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Bukumatula 2/2001

Schocktrauma

Isaias Costa:

A. Einführung

Ich habe mich sehr gefreut als Beatrix Teichmann-Wirth mich eingeladen hat, für Bukumatula zu schreiben. Bukumatula war die erste Psychotherapiezeitschrift, die ich regelmäßig gelesen habe und hat daher einen besonderen Platz in meinem Herzen. Sie bringt mir das Gefühl von Verbundenheit mit Wilhelm Reich und mit lieben Leuten, die seinen Auftrag nach Liebe, Arbeit und Wissen in ihren Leben verwirklichen.

Es freut mich auch in einer Zeit zu leben, in der die Körperpsychotherapieschulen mehr zueinander finden. So ist es schön, dass der Obmann des Arbeitskreises für Emotionale Reintegration (ERI) für die Zeitung des Wilhelm Reich Instituts schreibt. Um so mehr als dieser Beitrag Teil einer Auseinandersetzung mit ExpertInnen anderer Richtungen ist.

Dieser Artikel gibt einen Überblick über theoretische und methodologische Überlegungen der ERI zum Schocktrauma, die auf vielen Jahren Praxis beruhen.

Ich wünsche der Leserin (Ich verwende die weibliche Form, wenn beide Geschlechter gemeint sind) eine aufregende Lektüre und freue mich über Rückmeldungen.

B. Charaktertrauma, Schocktrauma, PTSD

Die Begriffe in diesem Zusammenhang werden noch sehr unterschiedlich verwendet. Ich möchte daher zum Beginn anhand eines Vergleiches drei zentrale Begriffe genauer besprechen: Charaktertrauma, Schocktrauma und PTSD (Post-Traumatic Stress Disorder, auf deutsch: Posttraumatische Belastungsstörung).

Wenn eine Person einer verletzenden Situation ausgesetzt wird, reagiert sie mit einem Notprogramm, das, je nach Bedrohung, immer drastischere Maßnahmen setzt. Normalerweise sind diese Maßnahmen sehr effizient, sodass keine „Narben“ zurückbleiben.

Es kann passieren, da der Selbstheilungsprozess nur zum Teil erfolgreich ist und eine Narbe entsteht. Die Wunde ist zwar geheilt, aber sie hinterlässt eine bleibende Veränderung im Organismus. Diesen Prozess auf der psychischen Ebene nenne ich Charaktertrauma.

Dieses Trauma formt den Charakter und verringert die Mobilität der Person. Die therapeutische Arbeit besteht darin, die Narbe zu öffnen, damit der Selbstheilungsprozess wieder einsetzen kann. Die „Narbe“ steht hier für den Charakter oder Widerstand oder Verdrängung, je nach Perspektive.

Das Notprogramm kann aber auch weniger erfolgreich sein. In diesem Fall schließt die Wunde zwar oberflächlich, innerlich aber gibt es eine Entzündung. Die Wunde schmerzt und eitert, ist unübersehbar. Da besteht die Aufgabe nicht darin, irgendeine Narbe aufzudecken, sondern vielmehr die Wunde zu reinigen und die Entzündung zu begrenzen, um zu ermöglichen, dass eine Vernarbung stattfindet. Auf der psychischen Ebene nenne ich das ein Schocktrauma, weil das Trauma die Person in der Schocksituation festhält.

Ich diagnostiziere PTSD, wenn die „Entzündung“ außer Kontrolle gerät und sich auf den ganzen Organismus zu erstrecken droht.

Die hier beschriebene Methode der Schockarbeit ist demgemäss sowohl in der Behandlung von PTSD, von leichterem Schocktrauma, als auch in der Persönlichkeitsarbeit nützlich. Letzeres in der Phase, wo die Narbe gerade offen ist, oder, anders gesprochen, ein Widerstand aufgegeben wird, oder die Verdrängung nachlässt, oder die Panzerung schmilzt.

1. Zur Erforschung von Schocktrauma

In den letzen Jahren gewinnt die Erforschung von Schocktrauma immer mehr an Bedeutung. Sie deckt ein weites Gebiet ab, das von der Neurophysiologie bis zur Psychosoziologie reicht. Siehe dazu die ausgezeichnete Artikelsammlung Kolk u.a. (1996) und das Buch von Peter Levine (1998). Es gibt auch eine Zeitschrift die allein diesem Gebiet gewidmet ist: PTSD Research Quarterly.

