Zurück zu Bukumatula 1999

Bukumatula 6/1999

Wilhelm Reich und die (Wieder) Eröffnung des Psychoanalytischen Ambulatoriums

am 12. Oktober 1999 in Wien
Wolfram Ratz:

Wurden „Wahnsinnige“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in den mit 140 Zellen bestückten „Narrenturm“ gesperrt – mit der Behandlung: Schädelrasur und Traktierung der Kopfhaut mit giftigen Salben, mit Aderlass und Quecksilber-Fieberkuren oder der Verabreichung von Brechmitteln – hat sich die Behandlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts einigermaßen vermenschlicht. Durch die erfolgreiche Forschungsreise Sigmund Freuds durch die menschliche Seele, wurde in Wien 1922 – nach Berliner Vorbild – das Psychoanalytische Ambulatorium für Mittellose gegründet.

„Die Fundgrube“

Gleich nach der Promotion zum Doktor der Medizin setzte Wilhelm Reich ab 1922 die vielfältigen Tätigkeiten seiner Studienjahre fort. Neben seiner Analytikerpraxis bildete er sich an der Universität in Neuropsychiatrie weiter. Unter Julius Wagner von Jauregg hatte Reich die Gelegenheit, die verschiedenen Arten psychotischer Erkrankungen zu studieren, insbesondere der Schizophrenie. Reich war in der förderlichen Position, sowohl mit den führenden Köpfen der organisch orientierten Psychiatrie als auch denen der Psychoanalyse zusammenarbeiten zu können.

In dieser Zeit begann Reich auch mit der Arbeit am Ambulatorium. Dieser Arbeit blieb er bis 1930, bis zu seinem Umzug nach Berlin zunächst als erster medizinischer Assistent und dann als stellvertretender Leiter unter dem verdienten Psychoanalytiker Eduard Hitschmann treu. Freud hatte diese Einrichtung befürwortet, obwohl er davon wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zu erwarten schien.

Viele Psychoanalytiker teilten ihre Abneigung mit Freud, mit dem „Gesindel“ zu arbeiten. Es gab die Auffassung, dass es bestimmte `schlechte Charaktere´ gäbe, die sich für die analytische Behandlung nicht eigneten. Sie erforderte, hieß es, eine gewisse Höhe der seelischen Organisation im Kranken … Die Arbeit war also recht eingeschränkt auf umschriebene neurotische Symptome bei intelligenten, zur Assoziation fähigen Menschen mit `korrekt entwickeltem´ Charakter. (Kursivgesetzte Textteile sind Originalzitate Reichs.)

Für Reich hingegen wurde die Arbeit am Ambulatorium eine Fundgrube von Einsichten in das Getriebe der Neurosen unbemittelter Menschen. Ich arbeitete dort vom ersten Tag an als erster Assistenzarzt, im ganzen acht Jahre … Der Ansturm auf diese Einrichtung war so groß, dass wir uns nicht zu helfen wussten … Jeder Psychoanalytiker verpflichtete sich, eine Gratisstunde täglich zur Verfügung zu stellen. Viele Analytiker zogen es jedoch vor, sich von der Pflicht freizukaufen. In einem Brief stellt Reich 1926 fest: Fast niemand hat ein aktives Interesse am Ambulatorium.

Gleich nach der Eröffnung des Ambulatoriums herrschte rege und anwachsende Betriebsamkeit. Konsultierten im ersten Jahr 159 Patienten die Polyklinik, so waren es im nächsten Jahr bereits 354. Der Höchststand um 1924 war durch die Mithilfe der Wiener Tageszeitungen erreicht worden, die über das Ambulatorium berichteten und es zur Konsultation empfahlen.

„Der Hecht im Karpfenteich“

Reichs dortige Arbeit sollte nachhaltig Einfluss auf die Betonung der sozialen Aspekte in seinem Werk zeitigen. Das Ambulatorium diente in erster Linie der Behandlung von einfachen Arbeitern, Angestellten und Studenten, die sich eine private Behandlung nicht leisten konnten. Der massenhafte Andrang offenbarte auch die Grenzen der langwierigen psychoanalytischen Behandlung. Reich erkannte hier die Notwendigkeit vorbeugender sozialer Initiativen gegen Massenneurosen.

