lehre vom Unbewußten, die Lehre von der kindlichen Sexualität, die Lehre von der Verdrängung und vom Widerstand, die Lehre vom somatischen Kern der Neurose, die Lehre vom Gegensatz zwischen Trieb und Außenwelt etc. Diese aus dem Lehrgebäude der Psychoanalyse „herausgebrochenen“ Stücke erfahren durch die charakteranalytischen und sexualökonomischen

Spezialisten der Sexpol auf klarer dialektisch-materialistischer Basis gerade die konsequenteste theoretische und praktische Durchführung. Reichs Orgasmuslehre ergänzte diese Kernstücke einer revolutionär naturwissenschaftlichen Psychologie um den Gesichtspunkt der Ökonomie des Seelenlebens und schuf ein tragfähiges Gegengewicht gegen die metaphysischen Theorien vom biologischen Willen zum Leiden. Seine Theorie der Therapie und charakteranalytischen Technik legten die ersten Grundlagen der künftigen Neurosenprophylaxe. Seine Theorie der Sexualökonomie brach endgültig mit der sexuellen Verschämtheit der offiziellen Psychoanalyse, indem sie den Widerspruch zwischen Natur und Kultur theoretisch auflöst.

Der Auschluß Wilhelm Reichs erfolgte laut der Erklärung der Zentralsekretärin der I.P.V., Frl. Anna Freud, nicht wegen seiner eigenen wissenschaftlichen Entdeckungen und Anschauungen, die zu vielen Theorien und Anschauungen Freuds im Gegensatz stehen (Orgasmustheorie und Charakteranalyse), auch nicht wegen seiner revolutionären Gesinnung, denn es gäbe, wie gesagt wurde, viele Analytiker in der I.P.V. trotz abweichender wissenschaftlicher Theorien oder trotz kommunistischer Gesinnung.

Die Trennung von Reich sei notwendig wegen der spezifischen Art, in der er aus der wissenschaftlichen Arbeit politische Konsequenzen ziehe. Gemeint war die Sexualpolitik. Diese Konsequenzen und die Vereinigung von Wissenschaft und Politik wären für die I.P.V. untragbar. In der Kritik der „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ hebt Wälder aus der Einführung der Redaktion der Sexpol folgenden Passus ablehnend hervor:

„Die Trennung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Weltanschauung oder Politik lehnen wir ab. Wir wollen der bewußt reaktionären Wissenschaft eine bewußt revolutionäre entgegenstellen, die sich zu den Zielen der Arbeiterbewegung offen bekennt und sich in deren Dienst stellt. Wir werden mit Leichtigkeit beweisen können, daß wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, nichts anderes zu tun haben, als voraussetzungslos wissenschaftliche Arbeit zu betreiben: dagegen muß der reaktionär gesinnte Wissenschaftler, um seine soziologische Rolle zu erfüllen, die Wahrheit verhüllen, abbiegen, mit Mystik durchsetzen, kurz solchermaßen die primitivsten Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeit verleugnen.

Wir werden mit der gleichen Leichtigkeit nachweisen können, daß die Trennung von Sein und Sollen künstlich ist, daß das Sollen mit Eigengesetzlichkeit aus der Erkenntnis des Seins hervorgeht, was nur durch Bruch mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit verhindert wird. Konsequente unbeirrte Wissenschaft ist an sich revolutionär, entwickelt automatisch praktische Konsequenzen, und die sozialistische Politik ist im Grunde nichts anderes als die Praxis der wissenschaftlichen Weltanschauung.“

WÄLDER ist offizieller Redakteur der „Imago“. Die I.P.V. trägt daher die Verantwortung für folgende Sätze:

„Politik und Psychologie sind hier in eine unklare Symbiose getreten. Wir sind sicher, daß die Psychologie dabei nicht zu gewinnen hat.

Wir treffen hier auf die zuerst vom Marxismus daß Erkenntnis stets Ausdruck eines Seins ist propagierte, später von anderen politischen Richtungen in ihrer Weise übernommene Formel, und auch Ausdruck eines Seins sein soll; die wahre, echte Erkenntnis ist dann im Sinne dieser Theorie diejenige, in der das eigene Sein zum Ausdruck kommt. In der marxistischen Literatur, zu der die vorliegende Zeitschrift zählt, ist die sogenannte proletarische Wissenschaft mit dem Index der Echtheit versehen.

