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Bukumatula 1/2000

„Wissenschaft vom Lebendigen“

Buchbesprechung von
Regina Hochmair:

Mit Beiträgen von Arnim Bechmann, Marco Bischoff, Heike Buhl, Will Davis, Thomas Harms, Jochen Kirchhoff, Heiko Lassek, Susanne Wittmann, Carol Yeung und Tom Zhang.

In dieser Ausgabe zur Lebensenergieforschung werden die gegenwärtigen Entwicklungen, d.h. die Praxis einer auf den Forschungen Wilhelm Reichs fundierten Medizin und Therapie mit Traditionen der westlichen und östlichen Naturphilosophie in einem Werk vereint. In den Beiträgen wird offenbar, dass die Diskussion um die Möglichkeit einer zukünftigen bzw. wiedergewonnenen „Wissenschaft vom Lebendigen“ von der Realität selbst überwunden ist: Eine solche Wissenschaft existiert und wird praktiziert, ohne dass weitere Bereiche der Öffentlichkeit diesen Umstand in den vergangenen Jahren zur Kenntnis nehmen konnten. Die Grundlage dieser Praxis beruht zu einem großen Teil auf den Jahrzehnte langen Untersuchungen und Forschungen Wilhelm Reichs und seiner Wissenschaft. Eine Auswahl der Beiträge finden Sie nachfolgend beschrieben.

Orgonomische Selbstregulation und postmaterialistische Wissenschaft

In diesem Beitrag führt Prof. Dr. Arnim Bechmann in die Grundlagen der Orgontheorie ein und spricht im Folgenden über ein weiteres Feld der Anwendung der Reichschen Orgontheorie, in dem sich orgonenergetische, homöopathische und radionische Konzepte miteinander verbinden. Es handelt sich um die Anwendung sogenannter „transmaterialer Katalysatoren“.

Zunächst wird Wilhelm Reichs Konzept der orgonomischen Selbstregulation dargestellt, mit dessen Hilfe die Wirkungsweise transmaterialer Katalysatoren ansatzweise gedeutet werden kann. Nachfolgend wird der Begriff „transmaterialer Katalysator“ erläutert und ein einfaches Erklärungsmodell dafür skizziert. Daran reihen sich empirische Arbeiten, die Nutzungen und Risiken beschreiben.

Schon Wilhelm Reich hat sich die Frage gestellt, ob man Orgonfelder transportieren bzw. welchen Nutzen dies haben könnte. Tatsächlich hat der Transport von künstlich erzeugten Orgonfeldern eine erhebliche Bedeutung erlangt; dabei wird dem Qualitätsspektrum eines pulsierenden Orgonfeldes intensive Aufmerksamkeit gewidmet. Qualitätsspektren lebensenergetischer Felder spielen z.B. in der Homöopathie eine wichtige Rolle.- Nach Bechmann werden transmateriale Katalysatoren in Deutschland in den Bereichen Humanmedizin, Veterinärmedizin, Gartenbau, Landwirtschaft, Wasserenergetisierung, Wasserreinigung, und Nahrungsmittelverbesserung eingesetzt.

Oft geschieht dies allerdings, ohne dass die Anwender eine konkrete Vorstellung davon haben, was ein transmaterialer Katalysator ist, wie er wirkt und welche Risiken er beinhalten kann. Mit Hilfe dieser Katalysatoren lassen sich auch größere Landflächen und bewegte Systeme gezielt beeinflussen. Diese Beeinflussung kann darauf ausgelegt sein, am Wirkungsort die Konzentration von Orgonenergie zu verändern oder spezifische Bereiche des Qualitätsspektrums zu überlagern.

Sie beeinflussen biologische Systeme, ohne mit diesen in einen Wirkungszusammenhang zu treten. Im Rahmen der herrschenden Naturwissenschaft ist die Wirkung dieser Katalysatoren weder zu erklären noch gezielt zu prognostizieren. Sie können weder physikalisch noch chemisch gedeutet werden. Ein transmaterialer Katalysator besteht aus folgenden Komponenten: einer Trägersubstanz, einem künstlich erzeugten Orgonfeld, das an diesen Träger gekoppelt wird und einer qualitativen Färbung, die diesem Feld eingeschrieben bzw. aufmoduliert wird.

Experimentelle Erfahrungen wurden in devitalisierten Ökosystemen gesammelt. Versuche zur Revitalisierung von Waldbäumen und anoxischen Gefährdungsbereichen im Nordseewatt, sowie Laborexperimente mit Grünalgen, Gülle, Keimlingen und mit Spontangärungsprozessen wurden durchgeführt.

Die transmateriellen Katalysatoren können Wachstumsprozesse von Pflanzen unterstützen und optimieren, die Selbstregulationsfähigkeit von Pflanzen, Tieren und Menschen erweitern und deren Lebensfunktionen, einschließlich der Immunabwehr stärken, energetisch gestörte kranke Organismen therapieren und revitalisieren, lebensenergetische Qualität und Haltbarkeit von pflanzlichen oder tierischen Produkten verbessern, oder Gewässer reinigen und lebendig erhalten.

Sie können aber auch eine lebensbeeinträchtigende Wirkung haben. Die Balance zwischen Aufladung und Entladung kann gestört werden. Werden z.B. transmateriale Katalysatoren mit Orgonenergie sehr hoch aufgeladen, so kann es geschehen, dass Systeme, in die sie eingeschleust werden, die Intensität der Energie nicht verarbeiten können. Es kann zu energetischen Blockaden bzw. zu chronischen Überladungen bzw. Übererregungen kommen. Bechmann meint, dass sich das naturwissenschaftliche Weltbild in den nächsten Jahrzehnten grundlegend ändern wird.

Im Bereich der Biologie und der Medizin werden immer mehr Phänomene sichtbar, die sich konventionell-naturwissenschaftlich nur schwer oder gar nicht erklären lassen. Greift man hingegen auf Theorien zurück, die wie die Reichsche Orgontheorie Vorstellungen von Lebensenergien und lebensorganisierenden Kräften beinhalten, wird es möglich, diese Phänomene auch theoretisch zu erklären.

Diese Art von Wissenschaft versucht Bechmann mit dem Begriff der „Nachmaterialistischen Naturwissenschaft“ zu erfassen und geht dabei von folgenden Annahmen aus: Vor und hinter Materie gibt es organisierende Kräfte, ohne deren Wirken Leben nicht vorstellbar ist. Die organisierenden Kräfte sind die Voraussetzung für die Bildung von Materie und Höherentwicklung. Die Naturwissenschaft wird sich in den kommenden Jahrzehnten auf ein neues Verständnis von Leben hinentwickeln.

Das innere und das äußere Licht

Der Wissenschaftsautor Marco Bischoff beschreibt in seinem Beitrag „Das innere und das äußere Licht“ die Geschichte des Zusammenhangs zwischen Licht, Leben und Bewusstsein im Spannungsfeld zwischen Mystik und Naturwissenschaft. Dazu über das innere Licht in Religion, Mystik und Philosophie:

Der Begriff Licht steht bis in die Renaissance nicht nur für das Sonnen- und Tageslicht, also das äußere Licht, sondern auch für Vorstellungskraft, Erkenntnis, Erkenntnisfähigkeit und Bewusstsein, für Leben und Seele und für Gott selbst. Inneres und äußeres Licht wurden zudem oft als zusammenhängend und identisch angesehen.

Licht, Sonne und Feuer wurden schon immer als Verkörperung oder Ausdruck des Göttlichen aufgefasst. In vielen Religionen wurde z.B. – entsprechend dem zyklischen Sonnengang des Lichts im Jahreslauf, das Zirkulieren einer feuer- und lichtähnlichen Lebensenergie in Erde und Vegetation wie auch im tierischen und menschlichen Organismus angenommen und mit dem Steigen und Fallen der Säfte, dem Vegetations- und Lebenszyklus mit Sexualität, Geburt, Wachstum und Tod in Verbindung gebracht.

Den Mystikern nach beginnt Erleuchtung mit einem ersten kurzen Moment der Augenöffnung, einem kurzen Erblicken des ungeschaffenen Lichts, des göttlich Transzendenten, für einen blendenden und unvergesslichen Augenblick. Dieses neue Auge muss nicht nur geöffnet werden, sondern muss auch lernen, offen zu bleiben, das göttliche Licht auszuhalten; der Liebe in die Augen zu schauen, muss erst trainiert, der Spiegel erst gereinigt werden.

Der „normale“ Mensch ist absorbiert von den Illusionen der Sinne, seine Aufmerksamkeit abgelenkt durch die äußerlichen Dinge und bewegt sich deshalb immer an dem „Einen“, dem Herz der Wirklichkeit vorbei. Das Auge der Ewigkeit ist nicht aktiv.

Bischoff geht nicht nur auf die christliche Lichttheologie und Lichtmystik ein, sondern auch auf die islamische, hinduistische, buddhistische und taoistische. Ein Sufimystiker: „Wenn das Licht im Himmel des Herzen erstrahlt … und der Mensch im Inneren die Helle der Sonne oder vieler Sonnen erlangt …, dann ist sein Herz reines Licht, sein Körper ist Licht, was ihn bedeckt, ist Licht, sein Hören, sein Sehen, seine Hand, sein Äußeres, sein Inneres, alles ist Licht.“

Eine Art von Weiterleben hatte das „innere Licht“ in den Lebensenergietheorien des biologischen und medizinischen Vitalismus. Von Mesmer führt ein direkter Weg zur Hypnoseforschung und schließlich zur Psychoanalyse Freuds. Reich wurde durch seine Orgonenergieforschung zum wichtigsten Vertreter des Vitalismus. In den Lebensenergiekonzepten und -theorien lebt die alte, ursprünglich in der „ozeanischen Wahrnehmungsweise“ des Frühmenschen empirisch begründete Auffassung eines lebendigen und beseelten Universums bis in unsere Zeit weiter.

Um zu verstehen, warum diese Konzepte trotzdem nicht Teil des naturwissenschaftlichen Weltbilds geworden sind, muss man sich klar machen, dass das Selbstverständnis und die Selbstdefinition der modernen Naturwissenschaft zu einem wesentlichen Teil im Abwehrkampf gegen Konzepte wie diejenigen der „Lebensenergie“ und des „Äthers“ entstanden sind – dem Kampf gegen das Nicht-Messbare, Metaphysische, aber wahrscheinlich noch stärker gegen alles, was an Lebendigkeit und Bewusstheit erinnert – und dass sich die Wissenschaft Jahrhunderte lang darum bemüht hat, die Lebendigkeit aus ihrem Weltbild auszutilgen.

Die endgültige Abschaffung des Äthers in der Physik um 1900 markiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Andererseits war aber dieser Kampf in einem gewissen Sinne doch gerechtfertigt, da diese Konzepte seit langem ihre ursprüngliche Lebendigkeit verloren hatten und zu bloßen „leeren Hülsen“ der ursprünglichen Vorstellungen geworden waren.
Bischoff widmet sich nach dem geschichtlichen Rückblick der Biologie und Biophysik des Lichts.

Er schreibt über die vielfältigen positiven Wirkungen des Sonnenlichts, von farbigem Licht und dem Licht in der Zelle, der Lichtempfindlichkeit von Organismen, sowie den Lebewesen als Lichtspeicher mit licht gesteuerter Physiologie. Ein leuchtender Beitrag.

Einführung in eine lebensenergetische Medizin

Dr. Heike Buhl führt uns in die lebensenergetische Medizin ein, die sich – wissend ob der verschiedenen Lebensenergiekonzepte – mit dem wissenschaftlichen und an der westlichen Kultur orientierten Zugang zum Phänomen Lebensenergie, sowie der Art der Behandlung von Krankheiten befasst. Das Ziel der energetischen Medizin ist es, die Pulsation des vegetativen Nervensystems wieder anzuregen, um damit sowohl körperlichen als auch psychischen Erkrankungen den Nährboden zu entziehen.