Die aufregende politische Stimmung jener Zeit musste einen tiefen Eindruck auf Reich gemacht haben. Der Einfluss der Russischen Revolution auf die besonders aktiven österreichischen Sozialisten, die vielen hochbegabten Intellektuellen, die überall über Marxismus schrieben und diskutierten, ließen seinen wachen und forschenden Geist nicht unberührt. Die Arbeit im Ambulatorium führte ihn zu dem Versuch Freuds und Marx‘ Lehren in Einklang miteinander zu bringen, was später sowohl von den Marxisten, als auch den Psychoanalytikern zurückgewiesen wurde.

Mit dem ihm eigenen Enthusiasmus stellte er etliche übereilte Postulate über die psychische und sexuelle Hygiene des Proletariats auf, die er später korrigieren musste. Zur selben Zeit war Reich Leiter des „Technischen Seminars“ für psychoanalytische Therapie. Viele amerikanische Analytiker, die zur Ausbildung nach Wien kamen, waren bei Reich in Therapie und nahmen an seinen Seminaren teil.

Reich fühlte sich rundum wohl – wie ein Fisch im Wasser. Nur über seine Wiener Kollegen – ausgenommen Freuds – äußerte er sich in einem später geführten Interview weniger begeistert: Sie waren fürchterlich langweilig. Etwa acht bis zehn Leute saßen herum … Jeder hatte eine Meinung über dies oder jenes … einer sagte dies, ein anderer das … Als ich hinzu kam, geriet alles irgendwie in Bewegung … Ich war wie ein Hecht im Karpfenteich.

Von der Charakteranalyse zur orgastischen Potenz

Reich war nicht nur mit den vielschichtigen seelischen Problemen der Armen konfrontiert, sondern erfuhr auch, wie wirtschaftliche Bedingungen dazu führten, die Leiden zu beeinflussen bzw. zu verschärfen. Die Psychoanalyse war im wesentlichen nur für Patienten der sozialen Mittel- und Oberschicht zugänglich, die unter Symptomneurosen litten. Reichs erstes veröffentlichtes Buch „Der triebhafte Charakter“ (1925) enthielt reichlich Material für ein erweitertes Verständnis der Persönlichkeit, da sich diese weniger durch konkrete Störungen auszeichneten, als durch eine insgesamt desorientiertchaotische Lebensweise.

Menschen wurden öfter als“Psychopathen“, denn als krank abqualifiziert. Sie wurden als antisoziale Elemente angesehen, die sich in Kriminalität, Sucht, unkontrollierte Aggressionsausbrüche, etc. flüchten.- Auch heute noch werden solche Menschen zwischen Gerichten, Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten hin- und hergeschoben.

Reich argumentierte für eine umfassende, systematische Theorie des Charakters, eine „psychische Embryologie“ (s. „Charakteranalyse“, erstmals 1933 als Buch erschienen). Er versuchte zu verstehen, wie es zu der charakterlichen Verschiedenheit der menschlichen Persönlichkeit kommt.

Reich definierte den triebhaften Charakter und unterschied ihn von der Symptomneurose und den Psychosen – heute unter dem Begriff „Borderline“ bekannt. Reichs diesbezügliche feinsinnige Unterscheidungen haben ihm den Ruf des „besten Diagnostikers unter den jungen Analytikern“ eingebracht (zit. Paul Federn).- Mit „Der triebhafte Charakter“ erlangte Reich beträchtliche Anerkennung unter Lehrern und Kollegen. Freud gratulierte persönlich mit „… reich an wertvollem Inhalt“.

Neben diesen Arbeiten verfasste Reich eine Reihe von Aufsätzen zur Sexualität, die damals in der psychoanalytischen Literatur einen echten Neuansatz darstellten. Diese Beiträge waren von Anfang an umstritten. Der Start verlief desaströs. Reich lieferte in seiner ersten Schrift über „Genitalität“ keine Definition die über das bestehende psychoanalytische Verständnis hinausging.