In anderen, neueren Richtungen wird mit nicht geringer Sinnwidrigkeit jene Wissenschaft für die echte gehalten, welche Ausdruck eines anderen, nicht ökonomisch, sondern irgendwie anders, etwa national, angesetzten Seins ist_ All diesen Theorien fehlt die Einsicht in den Sachverhalt, daß es Wissenschaft, Erkenntnis vom Gegenstand, nur insoweit gibt, als das erkennende Subjekt sein Sein transzendiert. Wissenschaft ist, möchte man sagen, wesensmäßig bodenlos. Freilich bricht der Ausdruck des Subjektiven in die Erkenntnis des Objektiven, das Ausdrucksfeld in das Darstellungsfeld ein; aber das ist eine Fehlerquelle wissenschaftlicher Arbeit.“

Wie vornehm läßt sich doch derart transzendiert reden! Wie harmlos ersetzt der objektive, unpolitische Wissenschaftler Robert Wälder das Wörtchen „Sein“ durch „eigenes Sein“, um dann „bodenlose“ Wissenschaft betreiben zu können! Doch, reden wir nicht vom Transzendieren, sondern fragen wir Wälder, ob Aichhorn sein Sein transzendiert hatte, als er in einem grundlegenden Buche über die verwahrloste Jugend in geschicktester Weise die Frage der genitalen Konflikte und Nöte der Jugend umging; ob das Sein transzendiert war, als die Todestrieblehre geschaffen wurde; ob Laforgues Lehre, die Polizei diene der Befriedigung des Strafbedürfnisses der Masse, einer solchen Transzendieruns entspricht; oder die Lehre, daß „die Kultur“ die Sexualunterdrückung fordere; oder Glovers These, die Kriege könnten vermieden werden, wenn man die Diplomaten analysierte; oder Roheims Theorie, daß „die Frau eigentlich nur befriedigt wird, wenn sie nach dem Geschlechtsverkehr an einer Entzündung erkrankt“; oder ist es ein Zeichen bodenlos transzendierter Wissenschaft, wenn man nicht den Mut aufbringt, offen der Kritik Reichs an der heutigen Psychoanalyse entgegenzutreten und sich hinter geschäftsordnungsmäßigen Formalismen verschanzt?

Niemand ist es übelzunehmen, wenn er sich in dieser korrupten und gefährlichen Zeit schützt.

Doch gegen die Usurpation der wissenschaftlichen Kompetenz durch transzendierte Wissenschaftler muß man sich energisch wehren. Wissenschaft ist kein Bridgespiel in einem anheimelnden Salon. Wälder hole sich die Bestätigung dieser Ansicht bei Freud selbst!

Es ist nicht Ahnungslosigkeit, sondern entspricht völlig dem Geiste, der gegenwärtig die I.P.V. beherrscht, daß ein offizieller Redakteur einer sich radikal nennenden wissenschaftlichen Organisation Karl Marx in einem Atemzuge mit Hitler, Engels, Bebel, Karl Liebknecht, Lenin, Rosa Luxemburg in einem Atemzuge mit Göbbels, Göring, Julius Streicher zu nennen wagt. Es ist durchaus ein Problem der Sozialpathologie, daß die Richtung, deren Sprachrohr Wälder ist, sich ebenso benimmt, wie die Gruppe der sogenannten „deutschen Juden“. Man wird zwar geprügelt, bleibt aber vornehm dabei. Zwar wurden Freuds Bücher von Adolf Hitler verbrannt, zwar tritt die deutsche Psychotherapie unter der Führung C.G. Jungs in echt nationalsozialistischer Weise gegen den Juden und „Untermenschen“ Sigmund Freud auf, zwar findet die Psychoanalyse Freuds, soweit sie naturwissenschaftlich ist, immer mehr Anerkennung und echte, mehrhafte, verständnisvolle Vertretung im Lager der revolutionären Bewegung, aber man bleibt vornehm. Man sitzt zwischen den Stühlen und beruhigt sich mit objektivem Geist.

Die 1.P.V. ist die Organisation, die die Pflege der Freudschen Naturwissenschaft zur Aufgabe hat. Die sozialistische revolutionäre Bewegung der Welt muß sich zur Bewältigung ihrer riesenhaften Aufgaben im Kampf gegen Mystizismus, Borniertheit und Untertanentum alles zu eigen machen, was die bürgerliche Welt an Erkenntnissen produziert. Wir wissen, daß der Naturwissenschaftler Freud mit dem bürgerlichen Kulturphilosophen Freud in schwere Konflikte geriet. Es gilt jenen gegen diesen zu schützen, seine Arbeit fortzuführen und in den Dienst der sozialistischen Freiheitsbewegung zu stellen.