Damit wird nicht auf der Ebene der Krankheitssymptome, sondern auf der Ebene der energetischen Pulsationsvorgänge gearbeitet. Buhl zeigt in verständlicher Art und Weise Funktion und Wirkung des vegetativen Nervensystems auf und spricht von der Schnittstelle zwischen der Pulsationen der Außen- und der Innenwelt. Sie ist ein Vermittler zwischen den Gefühlen einerseits und der Tätigkeit aller inneren Organe andererseits, denn sie regelt sowohl die Tätigkeit aller inneren Organe als auch die Blut- und Plasmaströme, die den Gefühlen zugrunde liegen.

Weiters widmet sie sich den Biopathien. Diese weisen eine Störung der Pulsationsfähigkeit des vegetativen Nervensystems auf und zeigen sich entweder in einer emotionellen oder funktionellen Störung oder in einer Organerkrankung. Eine Biopathie beginnt in unserer Gesellschaft mit einem überwiegen des Sympathikus, also der Bereitschaft zu Kampf oder Flucht. Wenn es aber weder zu Kampf noch zur Entwarnung kommen kann, bleibt der Körper in einer inneren Alarmbereitschaft, einer chronischen Anspannung. Krankheiten wie grüner Star, Rückenschmerzen, Arthritis oder Bluthochdruck beruhen auf diesem Mechanismus übermäßiger Anspannung.

Andere Krankheitsbilder beruhen primär zwar auch auf einer starken inneren Anspannung, am einzelnen Organ kommt es dann aber bei zusätzlichem Stress zu einem Umschlag ins andere Extrem, dem chronischen Parasympathikotonus. Erst dadurch entsteht das Symptom. Beispiele dafür sind Asthma, Migräne oder Durchfall. Manch einer kennt das Phänomen vor Prüfungen. In einem extremen Sympathikus- oder Stresszustand bekommt man plötzlich Durchfall – ein an sich parasympathisches Geschehen.

Man kann in diesen Fällen Krankheit als einen Ausbruchsversuch des Organismus aus der Starre interpretieren. Es ist ein Versuch des Körpers, die chronisch eingeschränkte Pulsation doch noch rudimentär aufrecht zu erhalten, wenn auch nicht gerade auf optimale Weise. Entspannungsimpulse stauen sich an, die überschüssige Energie entlädt sich im Krankheitssymptom, zum Beispiel dem Migräne- oder Asthmaanfall. Ein anderes Beispiel für eine unteroptimale Entladung nach energetischem Stillstand in der Natur ist ein Gewitter nach drückender Schwüle.

In ihrem Beitrag geht Buhl auf einzelne somatische Krankheitsbilder genauer ein. Dabei erklärt sie mögliche Ursachen, Pulsationsverhältnisse, psychische Komponenten und die passende Therapie. Sie geht auf die verschiedenen Therapiephasen ein, die darauf abzielen, das menschliche Plasmasystem zu beeinflussen und beschreibt zum Schluss den Ablauf einer Behandlungsstunde.

Instroke und frühe Säuglingsentwicklung

In diesem Beitrag führt uns Thomas Harms, Psychologe und Körpertherapeut in der Arbeit mit Neugeborenen und Kleinkindern und in die Theorie und Praxis der bioenergetischen Säuglingsforschung ein. Er stellt folgende Fragen: Wie entstehen emotionelle und körperliche Panzerung am Beginn des menschlichen Lebens? Wie kann man verhindern, dass das Lebendige eines Neugeborenen in seiner Entfaltung behindert bzw. blockiert wird? Wie äußern sich frühe Formen der emotionellen Panzerung bei Säuglingen und Kleinkindern? Und wie kann man die von Reich entwickelten Methoden der Körperpsychotherapie nutzen, um Babies zu helfen, den vollzogenen emotionellen und körperlichen Rückzug von der Welt wieder umzukehren?

Zu Beginn widmet er sich der Säuglingsforschung von Reich. Er skizziert, welche Einflüsse Reich bewogen haben, in die Erforschung des neugeborenen Kindes einzudringen. Des Weiteren beschäftigt er sich mit den konkreten Inhalten des interdisziplinären Forschungsprojekts „Kinder der Zukunft“ das Reich in Zusammenarbeit mit 40 Mitarbeitern in New York gegründet hat.

Im zweiten Schritt beschäftigt sich Harms mit den bioenergetischen Voraussetzungen für gesunde emotionelle und körperliche Lebendigkeit von Säuglingen. Dabei gilt sein besonderes Interesse der Bedeutung des von Will Davis entwickelten Konzepts des „Instrokes“ für die frühe Säuglingsentwicklung. Die Hauptthese dieses Abschnitts lautet, dass die Dominanz des nach innen gerichteten Energiestromes Grundlage aller psychischen und somatischen Aufnahmeprozesse der Säuglingszeit ist. Für das Verständnis der frühen Panzerungen bei Babies folgert er, dass alle Pulsationsstörungen in der frühen Säuglingsentwicklung im Kern eine Blockierung der aufnehmenden Prozesse des Organismus – und damit des Instrokes – beinhalten.

In Schritt drei setzt er sich mit den bioenergetischen Grundlagen der Mutter-Kind-Beziehung auseinander. Er zeigt auf, dass die bioenergetische Verbindung des Säuglings zu seinen wichtigsten Bindungspersonen die Basis für seine biosoziale Absicherung in der Welt ist. Erst auf der Grundlage dieses Feldkontakts kann sich das Baby dem nach innen gerichteten Strom der Lebensenergie überlassen.

Die zentrale Aussage lautet hier, dass die Entwicklung der Säuglingspanzerung und die Unterbrechung der bioenergetischen Verbindung von Mutter und Kind zwei Seiten eines einheitlichen Geschehens sind.
Im letzten Schritt erörtert Harms, wie er in seiner bioenergetischen Arbeit mit Säuglingen vorgeht. Dabei werden unterschiedliche Modelle diskutiert, wie Babies, die ein Schwangerschafts-, Geburts- oder nachgeburtliches Trauma erlebt haben, geholfen werden kann, die Folgen dieser schockierenden Erfahrungen wieder zu lösen, um letztlich die blockierte Lebensenergie wieder zum Fließen zu bringen.

Round-the-Clock-Holding

Der letzte Beitrag, der hier besprochen wird, beschreibt ein grundlegendes Bedürfnis des menschlichen Säuglings nach „Round-the-Clock-Holding“, nach ständigem Körperkontakt. Die Verfasserin ist die Ärztin und Orgontherapeutin Susanne Wittmann. Sie stellt einen weltweiten Kulturvergleich im Umgang mit Kleinkindern und Säuglingen unter dem Gesichtspunkt der Lebensenergieforschung an.Wilhelm Reich wies darauf hin, dass es bei dem Ausmaß der Verbreitung von Neurosen in unserer Gesellschaft und dem erheblichen Aufwand, einzelne Personen zu therapieren, sehr wichtig sei, herauszufinden, wie die Entstehung von Neurosen verhindert werden kann.

Entsprechend seinem Erklärungsmodell der Neurose als eine der möglichen Folgen einer gestörten Pulsation war es für Reich nahe liegend, die noch ungestörte Pulsation bei Neugeborenen zu beobachten und eventuell auftretende Blockierungen so früh wie möglich zu bemerken und zu beseitigen, um damit den ungehinderten Energiefluss und den allen lebenden Systemen zugrunde liegenden rhythmischen Wechsel zwischen Expansion und Kontraktion, welcher im Organismus über das vegetative Nervensystem koordiniert wird, wieder herzustellen.

Eine Störung des plasmatischen Energieflusses lässt sich beim Säugling wesentlich deutlicher beobachten als bei Erwachsenen. Ein entspannter Säugling zeichnet sich durch gesunde Hautfarbe, warme, gut durchblutete Hände und Füße, weiche Muskulatur, geschmeidige Bewegungen und glänzende, bewegliche Augen aus. Er atmet ruhig und tief und ist an den Vorgängen der Umgebung interessiert. Ein Säugling, dessen Energiefluss in der Expansion verharrt, ist unruhig, zeigt weit aufgerissene Augen und ruckartige Bewegungen der Extremitäten. In der chronischen Kontraktion sind die Augen glanzlos und starr, die Hautfarbe ist blass oder bläulich marmoriert, die Hände und Füße sind kalt, das Kind wirkt in sich zurückgezogen.

Eine besondere Bedeutung kommt dem kontinuierlichen Körperkontakt zwischen Bezugsperson und Kind zu. Die Aufrechterhaltung des Körperkontakts zwischen Bezugsperson und Kind bedeutet im orgonotischen Sinne das Belassen des Kindes im Energiefeld der Bezugsperson. Dies ermöglicht unter weitgehend günstigen Voraussetzungen ein Verschmelzen der beiden Energiefelder und damit eine vegetative Identifikation der Bezugsperson mit dem Kind, also ein „intuitives“ Erfassen der Bedürfnisse des Säuglings. Außerdem ist durch den Körperkontakt die Regulierung des kindlichen Energieniveaus durch das Energiefeld der Bezugsperson, z.B. durch Erdung überschüssiger Energien, möglich.

Im Kontakt kann sich eine Synchronisation des Wachheitsgrades von Bezugsperson und Kind einstellen, was sich z.B. durch nächtliches Aufwachen der Mutter gleichzeitig, oder kurz vor dem Baby und gemeinsames Weiterschlafen nach dem Stillen äußert. Der unmittelbare Kontakt zwischen Mutter und Säugling ermöglicht den ungestörten Ablauf vieler physiologischer Prozesse, die dem Prinzip der Selbstregulation unterliegen. Die Selbstregulation in der Neugeborenenphase und deren mögliche Störung sei anhand des Stillens veranschaulicht: Viele Neugeborenen saugen, wenn dies zugelassen wird, über einen sehr großen Zeitraum des Tages an der Brust der Mutter. Das Kind stillt auf diese Weise seinen Hunger, sein orales Bedürfnis und sein Bedürfnis nach Körperkontakt.

Auch die Mutter kann dies als lustvoll empfinden und ist darüber hinaus froh, dass ihr Säugling zufrieden ist. Was das Verhalten von Säuglingen und deren Betreuungspersonen betrifft, zeigt sich, dass in unserer Kultur „normale“ Verhaltensmuster im Vergleich mit anderen Kulturen oder im historischen Kontext betrachtet eher ungewöhnlich erscheinen. So ist es zum Beispiel für die meisten Menschen in unserer Kultur völlig selbstverständlich, dass ein Säugling alleine in einem eigenen Bett schläft. Weint das Kind nachts, werden die verschiedensten Maßnahmen zur Beruhigung ergriffen, wobei diese Situation, wenn ein bestimmtes Maß nicht überschritten wird, als normal betrachtet wird.

Da menschliches Verhalten sehr anpassungsfähig ist, können Menschen unter unterschiedlichsten Umweltbedingungen leben und unterschiedlichste Kulturen entwickeln: Es sind promiske und monogame Sozialstrukturen möglich, es gibt aggressive und friedliche Kulturen, sesshafte Völker und Nomadenvölker.

Andererseits gibt es Verhaltensweisen wie Lachen und Weinen, welche universell, also bei Menschen aller Kulturen gleich sind. Bei diesen Verhaltensweisen geht man in der Verhaltensforschung von einer stammesgeschichtlichen Disposition aus.
Während die spätere Erziehung von Kindern je nach Kultur sehr stark variiert, zeichnet sich die Behandlung von Säuglingen durch ein hohes Maß an Wunscherfüllung und körperlicher Zuwendung aus, so dass von evolutionär vorgegebenen Bedürfnissen des Säuglings ausgegangen werden kann.

Das Round-the-Clock-Holding umfasst das Tragen des Säuglings am Tag sowie das gemeinsame Schlafen mit dem Säugling bei Nacht, vorrangig mit dem Ziel, dem Säugling durch Nähe Schutz und Geborgenheit zu vermitteln und ihm einen langsamen Übergang in das eigenständige Leben zu ermöglichen.

Der Körper der Bezugsperson wird von vielen Forschern als das Umfeld für den Säugling betrachtet, das seinen Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme und zum Ausdruck seiner Bedürfnisse in optimaler Weise entspricht. Im Folgenden soll erklärt werden, warum der menschliche Säugling als „Tragling“ bezeichnet werden kann. Es wird anschließend beschrieben, wie der Traglingsnatur in unterschiedlichen Kulturen Rechnung getragen wird. Die Kulturen, auf die ausführlicher eingegangen wird, zeichnen sich dadurch aus, dass ausführliche Beobachtungen bezüglich der Art, wie die Säuglinge dort aufwachsen, vorliegen, und dass sich diese Kulturen untereinander bezüglich sonstiger Aspekte wie der Lebensweise und der Lebensbedingungen sehr stark unterscheiden.