Neuere Ergebnisse bringen spannende Themen auf den Tisch, z.B.:

  • mehrere ernste psychische Krankheiten, wie z.B. die Schizophrenie und Borderline Persönlichkeitsstörung (Sachsse, 1995), können mit einem Schockzustand in Bezug gestellt werden;
  • ·im Ursprung jedes Traumas gibt es einen Schockzustand, der neurologische Spuren hinterlässt; seine emotionale Reintegration kann durch einfache Gehirnbildtechniken dokumentiert werden;
  • das Ausmaß der Traumatisierung eines Schocks hängt stark von der vorhandenen psychischen Struktur ab;
  • die Überwindung des Traumas steht in einem direkten Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Einrichtungen zur Unterstützung des Opfers und der kulturellen Rolle des Opfers.

2. PTSD

Aber was ist eigentlich PTSD? Ein Beispiel: Der amerikanische Soldat nimmt an einem Angriff auf ein vietnamesisches Dorf teil, wo er die größten Grausamkeiten erlebt. Plötzlich sieht er sich einem feindlichen Soldaten gegenüber und gerät in Schock. Er wird in der letzten Sekunde von einem Kameraden gerettet. Monate später, nachdem er sich von den Verletzungen erholt hat, zurück in seiner kleinen Heimatstadt im Hinterland der Vereinigten Staaten, fängt er an, von „flash backs“ des Gefechtes terrorisiert zu werden. Er regt sich immer mehr auf, unter immer mehr Stress, kann sich in der Arbeit nicht konzentrieren, verunglückt schließlich in der Arbeit, isoliert sich gesellschaftlich, alles mit immer mehr Spannung. Am Schluss stürzt er
in ein McDonald´s-Restaurant und metzelt alle Anwesenden nieder.- Und wird von einer Antiterror-Polizeieinheit ermordet. Causa mortis: PTSD.

Hier eine sehr kurze Symptombeschreibung (siehe Kolk u.a., 1996):

  1. Wiederkehrendes Einblenden von schockbezogenen Erinnerungen, die Jahre hindurch, ohne an Intensität zu verlieren, bleiben.
  2. Zwanghaftes Sich-Wiederaussetzen einer dem Trauma ähnlichen Situation, sei es als Opfer oder als Täter.
  3. Verzweifelter Versuch, Umstände zu vermeiden, die Emotionen auslösen, welche mit dem Trauma zusammenhängen.
  4. Die Person befindet sich in einem andauernd übererregten Zustand, als ob sie sich noch immer real in der Gefahrsituation befinden würde.
  5. Verlust der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, Konzentration und Diskriminierung von Reizen.
  6. Wichtige Änderungen im Selbstbild und in der Weltanschauung, begleitet von radikalen existentiellen Entscheidungen. Gefühle von Schuld und Scham sind sehr stark und zutiefst verdrängt.
  7. Die Latenzzeit reicht in der Regel von einigen Wochen bis Monaten (inzwischen häufen sich Berichte über eine Latenzzeit von mehr als zehn Jahren, ja sogar von Jahrzehnten!).

Die Häufigkeit der PTSD-Diagnose nimmt beträchtlich zu, denn es müssen nicht Katastrophen wie Krieg, Folter, oder Orkane Vernichtungen hinterlassen. In unserem Alltag sind Autounfälle, Überfälle, Vergewaltigungen, etc. allgegenwärtig – Ereignisse, die für das Opfer dieselbe Bedeutung wie ein Erdbeben haben können. Und sogar schlimmer: durch den Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung der individuellen Tragödie, wird das Opfer in diesen Fällen einer verhängnisvollen Vergessenheit und Isolation ausgesetzt.

Tabelle Schockmodell

Wenn es ein Gefahrzeichen gibt, unterbrechen wir unsere laufenden Aktivitäten und kommen in einen Zustand der Alarmbereitschaft. Es ist ein vorbereitender Halt, in dem wir Energie aufbauen und versuchen, uns zu orientieren. Stellen wir uns ein weidendes Reh vor. Es hört ein Geräusch und bleibt still – sein Herz klopft. Eine Übersicht:

Gefahrzeichen » Alarmbereitschaft » Orientierung

Die Orientierung bezweckt im Grunde die Entscheidung zwischen drei Möglichkeiten: zu flüchten, anzugreifen oder den Alarm zu ignorieren. Das oben erwähnte Reh würde entweder laufen und sich in Sicherheit bringen, oder den lästigen Hasen vertreiben, oder weiter fressen. Dabei wird die vorher aufgebaute Energie entladen.