Es gilt, der sozialistischen Bewegung der Welt ein Heer klinisch gut geschulter, zum Kampfe gegen den Mystizismus in jeder Form entschlossener Psychologen, Pädagogen und Psychotherapeuten theoretisch und praktisch vorzubereiten; der künftigen Sexualhygiene der Masse der Erdbevölkerung eine sichere Basis zu schaffen; der nationalistischen und ethisierenden Psychologie a’la Jung eine dialektisch-materialistische, das heißt naturwissenschaftliche Psychologie entgegenzustellen; die Lustangst der Menschen zu begreifen und zu zerstören; die Strukturforschung zu derart brauchbaren Ergebnissen zu führen, daß sich daraus praktisch die sozialistische Umstrukturierung der Menschen ergibt; die antireligiösen Triebkräfte, d.h. die sexuellen Lebensansprüche gegen die mystischen, den Menschen beherrschenden Neigungen zu entfalten; kurz, es gibt reichlich wichtige und unerläßliche Aufgaben.

Darum geht es im wesentlichen und nicht etwa um die Borniertheit eines Redakteurs, der Karl Marx und Adolf Hitler auf eine Stufe stellt. Aus eben dem gleichen Grund mahnen wir die wenigen Psychoanalytiker, die sich Sozialisten nennen, nicht darauf zu vergessen, daß eine Naturwissenschaft für einen Sozialisten nur insofern Bedeutung hat, als sie – früher oder später – der rational bewußten Gestaltung des gesellschaftlichen Daseins zu dienen vermag. Denjenigen Psychoanalytikern, die erklären, Freunde der Sexpol zu sein, wollen wir hier in freundschaftlicher Weise, aber hoffentlich endgültig klarmachen, daß es nicht darauf ankommt, „freundschaftliche Gefühle“ zu hegen, sondern praktische Hilfe und Arbeit zu leisten, unbeirrt selbst als Naturwissenschaft jede Zukunft rauben.

Wer dies aus strukturellen oder sozialen Gründen nicht zu leisten vermag, der stehe still beiseite. Niemand wird ihm seine Passivität übel nehmen, aber wer unter der Maske der Freundschaft sabotiert, sich auf den berühmten „objektiven Standpunkt“ zurückzieht, um dann plötzlich gegen uns aggressiv zu werden, wer schließlich ein schlechtes Gewissen, das er der wissenschaftlichen Arbeit und der sozialistischen Bewegung gegenüber bekommt, mit Ausreden und „Theorien“ zu verhüllen versucht, wird von uns ohne jede Rücksicht bekämpft und vor der Öffentlichkeit bloßgestellt werden. Letzten Endes werden sie – wir fürchten zu spät – erkennen, daß ihnen die Vorsicht und das ebenso berühmte taktische Verhalten gar nichts genützt haben.

Sie werden erkennen, daß es in dieser Zeit, die von jedem alles erfordert, nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder im Lager der politischen Reaktion moralisch und wissenschaftlich zugrunde gerichtet weiterzubestehen, oder aber mit den Konsequenzen zu rechnen, die eine revolutionäre wissenschaftliche Arbeit heute mit sich bringt. Wir haben es‘ gelernt, von niemand mehr zu fordern, als er geben kann, aber man kann von uns nicht verlangen, daß wir uns die Unanständigkeiten und Feindseligkeiten zahm gefallen lassen, die sich aus einer unehrlichen Einstellung heute mit Notwendigkeit ergeben. Wer glaubt, die revolutionäre Bewegung täuschen zu können, irrt. Es gibt Situationen im Kampf, die den Unehrlichen unweigerlich entlarven und vernichten. Es ist daher auch im Interesse der Arbeiterbewegung gelegen, wenn jeder rechtzeitig die Grenzen seiner Möglichkeiten erkennt und sich danach richtet.

Die Leitung der I.P.V. hat die reaktionären Strömungen der heutigen Zeit auf ihrer Seite. Die Sexpol kämpft gegen den Strom. Doch die Geschichte lehrt, daß reaktionäre Zeitströmungen -und mögen sie noch so eindrucksvoll sein – auch vergehen. Eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform, wird die heutigen Vertreter der Wissenschaft und ihre ergebenen Funktionäre in nicht geringe Verlegenheit stürzen.