Weiters zeigt Wittmann historische Aspekte auf, wie sich in den verschiedenen Kulturen der Kontakt mit Säuglingen entwickelt hat. So sollen in der Antike die Säuglinge erstmals abgelegt worden sein. Durch das straffe Wickeln in Tücher wurde ein Halt vermittelt, der dem beim Tragen entstehenden Halt ähnlich war. Durch das Ablegen der Säuglinge wurden erstmals Maßnahmen zur Beruhigung notwendig. Das Wickeln der Säuglinge – wie auf Abbildungen antiker Gegenständen zu sehen – ist als Körperkontaktersatz eingesetzt worden.

In der Literatur der Antike treten Ratschläge zur Beruhigung von Säuglingen auf, sowie Ermahnungen, Säuglinge nicht mit ins Bett zu nehmen. So gab im 2. Jahrhundert der griechische Arzt Galenus Galen Eltern den Rat, die Kinder nicht mit ins Bett zu nehmen und empfahl statt dessen Vorsingen und Schaukeln zur Beruhigung. Das Schaukeln wurde auch von anderen Ärzten, ebenso wie von Platon empfohlen. Ebenfalls ist in diesen Hochkulturen der Beginn des Ammenwesens anzusiedeln, was ein weiterer Hinweis auf eine zunehmende Distanz zwischen Mutter und Kind sein könnte.

Susanne Wittmann beschreibt, wie sich im Laufe der Geschichte unserer Kultur ein zunehmender Distanzierungsprozess zwischen Mutter und Säugling beobachten lässt, welche im Zeitalter der Aufklärung teilweise verringert wurde. Eine weitere Gegenbewegung zeichnet sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab, in der das Tragen der Säuglinge eine Renaissance erlebte.

Sie schreibt weiters über die psychologischen Aspekte der Mutter-Kind-Bindung, der Persönlichkeitsentwicklung, der neurologischen und motorischen Entwicklung sowie der Auswirkung des Round-the-Clock-Holding in Bezug auf die Gesundheitsförderung.

____________________________
P.S.: Der Beitrag von Will Davis über „Instroke und Neuordnung“ wird von mir in einer der Ausgabe Bukumatula 4/01 besprochen; die beiden Artikel über die Qi Dao Medizin wird Alena Skrobal rezensieren.

Wissenschaft vom Lebendigen / Heiko Lassek (Hrsg.), 367 Seiten; Ulrich Leutner Verlag, Berlin 1999; (ISBN3-934391-00-1).

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    Bukumatula 2/2000

    Emily Derr über ihr Leben, ihre Arbeit, Al Bauman, über das Älterwerden …

    Das Interview im September 1999 in Wien führte
    Ingeborg Scheer:

    Das Leben kann erfüllt und einfach sein

    Ingeborg: Meine erste Frage an Dich wäre: Weißt Du noch, wann Du das erste Mal nach Wien gekommen bist?

    Emily: Zu einem Workshop war ich mit Al 1990 das erste Mal in Wien. Zuvor war ich aber auch schon hier, das muss in den siebziger Jahren gewesen sein. Eine Freundin von mir hat damals im Schönbrunner Schlosstheater gesungen und mich hierher eingeladen. Sie hat mich durch die Parks geführt, wir haben Kaffee getrunken, es war wunderschön …
    I: Kannst Du Dich noch an Euren ersten Workshop in Österreich erinnern?

    E: In einem Jahr, ich weiß nicht in welchem, habe ich Erika Stengl kennen gelernt – sie war so begeistert vom Singen. Sie ist gekommen und hat gesagt: „Uh, das war gut, ich möchte mehr mit der Stimme machen“. Daran erinnere ich mich – natürlich war da Wolfram und zwei Frauen aus München. Ich erinnere mich noch an das zweite Jahr; da hatten wir im Gasthof Flackl nur einen Raum zur Verfügung, und das war schwer für mich, weil ich nicht viel arbeiten konnte. Jeder wollte eine Sitzung mit Al.

    I: Wie ist denn Deine Zusammenarbeit mit Al entstanden?

    E: Es begann damit, dass wir in Kalifornien viel miteinander musiziert haben. Am Anfang tat ich mir schwer, weil ich nach der Geburt meines Sohnes Zacharias drei Jahre lang nicht mehr gesungen hatte. Zu meinen Selbstzweifeln hat Al gemeint: „Oh, lass das, das macht nichts“. Und ich ungläubig: „Was, das macht nichts?“ – „Ja, was fühlst Du dabei?“. Das tat mir sehr gut.

    I: Al hat Dich ermutigt …

    E: Ja, er hat mich ermutigt, es war als ob sich in meinem Herzen eine Tür öffnete; es begann mir großen Spaß zu machen. Nach ein paar Monaten gaben wir unser erstes „Living-Room-Concert“ in unserer Gemeinschaft.

    I: Hast Du damals schon Körperarbeit gekannt?

    E: Also – nicht dem Namen nach. Durch das Singen verstand ich natürlich deren Dynamik, aber ich hatte mit Al kein gemeinsames Vokabular. Ich möchte zuvor noch auf meine Zeit in New York zurückkommen: In den siebziger Jahren bewohnte ich ein großes Loft in Greenwich Village. Und in diesem schönen, hellen Raum begann sich eine Theatergruppe zu bilden. Wir waren acht, neun Sänger und nannten unser Projekt „Theater der Heilung“. Wir hatten alle das Bedürfnis, mehr Ausdruck in unsere Darstellung zu bringen und suchten nach Möglichkeiten dafür.

    Jeden Samstag kamen wir zusammen und jedes Mal übernahm ein anderer die Leitung. Eigentlich brachte jeder auch seine eigenen Probleme mit dorthin. Ich erinnere mich z.B. an John, der einmal die Leitung innehatte und mit den Worten „Ich bin Jesus Christus“ hereinstürmte. Und alle stöhnten: „Oh, nein, das darf nicht wahr sein!“ und er beharrend: „Ja ich spiele Christus, und du bist Maria Magdalena, und du spielst Petrus, etc.“ Er war der Sohn eines Pfarrers und war entschlossen seine Sache durchzuziehen. Bei einem anderen „Regisseur“ hatte ich einmal mein „dreijähriges Kind“ zu spielen. Ich sagte: „Nein, nein ich will nicht!“

    Diesen Satz musste ich immer wieder einbringen. Alle waren von meinem „Nein“ sehr bald überfordert, aber sie akzeptierten es. Ich musste einfach „Nein“ sagen, musste mein „Nein“ spielen. Manchmal komponierten wir Musik zu unserem Schauspiel und führten es als Oper auf. Damals, das war etwa 1974, begann ich mit „Stimmarbeit“ zu experimentieren, um herauszufinden, was der Ton, die Melodie in mir ist und wie sich das anfühlt. Heraus kam dabei eine Kombination von „wie fühlt es sich an“ und „ich bin Körper“; das war also der Körperarbeit schon ähnlich.

    I: War das eine Erfahrung, die Du an andere weitergeben wolltest?

    E: In gewisser Weise arbeite ich immer für mich selbst, wenn ich etwas Neues ausprobiere. Ich wollte erforschen, wie etwa Vokale den Körper beeinflussen. Freunde kamen also zu mir, und wir begaben uns gemeinsam auf Forschungsreise. Ich sagte etwa: „Okay, wir legen uns jetzt alle hier auf den Boden und lassen den Vokal `e´ aus uns tönen und schauen, was passiert.“

    I: Das war also Deine Erfahrung mit Körper und Stimme, bevor Du Al kennen gelernt hast?

    E: Ja. Al habe ich erst kennen gelernt, nachdem ich umgezogen bin. Ich musste New York verlassen. Die Luft war zu dick zum atmen, ich fühlte mich krank. Ich nahm einen Atlas zur Hand und erklärte meinen Freunden, dass ich in die Mitte der USA ziehen wollte. Und in der Mitte liegt Kansas. Kansas bedeutete aber: flach und Getreide und Fundis. Nein – also nein, da wollte ich nicht hinziehen; jemand schlug dann vor: „Na, gut, ein bisschen weiter westlich liegt Colorado“ – und das bedeutet Berge und da gibt es in Boulder eine Universität. Das war ein attraktiver Vorschlag. Um meine Sachen loszuwerden organisierte ich einen Flohmarkt und zog mit drei Koffern, einer Katze und einem Baby nach Colorado – und mit einer Flöte.

    I: Ganz alleine und ohne Ahnung, was Du dort tun könnest?

    E: Ja, ich wollte in die Berge, um mich wieder zu „finden“. Geträumt habe ich von einem Haus mit einer Veranda hoch oben in den Bergen. Die erste Zeit lebte ich in einem Motel. In einer Zeitung fand ich dann ein Inserat einer Frau, die einen zehnjährigen Sohn hatte, Alleinerzieherin war und ein Hausmädchen suchte. Ich rief sie an – und zog bei ihr ein. Es war nicht genau das, was ich mir vorgestellt hatte, aber es war in den Bergen, ohne Vorhängen an den Fenstern und ohne Veranda, aber ich hatte einen herrlichen Ausblick auf die Wälder und die Natur rundherum. Nach einem halben Jahr ging mir das Geld aus. Ich machte also wieder Lehrvertretungen an einer öffentlichen Schule. Wieder hatte ich einfach Glück. Ich meine, es war wie so oft in meinem Leben: ich war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort.

    I: Wie alt war Zacharias damals?

    E: Zach war drei Jahre alt. Er war bei einer Tagesmutter. Es was eine schwere Zeit für mich. Ich war vollkommen allein mit einem Kind, das ich selbst aufziehen wollte, was ich aber nicht schaffte. Ich musste mir eingestehen, einen großen Fehler gemacht zu haben. Das war eine harte Erfahrung. Ich zog dann in die Stadt hinunter, weil ich im Winter oft mit meinem Auto nicht den Berg hinauffahren konnte. Zach war bei einer Nachbarin in den Bergen oben, und ich musste in der Stadt bleiben. Ich zog also nach Boulder und teilte ein Haus mit einer Frau, die keine Kinder hatte. Sie war bei einer Gruppe, in der Körperarbeit praktiziert wurde. Und durch sie habe ich Al kennen gelernt.

    I: Ah!

    E: Er kam alle sechs Wochen in unser Haus und hielt Workshops.

    I: Und daran hast Du teilgenommen?

    E: Nun, ich war einfach beschäftigt; das Wochenende war die Zeit, die ich mit Zach verbringen konnte. Bei den Workshops mitzumachen hieß einen weiteren Babysitter bezahlen zu müssen. Nach einigen Monaten ging ich eines schönen Samstagmorgens doch in die Gruppe – und war „hin-und-weg“. Al machte gerade eine Mattensitzung, und ich kannte die Frau, mit der er arbeitete. Ich saß da mit weit geöffnetem Mund. Noch nie hatte ich einen Mann so intuitiv agieren gesehen.

    Da war etwas in seiner Arbeitsweise, das mich die Verbindung zwischen den beiden „sehen“ ließ, so dicht war das „Feld“. Nach der Sitzung erzählte er uns von der Gemeinschaft, in der er in Kalifornien lebte, wo die Kinder „vierundzwanzig Stunden am Tag zur Schule gingen“. Ich wusste, dass ich dort hin wollte. Auf die Idee in einer Kommune zu leben war ich noch gar nie gekommen. Es dauerte wieder einige Monate, bis ich mich zusammenpackte und mit Zach zu Besuch hinflog. Es war wie in einem Sommerlager.

    Wir wurden sehr herzlich willkommen geheißen. Wir schliefen in einem Zelt, das konnten wir uns leisten – Zach war ganz begeistert. Obwohl ich Al in Boulder meinen Besuch angekündigt habe, war er bei einer Männergruppe in Los Angeles. Ich fühlte mich so gut aufgehoben, dass ich beschloss, hierher zu ziehen – und sie konnten mich auch gut brauchen, weil ich eine Lehrbefähigung hatte. Ich hatte das richtige „Papier“, um ihre Schule zu legalisieren.