Er „vergaß“, was er mit „effektiver“ genitaler Befriedigung tatsächlich meinte. Die Aufnahme seines Vortrags dazu in der Psychoanalytischen Vereinigung beschrieb er so: Während ich vortrug, merkte ich eine Vereisung der Atmosphäre in der Vereinigung. Ich pflegte gut zu sprechen. Man hatte mir bis dahin immer interessiert zugehört. Als ich endete, herrschte eisige Stille im Raum. Nach einer Pause begann die Diskussion. Meine Behauptung, dass die Genitalstörung ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Symptom der Neurose wäre, sei falsch; ebenso die Behauptung, dass sich aus der Beurteilung der Genitalität prognostische und therapeutische Handhaben ergäben.

Zwei Analytiker behaupteten strikt, dass sie Haufen weiblicher Patienten mit völlig gesundem Genitalleben kannten. Sie schienen mir aufgeregter, als es ihrer gewohnten wissenschaftlichen Reserviertheit entsprach. Meine Stellung in diesem Streit war unvorteilhaft. Hatte ich doch selbst einräumen müssen, dass unter den männlichen Kranken sich viele mit anscheinend ungestörter Genitalität befanden. Bei den weiblichen Kranken war die Sache dagegen zweifelsfrei.

Reich revidierte seine Vorstellung, indem er selbst einräumen musste, dass es männliche Patienten gab, die trotz neurotischer Symptome anscheinend genital gesund waren. Die Kritik zwang ihn dazu, genauer zu definieren, was er mit einem „befriedigendem genitalen Leben“ meinte. Und Reich hat die Kritik an seiner Arbeit fruchtbar genutzt. Im Rahmen seiner Tätigkeit am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium untersuchte er anhand von Interviews und Fallberichten das Liebesleben von mehr als 200 Patienten. Dabei prüfte er:

  1. die Hypothese, dass sämtliche Fälle von Neurosen mit genitalen Störungen einhergingen,
  2. die Hypothese, dass die Schwere der Neurose mit dem Grad der genitalen Störung in Korrelation stand,
  3. die Hypothese, dass Patienten mit dauerhaft erfolgreicher Therapie ein befriedigendes Sexualleben erlangt hatten.

Erneut war Reich von der Häufigkeit und Tiefe von genitalen Störungen beeindruckt. Er wurde misstrauisch gegenüber oberflächlichen Berichten von Patienten und Analytikern. Er war auf der Suche nach der Qualität der Genitaliät.
Reichs Untersuchungsmethoden sind nach heutigem Stand sicherlich unhaltbar, doch in jener Zeit waren sie besser als alle anderen auf diesem Gebiet.

Reichs zweiter Aufsatz zur Genitalität, veröffentlicht in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ unter dem Titel: „Die therapeutische Bedeutung der Genitallibido“ ist insofern von Bedeutung, weil hier zum ersten Mal der Begriff der „orgastischen Potenz“ auftaucht – ein Grundstein, zu seinem gesamten späteren Werk: Sie stellte den Küstenstrich dar, von dem aus sich alles andere ergab.

Das Ambulatorium und die Frage der „Laienanalyse“

Das Psychoanalytische Ambulatorium hatte als Behandlungs- Fortbildungs- und Forschungsstätte eine zentrale Funktion für die institutionelle Entwicklung der Psychoanalyse. Entsprechend dem Legitimationsdruck eines sich zu qualifizierenden Berufstandes beschleunigte sich die Organisation und Strukturierung der Ausbildungsfrage. Der Eintritt der Psychoanalyse in den Markt der psychosozialen Versorgung ließ die Schulmediziner aufhorchen, die wirtschaftliche Einbußen befürchteten.