Hier besteht weiter zurecht, was Wilhelm Reich am 17.3.1933, wenige Wochen nach der Machtergreifung Hitlers an die Leitung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages schrieb:

„Gestern teilte mir der Verlagsleiter, Herr Dr. Freud, mit, daß auf Beschluß der Verlagskommission und der Verlagsinhaber der Vertrag, wonach mein Buch „Charakteranalyse“ im Verlag demnächst herauskommen sollte, rückgängig gemacht wird. Begründet wurde dieser Beschluß mit der Rücksicht auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, die es nicht angebracht erscheinen ließen, meinen kompromittierten Namen neuerdings offiziell zu vertreten. Ich sehe in meiner Stellungnahme dazu von meinen Rechten als eingeschriebenes und aktives Mitglied der I.P.V. vollkommen ab, vermag sogar den Standpunkt der Kommission und der Inhaber als Vorsichtsmaßnahme zu begreifen, wenn auch als wissenschaftlicher Arbeiter nicht zu billigen. Darüber hinaus sehe ich mich aber verpflichtet, im Namen der psychoanalytischen Bewegung bzw. eines Teiles dieser Bewegung auf die Illusionen aufmerksam zu machen, denen sich die Leitung und Verlagskommission hinzugeben scheinen:

1) Die politische Reaktion identifiziert schon lange die Psychoanalyse mit dem „Kulturbolschewismus“, und zwar mit Recht. Die Entdeckungen der Psychoanalyse widersprechen restlos der

nationalistischen Ideologien und bedeuten eine Gefahr für deren Bestand. Es ist vollkommen gleichgültig, ob die Vertreter der Psychoanalyse nunmehr diese oder jene Schutzmaßnahme ergreifen, ob sie sich von der wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen oder diese den herrschenden Verhältnissen anpassen werden. Der soziologisch-kulturpolitische Charakter der Psychoanalyse läßt sich durch keinerlei Maßnahme aus der Welt schaffen. Der Charakter ihrer Entdeckungen (kindliche Sexualität, Sexualverdrängung, Sexualität und Religion) macht sie vielmehr zu einem Todfeind der politischen Reaktion. Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben an eine „unpolitische“, das heißt der Politik völlig disparate Natur der Wissenschaft verstecken: Das wird nur der wissenschaftlichen Forschung schaden, aber die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo sie in der Tat liegen und dementsprechend zu bekämpfen (z.B. Verbrennung der Bücher Freuds).

2) Da die Psychoanalyse nach übereinstimmender Ansicht ihrer Vertreter über die medizinischen Aufgaben hinaus kulturpolitische Bedeutung hat und in den bevorstehenden gesellschaftlichen Kämpfen um die Neuordnung der Gesellschaft. eine entscheidende Rolle spielen wird, gewiß nicht auf Seite der politischen Reaktion, bedeutet jeder Versuch einer Anpassung oder Verhüllung des Wesens der Bewegung sinnlose Selbstaufopferung: Und dies umso mehr, als eine starke Gruppe von Analytikern entschlossen ist, den kulturpolitischen Kampf nicht aufzugeben, sondern weiterzuführen. Die Existenz dieser Gruppe, gleichgültig ob innerhalb oder außerhalb der I.P.V., ist politisch kompromittierend, auch wenn ihre Hauptvertreter physisch vernichtet werden sollten. Ich sehe keine Möglichkeit für die Leitung der I.P.V., sich von dieser Gruppe abzugrenzen, da sie vollständig und – im Gegensatz zu anderen Gruppen – in voller Konsequenz auf dem Boden der psychoanalytischen Entdeckungen steht.

3) So schwierig und kompliziert die Beziehungen der Psychoanalyse zur revolutionären Arbeiterbewegung sind, so ungewiß in ihrem Endausgang die Auseinandersetzung zwischen Psychoanalyse und Marxismus auch ist, – an der Tatsache, die objektiv und von persönlichen Stellungnahmen unabhängig ist, daß die analytische Theorie revolutionär und ihr Platz daher auf Seite der Arbeiterbewegung ist, läßt sich von niemand rütteln. Ich sehe daher die wichtigste Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern. Erste Voraussetzung dazu bleibt, sich keinen Illusionen hinzugeben, zu wissen, daß die oft genannten Güter der Kultur nur

eine Sachverwalterin haben, die Arbeiterklasse und die zu ihr stehende Intelligenz, die derzeit im deutschen Reiche schweres, blutiges Lehrgeld zahlen. Der geschichtliche Prozeß hat mit Hitler keineswegs seinen Abschluß gefunden. Wenn jemals der Nachweis der historischen Daseinsberechtigung der Psychoanalyse und ihrer soziologischen Funktion erforderlich war: Die jetzige Phase der geschichtlichen Entwicklung muß ihn erbringen.“

Das Buch zur Ausstellung:
1) Tim N. Gidal: „Die Freudianer auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern“. Mit einem dokumetarischen Anhang von Volker Friedrich; Verlag Internationale Psychoanalyse, München 1990, 184 S., Abb., DM 98.-

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