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Bukumatula 3/1997

Die biologischen Grundlagen des schizoiden Prozesses, Teil 2

Fortsetzung von Bukumatula 2/97
Ein funktioneller Ansatz zur Charakterentwicklung
Will Davis

Frühe Entwicklung

Das Plasma und das schizoides Stadium tauchen früh in der Entwicklung des Organismus auf. Um sich gegen traumatische Erlebnisse zu stabilisieren, unternimmt der Organismus als erstes den Versuch, plasmatisch zu kontrahieren – für einen Säugling ist dies die einzige Möglichkeit, sich zu beschützen. Somit ist der kontrahierte Zustand – die Paralyse – der einzige Schutz des Organismus gegen auftretende Störungen.

Das Bindegewebe sorgt für Stabilität, Halt, Schutz und Raum

Das Bindegewebe schützt die Integrität des Organismus. Trauma und Schock bedrohen die Integrität und werden als existentielle Gefahr erlebt. Das hat – als Abwehr gegen die Lyse, gegen die Angst sich aufzulösen, gegen das Verschwinden – eine Paralyse zur Folge. Zu diesem frühen Zeitpunkt gibt es für das Baby keine Möglichkeit zu verstehen, begrifflich zu erfassen oder zu verbalisieren, was passiert. Die einzige Zuflucht für den Organismus besteht darin, sich in sich selbst zurückzuziehen.

Da der schizoide Charakter in seinem Leben so viel an Zeit und Energie aufwendet nicht zu „verschwinden“, hat er große Schwierigkeiten „sich zu zeigen“, z.B. in seiner Unfähigkeit, Kontakt über eine längere Zeit hinweg aufrecht zu erhalten. Dasselbe Thema zeigt sich auch in der Unfähigkeit des Schizoiden, einen „Platz in der Welt“ zu finden. Beide Themen, Kontakt zu halten und einen „Platz“ zu finden, machen es ihm unmöglich, nahe Langzeitbeziehungen herzustellen. Diese Unfähigkeit verstärkt sein Misstrauen und seine Schwierigkeit präsent zu sein, hier in der Welt zu sein. Und so entsteht ein Circulus vitiosus; das eine Thema geht in das andere über.

Das Gefühl von „Hier gibt es keinen Platz für mich“, ein Fremder in einem fremden Land zu sein kommt auch daher, weil es das Bindegewebe ist, das Form und Raum im Körper schafft. Wenn das Gewebe plasmatisch kontrahiert, kann es seine eigentliche Funktion nicht mehr erfüllen. Der Schizoide leidet an dem zweifachen Aspekt dieses Problems: keinen Raum und keine Form zu haben.

Er leidet daran „dünn zu sein“, ohne wirklich eine „Peripherie“ zu haben.- Die Peripherie ist nahe am Core. Es gibt fast keinen physischen Raum zwischen dem Zentrum des Körpers und der Peripherie. Wenn wir eine phallische Struktur mit weit hervortretendem Brustkorb oder die „Vollheit“, die man beim masochistischen oder hysterischen Charakter findet, betrachten, können wir ausreichend Raum zwischen der Haut und dem Zentrum – der Peripherie und dem Core – erkennen.

Im Körper eines Schizoiden existiert dieser Raum nicht. Der Schizoide ist bereits im Inneren seines kontrahierten, zurückgezogenen Zustandes, und da gibt es keinen Platz mehr.

Um es auf den Punkt zu bringen: die innere Erfahrung dieses Menschen ist die von Angst, Dunkelheit und Gefahr. Wer möchte schon da drinnen bleiben? Deswegen „verlässt“ er seinen Körper oft. Deswegen wird der Körper „verloren“. Er verliert den Kontakt nicht nur zu anderen, sondern auch zu sich selbst.- Wenn er aber Kontakt zum eigenen Körper hätte, welche Erfahrung würde er dann machen? Welche Rückmeldung würde er in bezug auf seine Lebensqualität erhalten?- Deshalb bleibt er oft lieber mit der Wahrnehmung seiner Erlebnisse – mit der Idee davon, statt mit dem Erlebnis selbst, allein.

