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Bukumatula 2/2001

Wie wenig ist noch genug?

Zwei Jahre „Organisationsentwicklung Wilhelm Reich Institut“, Individual- und Organisationsentwicklung
Anton Stejskal:

In meiner Funktion als Organisationsberater habe ich das Wilhelm Reich Institut bei einem Organisationsentwicklungsprojekt begleitet. Der Prozess begann im Jänner 1999 und endete im Jänner 2001. Nach Projektende hat mich der Vorstand um schriftliches Feedback bezüglich seines Verhaltens und Vorgehens ersucht. Diesem Wunsch komme ich gerne nach. Um die Rollen zu differenzieren, werde ich sie karikieren. Übertreibungen seien mir verziehen.

Der erste, mit dem ich in Berührung kam, war der „überforderte Hausmeister“. Seine Rolle war geprägt von Hoffnungslosigkeit (die er bis zum Schluß nicht ganz los wurde) und einer grandiosen Zähigkeit. Wie er das – teilweise antiquierte – Gebäude WRI stur und unbedankt durch die Zeiten hievt, ist bewundernswert. Wichtig zu sehen ist natürlich auch, dass der Hausmeister immer wesentlich zum Image des Hauses beiträgt. Im großen und ganzen ist er aber jemand, auf den man sich verlassen kann und wenn er grad wieder grantig ist, wendet ein kleiner Trost schnell alles wieder zum besseren (d.h. zum alten).

Ihm zur Seite steht seit neuestem der „moderate Neuerer“. Durchaus eingedenk der Tradition, der „Lehre“, will er nicht nur die Fassade des Hauses, sondern auch die Strukturen im Inneren (Organisation, Kommunikation, Identität der HausbewohnerInnen, etc.) erneuern. Vielleicht könne man doch irgendwann mit dem, was man ist und was man hat, an die Öffentlichkeit gehen. Zum Schluß gibts da draußen jemanden, der sich für unser Haus interessiert, auch einziehen will, Miete zahlen will, etc.

So wird er nicht müde, die HausbewohnerInnen zu Treffen einzu-laden, allein es meldet sich (fast) niemand. Im Vorstand gibt es noch zwei Mitwirkende, den „Traditionalisten“ und den „wohlwollenden Beobachter“. Ersterer bremst, verweist auf meine, trotz starken Schocks hervorgestotterten Empfehlungen, „nichts riskieren … ruhig bleiben … Pannendienst anrufen“, kommen bei ihr nicht mehr an. Sie hat bereits aufgelegt.

Ich verabschiede mich mit übermenschlichen Kräften von meinem Klienten und setze mich beim nächsten Handysignal vorsichtshalber auf meinen Sitzknopf. Es meldet sich jedoch mein älterer Sohn, der sich über das erleichterte Aufstöhnen wundert, das sein Anruf bei mir auslöst. In den nächsten fünf Minuten erhalte ich von ihm erstklassige therapeutische Unterstützung. Dann sitze ich bloß noch da und versuche mich zu sammeln. All-mählich gewinne ich wieder die Fähigkeit des Denkens zurück.

Paula, die Person hinter der Telefonstimme, kommt schon seit sechs Jahren zu mir. Sie hat sich von einer scheuen, stark gehemmten und leicht kränkbaren Frau zu einer noch immer vorsichtigen, aber im Kontakt schon fordernder werdenden, selbstbewussten Persönlichkeit entwickelt, die seit einiger Zeit versucht, mich in ihr selbstaus-beuterisches System einzubauen, indem sie entdeckt hat, daß sie z.B. nach einem zwölfstündigen Arbeitstag von mir bloß noch gehalten werden will und mir mit dieser Form des Widerstands mächtig zu-setzt.

Ich möchte hier nicht ihren Fall und mein therapeutisches Verhalten in den Vordergrund stellen. Um aber zu dokumentieren, wie hilflos ich mich manchmal mit dieser Klientin fühle, sei ein Satz erwähnt, den ich zwei Stunden vor dem dramatischen Abend formulierte, als sie die fast mit bloßen Händen greifbare Spannung zwischen uns mit dem An-sinnen auf Gehaltenwerden erträglich machen wollte. „Ich verstehe nicht, warum du das willst“, argumentierte ich bereits in der Defensive, „ich erlebe dich im Moment nicht verzweifelt oder in Not.“

Nun sitzt sie also im Auto, hat vielleicht wirklich den lebensgefährlichen Richtungswechsel auf der Autobahn geschafft und fährt durch dichtes Schneetreiben in meine Praxis, die im südlichen Niederösterreich, im Piestingtal, liegt. Dort, wo sich an einigen Stellen Straße, Bach, Bahn und Radweg die vorhandenen 20 Meter redlich teilen müssen. Ich hatte an diesem Donnerstagabend im Jänner mit meinem Sohn ein Telefongespräch zwischen zwei Therapiestunden vereinbart und schaltete, entgegen meiner Gewohnheit, das Handy schon eine Stunde vorher ein, um nicht auf den Anruf zu vergessen.

