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Bukumatula 2/2018

Eva Reich und das „Bauchhirn“

Auszug aus der Biographie der „Biodynamik“, 1979
von
Mona Lisa Boyesen:

Als meine Mutter – Gerda Boyesen – 1968 nach London kam, war sie eine sehr gefragte Körperpsychotherapeutin und in ganz Europa bekannt. Sie hatte ihr eigenes therapeutisches Behandlungssystem in den 1955-1960er Jahren in Oslo entwickelt, das in Theorie und Praxis komplementär zu Reichs Vegetotherapie und Orgonomie angesehen werden konnte. Um die Synergie zu erklären und ihre originale „Gerda Boyesen-Methode“ – die Grundlage der “Biodynamischen Psychologie“ – zu verdeutlichen, habe ich die Aufgabe übernommen, ihre therapeutischen Entdeckungen ausführlich zu beschreiben und sie zu veröffentlichen.- Aber wer könnte Gerdas komplementären Anteil zu Wilhelm Reichs Werke bestätigen? Reich…?

Ende der 70er Jahre arbeitete mein damaliger Lebensgefährte, späterer Ehemann und Vater meines Sohnes Dorian, Johannes Voet („Kim“) an der Universität in Utrecht. In der Bibliothek befanden sich mehrere Mikrofilme von Wilhelm Reich, die seine Tochter, Eva Reich, der Universität geschenkt hatte. Die Situation war so, dass nach dem Tod Wilhelm Reichs (1957) „The Federation Department of the United States“ beschlossen hatte, dass die Bücher und Filme von und über Wilhelm Reich verbrannt werden sollten. Aus diesem Grund wollte Eva Reich das Werk ihres Vaters in Form von Mikrofilmen in Sicherheit bringen und hat sie schrittweise an Universitäten in Europa geschickt – sozusagen aus den USA „geschmuggelt“.

1973 hatte ich zusammen mit dem amerikanischen Körperpsychotherapeuten Jay Stattmann das Institut für „Unitive Psychologie“ in der Nähe von Utrecht gegründet, und wir haben Eva Reich eingeladen, einen Workshop für unsere Studenten zu leiten. Wir fuhren nach Amsterdam, um Eva Reich zu begrüßen und sie in unser Institut zu bringen.

In diesen Jahren hatte ich mehrere Artikel über Gerda Boyesens Arbeit geschrieben, die in David Boadellas Journal „Energy and Character“ veröffentlicht wurden. Dabei habe ich auch einige Artikel über Gerdas Entdeckungen zur „Psychoperistaltik“ präsentiert: „Psychoperistalsis. The Abdominal Discharge for Nervous Tension“.

Da „Energy and Character“ in Fachkreisen international bekannt war, habe ich Eva Reich noch am Flughafen gefragt, ob sie meine Artikelserie gelesen hätte. Das hatte sie, und sie fand die Artikel hochinteressant. Auf meine Frage „Bist Du damit einverstanden, dass meine Mutter das gefunden hat, wonach Dein Vater immer gesucht hat?“ antwortete sie zu meiner Freude und Erleichterung: „Ja, absolut!“

Es war für mich wichtig, dass gerade Reichs Tochter verstanden hat, wie essentiell das Verdauungssystem als unser organisches Zentrum für die Selbstregulation von Bedeutung ist.

Wilhelm Reich hat in all seinen Forschungen ein Organ gesucht, das die Fähigkeiten hat, mit Pulsation – also Kontraktion und Expansion – eine Selbstregulation innerhalb des Körpers zu erschaffen – den Flüssigkeitsdruck zu regulieren, die „(sexuelle) Stasis“ (bioenergetischer, biochemischer und hormoneller Stau) entladen zu können, um so eine Selbstregulierung (Homöostase/emotionale Balance) zu erreichen. In seinem Buch „Die Funktion des Orgasmus“ nennt er ein Phantasie-Beispiel: „Stellen wir uns vor, wir besäßen eine elektrische Blase….“.