    I: Du warst also Musiklehrerin, das hast Du eigentlich gelernt – und Sängerin?

    E: Als ich jung war, sagte mein Vater zu mir: „Es ist besser, du wirst Lehrerin, das ist ein sicherer Beruf“. Was ich aber wirklich wollte, war nach New York zu gehen, um zu singen. Ich traute mich aber nicht, es wirklich zu machen. Ich hatte dafür keine Unterstützung. Im College erhielt ich die „Reife“ in Musik. Anschließend begann ich die Lehrerausbildung. Ich wollte aber immer noch nach New York. Daher belegte ich im letzten Jahr an meiner Schule mehr Kurse in „Gesang“; das kann man vergleichen mit denen bei Euch in Wien an der Musik-Hochschule.

    I: Wann hattest Du Deine erste Sitzung in Körperarbeit?

    E: Die erste Sitzung bekam ich von Al in Boulder. Ich erinnere mich nicht mehr an die Sitzung selbst, nur dass ich am Ende auf der Matte zu singen begann. Von Anfang an fühlte ich mich Al verbunden. Al sprach über New York City – das Leben dort und wie er dort aufgewachsen ist. Und ich dachte mir: ja, ja, das kenne ich auch, dort war ich auch schon, und La Traviata habe ich auch dort gesehen.

    Es gab einfach viele Gemeinsamkeiten. Mit Al zusammenzuarbeiten war relativ einfach. Er machte seine Mattensitzungen und ließ Theater spielen – Sitzungen im Stehen sozusagen – und ich konzentrierte meine Arbeit hauptsächlich auf die Stimme. Nach und nach begann sich das dann zusammenzufügen. Unsere Zusammenarbeit begann in Kalifornien, als wir – Randy Turner, einer der besten Körperarbeiter in Kalifornien, Al und ich eine Trainingsgruppe anboten. Wir verstanden uns gut und verbrachten viel Zeit miteinander.
    I: Seid ihr sehr bald als Paar zusammengekommen?

    E: Wir waren überhaupt kein „Paar“. Ich bin ganz und gar nicht mit dem Gedanken in die Kommune eingezogen, dass Al und ich ein Paar werden könnten. Al war ja verheiratet und seine Frau lebte auch dort. Die beiden waren sozusagen die Säulen der Gemeinschaft, sie haben das ganze zusammengehalten. Seine Frau hat sich für alle sozialen Aktivitäten eingesetzt; sie fühlte sich für die Gemeinschaft sehr verantwortlich. Ich hatte keine Ahnung, dass sie sich damals nicht mehr gut verstanden. Als wir im Mai unser Konzert gaben, war das der Punkt, wo seine Frau bemerkte, dass etwas zwischen ihr und Al steht. Sie meintE: „Nun kann ich gehen“. Ich hatte von ihren Problemen wirklich keine Ahnung und fühlte mich gänzlich unschuldig. Einige Monate später waren wir dann tatsächlich zusammen.

    I: War Al ein schwieriger Partner?

    E: Ja und nein. Was ich an Al sehr schätzte war, dass er mir, wenn wir zusammen waren, seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Wir hatten eine wunderschöne Zeit und oft viel Spaß miteinander. Al war sehr kontaktfreudig und zog viele Menschen an. Das war manchmal schwierig für mich. Einerseits hat es mich erleichtert, weil es mir Freiraum verschaffte, andererseits verspürte ich manchmal große Eifersucht. Ich hatte daran zu arbeiten, viel zu arbeiten, aber ich glaube, dass ich dadurch gewachsen bin. Oder: Al konnte Geld sehr leicht ausgeben und wieder sehr schnell verdienen.

    Aber er hatte kein besonderes Besitzdenken. Er liebte es gut zu essen, Leute einzuladen und gute Zigarren zu rauchen. Er warf das Geld nicht beim Fenster hinaus, aber es floss sehr leicht. Mich beeindruckte, wie man mit Geld auf diese Art umgehen kann. Einmal kam Al zu mir und sagtE: „Ich weiß nicht, wofür ich mein ganzes Geld ausgegeben habe, aber ich habe im Moment überhaupt keines“. Ich war entsetzt. Aber für ihn war das kein Problem. Wir gingen weniger oft aus, er arbeitete mehr und hatte wieder Geld. Er hat das immer wieder mit großer Leichtigkeit geschafft.

    I: Hast Du da von ihm gelernt?

    E: Na ja, da bin ich schon viel besorgter. Al strahlte großes Selbstbewusstsein aus, er war von sich überzeugt. Einmal saßen wir auf der Ranch – mit einem wunderschönen Ausblick auf die Berge – beim Frühstück beisammen. Al pflegte den Tag immer mit einem Kaffe und einer Zigarre zu beginnen. Manchmal bin ich dann ausgerastet, worauf er zu mir sagtE: „Komm, setz Dich und beruhige Dich“. Er sprach zu mir wie zu einem Kind. Wenn Leute außer sich waren, konnte er sie schnell auf sich selbst zurückbringen. So habe ich auch begonnen Orgon-Kissen herzustellen. Ich konnte sitzen, konnte nähen – und blieb ruhig.

    I: Ist er immer so gewesen?

    E: Nein, das hatte er zu lernen. In seinen jüngeren Jahre war er von Unruhe getrieben, rannte von einem Termin zum anderen. Er bekam eine Kolitis. Sein Arzt forderte ihn auf, das Rauchen sofort einzustellen – er rauchte damals bis zu achtzig Zigaretten am Tag. In dieser Zeit begann er seine Therapie bei Simeon Tropp.

    I: Und wie seid Ihr dann nach Europa gekommen?

    E: Da muss ich auf Michael Smith zurückkommen, den Al von Kalifornien her kannte. Michael war Gestalttherapeut und wurde von Al in Reichscher Körperarbeit ausgebildet. Nachdem Michael die „Lomi Foundation“ verlassen hatte ging er nach Hamburg, um dort zu arbeiten. Er leitete in Deutschland eine Reihe von Ausbildungs-Gruppen. Im Sommer trafen sich dann die Teilnehmer zu einem mehrwöchigen Workshop in Frankreich. Nach zwei Jahren lud er Al und mich erstmals zu einem Workshop nach Aix en Provence ein. Ich glaube, das war 1983.- Nach etlichen Jahren in Deutschland hat Michael beschlossen zu uns nach Santa Fe zu ziehen. Dort lebte Michael eineinhalb Jahre, bevor er starb.

    I: Er hatte ein Alkoholproblem?

    E: Das kann ich nicht so sagen, vielleicht auch. Weder Al noch ich haben gewusst, dass ein Arzt in Hamburg schon vor Jahren bei ihm eine Leberzirrhose diagnostiziert hat. Der Arzt meinte, dass er nur mehr ein paar Jahre zu leben hätte, wenn er seinen Lebensstil nicht ändern würde. Michael war entsetzt, änderte aber seinen Lebensstil nicht. Wir hatten keine Ahnung, dass er so krank war, er hat nie darüber gesprochen. Er hat sich makrobiotisch ernährt und nach dem Essen kam er zu Al, um mit ihm einen Whiskey zu trinken. Das war Michael.

    I: Wann hast Du mit der Craniosacralen-Arbeit begonnen?

    E: Das hat damit begonnen, dass ich in der Menopause war. Ich hatte Depressionen, aber keine körperliche Beschwerden. So ging ich zu meiner Freundin Ann, die Akupunktur praktizierte. Sie meinte, dass ich mit einem Mann arbeiten sollte und verwies mich an ihren Lehrer. Natürlich glaubte ich, daß ihr Lehrer ein Akupunkteur ist und fuhr nach Albuquerque. „New Mexico School of Natural Therapeutics“ stand über seinem kleinen Büro, in dem nur ein Massagetisch stand.

    Er sagte: „Legen Sie sich hin“. Er stellte überhaupt keine Fragen sondern begann gleich zu arbeiten. Ich hatte damals keine Ahnung, dass das Craniosacrale Arbeit war. Ich ließ mich sehr schnell darauf ein – ließ meinen Kopf fallen und dachte, so könnte das Paradies sein. Nach einer Stunde sagte er: „Das war’s“. Ich machte mir also weitere Termine mit ihm aus. Drei Wochen später rief mich Ann an und machte mich auf eine Workshopreihe mit Robert Stevens aufmerksam, was mein Einstieg in die Craniosacrale Arbeit war.

    Robert war ein sehr herzlicher Mensch mit wunderbaren Händen und außerdem ein guter Lehrer. Ich war ganz angetan, ich mochte das Gefühl in meinen Händen, die sehr schnell auf diese Art von Arbeit reagierten. In unsere Küche hängte ich einen Zettel: „Ich brauche Deinen Kopf, melde Dich“. Innerhalb eines Monats gab ich an die dreißig Sitzungen. Damit hatte ich die ganze Sequenz bald in meinen Händen. Ich begann diese Arbeit weiterzugeben. Ich erzählte einigen Leuten in Hamburg, dass ich Craniosacrale Arbeit lerne und dass sie das auch lernen sollten.

    Es wurde ein Workshop organisiert und ich hielt meinen ersten Kurs, obwohl ich selbst erst seit kurzer Zeit damit vertraut war. Es hat sehr gut geklappt und hat mich selbst weiter gebracht. „Learning by teaching“ möchte ich das nennen. Meine Arbeit besteht aus lauter Dingen, die ich gerne tue und für die ich auch noch bezahlt bekomme. Besser kann es nicht sein. Ich komme in der ganzen Welt herum und habe viele Freunde; ich fühle mich zum Beispiel auch hier in Wien bei Dir ganz wie Zuhause, Ingeborg, es ist wie in einer Familie.

    I: Du hast also viele Familien in dieser Welt …

    E: Einige. Zur Zeit habe ich wenige Freunde auf der Ranch. Ich weiß, dass sich das ändern wird, aber das ist momentan eine sehr wichtige Phase in meinem Leben. Es ist wichtig für mich zu erfahren, dass ich alleine bin. Ich lebe alleine und ich lebe gerne alleine. Zumindest die meiste Zeit. Es ist für mich so, als ob ich wieder Boden unter meinen Füßen spüren kann und selbst entscheide, wann und welche Leute ich treffen will. Aber ich bin noch nicht ganz soweit. Al ist tot, er ist wirklich weg. Manchmal, wenn Menschen verstorben sind, spürt man noch ihre Anwesenheit und träumt oft von ihnen. Al verabschiedete sich wie eine Rakete – er flog weit ins Weltall hinaus. Er hat sich auch im Leben nie umgedreht und zurückgeschaut. Das war auch die Art, wie er starb.

    I: War das schwer für Dich?

    E: Nein, erst etwa ein halbes Jahr später. Damals musste ich die Ranch verlassen, weil andere Leute einziehen wollten. Es war schwer für mich zu akzeptieren, dass ich etwas tue, was ich nicht wirklich wollte. Ich konnte es mir jedoch nicht aussuchen. Ich hatte aber den Willen hier durchzukommen. Ein Jahr nach Al’s Tod ging es mir wesentlich besser; ich wusste nicht, dass es mich so lange gefangenhalten würde. Sein Tod kam ja nicht ganz plötzlich, wie bei einem Unfall oder so, sondern Al wurde schwächer und schwächer.

    I: Wie alt war er?

    E: Er war 79 Jahre alt und wäre in drei Monaten achtzig geworden.

    I: Das ist ein schönes Alter …

    E: Er hat viel länger gelebt, als alle anderen in seiner Familie. Das hätte er auch gesagt. Er hatte diese Art von Humor. Er pflegte solche Sachen gerne zu sagen.

    I: Woran ist er eigentlich gestorben?

    E: Sein Herz wurde schwächer und schwächer, sein Körper wurde schwächer. Er hatte die letzten drei Tage Schmerzen, hauptsächlich im Rücken.

    I: Wenn Du aufreihen willst, welche Deiner Tätigkeiten Dir besonders am Herzen liegen, also Körperarbeit, Singen, Schauspielen, Craniosacrale Arbeit, etc., welche Reihenfolge würdest Du wählen?