Die Wiener Ärzteorganisation bewilligte die Errichtung des Ambulatoriums nur unter der Bedingung, „dass dort die psychoanalytische Behandlung und die wissenschaftliche Verwertung dieser Methode ausschließlich von Ärzten betrieben wird und sowohl als Lehrende wie als Lernende nur Ärzte in Betracht kommen, so dass Laien mit Ausnahme der Patienten der Zutritt zu diesem Institut versagt bleibt.“ (Hitschmann, 1932)

Die Anstalt wurde nach einem halben Jahr geschlossen und konnte erst dreieinhalb Monaten später, nach Intervention des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, wieder eröffnet werden. Die Konfrontation mit der Ärzteschaft um das Monopol der therapeutischen Tätigkeit verfolgt die Psychoanalyse – und daraus hervorgehend die Psychotherapie – bis heute.
In kaum einer anderen Frage hatte Freud so entschieden Stellung bezogen, wie in der Frage der „Laienanalyse“. Seine ironische Bemerkung: „Ich bin ein entschiedener Gegner der Laienanalyse, besonders der der Ärzte“, blieb auch von seinen Schülern konsequent unerhört und unverstanden.

Die Bemühungen zur Professionalisierung legen die Vermutung offen, dass das Laienthema hintangestellt wurde und erst mit der Anzeige des anerkannten Psychoanalytikers Theodor Reiks durch die Wiener Ärztekammer an den Magistrat am 10. Oktober 1924 wieder an Brisanz gewann: Am 23. Februar 1925 wurde Theodor Reik vom Magistrat die Ausübung der psychoanalytischen Praxis verboten.

Kein Geringerer als Wagner Jauregg verfasste zum Rekurs Reiks ein Gutachten: „Der Gefertigte beantragt, der Oberste Sanitätsrat möge dem Ministerium für soziale Verwaltung empfehlen, den Rekurs des Herrn Dr. Reik abweislich zu bescheiden.“ Das Gutachten wurde angenommen; die Wiener Ärzteschaft witterte ihre Chance, die öffentliche Meinung gegen die Psychoanalyse zu richten und diese damit als Konkurrenz zu schwächen bzw. auszuschalten.

In dieser Auseinandersetzung fallen klare Worte, die an Eindeutigkeit keine Wünsche offen lassen, etwa von Felix Deutsch: „Das Heilgeschäft ist eine ärztliche Sache. Das wäre der Weisheit letzter Schluss.“ Das Wort „Geschäft“ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen, denn kurz vorher heißt es: „Für Geld gesund machen darf nur der Arzt. Das steht im Gesetz.“ (Leupold-Löwenthal, 1978).

Diese Thematik hat auch Karl Kraus 1926 in Fackelmanier zynisch kommentiert: „Was die psychoanalytische Praxis anlangt, so wäre der Streit, ob vazierende Literaten oder dergleichen hervorragende Forscher zu ihrer Ausübung zuzulassen sind, am einfachsten und behufs Vermeidung jedweder zünftlerischen Vorurteile so zu entscheiden, dass man graduierte Ärzte, die sie ausüben, wegen Kurpfuscherei anklagt.“

Nach den Turbulenzen der ersten Jahre wurde das Ambulatorium 1929 um eine Abteilung für Psychosen und um eine Erziehungsberatungsstelle, in der so prominente „Laien“ wie Anna Freud, August Aichhorn oder Editha Sterba arbeiteten, erweitert. All dies wurde 1938 zerstört, als die Nazis sofort nach ihrem Einmarsch alle psychoanalytischen Aktivitäten und Einrichtungen verboten und die Ressourcen vernichteten. Nach dem Krieg gab es in der Stadt, von der fünfzig Jahre zuvor die Entwicklung der Psychoanalyse ausgegangen war, nur mehr zwei Lehranalytiker.

Am 12. Oktober 1999 wurde vom Bundesminister Caspar Einem das Wiener Psychoanalytische Ambulatorium wiedereröffnet. Die Festrede hielt Elfriede Jelinek. Das Ambulatorium versteht sich heute zum einen als Beratungsstelle und zum anderen sollen besonders sozial unterprivilegierte Patienten bei der Vergabe von Therapieplätzen unterstützt werden. Mit der Wiener Gebietskrankenkasse sind die Verhandlungen zur Refundierung der Honorarkosten jedenfalls im Laufen.

Information:
Psychoanalytisches Ambulatorium,
1010 Wien, Gonzagagasse 11/11
Tel.: 5330766.

Literatur:
Myron Sharaf, Der heilige Zorn des Lebendigen (Simon und Leutner 1994)
Karl Fallend, Wilhelm Reich in Wien (Geyer-Edition 1988)

Zurück zu Bukumatula 1999