Wenn man in der Therapie keine „Durchbruchstechniken“ anwendet, um die Kontraktion zu öffnen, kann dieser Zustand eine Änderung erfahren. Mit der „Points and Positions“-Arbeit kann man den „Instroke“, das „Nach-innen-gehen“, die sammelnde Phase der Pulsation, mobilisieren. Indem wir den Einwärtsfluß ermöglichen, wird das Verlangen nach mehr Schutz unterstützt. Damit kann die Kontraktion behutsam gelöst werden, ohne existentielle Angst zu mobilisieren. Es entsteht ein Prozess der Sammlung und der Zentrierung. Klienten berichten dann von einem Gefühl einer „inneren Sonne“, von einem warmen Raum, den sie aufsuchen können, etc. Sie haben ihre Beziehung zu sich selbst verändert.

Andererseits – und das ist der zweite Aspekt der plasmatischen Kontraktion, leidet der Schizoide daran, dass er nicht „hinaus“ kann. Er wendet so viel an Zeit auf, nur um „hier“ zu bleiben, dass ihm nur wenig Energie bleibt, hinaus in die Welt zu gehen, um sich Raum zu schaffen, einen sicheren, abgesteckten Platz zu schaffen, wo er leben und Zeiten von Stress und Gefahr überstehen kann. Arbeit, langwährende Freundschaften, Liebesbeziehungen, Familie, alle äußeren sozialen Verhaltensweisen, die für uns eine Welt schaffen, in der man leben kann, sind für ihn nicht wirklich verfügbar.

Die Beziehung zwischen Bindegewebe und Muskulatur

Die schizoide Kontraktion ist eine Frühstörung. Als Folge davon ist die spätere Muskelentwicklung, die man bei anderen Strukturen beobachten kann, stark verändert, da schizoide Charaktere einen eingeschränkten Fluss der Lebensenergie in die Peripherie haben. Entwicklungsgeschichtlich bildet sich die Muskulatur später aus, als das Kind zu greifen, zu stehen, zu gehen und zu laufen lernt. Wegen der Kontraktion ist der Fluss gestört, die Peripherie bleibt unterentwickelt.

Folglich erfüllen auch die Muskeln ihre Funktion nicht. Das Bindegewebe muss nun einen Großteil der protektiven Muskelfunktion übernehmen. Dazu bieten sich zwei Möglichkeiten an:

Jeder Muskel, wie auch jedes Organ ist umgeben von einer dünnen, transparenten Hülle, der „Bindegewebshaut“. Diese Haut ist dazu da, jeden Muskel und jedes Organ zu umhüllen, um es vom benachbarten Gewebe zu trennen. Zusätzlich bietet jede Haut eine gleitende Oberfläche, die jedem Muskel und jedem Organ freie Beweglichkeit in seinem eigenen Raum erlaubt – vor und zurück, nach oben und unten, bezogen auf das umgebende Gewebe. Wenn Muskeln oder Organe unter Spannung gesetzt werden, verbinden sich diese „Häute“, sie verkleben und verbinden sich zu Muskelgruppen, um größeren Widerstand gegen die wachsende Spannung bieten zu können. Es bilden sich große, unnatürliche Muskelgruppen, die zu unbeholfenen Bewegungsabläufen führen. Eine ähnliche Funktionsbeeinträchtigung findet in den Organen statt.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass das Bindegewebe der Muskulatur zu Hilfe kommt, indem es im Muskel selbst eine fibröse Verdichtung aufbaut. In die Muskelmasse verwoben sind lange Bindegewebsfäden, die sich am Muskelende vereinigen und Sehnen bilden. Diese Sehnen erstrecken sich über die Muskelmasse und setzen – wie auch der Muskel selbst – am Knochen an und fixieren ihn an seinem Platz.

Wenn ein Muskel übermäßig angespannt wird, werden die Bindegewebsfasern zur Unterstützung aufgerufen. Das Bindegewebe beginnt sich im Muskel auszubreiten. Diese Fasern entwickeln und vereinigen sich parallel in Richtung der Spannung. Sie bilden Bündel, die aussehen und sich anfühlen wie lange, dicke Stränge. Diese tiefliegenden Faserbündel helfen den Muskel zu stärken, so dass er mit der verstärkten Spannung zurechtkommt.

Diese Bindegewebsverdichtung ist das, was wir als „Härte“ in der Muskulatur verspüren. Sie ermöglicht es, unsere Muskeln nicht nur 20 Minuten, sondern 20 Jahre anzuspannen. Unter chronischem Stress entwickelt sich das Bindegewebe mehr und mehr und verstärkt so die Haltefunktion der Muskeln, was ein Kontrahieren, Schützen, Blockieren und eine eventuelle Panzerung ermöglicht.