    E: Ich denke nicht auf diese Art. Ich würde das nie linear reihen. Es ist wie ein Teppich, der verwoben ist; für mich passt das alles zusammen und ergibt ein Ganzes – und sie alle sind Teile meines Lebens. Es gibt Zeiten, wo ich mich mehr auf einen Bereich konzentriere. In Einzelsitzungen kann es passieren, dass einer eine Gesangstunde und der nächste eine Arbeit auf der Matratze haben will. Ich mache nie drei gleiche Sitzungen hintereinander. Mir ist also nie langweilig, was ich an meiner Arbeit auch sehr schätze. Man weiß auch nie, was dabei herauskommt.

    I: Kannst Du die Craniosacrale Arbeit mit der Körperarbeit vergleichen? Was ist jeweils der Schwerpunkt?

    E: Der Schwerpunkt von beiden ist es, das Leben der Menschen „erfüllter“ zu machen. Es geht nicht nur darum, was in den einzelnen Sitzungen passiert, sondern darum, dass die Erfahrung ihr Leben bereichert. Durch mehr an Bewusstheit über ihre Person, ihre Arbeit und darüber, wie sie leben wollen, wie ihre Beziehungen aussehen sollen. Sie lernen sich so wie sie sind zu akzeptieren. Dadurch fühlen sie sich gestärkt in der Welt zu bestehen. Oder sie erkennen, dass sie ihr Leben so nicht leben können und finden etwas, was Al „living in the cracks“ genannt hat, das heißt ihre eigene Wahrheit in einer Gesellschaft, die andere Regeln hat, zu leben.

    Ein Unterschied zwischen den beiden Arbeitsweisen liegt im Fokus. Bei einer Mattensitzung schaue ich auf den Körper, schaue ich wie die Person atmet, wo sie blockiert und was sie durch ihre Blockierung ausdrückt. Für mich hat das eine Nähe zur Schauspielerei, es geht um den Ausdruck. In der Craniosacralen Arbeit geht es darum, wie tief ich in die Person „eindringen“ kann. Es geht nicht wirklich um ein Eindringen, sondern darum, wie ich sie dazu bringen kann sich in sich selbst zu Hause zu fühlen.

    Beide Methoden haben einen unterschiedlichen Zugang, insgesamt aber ergänzen sie sich. In der Craniosacralen Arbeit arbeiten wir hauptsächlich mit dem Kopf und können dadurch auch die Panzerung im Becken lösen. Wenn ich in der Körperarbeit irgendwie „hängen“ bleibe, wende ich oft Craniosacrale Arbeit an. Dann achte ich auf den Gesichtsausdruck. Wenn ich in der Craniosacralen Arbeit einen ganz tiefen, vielleicht auch unbewussten Ärger spüre, dann verlagere ich die Arbeit auf die Matte und fordere die Person auf, gegen einen Polster zu treten und zu schreien.

    I: Auch wenn er es nicht so fühlt?

    E: Ja, ich weiß, dass dieses Gefühl in ihm ist. Man kann das nicht verallgemeinern, es kommt auf die Beziehung zum Klienten an. Natürlich sage ich nicht in der ersten Sitzung: „Leg dich auf die Matte und schrei“. Aber wenn ich mit jemandem regelmäßig arbeite, würde ich das schon tun. Ich bin alt und erfahren genug, um solche Sachen sagen zu können und damit durchzukommen. Damit meine ich den Widerstand dieser Person durchdringen zu können und die Frage zu klären, wozu das jetzt gut ist. Dann sage ich etwa „mach es einfach, das erkläre ich Dir später“. Für mich funktioniert das, aber das gilt sicherlich nicht für jeden.

    I: Ich reagiere da ganz anders als Du. Ich erkläre es schon, oder zumindest ein bisschen was davon, so dass auch der Widerstand schmelzen kann. Aus eigener Erfahrung habe ich für Menschen, die sehr im Kopf sind, viel Verständnis; und das geht dann auch gut. Die Arbeit ist geprägt von zwei Wesen, also dem von mir und dem des Klienten, und daher ist das Ergebnis der Arbeit immer unterschiedlich. Deshalb ist es auch so schwer, das haargenau zu übernehmen. Wenn ich zu meinem nächsten Klienten sagen würde „mach es einfach, das erkläre ich Dir später“, dann würde er möglicherweise total in den Widerstand gehen, wenn er merkt, dass das ist nicht ganz meines ist. Wenn es ganz meines ist, dann macht er es.

    E: Ich neige dazu, das ebenso zu halten. Manchmal bin ich auf halbem Weg und denke dann „was tue ich da und warum“, aber normalerweise passiert mir das nicht. Ich springe einfach hinein und tu’s. Im nachhinein weiß ich dann, ob es gut war, oder dass ich das nicht noch einmal so machen würde. Aber ich stimme mit Dir überein: Jeder muss seinen eigenen Weg in der Arbeit selber finden.

    I: Mich fasziniert an der Craniosacralen Arbeit, dass unterschiedliche Partner unterschiedliche Beobachtungen machen.

    E: Und sie liegen nicht falsch, das ist genau dasselbe wie bei einer Mattensitzung. Je nachdem, wer die Sitzung gibt, sieht man andere Dinge. Das ist etwas, was ich an dieser Arbeit schätze. Sie ist ganz individuell. Es ist eine Methode, aber nichts Mechanisches; es ist organisch.

    I: Es braucht aber viele Jahre, um dorthin zu kommen.

    E: Für Dich?

    I: Ja, es ist eine Entwicklung, es war ganz anders früher. Wenn mich jetzt Leute fragen, was ich mache, dann sage ich „schwer zu sagen“.

    E: Mir geht’s genau so, es ist schwer zu erklären.

    I: Ich mache „Ingeborg“, eine Mixtur aus allem was ich gelernt und erfahren habe. Es ist nicht mehr nur eine Arbeit, also SKAN oder so.

    E: Das ist wahr, und das trifft auf jeden Therapeuten zu. Jeder macht aus seinen eigenen Erfahrungen etwas Einzigartiges.

    I: Ich bin keine geübte Interviewerin, aber gibt es etwas, was Dir für dieses Interview am Herzen liegt?

    E: Es geht mir darum, dass es leicht und angenehm zu lesen ist; ihr werdet viel herausschneiden müssen. Aber für den Leser ist es wichtig, dass er ein Gefühl für ein sprudelndes, sich bewegendes Leben bekommt. Leben kann erfüllt und einfach sein. Das kann mit Freude einhergehen und genug Geld einbringen, um damit leben zu können.

    I: Das wäre ein guter Titel für das Interview …

    E: Das Leben ist ein Schauspiel. Al hat immer gesagt, das Leben ist nur eine große Bühne. Ich habe sehr viel von Al über die Leichtigkeit des Lebens gelernt.

    I: Hast Du Angst vor dem Älterwerden?

    E: Manchmal, nicht sehr, aber ich würde gerne mein Leben in Leichtigkeit gestalten. Wie ich das mache, weiß ich nicht. Ich plane nicht voraus, aber ich fühle, wie sich mein Körper verändert. Ich reise gerne und möchte, solange ich Arbeit habe, das auch weiterhin tun. Je älter ich werde, desto mehr möchte ich mit Menschen aller Altersstufen zusammenleben.

    I: Glaubst Du, dass das möglich ist, wo Du jetzt lebst, in Santa Fee?

    E: Nein. Die Leute dort sind sehr projekt- und nicht familienorientiert. In letzter Zeit bin ich immer mehr daran interessiert, mehr Kontakt zu jungen Menschen zu haben.

    I: Und warum?

    E: Weil sie auf der Suche sind. Und weil sie ehrlich sind in ihrer Suche. Natürlich sagen einige, ich weiß nicht, was ich in dieser Welt soll, das kann ich auch verstehen. Viele aber sind optimistisch, manchmal sogar unrealistisch optimistisch. Mir gefällt das. Junge Menschen um die zwanzig – Zach ist gerade in diesem Alter – brauchen eine Führung, um ihren Körper besser akzeptieren zu können. In diesem Alter sind viele mehr darauf bedacht, wie sie von außen gesehen werden. Das ist wichtig, aber ich möchte ihnen Wege aufzeigen, wie sie zu ihrem Inneren kommen. Es ist ein schönes Alter. Als ich zwanzig war, habe ich natürlich nicht so gedacht, aber jetzt wo ich sechzig bin …

    I: Mit einundzwanzig Jahren habe ich eine sehr depressive Phase durchlebt mit vielen Selbstzweifeln, ob ich gut oder schön genug wäre. Ich habe mich dabei total alleine gelassen gefühlt. Ja, andere haben gesagt, na bitte, du bist doch gescheit genug, du bist doch schön genug. Aber das war nicht das, was ich wissen musste. Einerseits war ich sehr aktiv und hoffnungsvoll und andererseits nahe am Selbstmord, so schlecht habe ich mich gefühlt. Etliche Jahre hat es gedauert, bis es mir wieder halbwegs besser ging.

    Ich hätte damals Unterstützung gebraucht von jemandem der „weiß“, mich aber nicht manipuliert – diesbezüglich bin ich besonders empfindlich -, sondern mein Wesen wertschätzt so wie es ist und dass man auf diese Weise das selber lernen kann. So wie es ist, ist es nicht in Ordnung – einmal zuviel, einmal zuwenig. Ich glaube dieses Problem haben viele junge Leute. Das kenne ich auch von meinen Klienten. Eine Freundin von mir unterrichtet Gesang an einer Musicalschule, und sie liebt ihre Tätigkeit dort. Sie ist mit lauter jungen Leuten zusammen die kreativ und lustig sind, aber auch Selbstwertprobleme bis obenhin haben und Unterstützung brauchen. Sie ist so um die Vierzig und die lebt und ist lebendig, und die Schüler lieben sie.

    E: Ja, das kann ich gut verstehen.

    I: Möchtest Du noch einmal zwanzig sein?

    E: Nein, das möchte ich nicht noch einmal sein. Jedes Jahr ist anders und hat seine eigene Qualität. Ich merke, dass ich älter werde – das habe ich zuvor nie so wahrgenommen.

    ______________________________
    Übersetzung und Bearbeitung: Robert Federhofer, Wolfram Ratz

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    Bukumatula 3/2000

    20 Variationen über den Vater, Wilhelm Reich

    Über das Leben des Wiener Psychoanalytikers Karl von Motesiczky und den Umgang mit seiner GeschichteÜber das Leben des Wiener Psychoanalytikers Karl von Motesiczky und den Umgang mit seiner Geschichte
    Christiane Rothländer::

    Immer wieder wurde mir während meiner Interviews mit Menschen, die Karl von Motesiczky – zumindest über eine gewisse Zeitspanne hinweg – gekannt hatten, die erstaunte Frage gestellt, was denn an ihm so interessant wäre, dass jemand eine Biographie über sein Leben schreibt. Ein Leben, von dem selbst die wenigen noch lebenden Verwandten und Freunde immer nur Ausschnitte zu erzählen wissen. Genau dies stellte jedoch auch das Reizvolle an meiner Arbeit dar.

    Die oft detektivisch anmutende Rekonstruktion der Biographie einer Person, die nicht nur in gängigen historischen Darstellungen keine Erwähnung findet, sondern sogar in Autobiographien von Menschen, die viele Jahre eng mit ihr zusammengearbeitet hatten, nicht vorkommt. Der Ort, an dem er lebte und wo eine Gedenkstätte an ihn erinnern sollte, an der jedoch auch die dort wohnenden Menschen seit Jahrzehnten vorbeigehen, ohne sie je wahrgenommen zu haben. Mein Anliegen ist es, dem Menschen Karl von Motesiczky und seinem Werk jene Anerkennung zuteil werden zu lassen, die ihm Zeit seines Lebens und v. a. danach verwehrt geblieben war.