Wie wir im vorherigen Diagramm sehen, wird jede Wiederholung des Zyklus auf einer höheren Energieebene durchgeführt. Die Umstände werden immer drängender und die Reaktionen immer drastischer, sowohl vom kinestätischen als auch vom psychologischen und biologischen Standpunkt her. Und zugleich wird die Gefahr immer größer, dass diese Energie, wird sie nicht entladen, traumatisierend wirkt.

b. Neurologische Aspekte

Im extremen Zustand der tonischen Immobilität ist die Funktion des Gehirns tief verändert. Diese Störungen haben einen bleibenden Charakter. Die natürliche psychische Arbeit der Überwindung der Krise in diesem Fall beschränkt sich auf die Isolation der neuronalen Verbindungen vom Rest des gesunden Netzwerks. Ein organisches Analogon ist die Bildung einer traumatischen Zyste um einen Fremdkörper, der in die Haut eingedrungen ist und nicht ausgestoßen werden konnte. Es gibt einige neurologische Symptome eines verbleibenden Schockzustandes, die leicht erkennbar sind:

  1. Fragmentierung des Gedächtnisses. Gedächtnislücken sind häufig. Es handelt sich hier nicht um Amnesie, weil die Information nicht gespeichert wurde, da das Großhirn abgeschaltet war. Die therapeutische Arbeit hier besteht darin, die Lücke mit Phantasie zu „stopfen“, basierend auf einer Interpolation der bestehenden Daten.
    Dieses wird durch ein kontrolliertes Wiedererleben der Schockumstände erreicht, was eine neuronale Reorganisation ermöglicht. Das traumatische Ereignis wird zeitlich rekonstruiert.
  2. Desorientierung. Die Klientin wird während des Schocks räumlich desorientiert. Das ist physiologisch durch den Erregungsüberschuß im emotionalen Hirnareal zu erklären, welcher die Verbindung zwischen den zwei Hirnhälften behindert. Es ist daher wichtig, der Klientin Wirklichkeitsbezüge anzubieten, Bezugspunkte. Das Ereignis wird räumlich rekonstruiert.
  3. Sprache. Ein anderes tief gestörtes Hirnareal ist dabei das Sprachzentrum. Das bewirkt, dass die Klientin Schwierigkeiten hat, ihre Erfahrungen logisch, syntaktisch, zu ordnen. Der Zugang zur Erinnerung der Ereignisse ist deswegen auf körperlicher Ebene viel leichter. Auf der anderen Seite wird auch der sprachliche Ausdruck des Ereignisses eines der Ziele der therapeutischen Arbeit sein; mit anderen Worten: die kognitive Reintegration der übriggebliebenen körperlichen Erfahrung und der teilweise rekonstruierten emotionalen Erfahrung.
  4. Archaismus: Ein letzter, wichtiger, Aspekt, den es zu besprechen gilt, ist die Tatsache, dass auch die Emotionen und Körpergefühle, zu denen die Klientin während des Schocks Zugang hat, sehr archaische Emotionen und Körpergefühle sind, aus dem Lebensalter, das vor dem Spracherwerb oder sogar vorgeburtlich ist. Es werden also Emotionen sein, die wenig von den dazugehörenden Körpergefühlen differenziert sind wie Kälte/Angst, In-den-Boden-sinken/Abspaltung, usw.

c. Existentieller Sinn, Lebensentscheidungen

Während des Schocks – möglicherweise weil sie ihr Leben bedroht sieht – trifft die Klientin eine Reihe von Lebensentscheidungen, die nach dem Schock weiterbestehen und die ihre Lebensqualität zutiefst beeinträchtigen können. Ein Beispiel (Costa 1999):

Beispiel: Lebensentscheidungen

Eine Klientin geht mit einer sehr schüchternen Haltung durch´s Leben. Sie macht sich immer wieder klein. Die Schocktraumabearbeitung eines Selbstmordversuches ermöglicht ihr, sich an die ersten Worte zu erinnern, die ihr der damalige behandelnde Arzt gesagt hatte, als sie in der Intensivstation wieder zu sich gekommen war: „Was für eine feige Art, sich in den Friedhof zu schicken!“ Dieser Satz wirkte wie ein Auftrag: In jeder Stresssituation glaubte sie, feige zu sein und handelte dementsprechend.