Auch deswegen können Muskelrelaxantien weder blockierte Gefühle, die im Gewebe gehalten sind, befreien, noch haben sie einen Einfluss auf den Stützapparat, der sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Die Bindegewebsvermehrung hält die blockierten Gefühle zurück, auch wenn die Muskulatur entspannt ist.

Das Auflösen der Bindegewebskontraktion

Es ist interessant, dass in der Arbeit mit Methoden, die zur Entspannung kontrahierter Muskulatur entwickelt wurden – tatsächlich aber auch den Bindegewebsapparat entspannen – Gefühle auftauchen können. Rolfing – die Arbeit mit direktem, kräftigem Druck auf die Muskulatur und das dazugehörende Bindegewebe – wird gelegentlich Emotionen freisetzen. Aus diesem Grund haben Therapeuten, die mit „Points and Positions“ arbeiten, auch eine Technik der Osteopathie übernommen. Es ist eine sanfte Art mit Druck zu arbeiten, wie sie z.B. in der Physikotherapie angewandt wird; es besteht nicht die Absicht, Gefühle zu mobilisieren. Wir haben diese Technik, die entwickelt wurde, um auf der neuromuskulären Ebene zu wirken, so verändert und weiterentwickelt, dass sie auch auf der plasmatischen Ebene angewandt werden kann. Das Ergebnis ist eine tiefe Befreiung von blockierten Bewegungen, Empfindungen und Gefühlen, die Bewusstheit schafft. (Davis, Energy&Charakter, April 1985)

Diese Technik ist in der Arbeit mit Schizoiden überaus wirkungsvoll. Es ist ein langsamer, nicht bedrohlicher Entspannungsprozess, mehr im Sinne von Schmelzen als von Nieder- oder Durchbrechen.

Wenn Muskelrelaxantien das Bindegewebe nicht beeinflussen und den Muskeln nicht zu wirklicher Entspannung verhelfen, stellt sich die Frage, warum einige Techniken Ergebnisse zeigen, die ursprünglich unbeabsichtigt waren.

Wie schon früher erwähnt, ist die Geschmeidigkeit des Bindegewebes, seine erstaunliche Fähigkeit, Form und Zustand zu verändern und sich unter passenden Umständen wieder in den vorherigen Zustand zurückzubilden, eine Hoffnung für die Körperpsychotherapie.- In erster Linie werden Körpertherapeuten mit der Plastizität des Bindegewebes arbeiten, indem sie Druck darauf ausüben. Das Plasma wird unter dem Druck „schmelzen“ und sich den neuen Umständen entsprechend restrukturieren. (Anmerkung: Im therapeutischen Setting ist die richtige Anwendung von Druck der Faktor, der die stressenden Bedingungen so verändert, dass sich das Bindegewebe auch an die neue Umgebung anpassen kann.)

Als Folge dieser Intervention, wird die zusätzlich gebildete fibröse Verdichtung im vorher gestressten Muskel zu „schmelzen“ beginnen und langsam verschwinden. Das zusätzliche Stützsystem des Bindegewebes, das vom gestressten Muskel benötigt wird, wird reabsorbiert, da die Spannung nachgelassen hat und das Hilfssystem nicht weiter benötigt wird.

Die sehnige Qualität – Warum?

Wie schon vorher im Abschnitt über die physischen Charakteristika der Schizoiden erwähnt, hat ihr Gewebe eine sehnige Qualität, die durch die fibröse Verdichtung entsteht. Je stärker ein Muskel angespannt ist, desto mehr Stränge und Faserbündel werden sich entwickeln. Bei einer anderen Charakterstruktur, z.B. einer mit gut ausgeprägter Muskulatur, trägt die Entwicklung der Fasern dazu bei, dass die Muskelmasse von kräftiger, konturierter und oft harter Qualität ist.

Aber stellen wir uns eine solche fibröse Veränderung vor, wenn wenig Muskelmasse vorhanden ist: Wir sehen dann den schizoiden Körper – lang, dünn und sehnig. Aufgrund einer früh eingetretenen Traumatisierung ist der Organismus belastet. Hier wurden invasive traumatische Ereignisse erlebt, bevor die Muskulatur zur Abwehr eingesetzt werden konnte. Somit ist es nicht erstaunlich, dass sich keine großen und harten Muskelgruppen entwickeln konnten; der Fluss in die Peripherie ist minimiert. Wenn das Kind heranwächst, entwickeln sich zunehmend die langen fibrösen Gewebsstränge, die dem Körper die sehnige, strangige Qualität und seine drahtige, straffe Stärke verleihen.