Knapp vor Ende der Stunde, der vorletzten an diesem Tag, liegt das Handy neben meinem Schreibblock, der Klient auf der Matte. Er hat mir soeben über seine Erfahrungen bei einer körperlichen Intervention berichtet, und ich setze an, seine Äußerungen in meine Wahrnehmungen einzubinden, als das Telefon aufjault – City-Sound!

Ich bin irritiert. Alexander ruft gewöhnlich pünktlich an. Besonders wenn er weiß, dass ich arbeite. Zu hören bekomme ich aber die Stimme der Klientin, die erst in 30 Minuten zur Sitzung kommen soll. Das Gespräch bleibt einseitig: „Ludwig, ich fahre da gerade auf der Autobahn im dichten Schneetreiben. Wahrscheinlich komme ich zu spät in die Stunde, weil auf der Fahrbahn so viel Schnee liegt. Auch auf der dritten Spur … ohhh … ich habe einen Unfall … das Auto steht quer … die kommen alle auf mich zu … bete für mich …!!“

Die Verbindung bricht ab …

Ich lasse das Handy fassungslos sinken. Der Klient auf der Matte schaut mich erwartungsvoll an, die therapeutische Conclusio dieser Therapiestunde erwartend. Es dauert einige Zeit bis ich von den Gedankenfetzen „Mein Gott, wovon bin ich da jetzt Zeuge geworden … sie wird doch nicht … was kann ich jetzt tun …?“, abgleite und kopfüber in das schwärzeste Blackout meiner jüngsten Vergangenheit stürze.

Der Klient blickt mich noch immer erwartungsvoll an. Ab diesem Moment streikt mein Erinnerungsvermögen und zwar bis zu dem Zeitpunkt, als er den Raum verlassen will (ich muss doch noch etwas gesagt haben!) und das Telefon abermals losgeht. Die Stimme meiner Klientin: „Ich stecke jetzt am Pannenstreifen gegen die Fahrt-richtung im Schneehaufen fest … die Scheinwerfer sind noch weit weg … ich glaub’, ich kann umdrehen! Warte bitte auf mich … ich komme nur ein bißchen später!“

alte Werte, hinterfragt modernes Getue wie „Organisationsentwick-lung“ oder „Pressearbeit“ kritisch. Zweiterer überfordert seine Mit-streiter nicht mit allzuvielen Inputs und manchmal frage ich mich, warum er eigentlich da sitzt. Beide haben eine wichtige, zu reflektierende Funktion. Welche Dyna-mik, die draußen (im Haus) passiert, spiegeln sie drinnen (im Vor-stand) wider? Welche Art von Phlegma der Vereinsmitglieder bedient der Vorstand hier? Wo liegt die Grenze zwischen ruhigem, zentriertem Da-Sein und selbstgefälliger Apathie?

Neuerer und Hausmeister arbeiten inzwischen. Sie haben sich zur operativen Einheit des Vierecks gemausert. Eine Selbstdarstellung gibts jetzt, Leistungen werden definiert. Es gelingt ihnen, neue Kom-munikationstrukturen zu installieren, das alte Haus kriegt neue Lei-tungen. Nicht nur innen, auch nach außen netzt es jetzt inter. Eine wichtige Voraussetzung, um neue InteressentInnen zu erreichen. Die Frage ist nur, welche? Auf die ein Jahr vorher von mir gestellte Frage, wer/was denn die wichtigen Umwelten des Vereins seien, war das Schweigen groß.

Je mehr das Power-Duo arbeitet (sogar der Traditionalist wird aktiv), desto mehr zieht sich der Beobachter zurück. Ist das ein gutes Zeichen? Weicht die Untätigkeit dem neuen Unternehmergeist? Werden Dinge, über die man seit Jahren redet, getan? Wenn sie von einem oder zweien getan werden, hat sich nichts geändert. Das ist zuwenig. Oder ist wenig genug?

Merke: Ein Feedback sagt immer mehr über den Feedbackgeber aus als über den Feedbacknehmer.

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