Durch die therapeutische Arbeit konnte sie das Introjekt aufgeben, was eine große Änderung ihrer Lebenshaltung bewirkte.- Es ist daher die Aufgabe der Therapie, diese Entscheidungen, diese Kurzschlüsse, zu revidieren.

Es ist genauso wichtig für die Klientin, dem Trauma einen existentiellen Sinn zu geben, um es überwinden zu können, in den Rest ihres Lebens zu reintegrieren und sogar in eine einmalige Ressource umzuwandeln. Die Bedeutung dieser Sinngebung wird umso größer, wenn wir an die Möglichkeit einer daraus resultierenden bleibenden Körperbehinderung denken.

d. Sicherheit und Ressourcen

Vor der eigentlichen Schockarbeit muss sichergestellt werden, dass es genug Sicherheit in der therapeutischen Beziehung und im Raum der Praxis gibt. Es ist auch von besonderer Wichtigkeit, ein gutes Repertoire an Ressourcen der Klientin an der Hand zu haben. Sie werden während des Wiedererlebens des Ereignisses als ein Mittel verwendet, um zu vermeiden, dass die Klientin wieder in Schock gerät. Diese zwei Themen, Sicherheit und Ressourcen, sind für die Behandlung des Schocks äußerst wichtig.

Sie sind aber für diese Klientinnen keine Selbstverständlichkeit. Es ist üblich, dass die Klientin sozial isoliert ist, ohne etwas zu besitzen, das ihr Sicherheit bietet, sei es psychisch, sei es in Beziehungen freundschaftlicher, beruflicher oder sozialer Natur. Die Klientin ist auch in einer extremen Phase, hocherregt und mit sehr wenig Tonus, in der sie glaubt, gar keine inneren Ressourcen zu haben.

2. Besondere Methoden

Ich beschreibe jetzt eine Reihe von Methoden, die besonders in der Behandlung von Schocktraumata verwendet werden. In Wirklichkeit sind dies kleine Abänderungen von vertrauten Methoden der Körperpsychotherapie, die die Eigenart des Schockzustandes berücksichtigen. (ausführlicher: Costa 1997)

a. Körperlesen

Es gibt eine Reihe von Zeichen, die ein Schock auf Körperebene hinterläßt und die zur prozessualen Diagnose verwendet werden können. Sie sind wie „Überbleibsel“ vom Schock, Bewegungen, die während des Schocks eingefroren wurden. In jedem guten Workshop über Schocktrauma werden sie genau vorgeführt. Hier nennen wir nur einige Beispiele: a) der Schreckreflex (lange Nackenmuskeln hochgezogen, aufgerissene Augen, Knie nach hinten gestreckt, „in breath“), b) Reste von Angriffs- oder Fluchtbewegungen, c) Desorientierung (kurze Nackenmuskeln angespannt), d) infrahyoidale Muskulatur angespannt, e) große und starre Pupillen, f) Betäubung, g) Unfähigkeit, die Energie zu halten, h) verdrehter Körper. Die komplementäre Reaktion – nämlich die exzessive Entspannung der genannten Reflexe – hat natürlich dieselbe Bedeutung.

b. Sicherer Ort

Der „Sichere Ort“ ist ein imaginärer Ort, wohin die Klientin während der Therapiearbeit flüchten kann, damit sie nicht wieder in Schock gerät.

Es gibt zwei Arten von Sicheren Orten: der heute verfügbare und der zur Zeit des Ereignisses verfügbare. Sie werden für die Flucht und auch als Ressource während der Reintegration des Traumas verwendet. Der Sichere Ort umfasst auch Personen, mit denen die Klientin sich sicher fühlt. Er muss, zumindest im Prinzip, realisierbar sein. Nicht sinnvolle wären z.B.: eine Person, die schon gestorben ist, ein Schutzengel, ein durch einen Brand zerstörtes Haus. Es ist auch notwendig sicherzustellen, dass es keine Überlappung zwischen Sicherem Ort und dem traumatischen Ereignis gibt. Eine Person wurde, z.B. zu Hause überfallen und wählt als Sicheren Ort ein Zimmer in eben diesem Haus! Auch zu beachten ist der mögliche Widerspruch zwischen dem Sicheren Ort und der Charakterstruktur.