Wenn nun das Trauma sehr früh eintritt, hat das den klassischen schizoiden Zustand zur Folge. Bei einer späteren Traumatisierung und/oder wenn ein weniger heftiges Trauma, dafür aber chronisch besteht – sogenannte Traumahäufung – werden wir eine Mischung mit einiger Muskelentwicklung von starker, fibröser Qualität vorfinden. Das Kind hätte etwas mehr energetischen Fluss in die Peripherie und die Muskulatur könnte sich so wenigstens ein bisschen stärker entwickeln.

In diesen Fällen werden wir eine schizoide Struktur vorfinden, deren existentielle Angst durch aggressives Verhalten maskiert sein wird. Dieses Kind war in der Lage, Ärger zu entwickeln und zu mobilisieren, sowohl zum Schutz, als auch zur Entwicklung seiner Abwehr. Wenn es sich gefährdet fühlt und Angst verspürt, können wir ein Ausagieren, ein Ungerechtigkeits-Rache-Thema beobachten, wie ich das schon in der Beschreibung der Emotionalität des Schizoiden erwähnt habe.

In bezug auf ein Entwicklungskontinuum können wir uns nun folgendes überlegen: Wenn der Organismus gestresst wird, nachdem das neuromuskuläre System sowie primäre psychische Strukturen sich entwickelt haben, bildet sich das fibröse System weniger stark aus. Die Fasern spielen hier eine sekundäre Rolle für das Muskelgewebe. Wir haben ein primäres Abwehrsystem, das auf der neuromuskulären Funktion beruht.

Dieser Strukturtyp – dessen Entwicklungsgeschichte auf späteren Ereignissen basiert – ist eine sogenannte „kognitiv-neuromuskuläre“ Struktur, z.B. eine phallische oder psychopathische Struktur. Menschen, die ihr neuromuskuläres und psychisches System gut genug entwickelt haben können diese Systeme im Verteidigungsfall sofort abrufen. Ihr Schutzsystem funktioniert sowohl auf der psychischen, als auch auf der somatischen Ebene.

Wenn jedoch kaum Muskelgewebe vorhanden ist und wenig Möglichkeit bestand, psychische Strukturen zu entwickeln, bevor das Trauma einsetzte – wie das im klassischen schizoiden Stadium der Fall ist – übernimmt das Bindegewebe die Rolle der Muskulatur. Wir haben dann eine plasmatische Struktur, jemanden, der zu seiner Verteidigung plasmatisch reagieren wird.

Von der Dehydrierung zur Rehydrierung

Das Bindegewebe hat die Fähigkeit zu dehydrieren und zu rehydrieren. Es verhält sich genauso wie ein Schwamm. Wenn wir einen nassen Schwamm ausdrücken, wird er nachgeben, und das Wasser wird herausrinnen. Und wenn wir ihn austrocknen lassen, wird er eine andere Form annehmen. Auch in trockenem Zustand können wir ihn drücken, aber er wird die veränderte Form beibehalten. Wenn man erneut Wasser zufügt, nimmt er seine ursprüngliche Form wieder an.

Plasma – und deshalb auch das Bindegewebe – reagiert genauso. Unter Druck geht der notwendige Feuchtigkeitsgehalt verloren. Es kommt zu einer Verhärtung, ja sogar zu einer Kristallisation. Unter veränderten Bedingungen, die wir im therapeutischen Setting schaffen können, wird es rehydrieren und seine ursprüngliche Gestalt wieder annehmen.

Der dehydrierte Zustand hat eine ausgetrocknete, kühle, „alte“ Qualität. Ebenso ausgetrocknet und zurückgezogen – im Sinne von leblos – ist die Qualität des Schizoiden. Aber unter den richtigen therapeutischen Bedingungen kann der hydrierte Zustand wieder hergestellt werden. Wir können beobachten, wie der Schizoide wieder „gefüllt“ wird. Alle anderen Strukturen wirken „größer“ und von oben nach unten weniger gedrückt.

Wenn der Schizoide rehydriert, ergibt sich ein anderer, vollerer Eindruck. In der Arbeit kann das dann so aussehen, als hätte er an Gewicht zugelegt; tatsächlich wiegt er das gleiche. Ein gutes Beispiel ist folgendes: Mir erzählte einmal eine Klientin, dass sie sich fühle, als trüge sie einen großen, weiten Mantel, den sie vorher nicht anhatte. Sie hatte mehr Substanz, fühlte sich geschützter und wärmer. Es gab Schutz zwischen ihr und der Welt.- Themen, die nicht von geringer Bedeutung für einen schizoiden Menschen sind.