    Ein anderer, für mich besonders interessanter Aspekt an der biographischen Arbeit ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Geschichte der Familie Karl von Motesiczkys von Beginn an in der Geschichte der Psychoanalyse widerspiegelt – eine gemeinsame Geschichte, die während der national-sozialistischen Herrschaft in Österreich ihr Ende fand.
    Diese Geschichte möchte ich im folgenden nachzeichnen. Sie beginnt dreißig Jahre vor Karl von Motesiczkys Geburt, als Sigmund Freud, ein 18jähriger Student, im Wintersemester 1874/75 eine Vorlesung bei Franz von Brentano an der Universität Wien inskribierte.

    Brentano war 1864 zum katholischen Priester geweiht worden, erhielt 1869 den Auftrag eine „Denkschrift der deutschen Bischöfe gegen das Unfehlbarkeitsdogma“ des Papstes auszuarbeiten (Brauns 1989, S. 42). 1872 wurde er zum außerordentlichen Professor in Würzburg ernannt und trat 1873 von dieser Professur zurück. Er legte sein Priesteramt nieder und trat ein Jahr später aus der Katholischen Kirche aus. 1874 folgte er einem Ruf als Ordinarius für Philosophie nach Wien, wo er mit der Absicht, Ida von Lieben, die Tochter einer der reichsten und vornehmsten jüdischen Familien der Stadt, die Schwester Karl von Motesiczkys Großvater Leopold, zu ehelichen, einen gesellschaftlichen Skandal verursachte.

    Da nach herrschender österreichischer Rechtssprechung die Heirat eines ehemaligen Priesters als unmöglich galt, trat Brentano von seiner Professur zurück, erwarb die sächsische Staatsbürgerschaft und vermählte sich am 16. 9. 1880 mit Ida von Lieben in Leipzig. Nach seiner Rückkehr lehrte er dann bis 1895 als Privatdozent an der Universität Wien (Bernfeld 1949, S. 145f.). In seinen Jugendbriefen an Eduard Silberstein berichtete Sigmund Freud, dass er die Vorlesungen Brentanos besuche und wie sehr er von ihm beeindruckt war (Freud 1989).

    Als Theodor Gomperz, ein an der Universität Wien lehrender Philosoph und Historiker, 1878 für die Herausgabe von John Stuart Mills „Gesammelten Werken“ einen Übersetzer für den zwölften Band suchte (Kann 1974, S. 106), stellte sich erneut eine Verbindung zwischen Sigmund Freud und der Familie Motesiczkys her: Theodor Gomperz war der jüngste Bruder Sofie von Todescos, Karl von Motesiczkys Urgroßmutter. Gomperz schlug ihm Franz von Brentano als Übersetzer vor (Bernfeld 1949, S. 143).

    Neun Jahre später kam Freud wiederum in Kontakt mit der Familie, diesmal jedoch unter ganz anderen Voraussetzungen. Vom Studenten und Mitarbeiter war er zum Arzt Anna von Liebens, Karl von Motesiczkys Großmutter, avanciert – eine Patientin, die nochmals unter dem Pseudonym Cäcilie M. in den „Studien über Hysterie“ Berühmtheit erlangen sollte. Noch Jahre nach dem Ende der Behandlung Anna von Liebens schrieb Freud an seinen Freund Wilhelm Fließ: „Wenn Du Cäcilie M. kenntest, würdest Du keinen Moment zweifeln, dass nur dieses Weib meine Lehrmeisterin gewesen sein kann.“ (Freud 1986, S. 243)

    Anna von Lieben wurde 1847 als viertes von acht Kindern Eduard und Sofie von Todescos in Wien geboren. Ihr Vater leitete seit 1848 ein unter dem Namen „Hermann Todesco´s Söhne“ bestehendes Großhandelshaus als Privatbank und zählte zu den Spitzenrepräsentanten der damaligen Finanz- und Bankenwelt. Die Familie war in erster Linie darauf bedacht, nach außen hin ihren Repräsentations-Pflichten nachzukommen. Auf Sehnsüchte und Wünsche der einzelnen Familienmitglieder wurde wenig Rücksicht genommen, wie Anna von Lieben es in ihren Gedichten beschrieb (Lieben 1901, S. 86).

    1866 floh sie im Alter von 18 Jahren zu ihrer Schwester Fanny nach England in der Hoffnung, ihrem Schicksal – mit einem reichen, angesehenen, aber ungeliebten Mann verheiratet zu werden – entkommen zu können. Sie blieb zwei Jahre in England, wo sie psychisch schwer erkrankte. 1868 gab Anna von Lieben schließlich dem Drängen ihrer Eltern nach (ebd. S. 23) und kehrte nach Wien zurück. Drei Jahre später heiratete sie den wohlhabenden jüdischen Bankier Leopold von Lieben. In den folgenden Jahren brachte sie fünf Kinder zur Welt. 1882 wurde ihre jüngste Tochter, Henriette – Karl von Motesiczkys Mutter – geboren.

    Anna von Liebens psychischer Zustand hatte sich von 1874 an wieder zu verschlechtern begonnen. Nur während ihrer Schwangerschaften ging es ihr besser. Von 1887/1888 an übernahm ein junger Arzt die Behandlung Anna von Liebens (Swales 1986, S. 50): Sigmund Freud, stellte in den „Studien über Hysterie“ Cäcilie M. als jene Patientin vor, die er weitaus „gründlicher als jede andere“ der in den Studien erwähnten Frauen kennen gelernt habe. Aus „persönlichen Gründen“ jedoch wäre er verhindert gewesen, die Krankengeschichte seiner „Lehrmeisterin“ – wie Freud sie nannte – „ausführlich mitzuteilen“ (Breuer/Freud 1997, S. 88).

    Die Behandlung war zunächst auf Hypnose und Suggestion gestützt. Im Herbst 1889 begann Freud gemeinsam mit seiner Patientin, Möglichkeiten und Grenzen der kathartischen Methode auszuloten. Rückblickend schrieb er dann sogar die Einführung der Methode der freien Assoziation seiner Behandlung Anna von Liebens zu (Swales 1986, S. 31). Als sich deren Familie 1893 gegen eine Fortsetzung der Therapie stellte, bedauerte Freud dies zutiefst (Freud 1986, S. 55). Anna von Liebens Zustand verschlechterte sich danach zunehmend. Sie starb am 31. 10. 1900 im Alter von 53 Jahren an Herzversagen. Die Geburt ihres Enkels Karl von Motesiczky erlebte sie nicht mehr.

    Ein Jahr vor dem Abbruch der Behandlung Anna von Liebens wurde Sigmund Freud der Arzt eines weiteren Mitglieds der Familie. Elise Gomperz, die Frau von Theodor Gomperz, litt unter starken Gesichtsneuralgien, Schlaflosigkeit und hysterischen Zuständen. Etwa acht Jahre nach Beginn wurde auch diese Therapie abgebrochen (1). Freuds Kontakt zur Familie fand durch die Zusammenarbeit mit dem Sohn des Ehepaars, Heinrich Gomperz, eine Fortsetzung. Heinrich Gomperz zeigte sich von der gerade erschienenen „Traumdeutung“ beeindruckt und stellte sich als Versuchsperson zur Verfügung (Freud 1986, S. 425ff.).

    Wenige Monate nach Anna von Liebens Tod lernte ihre jüngste, damals 18-Jährige Tochter Henriette den um 16 Jahre älteren tschechischen Adeligen und Protestanten Edmund Graf Motesiczky-Keseleokö kennen. Bereits bei ihrem zweiten Zusammentreffen beschlossen die beiden, sich zu verloben. Henriette von Liebens Vater reagierte zunächst wenig erfreut. Er warf Motesiczky offenbar vor, dass dieser sich ganz der Musik (2) – er spielte ausgezeichnet Cello (3) verschrieben hätte. Schließlich stimmte er einer Vermählung doch zu. Am 10. 8. 1903 fand die Hochzeit in der Villa Todesco, dem Anwesen der Familie Lieben in der Hinterbrühl, statt. Neun Monate nach ihrer Vermählung – am 25. 5. 1904 – kam Karl Wolfgang Franz Graf Motesiczky zur Welt. 1906 wurde das zweite Kind, Marie-Louise, geboren.

    Sechs Jahre nach seiner Heirat nahm Edmund von Motesiczky in der Slowakei an einer Jagd teil, wo er an einer Darmverschlingung erkrankte, infolge der er am 12. 12. 1909 verstarb. Marie-Louise von Motesiczky glaubte, dass der frühe Tod des Vaters „die Ursache dafür war, dass der hochbegabte und eigensinnige Bruder später mit großen Problemen zu kämpfen hatte, einerseits wurde ihm, gemessen am Vater, beinahe jede Anerkennung verweigert, andererseits fehlte ihm die beratende männliche Bezugsperson“ (Gaisbauer 1986, S. IV). Sie beschrieb ihn als begabten und unruhigen Menschen (M.-L. Motesiczky 1986).

    Auch das Verhältnis zur Mutter war „für den vergrübelten Sohn eher belastet“ (Gaisbauer 1986, S. IV). Nach dem Ende seiner Schulzeit im Realgymnasium I. in Wien besuchte Karl von Motesiczky anfangs die Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst. Wie sein Vater war auch Karl von Motesiczky ein sehr talentierter Cellist. Im Sommersemester 1924 wechselte er dann auf die juridische Fakultät der Universität Wien. In diese Zeit fiel auch seine erste Begegnung mit dem acht Jahre älteren Schriftsteller Heimito von Doderer. „Einen jungen Mann von 19 Jahren lernte ich auf einem Hausball kennen, einen in mancher Hinsicht anziehenden Menschen“, schrieb Doderer Mitte Februar 1925 in sein Tagebuch (Doderer 1996, S. 175). Kurz darauf schlossen die beiden Freundschaft. Doderer wurde zu Motesiczky väterlicher Identifikationsfigur und – den Eintragungen in Doderers Tagebüchern zufolge – wohl auch zu seinem Ratgeber in sexuellen Fragen (ebd., S. 223f.).

    Der wohlhabende „Mote“ – so sein Spitzname – gehörte sofort zum engsten Kreis der Vertrauten Doderers und nahm an dessen schriftstellerischen Tätigkeit regen Anteil. Doderer andererseits setzte seiner Freundschaft zu Mote ein Denkmal. „Er widmete ihm sein zweites Divertimento“ (Fleischer 1996, S. 165).

    Am 26. 3. 1926 organisierte Motesiczky den ersten Auftritt Doderers in Wien. Er selbst hielt einen einleitenden Vortrag „Über Lesen und Hören“, in dem er die Thesen des Freundes erläuterte. Doderers zweiter Auftritt ein Jahr später war ein derart großer Erfolg – „herbeigeführt durch ein geschicktes Arrangement meines Freundes und `Impresarios´ Karl M.“ (Doderer 1996, S. 351), dass ihm die Einnahmen viele Monate finanzieller Unabhängigkeit sicherten.

    Im Oktober 1928 verließ Motesiczky Wien, um in Heidelberg Philosophie zu studieren. 1930 ging er nach Marburg, wo er mit dem Studium der Theologie begann. Wie schon zuvor in Heidelberg engagierte er sich auch in Marburg in der Studentenbewegung, schrieb Artikel in Zeitungen und hielt Vorträge in der sozialistischen Studentengruppe, wo es zu „großer Diskussion mit den Haken- kreuzlern“ kam (4).

    Die Briefe Motesiczkys aus dieser Zeit belegen die ersten Kontakte mit dem Kommunismus. Im April 1931 zog er nach Berlin, wo er sein Theologiestudium fortsetzte. Er wohnte zunächst in der Bauhofstrasse 1, in Britz gegenüber der Museumsinsel, im Zentrum der Stadt. Einige Monate später übersiedelte er in die Jahnstrasse 69, in den Arbeiterbezirk Neukölln, einen der Hauptagitationsorte des Kommunisten und Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Während Motesiczkys erster Wohnort völlig dem Milieu entsprach, in dem er aufgewachsen war, stellten die Verhältnisse in Neukölln einen entscheidenden Bruch mit seiner gewohnten Lebensweise dar.