Die Suche nach dem Sicheren Ort ist auch nützlich, um die psychosozialen Bedingungen der Klientin zu erforschen, da ja die Isolation ein häufiges Symptom von Schocktraumaopfern ist. In diesem Sinne ist es wichtig im Hier und Jetzt der Klientin zu arbeiten und zu versuchen, sie aus der Isolation zu holen. Eine unterstützende Möglichkeit bietet eine begleitende Gruppentherapie.

In diesem Sinne können auch Stützpersonen in der Therapie eingesetzt werden, das heißt Personen, mit denen sich die Klientin sicher fühlt und die zur Sitzung mitgebracht werden können. Dies ist bei Kindern und bei sehr starken Traumata zu empfehlen, wo sonst die Therapie nicht durchgeführt werden könnte.
Die Beziehung zur Therapeutin und ihrer Praxis trägt auch zum Sicherheitsgefühl der Klientin bei. Daher kann die therapeutische Beziehung selbst als Sicherer Ort verwendet werden.

c. Flucht

Auf dieselbe Weise wird die Flucht zum Sicheren Ort in einer sehr bildlichen Art betrachtet. Es ist notwendig, die Möglichkeit zur Flucht zu haben, die die Klientin ins Hier und Jetzt zurückbringt und ihr die emotionale und körperliche Erfahrung gibt, dass der Schock nicht unvermeidbar ist.

Die Flucht geschieht in der Form eines realen Rennens in der Praxis. Auf der Matte, im Sitzen oder im Stehen auf demselben Fleck. Sie soll unbedingt koordiniert sein (d.h.: linker Arm mit rechtem Bein und rechter Arm mit linkem Bein), um die Verbindung zwischen den Gehirnhälften zu fördern und um auch vom neurologischen Standpunkt her die Reorganisation zu erleichtern. (Dieselbe Funktion hat die berühmt gewordene Technik EMDR – Eye Movement Desensibilisation and Reprocessing. Siehe dazu Sachsse, 1995).

Zugleich geschieht die Flucht in der Phantasie, vom Schockplatz zum Sicheren Ort. Dafür muss vorher ein Raumplan und ein Fluchtweg festgelegt worden sein. Sie sollten, wegen der zu erwartenden Desorientierung der Klientin möglichst detailliert sein. Die Therapeutin wird den Fluchtweg als ein Mittel verwenden, die Klientin während der Flucht zu führen. Die Flucht endet im Sicheren Ort und zugleich im Kontakt mit der Therapeutin in deren Praxis.

1. Die Schockarbeit

Das Ziel der Schockarbeit ist eine graduelle Regression zur Schocksituation, ohne dass die Klientin wieder in einen Schockzustand fällt. Durch diese Erfahrung kann sich die Klientin sensorisch reorientieren und ihren Körper wieder in Besitz nehmen. Sie kann die Emotionen, die während des Schocks dissoziiert werden mussten, reintegrieren und dabei den riesigen Stress, diese zu vermeiden, abladen. Sie kann die Folgen des Ereignisses und seinen existentiellen Sinn verstehen und sich dabei erlauben, die Schuldgefühle loszuwerden, die Wiederholung des Ereignisses zu vermeiden und es sogar in eine Ressource umwandeln. Für die Schockarbeit gilt grundsätzlich folgende ideale Arbeitsvorschrift:

a. Wahl des zu bearbeitenden Schocks

Die Therapeutin sollte das Ereignis im Einklang mit ihrer allgemeinen Strategie wählen und achten, dass ein gewisses Gleichgewicht zwischen der zu mobilisierenden Energie und den verfügbaren Ressourcen besteht. Danach sollten die Arbeitsregeln überprüft werden.

b. Arbeitsregeln

  1. Stop! Das ist das Kennwort, um alle Aktionen beider Seiten zu unterbrechen. Es kann sowohl von der Klientin als auch von der Therapeutin verwendet werden. Andere Wörter, wie „Halt“, „Geh weg“, usw., werden nicht unbedingt befolgt.
  2. Lauf! Wenn die Therapeutin die Klientin zum Laufen auffordert, hat diese es unbedingt zu befolgen. Dies ist wegen der tonischen Immobilität des Schocks notwendig. Dasselbe gilt für die anderen Repräsentationsebenen (verbale: „Schrei auf!“ und visuelle: „Schau mich an!“).