Das Netzwerksystem und das „Alles oder Nichts-Prinzip“

Der kristalline Zustand des dehydrierten Bindegewebes lässt uns den Schizoiden gefroren und brüchig erscheinen. Es ist die Qualität der Zerbrechlichkeit, die für uns von speziellem Interesse ist. Eine Eisschicht oder eine Glasscheibe zerbricht anders als Holz. Holz spaltet sich, die Stücke brechen auseinander, einige Stücke spalten sich vom Ganzen und manche bleiben trotzdem verbunden. Es ist sogar möglich, dass das Stück im wesentlichen intakt bleibt. Anders ist es bei Glas. Man kann nicht ein Stück abbrechen, ohne zu riskieren, dass die ganze Struktur auseinander fällt. Das ist das „Alles oder Nichts-Prinzip“.

Man kann auf ein Stück Holz wiederholt und kräftig schlagen. Erst werden Kerben entstehen und dann werden sich Teile abspalten.- Auf Glas kann geschlagen werden, ohne dass vorerst etwas passieren muss. Keine Schrammen, keine Stücke. Wenn man jedoch mit mehr Kraft zuschlägt, steigt der Druck bis zu dem Punkt, wo es ganz zerbricht.

Ein schizoider Mensch kann mit Stress bis zu diesem Punkt kommen, ohne dass eine Reaktion sichtbar wäre – er zeigt sich bis dahin unbeeindruckt, so als ob er davon nicht betroffen wäre. Wenn dieser Punkt aber überschritten wird, bricht sein gesamtes System zusammen und die Reaktion kann überwältigend sein. Er „zerbricht“ und verliert sich gänzlich.

Diese Total-Reaktion des Schizoiden hat mit dem früher erwähnten Netzwerksystem zu tun. Beim Fötus und Säugling sprachen wir über die plasmatische Kontraktion entsprechend der frühen Traumatisierung; sie ist ganzkörperlich. Beobachten wir eine Amöbe, der Schwachstrom zugeführt wird, oder einen Säugling, der erschreckt wird. In beiden Fällen kontrahiert der ganze Körper.

Dieser Reaktionstyp bildet sich zeitlich vor der physischen und psychischen Differenzierungsfähigkeit und bevor sich die Segmente entwickeln. Der Organismus kann nur kontrahieren, und zwar überall und zur gleichen Zeit. Ähnlich einer Amöbe: sie kann nicht erkennen, was passiert und um welche Art von Gefahr es sich handelt. Sie ist neurologisch, muskulär und psychisch nicht genügend entwickelt, um differenziert reagieren zu können.

Der plasmatische kontraktive Zustand ist eine Ganzkörperreaktion. Wenn diese Kontraktion nachgibt, also das Abwehrsystem zusammenbricht, gibt es nichts mehr, was hält – kein Ersatzsystem, das noch helfen könnte, alles wird überflutet, nichts hält mehr. Das ist die Gefahr für die schizoide Struktur – darin schließen wir auch Borderline-Strukuren ein.- Der totale Kollaps wird durch den Zusammenbruch des Netzwerks verursacht. Auf der plasmatischen Ebene wird jeder Input das gesamte System beeinflussen. Der Zusammenbruch ist die Lyse; die Existenz des Organismus ist in Gefahr. Er muss als Ganzes reagieren, um seine Existenz zu bewahren.

Trennung, Verkapselung und Containment

Wie schon erwähnt, sind die Funktionen des Bindegewebes die des Trennens, des Einkapselns und des Haltens. Dies sind alles gesunde und erwünschte Funktionen. Aber der schizoide Zustand ist ein extremer Bindegewebszustand – ebenso extrem wie das Funktionieren und Verhalten des Schizoiden. Was unter gesunden Bedingungen eine erwünschte Trennung und „Zurück-Haltung“ war, wird nun zu Isolation und Verzweiflung.

Der Schizoide ist jetzt so getrennt, dass er unfähig ist, Kontakt mit der Welt aufzunehmen. Er wird zum Einzelgänger, nicht aus freier Wahl, wie man aus Clint Eastwoods „High Plains Drifter“ schließen kann, sondern aus der Not heraus. Es gibt keine Wahl mehr, bestenfalls nur Resignation, die er vielleicht zu akzeptieren vorgibt.