    Reich war Ende September 1930 nach Berlin gekommen, wo er hoffte, mit seiner gesellschaftspolitischen Arbeit auf fruchtbaren Boden zu stoßen. Als Instrument dafür sollte die Sexpol-Bewegung dienen, die auch Motesiczkys weiteres Leben stark beeinflusste. Die Anfänge der Sexpol-Bewegung gehen zurück auf Reichs Wiener Jahre und den Aufbau der „Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“. Nach seinem Ausschluss aus der Sozialdemokratischen Partei hatte er sich der KPÖ angeschlossen. Seinen letzten öffentlichen Auftritt in Wien bestritt Reich im September 1930 auf dem IV. Kongress der Weltliga für Sexualreform (Fallend 1988, S. 209f.).

    Seiner eigenen Darstellung nach wurde Reich vom Komitee der Weltliga gebeten, für „sie eine sexualpolitische Plattform auszuarbeiten“, die jedoch „im Beisein Leunbachs und M. Ks. als kommunistisch abgelehnt“ wurde (5) (ZPPS 1934, S. 263). Reichs Plan war es gewesen, die „etwa 80, gesondert geführten und gegeneinander oft feindlichen sexualpolitischen Organisationen (…) in einen Massenverband auf kommunistischer Basis“ (ebd. S 263) zusammenzufassen.

    Während die KP-Funktionäre noch über die Führerschaft in einem erst zu schaffenden Einheitsverband diskutierten (Rackelmann 1992, S. 48), war in Düsseldorf am 2. 5. 1931 mit Reichs Unterstützung die Gründung eines solchen „Einheitsverbandes für proletarische Sexualreform und Mutterschutz (EV) auf Bezirksebene beschlossen worden“ (ebd. S. 49). Der Deutsche Reichsverband für proletarische Sexualpolitik (RV) – wie Reich selbst den EV nannte – setzte sich zum Ziel, „die deutsche Sexualreformbewegung, die bisher zersplittert und unpolitisch war, unter einheitlicher Führung zusammenzufassen, um sie mit klassenmäßigem, revolutionärem Inhalt zu erfüllen und auf eine zielbewusste sexualpolitische Plattform zu stellen“ (ZPPS 1934, S. 263). Die Kampfforderungen des RV gingen „weit über die KPD Richtlinien hinaus“ (Rackelmann 1992, S. 171).

    Unter welchen Umständen Karl von Motesiczky mit Reich in Verbindung kam, ist ungewiss. Möglichkeiten dazu bestanden bei den Massenversammlungen, welche die sozialistischen und kommunistischen Studentenorganisationen veranstalteten und zu denen Reich als Redner eingeladen war oder an der Marxistischen Arbeiterhochschule im Rahmen von Kursen, die Reich ab dem Sommersemester 1931 über „Marxismus und Psychologie“ und „Sexuologie“ hielt (Reich 1995, S. 152f.) und aus denen er „die besten Kräfte herausholte und sie in den Organisationen verteilte“ (ebd. S. 167). Motesiczky war seit September 1932 bei Reich in Analyse (6). Aus seinen späteren Schriften geht deutlich hervor, dass er in der sexualpolitischen und psychoanalytischen Arbeit geübt, ein Schüler Reichs und einer der Studenten war, die in den Sexualberatungsstellen des RV tätig wurden.

    Aufgrund seiner Arbeit mit Jugendlichen geriet Reich schnell in Konflikt mit der KPD, die ihm vorwarf, er wolle die Wirtschaftspolitik durch Sexualpolitik ersetzen (ebd. S. 190ff.). Bei einer Verbandskonferenz des EV im Februar 1933 wurde schließlich „eine gegen Reichs Arbeit gefasste Resolution“ angenommen (Rackelmann 1992, S. 66). Damit endete Reichs sexualpolitisches Engagement innerhalb der KPD. Nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland flüchtete er über Wien nach Kopenhagen. „Zwei Berliner Schüler kamen nach. Auch in Kopenhagen meldeten sich mehrere“ (Reich 1995, S. 206). Einer dieser Schüler, die Reich ins Exil folgten, war Karl von Motesiczky.

    Am 17. 4. 1933 ersuchte die Bundespolizeidirektion Wien die Gestapo in Berlin „um Übersendung eines Verzeichnisses der wegen kommunistischer Umtriebe aus Deutschland ausgewiesenen österreichischen Staatsangehörigen“ (7). Die Antwort erfolgte am 5. 5. 1933: „Anbei übersende ich ein Verzeichnis der bisher aus dem Freistaat Preußen ausgewiesenen österreichischen Staatsbürger. Die Ausweisung ist wegen ihrer Betätigung in der kommunistischen Bewegung erfolgt. Bei weiteren Ausweisungen erfolgt Nachricht. Die in der Liste angeführten Personen sind bereits von selbst abgereist. Der Ort ihres Reisezieles ist hier nicht bekannt.“ Die 13 Personen umfassende Liste nennt an 12. Stelle Wilhelm Reich, an 13. Karl von Motesiczky (8).

    Reich, der nach Aufenthalten in Kopenhagen und Malmö im Spätherbst 1934 in Oslo (Reich 1995, S. 265) angekommen war, setzte in Norwegen seine sexualpolitische Arbeit fort. Er gründete die „Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie“ (ZPPS), zu deren Mitarbeitern und Geldgebern Karl von Motesiczky zählte. Motesiczky publizierte zwischen 1934 und 1938 unter verschiedenen Pseudonymen, v. a. unter dem Namen Karl Teschitz (9), eine Vielzahl von Rezensionen und Artikel in der ZPPS (10) und wurde so zum „politischen Sprecher der Reich-Gruppe“ (Dahmer 1982, S. 353).

    In seiner „Kritik zur kommunistischen Politik in Deutschland“ (Teschitz 1934) warf er der KPD und KI vor, „in den letzten Jahren schwere Fehler begangen“ und damit „die Niederlage des deutschen Proletariats mitverschuldet (zu) haben“ (ebd. S. 107). Diese Fehler sah er vorwiegend in „der Beurteilung der SPD und des Faschismus, in der Einheitsfronttaktik, der Gewerkschaftspolitik und (…) in der Anschauung über die Lage in Deutschland“ (S. 107).

    1935 erschien – wieder unter dem Pseudonym Karl Teschitz – im Sexpol Verlag Motesiczkys Werk „Religionsstreit in Deutschland“, das in seiner Argumentation ganz der Reichschen Sexualökonomie verpflichtet war. Otto Fenichel fand diese Arbeit in seinem Rundbrief XXI (31. 12. 1935) „höchst beachtens- und diskussionswert“ und bestimmte sie „zum Thema eines Referatenabends der Prager analytischen Gruppe“ (Fenichel 1998, S. 302f.).

    In der Einleitung zum Buch kritisierte Motesiczky die Psychoanalyse, die ihren „eigenen revolutionären Grundsätzen untreu geworden und verbürgerlicht (sei)“ (Teschitz 1935, S. 6). Heftig polemisierte er gegen den Typus des „unpolitischen Wissenschafters“: Dieser werde seine Schrift zwar „mit einigem Interesse lesen, aber den politischen Zusammenhang, in dem alles gebracht ist, zum Teufel Wünschen. Ihm sei gesagt, dass gerade sein Unpolitischsein mit Schuld daran war, dass z. B. in Deutschland in aller Ruhe hinter seinem Rücken das Fundament untergraben wurde, auf dem er sich friedlich theoretisierend sicher wähnte.

    Im dritten Reich wird er, der immer unpolitische Wissenschaft machen wollte, gezwungen, entweder politische Unwissenschaft zu machen oder in die vom Naziregime immer enger gesteckte Grenze völliger Lebensferne zu flüchten. Endlich bleibt unserm Wissenschaftler die Möglichkeit, zu schweigen bzw. zu emigrieren“ (S. 8). Motesiczky versuchte im ersten Teil seiner Arbeit, die revolutionären und reaktionären Aspekte des Christentums und des Faschismus herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen. In einem mit „Religion als psychische Struktur“ überschriebenen Abschnitt führte er dann aus, wie die Kirche durch ihre Sündenlehre die Gläubigen durch die unerfüllbare Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit in Spannung halte.

    Der daraus resultierende Leidensdruck führe die Betroffenen eben wieder dazu, bei der Kirche Trost und Beruhigung zu suchen, wodurch ihre Bindung an die Kirche erhalten und gestärkt werde (S. 71). Er zog Vergleiche zwischen der religiösen Ekstase und der Reichschen Orgasmuslehre und ließ hier bereits Aspekte der Vegetotherapie einfließen (S. 74ff.). In seinem Schlusskapitel warnte er davor, den Kampf gegen die Religion mit einer „abstrakt ideologischen Propaganda“ zu führen, weil Aufklärung immer nur in Verbindung mit der Praxis sinnvoll sei (S. 101).

    Neben seiner publizistischen Arbeit und seiner psychoanalytischen Schulung bei Reich in Oslo – unter dessen Supervision begann er Patienten zu behandeln – beteiligte sich Motesiczky auch an den ab Februar 1935 von Reich durchgeführten bio-elektrischen Experimenten über Sexualität und Angst (Reich 1996, S. 99), die sich über fast 2 Jahre hinzogen (Boadella 1998, S. 173).

    Als Reich begann, seine Emigration nach Amerika vorzubereiten, kehrte Motesiczky im Winter 1937/38 nach Österreich zurück. Für seine Entscheidung, als sgn. „Mischling I. Grades“ nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1938 in Österreich zu verbleiben (11), spielten vermutlich verschiedene Motive eine Rolle. So war Motesiczky daran gelegen, sein großes Anwesen am Kröpfelsteig 42 in der Hinterbrühl vor den Nazis zu retten. Ein anderes Motiv für seinen Verbleib in Österreich war, dass Karl von Motesiczky Widerstand leisten wollte (Gaisbauer 1986, S. IV).

    Vornehmlich an den Wochenenden traf an seinem Wohnsitz in der Hinterbrühl eine große Zahl antifaschistischer und jüdischer Freunde zusammen. Unter ihnen waren auch Franz und Annie Urbach. Annie, die Schwester Ernst Federns, berichtete über diese Zeit: „Vor allem war er (Karl v. Motesiczky, CR) unglaublich gut und hilfsbereit gegen seine jüdischen und Anti-Nazi Freunde. Wir verbrachten den ganzen Sommer ´38 bei ihm mit unserem damals vierjährigen Sohn. (Lebensrettend)“(12).

    Im Herbst 1939 beschlossen Motesiczky und seine Freunde Kurt Lingens und Robert Lammer, eine Widerstandsgruppe zu bilden, der auch Ella Lingens und Hilde Lammer sowie das Ehepaar Zeiss und Heinrich von Lieben angehörten. Jeden Mittwoch traf sich die Gruppe in der Wohnung des Ehepaares Lingens, um BBC-Sendungen zu hören, über Politik zu diskutieren und Widerstandsaktionen zu planen. So wurde das Drucken von Flugblättern, die in Telefonzellen deponiert werden sollten, als eine Möglichkeit des Widerstandes (13) angesehen.

    Karl von Motesiczky setzte in Wien sein bereits in Oslo begonnenes Medizinstudium fort. Gleichzeitig ging er bei dem in Österreich gebliebenen Psychoanalytiker August Aichhorn in Analyse. Motesiczky schlug Aichhorn vor – inzwischen war er in inhaltlicher Distanz zur Reich-Gruppe getreten – ein Einführungsseminar in die Psychoanalyse abzuhalten, das dann auch ab Herbst 1940 (14) einmal wöchentlich stattfand. Aichhorn setzte sich bereits vor Beginn des Seminars bei Matthias Heinrich Göring, dem Leiter des „Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie“ in Berlin für Motesiczky ein, damit dieser als Kandidat für die Ausbildung zum Psychotherapeuten angenommen werden konnte. Die Antwort Görings war eindeutig: „Für Mischlinge ersten Grades besteht kaum die Möglichkeit, die Approbation zu erlangen“ (15).

    Als ein ehemaliger Studienfreund, Alex Weißberg-Cybulski, Ella Lingens von Krakau aus bat, ihn in die Schweiz zu bringen, entschlossen sich das Ehepaar Lingens und Karl von Motesiczky ihm zu helfen. Im Juli 1942 schickte Weißberg-Cybulski die Brüder Jakob und Bernhard Goldstein mit ihren Ehefrauen nach Wien, die sich über die Lage informieren sollten. Das Ehepaar Lingens und Motesiczky glaubten, dass sie den Fluchtweg ausprobieren wollten. Der Plan sah vor, die Goldsteins über Vorarlberg in die Schweiz zu schmuggeln, jedoch wurde die Gruppe von einem Gestapospitzel verraten (16). Am 13. 10. 1942 erfolgte ihre Verhaftung (17).