c. Bericht der Geschichte

Dann fängt die Klientin an das Ereignis zu erzählen. Sie setzt bei einem Punkt an, wo die Emotionen noch gut integriert sind. Die Therapeutin lenkt dauernd die Aufmerksamkeit auf die Awareness der Körpergefühle und der Emotionen. Der Bewußtheitsgrad der Körpergefühle und der Emotionen, die Dichte an Details und die Unterbrechung des Berichtens ermöglichen es, die aufgewendete Energie zu kontrollieren. Sie überprüft immer wieder, ob die Klientin wieder in Schock kommt und fordert sie gegebenenfalls auf zu „flüchten“.

d. Flucht zum Sicheren Ort

Das Ziel der Flucht ist es, die Klientin aus der Immobilität und der Regression zu holen.

e. Reflexion

Die Reflexion über die Arbeit hat zur Aufgabe:

  1. Das kognitive Verstehen und das Finden eines existentiellen Sinnes,
  2. Die Änderung von psychischen Mustern,
  3. Das Vervollständigen von nicht abgeschlossenen Reflexen.

f. Schocktrauma aufgearbeitet?

Wenn die Reflexion abgeschlossen ist, sollten wir überprüfen, ob der Schock als abgeschlossen betrachtet werden kann:

  • Das Ereignis wird als ein Bestandteil der persönlichen Geschichte betrachtet (es ist passiert und hat mich betroffen),
  • Die Klientin ist imstande, die Geschichte mit Emotion und ohne Dissoziation zu erzählen,
  • Die Klientin ist fähig, sich in ähnlichen Situationen anders zu verhalten,
  • Die Körperzeichen des Traumas nehmen ab oder verschwinden.

Wenn es Anzeichen gibt, dass der Schock noch aktiv ist, ist es notwendig, die Arbeit bei Punkt c (Bericht der Geschichte) wieder anzusetzen. Der Vorgang ist rekursiv und vertiefend. Die Wahl des Sicheren Ortes z.B. hängt vom Inhalt des Traumas ab; dieser kann aber erst bearbeitet werden, wenn der Sichere Ort festgelegt wurde. Der Schlüssel zur Lösung dieses Circulus vitiosus liegt darin, nur eine solche Energiemenge zu mobilisieren, die im Punkt 4 – Flucht zum Sicheren Ort – entladen werden kann.

Dieses Rezept soll selbstverständlich nicht streng befolgt, sondern dem Prozess der Klientin angepasst werden. Es ist auch sinnvoll, sehr flexibel mit Häufigkeit und Dauer der Sitzungen umzugehen. In dem Fall z.B., wenn eine sehr große Menge an Energie mobilisiert wird, kann es sinnvoll sein das Sitzungsintervall zu verdichten.

Das Trauma sollte nicht unmittelbar nach dem Schock bearbeitet werden. Der Klientin soll zuerst die Möglichkeit geboten werden, die existierenden persönlichen und sozialen Ressourcen in Anspruch zu nehmen, um die Krise zu überstehen.

4. Zusammenfassung

Wir haben hier die Psychodynamik des Schocks untersucht. Sie ist zusammen gefaßt in der tonischen Immobilität, Folge der Unfähigkeit einer Entscheidung zwischen den primären Impulsen von „fight or flight“. Wir haben gesehen, dass der Organismus in einer Überlebensstrategie die komplexeren Funktionen allmählich abschaltet und die Schockabwehr nur auf einer sehr archaischen Ebene möglich ist; der Organismus regrediert zu einem immer früheren Entwicklungsstadium und verliert die differenzierten psychischen Funktionen. In diesem Kontext von extremer Not haben Begriffe wie „existentieller Sinn“, „Sicherheit“ und „Ressourcen“ eine sehr wichtige Rolle.

Mit diesem Wissen war es leicht, eine spezielle Methode zur Behandlung von Schocktrauma zu beschreiben, die sowohl bei PTSD als auch in der Behandlung von Charaktertraumata indiziert ist.

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Literatur:

Costa, I., Schocktrauma – Eine Einführung, in PULSATIONEN 24, 4, Wien, 1997
Costa, I., Die Schwangerschaft als Weg zur eigenen Geburt, in PULSATIONEN 31, 5, Wien, 1999
Kolk, B., McFarlane, A. & Weisaeth, L., (Hg.), Traumatic Stress, the Effects of Overwhelming Experience on Mind, Body and Society, The Guilford Press, New York, 1996.
Levine, P., Frederick, A., Trauma-Heilung – Das Erwachen des Tigers – Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren, Synthesis, Essen, 1998
Sachsse, U., Selbstverletzendes Verhalten. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, 1995

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