Hier wird die klassisch schizoide Charakteristik des Einzelgängers – distanziert und unnahbar – deutlich. Er ist innerlich gefangen und erscheint der Welt als emotionslos, reizbar, uninteressiert, als jemand, der niemanden braucht. Gerade hier liegen auch die Gründe für sein Besonderssein, seine Fremdartigkeit, seine Sehnsucht und seine Mystik.

Die Bedeutung des Bindegewebes für den Stoffwechsel

Der letzte Punkt in der Tabelle über „Ähnlichkeiten“ betrifft den Stoffwechsel. Wir werden kurz einen Aspekt dieses wichtigen Zusammenspiels betrachten. Das Plasma oder die „Grundsubstanz“ ist der halbflüssige Zustand, der alle Gewebe bis hin zur Zellebene umgibt.

Diese Halbflüssigkeit ist der „Ozean“, von dem vorher schon die Rede war, und von dem jede Zelle in allen Teilen unseres Körpers umgeben ist. Es ist das Medium, das jede Zelle mit Nährstoffen versorgt und Verbrauchtes entsorgt. Wenn dieser „Ozean“ durch Gifte und Dehydration, Kontraktion und Infektion „verschmutzt“ wird, kann er der Funktion des Nährens und des Reinigens der Zellen nicht mehr nachkommen. Der Stoffwechsel ist herabgesetzt und beeinflusst dadurch die Nahrungsaufnahme.

Der Schizoide repräsentiert den unterernährten Zustand – physisch wie auch psychisch. Die plasmatische Kontraktion lässt nur ungenügend Nährstoffe in den Organismus gelangen. Ebenso verhindert sie die Selbstreinigung des Organismus, z.B. sich von Giften zu befreien. Das trifft nicht nur für die physische Nahrung wie Essensaufnahme, Wärme, etc. zu, sondern auch für die psychische und emotionale Nahrung wie Berührung, Fürsorge und Liebe.- Berührung wird zum Eindringen. Fürsorge wird zum Versuch zu bemuttern, der erfahrungsgemäß schon einmal nicht so gut funktioniert hat. Liebe wird zum Konzept.

Um die funktionelle Verwandtschaft zwischen dem Bindegewebe und dem Schizoiden noch mehr zu verdeutlichen, können wir nachfolgende Tabelle betrachten. Hier können wir den Unterschied zwischen einem gut funktionierenden plasmatischen Zustand – wie z.B. bei einer Amöbe – und einem schlecht funktionierenden – wie bei einem Schizoiden – sehen.

TABELLE 3

PLASMATISCHE REAKTION
gut funktionierend schlecht funktionierend
AMÖBE SCHIZOIDER
amorph rigide
stabile Prozessstruktur steif
ständige Reorganisation überstrukturiert
pulsierend, wogend gehalten, eingefroren, kontrahiert, gelähmt
spontan nicht spontan
sich anpassend versucht zu kontrollieren
flexibel rigide
einheitlicher Fluss gelegentlich fließend
organisiert greift nicht nach außen,
kontaktvolle Bewegung (Fluss)nach außen und wieder zurück vermeidet Berührung und berührt werden; narzisstisch

ENTWURF EINER FUNKTIONALEN CHARAKTEROLOGIE

Wir können nun die funktionellen Charakterkriterien weiterentwickeln, indem wir zwischen einer primär plasmatischen Charakterstruktur, wie sie der Schizoide repräsentiert, und einer Charakterstruktur, deren Abwehrsystem auf einer kognitiv-neuromuskulären Reaktion beruht, unterscheiden.

Die weitere Betrachtung soll die Unterschiede dieser beiden Reaktions-Strukturen hervorheben. Dabei ist es aber wichtig zu wissen, dass sie jeweils das entgegengesetzte Ende eines Kontinuums repräsentieren. Es ist möglich auf diesem Kontinuum auf- und abzufahren, um die verschiedenen Charakterstrukturen mit unterschiedlichen Mischungen von plasmatischen und neuromuskulären Reaktionen zu verstehen. Wir werden unterscheiden zwischen solchen, die vorrangig ein plasmatisches und solchen, die vorrangig ein neuromuskuläres Abwehrverhalten einsetzen. Beide wählen unterschiedliche Systeme als eine erste Antwort auf Bedrohung, um sich zu schützen. Dies ist unser Hauptkriterium zur Differenzierung.