    Motesiczky und Ella Lingens wurden vier Monate im Gestapohauptquartier auf dem Morzinplatz interniert (18). Am 16. 2. 1943 um 4 Uhr morgens verließen sie mit einem Gruppentransport den Nordwestbahnhof, der in der Nacht vom 19. auf den 20. 2. 1943 im Konzentrationslager Auschwitz eintraf (Lingens 1966, S. 14). Ella Lingens konnte als Nichtjüdin und Ärztin den Holocaust überleben. Karl von Motesiczky ließ eine letzte Nachricht aus Auschwitz seinem Jugendfreund Friedrich Wildgans zukommen, den er in einem Brief bat, ihm sein Cello zu schicken, um in der Häftlingskapelle spielen zu können (19). Er starb am 25. 6. 1943 im Block 19, einem Häftlingskrankenbau, an Typhus.

    Während der Arbeit an der Biographie Karl von Motesiczkys wurde mir immer deutlicher die Mauer des Schweigens bewusst, die sich in den fast 60 Jahren seit seiner Ermordung in Auschwitz um seine Person aufgebaut hat. In den wenigen Darstellungen über die österreichische Psychoanalyse im Nationalsozialismus findet sein Name – wenn überhaupt – meist nur am Rande Erwähnung. Erst bei Soms-Rödelheim (1976) und in Wolfgang Hubers umfassender Darstellung über die „Psychoanalyse in Österreich seit 1933“ wird auf ihn hingewiesen (Huber 1977, S. 65) (20).

    In Wilhelm Reichs Schriften finden sich nur zwei Belege (Reich 1996, S. 99, S. 157) für die jahrelange Zusammenarbeit mit Karl von Motesiczky. In seiner Selbstdarstellung „Über mein Leben“ schrieb Lambert Bolterauer (1992, S. 69) – ein Teilnehmer an August Aichhorns Seminar – über die damaligen Ereignisse: „Wir (die Teilnehmer am Seminar, CR) erlitten einen Schock, als wir erfuhren, dass Frau Dr. Lingens nicht mehr teilnehmen konnte wegen Verhaftung durch die Gestapo.“ Karl von Motesiczky wird mit keinem Wort erwähnt. Auch August Aichhorn nahm in seiner Gedenkschrift vom 10. 4. 1946 zu Motesiczky lediglich in einem einzigen Satz Stellung: „Einer der Freunde Graf Karl von Motesiczky, der viel zur Bildung der Gruppe beitrug, wurde später von der Gestapo verhaftet und kam im Konzentrationslager um“ (21).

    Diese Gedenkschrift ist nicht identisch mit Aichhorns Vortrag „Die zukünftige Arbeit der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“, den er anlässlich der Wiedereröffnung der WPV ebenfalls am 10. 4. 1946 (Steinlechner 1980, S. 213ff.) hielt und in dem er auf die national-sozialistischen Verbrechen, denen das Ehepaar Lingens und Karl von Motesiczky zum Opfer gefallen waren, nicht einging. Heimito von Doderer, „der so etwas wie der Staatsautor der Zweiten Republik wurde, weil er willens und fähig war, die politischen Feinde von gestern gleichermaßen zu repräsentieren“ (Gauß 1998, S. 12) und schon 1946 über das Schicksal seines Freundes wusste (22), traf 1966 anlässlich ihrer ersten Ausstellung in Österreich auf Motesiczkys im englischen Exil lebende Schwester Marie-Louise.

    Obwohl sie nicht sicher war, ob Doderer „bezüglich seiner Abkehr von den Nazis nicht bloß gelogen hätte“, akzeptierte Marie-Louise von Motesiczky seinen Vorschlag, die Eröffnungsrede zu halten, in der er sich als einen „Freund ihres großen Elternhauses“ bezeichnete. Seinen Freund Karl von Motesiczky erwähnte er mit keinem Wort (Fleischer 1996, S. 528).

    Das Anwesen in der Hinterbrühl am Kröpfelsteig 42 befindet sich heute im Besitz des SOS-Kinderdorfes. Vor dem Haupthaus steht eine überlebensgroße Büste Hermann Gmeiners. Ein Hinweis auf die Ereignisse während des Nationalsozialismus ist aufs erste nicht zu finden. In der Nähe des Spielplatzes jedoch, ganz abseits der Straße zwischen drei Nadelbäumen versteckt, ist eine kleine schwarze Pyramide aufgestellt. Karls Mutter und seine Schwester Marie-Louise von Motesiczky ließen sie 1961 errichten. Darauf sind die Worte eingraviert:

    Karl von Motesiczky geb. 1904 gest. 1943
    Für die selbstlose Hilfe,
    die er schuldlos Verfolgten gewährte,
    erlitt er den Tod.

    Nach fast einem Jahr Abwesenheit besuchte ich am 27. Juli 2000 zusammen mit einer Freundin wieder Karl von Motesiczkys Gedenkstätte in der Hinterbrühl. Sie war wenige Tage zuvor zerstört und mit Hakenkreuzen geschändet worden. Laut Bericht des Innenministeriums sind die rechtsradikalen Übergriffe in Österreich in den letzten 18 Monaten um 103% gestiegen.
    _____________________________

    Anmerkungen:

    1. Elise Gomperz blieb Freud weiterhin verbunden und versuchte ihm, bei der Verleihung des Professorentitels zu helfen (vgl. Freud 1980).
    2.  Edmund Graf Motesiczky hatte sein Doktorat in Chemie gemacht. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass er diesen Beruf auch tatsächlich ausgeübt hätte. Obwohl er nicht Berufsmusiker war, übte er täglich mehrere Stunden und musizierte mit Brahms und dem Rose´-Quartett.
    3. Dieses besondere Talent und die beiden kostbaren Stradivari und Guerneri Celli wird Edmund später seinem Sohn weitergeben.
    4. Brief Karl v. Motesiczkys an seine Schwester Marie-Louise vom 30.11.1930, Motesiczky-Archiv, London.
    5. Außer Karl von Motesiczky ist keine andere Person aus dem Sexpol-Kreis mit den Initialen K. M. bekannt. In Reichs Autobiographie „Menschen im Staat“, die er 1953 in Amerika publizierte, fehlt dieser Hinweis. Er führte nur noch Leunbach als Teilnehmer der oben zitierten Sitzung an, den er auch als einen „der führenden Vorkämpfer der Sexpol“ (Reich 1995, S. 162) bezeichnete.
    6. Ella Lingens (1983, S. 12) schreibt, dass Motesiczky Reich „nach Berlin (…) gefolgt ist“. Die beiden könnten sich demnach auch schon in Wien begegnet sein.
    7. Schreiben der Bundespolizeidirektion Wien an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin vom 17. 4. 1933, DÖW 17.005.
    8. Schreiben der Geheimen Staatspolizei Berlin an die Bundespolizeidirektion Wien vom 5. 5. 1933, DÖW 17.005.
    9.  Wird der Name Motesiczky nach der Aussprache geschrieben und streicht man die ersten und letzten beiden Silben, so erhält man den Karl Mo(teschitz)ky. Am 31. 12. 1935 nannte Otto Fenichel in seinem XXI. Rundbrief das gerade erschienene Buch von Karl Teschitz. In Klammer schrieb Fenichel neben dem Namen Karl Teschitz Motesiczkys Spitznamen – Motte. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Karl Fallend. Weitere Pseudonyme, die aufgrund der inhaltlichen und sprachlichen Übereinstimmungen mit großer Wahrscheinlichkeit Motesiczky zuzuordnen sind, lauten Karl Muster und die Abkürzungen K. M., K. T., C. T., Mo. und M. Auffallend ist, dass Motesiczky seine politischen Artikel immer unter dem Pseudonym Teschitz, der möglicherweise auch als Partei- oder Deckname diente, veröffentlichte, während er Arbeiten über die Psychoanalyse stets mit den Abkürzungen Mo., K. M. und M. versah.
    10. Leider war es mir bisher nicht möglich, eine vollständige Ausgabe der ZPPS aufzufinden. Die fehlenden Hefte umfassen die Nummern 10-14 aus den Jahren 1936/37 und die Hefte ab Nummer 15 (1938). Für Hinweise wäre ich dankbar.
    11. Seine Schwester Marie-Louise flüchtete einen Tag nach Hitlers Einmarsch gemeinsam mit der Mutter zunächst nach Holland. Auf Karl von Motesiczkys Rat hin – er meinte, dass sie dort nicht sicher genug wären – emigrierten sie schließlich nach London, wo Marie-Louise, eine Schülerin Max Beckmanns, eine bekannte Malerin und die langjährige Lebensgefährtin Elias Canettis wurde.
    12. Brief von Annie Urbach an das DÖW o. D. (vermutlich 1971/72), DÖW 7245a.
    13. Persönliche Mitteilung von DDr. Ella Lingens. Die Frage, wie man Widerstand leisten könnte, beschäftigte Motesiczky auch, wenn er mit seinem Jugendfreund Friedrich Wildgans, dem Sohn des bekannten österreichischen Dichters Anton Wildgans, in der Hinterbrühl zusammenkam. Wildgans war aufgrund der Verleumdung eines Nazispitzels 16 Monate in einer „konzentrationslagerähnlichen Strafanstalt“ interniert gewesen. In der Zeit nach seiner Verhaftung besuchte er häufig seinen Freund Karl von Motesiczky und gehörte auch dem Musikerkreis an, der sich v. a. aus älteren jüdischen Musikern zusammensetzte, die bei Motesiczky Unterschlupf gefunden hatten. Persönliche Mitteilung von Ing. Gottfried Wildgans.
    14. Laut DDr. Ella Lingens fand der erste Kurs erst ab Herbst 1940 statt. Aichhorn bekam im Herbst 1941 die Erlaubnis, Kandidaten auszubilden. Nach Wolfgang Huber (1977, S. 242f.), der sich auf Aichhorns Tätigkeitsbericht aus dem Jahr 1944 bezieht, begann Aichhorn bereits im Herbst 1938 mit einem Kurs, der „zumindest ab 1939 (…) offiziellen Charakter“ hatte. Aichhorn selbst schrieb in einem Brief an Felix Schottländer, dass er „schon 1938 einen kleinen Kreis von jungen Ärzten und Psychologen“ um sich „sammelte“ (zit. n. WPV 1976, S. 115).
    15. Brief von M. H. Göring an A. Aichhorn vom 28. 6. 1940, zit. n. Lingens (1983); Lockot (1985) führt einige Mitglieder des Deutschen Psychologischen Instituts an, die „Mischlinge I. Grades“ oder Juden waren, S. 172ff.
    16. Bericht von DDr. Ella Lingens an das DÖW 7245b.
    17. Tagesbericht Gestapo Wien Nr. 5 vom 13. 10. 1942, DÖW 5733f
    18. Motescizky soll sich dem Vernehmen nach beim Verhör durch die Gestapo ungeschickt verhalten haben, da er nach anfänglichem Leugnen alles zugab, nachdem man ihn damit konfrontierte, dass Klinger schon alles gestanden hätte. Bericht von DDr. Ella Lingens, DÖW 7245f.
    19. Persönliche Mitteilung von Ing. Gottfried Wildgans
    20. Alle weiteren Artikel zum Thema „Psychoanalyse und Nationalsozialismus“ folgen der Darstellung Hubers (1977); vgl. dazu Brainin/Kaminer (1982); Leupold-Löwenthal (1982) und (1987).
    21. A. Aichhorn, Gedenkschrift 1946, unveröffentl. Manuskript, zitiert nach Solms-Rödelheim (1976) S. 1181. Das Originalmanuskript konnte bis jetzt nicht aufgefunden werden. Auch eine Nachfrage bei der Sigmund Freud Gesellschaft blieb ergebnislos.
    22. Brief von Heimito von Doderer an Gaby Murad vom 22. 3. 1946, in: Wolff (1996, S. 143).

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