Da diese Idee aber nur eine Fiktion war, kam Reich immer wieder zurück zu seiner Orgasmustheorie. Die organische Selbstregulation war der Orgasmus selbst. Dies trug zu großer Verwirrung seiner damaligen Klienten wie auch seiner Studenten und Kollegen bei, die glaubten, je häufiger sie einen Orgasmus haben, desto weniger Neurosen hätten sie. Viele orthodoxe Reichianer glauben das auch heute noch. Durch diese Überzeugung entsteht ein hoher Leistungsdruck, womit der Orgasmus der einzige Weg sei, aus der Neurose herauszukommen. Oder anders gesagt: wenn du nicht orgasmusfähig bist, bleibst du neurotisch.

Zwar war Reichs Definition einer gesunden „genitalen“ Persönlichkeit verbunden mit orgastischer Potenz, er meinte damit aber keinesfalls: je mehr Orgasmen, desto weniger Neurosen. Und er meinte damit auch nicht den genitalen, sondern den ganzkörperlichen Orgasmus, wo keine Körpersegmente die Erregung und primären Impulse in der sexuellen Umarmung der Geliebten zurückhalten.

Ich habe darüber in meinem Artikel „Die Renaissance des Orgasmus-Reflexes“ geschrieben. Alle dachten an den Orgasmus – keiner an den Reflex! Die Geburt ist z.B. ein orgastischer Reflex. Und wenn Babys gestillt sind und in der Wonne Gefühle von Beglückung erleben, sind sie in Kontakt mit ihren psycho-orgastischen Reflexen.

Als Mitbegründerinnen der Biodynamik sprechen meine Schwester Ebba und ich von „psycho-orgastischen Reflexen“. Es gibt nicht nur EINEN Reflex – es gibt eine Reihe von Reflexen für den Ausdruck innerer Ekstase.

Nun zurück zu meiner ersten Begegnung mit Eva Reich. Es war mir wichtig, dass Eva die Entdeckungen meiner Mutter anerkannte und im Zusammenhang mit Reichs Forschung wahrnehmen konnte, dass Gerda das tatsächliche Organ für Reichs ersehnte „Selbstregulation“ entdeckt hatte, nämlich dass die psychoperistaltische Funktion gerade das ist, wonach Wilhelm Reich in seinem fachkündigen Leben gesucht hat. Er hat immer wieder in seinen Schriften hinterfragt, ob es doch irgendwo einen Mechanismus im Körper gibt, der neben dem Orgasmus in subtiler Art und Weise tägliche Selbstregulierung erschaffen kann.

Auf die Idee, dass es der Darmkanal sein könnte, kam er nicht. Gerda Boyesen erforschte es: Der Verdauungskanal ist das Organ (durch die Peristaltik), das für die tägliche organische Selbstregulierung zuständig ist; eine Art „Neuro-Verdauung“.

Gerda entdeckte das 1955 durch ihre Arbeit als Physiotherapeutin und Psychologin.

Jetzige Wissenschaftler wissen erst seit Ende der 90iger Jahre, dass das Darmsystem, das „enterische Nervensystem“, mit seiner Peristaltik und erstaunlicher Menge von Nervenzellen mehr psychisch betont ist als zuvor gedacht – und nennen es das „Bauchhirn“.

Wir Biodynamiker haben seit Jahrzehnten mit Stethoskopen dem Bauchhirn gelauscht und sein „Schreien und Heulen“ gehört – und entladen.

Wenn Neurosen (Stau/Toxits) „verdaut und eliminiert“ werden, gibt es mehr Raum für die vitale Lebensenergie, weil eine tatsächliche organische Reinigung durch die psychoperistaltische Aktivität stattfindet und eine Revitalisierung in Kraft tritt.

Als Eva Reich, diesmal beim Abflug, Gerdas Entdeckung nochmals bestätigte, sagte sie mit einem Lächeln: „Ihr seid ja fast mehr Reichianer als mein Vater!“

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