Die bisherige Auseinandersetzung mit diesem Thema hat uns gezeigt, dass, abhängig vom Zeitpunkt des Traumas, der Organismus auf zwei verschiedene Arten reagieren kann. Wenn das Kind älter ist, es schon gehen kann, etwas sprechen kann und fähig ist, Zorn objektbezogen zu mobilisieren, wird es auch fähig sein, diese verschiedenen Funktionen in sein Abwehrverhalten mit einzubeziehen. Nerven und Muskeln werden zur Verteidigung eingesetzt. Das Sich-schützen basiert auf einem (gesunden) Funktionieren des Zentralen Nervensystems.

Wenn jedoch im Gegensatz dazu die Störung zu einem früheren Zeitpunkt auftritt, stehen dem Fötus oder dem Kleinkind diese neuromuskulären Reaktionen, die von einem minimalen Entwicklungsstand des Zentralen Nervensystems abhängig sind, nicht zur Verfügung. Das System, das dann unter Stress aufgerufen wird, ist das unwillkürlich funktionierende Vegetative Nervensystem. Das ist die plasmatische Antwort. Es gibt hier keine Muskeln, die kontrahiert werden könnten, und es ist keine psychische Struktur zur Verteidigung verfügbar. Auch die Amöbe bewegt, nährt und reproduziert sich und kontrahiert ohne Muskeln oder psychischen Apparat.

Weitere Unterscheidungen folgen aufgrund dieser Besonderheiten. Zum einen hat das Zentrale Nervensystem (ZNS) sowohl eine willkürliche als auch eine unwillkürliche Komponente. Das Vegetative Nervensystem (VNS) funktioniert unwillkürlich.

Diese Unterscheidung ist von Tragweite für unser Bewusstsein bzw. das Unbewusste. Das VNS funktioniert jenseits der Bewusstheit, jenseits von konzeptionellem Verständnis und erster Verbalisierung. Es ist nicht so leicht wie das ZNS durch willkürliche und kognitive Aktivitäten zugänglich. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Entscheidung, welche therapeutische Intervention gesetzt werden soll, wann und zu welchem Zweck; und natürlich auch für das Verständnis, auf welcher Ebene unsere Intervention im Organismus wirkt.

Die neuromuskulär dominierte Struktur ist eine spätere Entwicklungserscheinung, sowohl in der Geschichte der Evolution als auch in der Geschichte des menschlichen Organismus. Die Wichtigkeit und Bedeutung der Entwicklung des Bindegewebes kann nicht genug hervorgehoben werden. Leben existiert seit Millionen von Jahren, noch bevor je Knochen oder Muskeln auftauchten.

Und es dauerte noch ein ganze Weile länger, bevor sich psychische Strukturen entwickelten. Es gab Leben, schon lange bevor es Gedanken, Emotionen, das Ego und Nerven, Knochen und Muskeln gab. Sogar heute repräsentieren wir Menschen nur einen ganz kleinen Teil des Lebens an sich. Es gibt mehr Lebensformen in unserem Magen – ohne Muskeln, ohne Ego und ohne Mutterprobleme – als alle Menschen, die je gelebt haben! Unsere Probleme mit unserer Sexualität sind ziemlich unbedeutend angesichts der Geschichte des Lebens!

Die Arbeit auf der plasmatischen Ebene ist die unmittelbare und tiefe Arbeit am Leben selbst. Eine weitere Unterscheidung ist die, dass die plasmatische Reaktion eine ganzkörperliche Reaktion ist. Wenn wir den Körper eines klassischen Schizoiden betrachten, sehen wir Einförmigkeit – er ist lang und dünn. Es ist wenig oder überhaupt nichts von der klassischen Reichianischen Segmentierung zu erkennen, die die neuromuskuläre Struktur dominiert.

Der Körper der neuromuskulären Struktur dagegen lässt sich gut in Segmente teilen. Die Entwicklung der Segmente hängt davon ab, welcher Körperteil vorrangig zum „Fest-Halten“ aufgerufen wurde, und das wiederum ist davon abhängig, welches Thema in der Entwicklung des Kindes zu diesem Zeitpunkt von Bedeutung war:
Selbstbehauptung, Genitalität, Trennung, Symbiose, etc.

So wie der Körper des Schizoiden sich nicht differenziert darstellt, so trifft selbiges auch auf den psychischen Bereich zu. Hier sehen wir weniger ein Zusammenbrechen aufgrund konkreter persönlicher Themen wie bei der neuromuskulären Struktur, vielmehr herrscht ein einziges Thema, vielleicht noch ein zweites vor: Angst um die eigene Existenz und möglicherweise die Wut über die Verletzung des Rechts auf die eigene Existenz. Alle schizoiden Verhaltensweisen sind auf diese zwei Themen zurückzuführen. Auch die unterschiedlichen individuellen Strategien, die die vorher erwähnten drei Klienten entwickelten, wurzeln in diesen Themen.

Eine andere Unterscheidung hat zu tun mit dem Bindegewebe und der Muskelfunktion. Wir sagten schon früher, dass das Bindegewebe chronisch angespannten Muskeln zu Hilfe kommt, indem es sich gewaltsam durchsetzt. Muskeln haben die Fähigkeit schnell zu reagieren; sobald keine Gefahr mehr besteht, können sich sehr schnell wieder entspannen. Auf der plasmatischen Ebene trifft das auch zu, aber es trifft nicht auf das Bindegewebe zu. Die Bildung von unterstützendem zusätzlichem Bindegewebe geschieht nicht so plötzlich wie eine muskuläre Kontraktion.

Die Muskeln werden als Antwort auf akute Stresssituationen eingesetzt. Das Bindegewebe als Antwort auf chronische. Sobald sich die Muskeln entspannen, restrukturiert sich das Bindegewebe. So wie es eine gewisse Zeit braucht, um sich zu entwickeln, so braucht es auch mehr Zeit als die einfache Entspannung der Muskelfasern, sich wieder zu restrukturieren.

Die Implikationen für das therapeutische Handeln sind bedeutsam. Für eine vom Bindegewebe dominierte Struktur sollte der Prozess des Loslassens langsamer sein. Diese tiefen, frühen plasmatischen Störungen zu schnell anzugehen heißt, den Organismus zu überfordern. Es gibt kein unterstützendes Abwehrsystem, er bricht zusammen.

Hier ist die Grenze des Versuchs in der Körperarbeit, die Abwehr zu „durchbrechen“. Bei neuromuskulär dominierten Strukturen kann das Durchbrechen von Widerständen schneller und mit weniger Risiko angegangen werden, obwohl das, unserer Meinung nach, nicht unbedingt wirkungsvoller ist. Es besteht dabei weniger die Gefahr, dass der Organismus überschwemmt und überfordert wird. Da aber die meisten Strukturen Mischtypen sind, kann, sobald das neuromuskuläre Abwehrsystem durchbrochen ist, das plasmatische System zusammenbrechen, woraus ernsthafte Probleme und potentiell gefährliche Situationen entstehen können. Das ist besonders in der Arbeit mit Schizoiden und mit Borderline-Strukturen ein Risiko. Das langsamere, schmelzende Modell der Wiederherstellung des Bindegewebes ist für diese Struktur – ebenso wie für alle anderen Strukturen – in jedem Falle vorzuziehen.

In Tabelle 4 sind die Unterschiede zwischen dem kognitiven/ neuromuskulären und dem plasmatischen Kontinuum zusammengefasst.

TABELLE 4

Kognitives/neuromuskuläres Kontinuum – Plasmatisches Kontinuum

Der schizoide Prozess ist eine ursprünglich-plasmatische Reaktion, die – in unterschiedlichem Maß – allen Charakterstrukturen zugrunde liegt.

kognitive/neuromuskuläre Reaktion plasmatische Reaktion
Nerven und Muskeln Bindegewebe
willkürliche Muskulatur unwillkürliches Bindegewebe
bewusst/kognitiv unbewusst/automatisch
Zentrales Nervensystem Vegetatives Nervensystem
spätere evolutionäre Entwicklung frühe Entwicklung
lokalisierte/segmentierte Reaktion ganzkörperliche Reaktion
sofortige Reaktion chronische Reaktion
entspannt restrukturiert

In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Ähnlichkeiten der Funktionen des Bindegewebes und des Abwehrsystems anhand des schizoiden Charakters aufzuzeigen.

Ein später erscheinender Beitrag wird „Schock und Trauma“ zum Thema haben und wird ein Entwicklungsmodell zum Verständnis der Beziehung zwischen Bindegewebe und Muskelpanzerung enthalten. Weiters werden wir die Behandlung von Schizoiden durch das Verstehen der Funktionen von Plasma und Bindegewebe vorstellen.

(Übersetzung aus dem Englischen: Regina Hochmair und Wolfram Ratz)

Fortstetzung in Bukumatula 4/98

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